Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne

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Inhalt
Vorwort ...................................................................................................................... 9
1. Einleitung ......................................................................................................... 11
1.1. Forschungsstand und Forschungsperspektiven ...................................... 20
1.2. Aufbau der Arbeit........................................................................................ 30
2. Sozialwissenschaftliche Theorien über Antisemitismus................... 32
2.1. Sigmund Freud: »Der Mann Moses« ..................................................... 33
2.2. Talcott Parsons: »The Sociology of Modern Anti-Semitism« ............ 52
2.3. Jean-Paul Sartre: »Portrait de l’antisémite« ........................................... 62
2.4. Ernst Simmel: »Anti-Semitism and Mass Psychopathology« ............. 80
2.5. Max Horkheimer/Theodor Adorno: »Dialektik der Aufklärung« ..... 96
2.6. Hannah Arendt: »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« ..... 119
2.7. Béla Grunberger: »Der Antisemit und der Ödipuskomplex« .......... 130
2.8. Shulamit Volkov: »Antisemitism as a Cultural Code« ....................... 146
2.9. Moishe Postone: »Die Logik des Antisemitismus« ............................ 157
2.10. Zygmunt Bauman: »Modernity and the Holocaust« ......................... 168
2.11. Klaus Holz: »Nationaler Antisemitismus« .......................................... 181
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ANTISEMITISMUS ALS NEGATIVE LEITIDEE DER MODERNE
3. Empirische Prüfung der theoretischen Annahmen ........................ 193
3.1. Methodologie und methodische Grundlagen ....................................... 198
3.1.1. Genese und Empirie des sekundären Antisemitismus .............. 199
3.1.2. Zum Design der empirischen Studie ........................................... 219
3.2. Auswertung ................................................................................................ 228
3.2.1. Qualitative Auswertung der einzelnen Interviews ..................... 234
3.2.2. Systematische Auswertung aller Interviews ................................ 293
4. Zur Theorie des modernen Antisemitismus ..................................... 317
Literatur ................................................................................................................ 343
1. Einleitung
In der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung wird national wie
international das Fehlen einer Studie zur Integration von theoretischen und
empirischen Erkenntnissen über den Antisemitismus beklagt. Theoretische
Arbeiten gehen oft spekulativ vor und nutzen empirische Studien allenfalls
selektiv zur Abstützung ihrer Hypothesen; empirische Studien wiederum
weisen den umgekehrten Mangel auf und verzichten zumeist auf eine hinreichende Berücksichtigung theoretischer Erkenntnisse. Mit der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, dieses Dilemma zu beheben und theoretische und empirische Erkenntnisse über Antisemitismus zu integrieren. Ihr
Ziel ist die Formulierung einer empirisch grundierten Theorie über die
individuellen wie kollektiven Entstehungsursachen des Antisemitismus,
seine semantischen und argumentativen Strukturen sowie seine sozialen
Kontext- und Entwicklungsbedingungen. Untersucht werden dazu politikwissenschaftliche, soziologische und psychologische Arbeiten über Antisemitismus, wobei die theoretischen Annahmen soweit wie möglich mit
empirischen Analysen überprüft werden sollen.
Die Möglichkeiten des sozialwissenschaftlichen Zugangs zu der Themenstellung dieser Arbeit sind vielfältig (vgl. Pelinka 2004: 13ff.). Dabei
steht hinsichtlich der Frage, mit welcher Theorie, welcher Methode und
welcher Forschungstechnik man sich dem Untersuchungsgegenstand nähern könnte, das Erkenntnisinteresse im Mittelpunkt. Denn Wissenschaft
ist niemals voraussetzungslos, wie Rainer-Olaf Schultze (1994: 107)
schreibt, sondern sie hat stets einen unmittelbaren Gesellschaftsbezug:
»Der Erkenntnisprozess ist damit historisch kontingent und strukturell
mehrfach vermittelt.« Die Frage nach den individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Forschenden und den sich daraus ableitenden
Befangenheiten im Kontext des jeweiligen Forschungsobjekts wie auch die
damit verknüpfte Werturteilsproblematik ist in den Sozialwissenschaften
breit diskutiert worden (vgl. Adorno u.a. 1976; Dahms 1994; Keuth 1989).
