Unterrichtsmaterialien für Schulen

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Taumel, Verdruss, Revolte.
In elf Stationen durch das
Wien des Ersten Weltkriegs.
Texte für Lehrer und Schüler
von Alfred Pfoser
1. Das Ende der Langmut
“Daß sie’s nur hören die Feind, es ist ein
heilinger Verteilungskriegskrieg, was mir
führn!“ (Karl Kraus, Die Letzten Tage der
Menschheit, I, 1)
Es gab durchaus Alternativen. Die Auslösung
eines Krieges war weder ein unabwendbares
Verhängnis noch ein blindes Schicksal, das
1
über die Habsburgermonarchie hereinbrach.
Der Mord an Thronfolger Franz Ferdinand
musste keineswegs automatisch einen Krieg
gegen Serbien auslösen. Die Machteliten in
Österreich-Ungarn wussten, dass sie mit
einem Dritten Balkankrieg wahrscheinlich
einen Krieg mit Russland und damit in weiterer
Folge einen großen europäischen Krieg
herbeiführen würden. Aber sie nahmen dieses
Risiko in Kauf, wurden geleitet von den damals
weit verbreiteten Ideen des Imperialismus und
einer offensiven Interessenspolitik in der
Krisenregion Balkan. Österreich-Ungarn wollte
entgegen allen kolportierten Ansagen vom
„kranken Mann an der Donau“ (Friedrich
Engels) den Großmachtstatus behaupten. Das
expansive Serbien suchte nicht die direkte
Konfrontation
mit
der
österreichischungarischen Monarchie, war allerdings ein
(erfolgreicher) Konkurrent in der Neuverteilung
osmanischer Provinzen in Südosteuropa. Wohl
noch wichtiger war die innenpolitische Agenda,
die bei der Kriegserklärung im Hintergrund lief:
Ein Krieg sollte die Nationalitäten- und
Klassenkonflikte dämpfen, dem Parlament die
Macht des Staates demonstrieren und einen
habsburgisch-österreichischen
2
Reichspatriotismus schaffen.
Durchsetzung der albanischen Staatsgründung
1913, wollte Österreich-Ungarn eine Politik der
militärischen Stärke praktizieren. Nach dem
mörderischen
Attentat
bot
sich
eine
ausgezeichnete Gelegenheit, ein „Ende der
Langmut“ zu verkünden. Die Armeeführung,
die schon seit Jahren auf einen Krieg drängte,
weil sie sich davon eine Stärkung des Reiches
versprach, sollte endlich ihren Willen haben.
Unmittelbar nach dem Mord in Sarajevo
stellten Kaiser und Regierung, bald auch die
ungarische Führung, den Schalter auf Krieg
und verfolgten diese Linie konsequent bis zur
ersten Beschießung Belgrads am 29. Juli
1914. Nach dem „Blankoscheck“ aus Berlin
fühlten sich die Machteliten in Wien sicher. Die
Medien apportierten, feierten vorneweg das
Habsburgerreich als schnellen Sieger und
produzierten
eine
Stimmung
des
Größenwahns, wobei das Seite-an-SeiteStehen mit der Deutschen Armee schon bei
den patriotischen Kundgebungen in Wien eine
auffallende Rolle spielte. Im Schutz der
Nibelungentreue fühlte sich Österreich-Ungarn
als Kraft strotzende Großmacht, die nun mit
dem lästigen Konkurrenten im Südosten
aufräumen könne.
Schon mit der 1908 erfolgten Annexion
Bosnien-Herzegowinas, wie später bei der
1
Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das
Ende der Habsburgermonarchie. Wien 2013.
2
Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates.
Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20.
Jahrhundert. Wien 1994, S. 236. Roman Sandgruber:
Ökonomie und Politik. Österreichische
Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Wien 1995, S. 315.
Abb. 1: Postkarte mit Hervorhebung des österreichischdeutschen Bündnisses
Als am 25. Juli 1914 feststand, dass die
Entscheidung zum Krieg gefallen war, rissen
Massen in Wien den Extrablattverkäufern die
Zeitungen aus den Händen. Menschen zogen
jubelnd mit Hurra-Rufen durch die Stadt, in den
Straßen ertönten das Andreas-Hofer-Lied, die
alte Kaiserhymne, das Prinz-Eugen-Lied, Oh
du mein Österreich oder Die Wacht am Rhein.