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Auch wenn hier nicht der Ort sein kann, diese Debatte nachzuzeichnen,
bedarf es jedoch der Konkretisierung der von Schultze formulierten These
einer historischen und strukturellen Vermittlung von Erkenntnis, um das
Forschungsinteresse am Antisemitismus und die Theorien über ihn problematisieren sowie darüber hinaus einen konkreten Forschungsansatz entwickeln zu können.
In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung umriss Jürgen Habermas (1965:
1139ff.) die Theorie einer grundsätzlich durch »erkenntnisleitende Interessen« bestimmten Wissenschaft, die er in dem Band Erkenntnis und Interesse
(1968) weiter ausdifferenzierte. Habermas unterschied zwischen drei Ausprägungen des Erkenntnisinteresses, nämlich einer praktischen, einer technischen und einer emanzipatorischen (vgl. zur Diskussion: Dallmayr 1974).
Diese drei Interessenausprägungen seien – zumindest idealtypisch – den
drei sozialwissenschaftlichen Metatheorieentwürfen der normativ-ontologischen, der empirisch-analytischen und der kritisch-dialektischen Forschung zuzuordnen (vgl. Habermas 1965: 1145ff.).1 Die Relevanz und die
Interpretation sozialer und politischer Sachverhalte hänge demnach von
der Verortung des Erkenntnisinteresses in einem dieser Felder ab. Während normative Ansätze darauf orientieren, ihr Wissen in praktische Handlungskonzepte umzusetzen und empirische Zugänge eine primär deskriptive Vorgehensweise für sich reklamieren, zielen kritische Herangehensweisen auf eine »praktische Veränderung bestehender Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse« (Schultze 1994: 108).
Es soll gleichwohl nicht der Eindruck entstehen, dass diese Arbeit sich
aus der Werturteilsproblematik heraus stehlen und versuchen will, eine
Position zu entwerfen, aus der heraus sich scheinbar zwangsläufig einer
dieser Ansätze dem Forschungsthema aufdrängt, ohne dass beim Untersuchenden eine Interessenlage besteht. Daher sei an dieser Stelle zunächst
nach dem konkreten Erkenntnisinteresse gefragt, bevor weiter auf eine
Konkretisierung des Forschungsansatzes eingegangen wird.
Das Ziel der Konzeptualisierung einer Politischen Theorie des Antisemitismus deutet auf den theoretisch fundierten Ausgangspunkt der Untersuchung hin (vgl. Straßenberger/Münkler 2007: 45ff.). Anhand der zentralen theoretischen Ansätze zur sozialwissenschaftlichen Erklärung von
——————
1 Habermas verwendet hier statt des Begriffs der normativ-ontologischen Metatheorie den
der historisch-hermeneutischen Wissenschaften, der jedoch ob der in der politikwissenschaftlichen Forschung dominanten Begriffe für die drei metatheoretischen Ausrichtungen hier nicht übernommen wurde. Vgl. hierzu: Münkler 1994: 258ff.
EINLEITUNG
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Antisemitismus soll versucht werden, eine Politische Theorie des Antisemitismus zu skizzieren. Dabei sollen die relevanten theoretischen Ansätze
sowohl in einer hermeneutischen wie auch in einer vergleichenden Weise
miteinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. Bevc 2007: 10ff.), und die
Kerngedanken jeder Antisemitismus-Theorie werden einer im engeren
Sinn empirischen Prüfung unterzogen:
»Theorie und Methode sind aufeinander angewiesen. Eine Theorie ohne methodische Überprüfung und Erweiterung bleibt nutzlos, eine Methode ohne Theorie,
welche die Entscheidung über den sinnvollen Einsatz von Methoden lenkt, bleibt
steril.« (Beyme 1986a: 73; siehe auch Beyme 1996)
Dem hier verfolgten Forschungsansatz liegt die Annahme zu Grunde, dass
theoretische Ansätze stets darum bemüht sind, empirische Wirklichkeit zu
verstehen oder zu erklären, jedoch bisweilen einen (historischen oder aktuellen) Teil dieser Wirklichkeit für die Wirklichkeit selbst halten. Das heißt,
sie beschreiben ein Element der politischen, sozialen oder psychischen
Realität antisemitischer Ressentiments zutreffend, interpretieren allerdings
den vermittelten historisch-temporären und/oder gesellschaftstheoretischen Ausschnitt der gesellschaftlichen Totalität als pars pro toto und charakterisieren ihn entsprechend als allgemeingültig. Insofern muss die empirische Reflexion der sozialwissenschaftlichen Antisemitismus-Theorien zugleich auf der sprachlich-textuellen Ebene nach der hermeneutischen Logik
fragen, wie auf der praktisch-gesellschaftlichen Ebene korrelative Überprüfungen der theoretischen Postulate erfolgen müssen, namentlich in Bezug
auf die – bewusste wie unbewusste – Einstellungsebene und auf die damit
verbundene Artikulationsformierung mit »intentionaler und nicht-intentionaler« (Schwarz-Friesel/Braune 2007: 11) Basis potenziell antisemitisch
affiliierter Individuen. Auf diese Weise wären temporär schlüssige theoretische Ansätze als solche zu markieren, ohne dass sie in Gänze verworfen
werden müssten; auch theoretische Überlegungen, die von ihren Autor(inn)en als allumfassende Theorie über den Antisemitismus apostrophiert werden, könnten in ihrer möglicherweise nur auf konkrete historische oder soziale Teilmomente gesellschaftlicher Totalität bezogenen Erklärungsreichweite gewürdigt werden. Es geht somit um die historischrekonstruktive Integration sozialwissenschaftlicher Antisemitismus-Theorien und um deren empirische Prüfung.
Das formulierte Erkenntnisinteresse deutet damit bereits verschiedene
methodische Ansätze an. Bevor diese systematisch auf den Untersuchungsgegenstand angewandt werden sollen, bedarf es jedoch eines theore-
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tischen Rahmens, das heißt der Einordnung der Arbeit in das Raster der
drei politikwissenschaftlichen Metatheorien (vgl. Münkler 1994: 261). Dies
ist keineswegs als sophistische Übung misszuverstehen, sondern der Tatsache geschuldet, dass eine eindeutige Klassifikation des Erkenntnisinteresses
und des zu Grunde liegenden Politikbegriffs nötig ist, um diesen als integrativen Fixpunkt der theoretischen und methodischen Arbeit reflektieren
zu können (vgl. Lenk/Franke 1987: 18ff.). Am deutlichsten wird die Definition des hier zu Grunde gelegten Politikbegriffs ex negativo: Anhand der
formulierten Fragestellung zeigt sich ein problemorientierter Zugang zum
Antisemitismus, der von einem kritischen Erkenntnisinteresse geleitet wird,
da er seinem Untersuchungsgegenstand nicht affirmativ zugewandt ist,
sondern vielmehr eine grundlegende und fundamentale Kritik in theoretischer Absicht systematisieren und damit weiter stärken will. Hiervon ausgehend ist festzuhalten, dass wichtige Teile der zur Untersuchung vorliegenden Materialien aus dem Feld der politischen, soziologischen oder
psychologischen Theorie stammen und Bestandteil einer politischen Ideologie sind (vgl. zur Begriffsgenese: Dierse 1982: 131ff.; Eagleton 1993;
Lenk 1971; Rehmann 2008):
»Unter Ideologien werden Gedankengebilde verstanden, die gesellschaftlichen
Gruppen als allgemeine Orientierungsraster bei der Interpretation der sozialen
Wirklichkeit dienen, Machtansprüche dieser Gruppen im politischen Leben legitimieren und neben echten wissenschaftlichen Einsichten, offenen Wertungen,
Normen und Handlungsappellen auch krypto-normative und falsche Vorstellungen
enthalten, und deren ungerechtfertigte Wahrheitsansprüche und Unwahrheiten auf
eine interessenbedingte Befangenheit ihrer Produzenten und Verfechter zurückzuführen sind.« (Salamun 1988: 53)
Rein deskriptiv betrachtet, ist diese Definition für eine Analyse von Politischer Theorie brauchbar. Allerdings liegt ihr ein statischer Ideologiebegriff
zugrunde, der nicht von einer gesellschaftlichen Bezogenheit und damit
einer Wandlungsfähigkeit auch von Theorie selbst ausgeht. Denn in dieser
Definition erscheint Ideologie als etwas Ontologisches, das insofern von
seiner materiellen – das heißt gesellschaftlichen und politischen – Basis
abgetrennt ist, als hier von einem instrumentellen Charakter der Ideologie
ausgegangen wird, diese also als etwas stets bewusst Eingesetztes, strukturell Wandlungsunfähiges und zudem von »nicht-ideologischer« Theorie
normativ Abgrenzbares begriffen wird (vgl. hierzu im Allgemeinen: Adorno 1964: 413ff.; Horkheimer 1947; Horkheimer/Adorno 1947).
EINLEITUNG
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Bei dem Versuch, Ideologieanalyse als kritische (und nicht normative)
Methode zu etablieren, sollte davon ausgegangen werden, dass Ideologie
sowohl eine historische Genese hat, wie über eine gesellschaftlich vermittelte Basis verfügt (vgl. Choe 1997; Fritzsche 1976; Malewski 1959):
»Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. [...] Die Menschen sind die Produzenten
ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie
bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des
denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf.«
(Marx/Engels 1845/46: 26)
Diese Ideen-, Vorstellungs- und Bewusstseinsproduktion, von der Marx
und Engels hier sprechen, verweist letztlich auf die in der bürgerlichen
Gesellschaft vorherrschende Warenfetischisierung. Dieser besteht darin,
dass in der modernen, Waren produzierenden Gesellschaft den Menschen
die »gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche
Charakter der Arbeitsprodukte selbst« und damit als »gesellschaftliche
Natureigenschaften« erscheinen und folglich die gesellschaftlichen Verhältnisse die »phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen«
annehmen (Marx 1867: 86f.). Das wird illuminiert durch die Entkoppelung
des Gebrauchswertes gegenüber dem bloß als Gedachtes fungierenden
Tauschwert, die hiermit verbundenen Herrschaft des Tauschwertes über
das menschliche Bedürfnis sowie die daraus resultierende Verwechslung
des gesellschaftlichen Scheins mit der Wirklichkeit (vgl. Adorno 1957:
196ff., bes. 209). Auf diese Weise ist der ideologische Ausdruck der Wirklichkeit einerseits von ihr als empirischer Basis getrennt; andererseits wird
er zugleich für die Wirklichkeit selbst gehalten (vgl. Marx/Engels 1845/46:
263). Dieser »notwendig unbewußte« (Engels 1886: 303) Segregationsprozess löst das ideologische Denken jedoch keineswegs gänzlich von der
materiellen Realität ab, sondern es wirkt gleichzeitig und permanent verändernd auf die Wirklichkeit ein, gerade so wie das individuelle Unbewusste
auf das Bewusste (vgl. Fromm 1962: 37ff.).
Somit ergibt sich aus einem generativ bestimmten kritischen Ideologiebegriff ein Verständnis von Ideologie, das auf der einen Seite den fiktiven
Gehalt der politischen Interpretationen im Blick hat, andererseits aber auf
deren realen Kern im Sinne einer gesellschaftlich bestimmten Handlungsgrundlage hinweist (vgl. Porter 2006). So ist die Fiktion gleichzeitig real,
und in diesem Doppelcharakter besteht die Ideologie. Ihre Realität speist
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