Fahnen wurden gehisst, Taschentücher und
Hüte geschwungen, feindliche Botschaften
belagert. Bei der Ablöse der Burgwache vor
der Hofburg, die von der Regimentsmusik der
Deutschmeister musikalisch begleitet wurde,
ließen die Anwesenden den Kaiser feierlich
3
4
dreimal hochleben. Viele, etwa Stefan Zweig
5
oder Leo Trotzki , haben den Sog der
patriotischen Begeisterung beschrieben.
Die Mobilisierung wurde zur Erfolgsgeschichte.
In der beispiellosen Belastungsprobe der
Julikrise brach das Vielvölkerreich nicht
auseinander. Weder rebellierten die Völker,
noch lehnten sich die Sozialdemokraten auf.
Die Maschinerie der Einberufung funktionierte
ohne Gegenwehr, die Dramaturgie der
Kriegsauslösung brachte ohne jeden offenen
Zwang die Kritik zum Schweigen und hielt alle
Friedensdemonstrationen
nieder.
Das
ausgerufene Kriegsnotstandsrecht brauchte
Repression und Diffamierung nur in peripheren
Einzelfällen einzusetzen. Den eingezogenen
Arbeitern und Bauern garantierte die
Armeeführung lukullische Versorgung. Wer
international
auf
ein
Zerfallen
der
Habsburgermonarchie gesetzt hatte, wurde
durch eine geschlossen wirkende patriotische
Front überrascht. Wiens Literaten, Künstler
und Intellektuelle zeigten sich vom Erlebnis der
Volksgemeinschaft begeistert, schwärmten von
Erlösung, Erweckung und Ertüchtigung und
ließen ihren Gefühlen angesichts der neuen
sozialen Kohäsion freien Lauf. Der alte Kaiser
schien mit seinem Entschluss, einen Krieg zu
führen, die Habsburgermonarchie in eine
6
Verjüngungskur zu versetzen.
Abb. 2-4: Patriotische Anstecknadeln
3
Pfoser, Alfred: Chronik 1914. In: Alfred Pfoser/ Andreas
Weigl (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien
im Ersten Weltkrieg. Wien 2013, S. 581-587.
4
Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines
Europäers. Frankfurt am Main 401970, S. 258 (=Fischer
Taschenbuch)
5
Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie.
Berlin 1930, S. 224f.
6
Zu diesem Ergebnis kommt auch der zeitgenössische
Bericht eines schwedischen Journalisten: Karl Hildebrand:
Die Donaumonarchie im Kriege. Studien und Eindrücke in
Österreich-Ungarn Juni – Juli 1915. Wien 1916.
2. Verlustlisten
„Beachten Sie die tägliche Zeitungsrubrik
‚Heldentod‘.“ (Karl Kraus: Die letzten Tage der
Menschheit, I, 29)
Die Kriegsbegeisterung war in Wien allerdings
keineswegs so einhellig und parteien- und
schichtenübergreifend, wie oft dargestellt. Zu
klären wäre, wie weit es diese Kriegseuphorie
auch in den Vorstädten und Vororten gab und
der Enthusiasmus durch Schlagzeilen der
Zeitungen, Falschmeldungen der Regierung,
Propagandaveranstaltungen der christlichsozialen Stadtregierung oder Kriegspredigten
in den Kirchen ferngesteuert war. Beobachter
registrierten schon damals, dass sich in den
sensationslüsternen Jubel eine gedrückte
Stimmung, auch Ärger über gestiegene Preise
mischten. Allerlei falsche Gerüchte über Siege,
Luftangriffe und Sabotageakte machten die
Runde, es war viel Hysterie im Spiel, vereinzelt
fiel der Mob über angebliche Feinde und ihre
Geschäfte her und prügelte sie halb tot.
Tatsache war, dass weder Völker noch
Parteien
noch
die
Friedensoder
Frauenbewegung öffentlich protestierten. Dazu
trug sicherlich auch der bereits auf Hochtouren
7
arbeitende staatliche Repressionsapparat bei.
Wenn es sie denn gegeben hat, dann war die
Kriegseuphorie ein kurzes Strohfeuer von
wenigen Tagen. Denn die Realität, die der
Kriegserklärung folgte, war vergleichsweise
jämmerlich. Und zwar von Beginn an. Wie sich
bereits in Ansätzen an den ersten Tagen nach
der Mobilisierung herausstellte, war die
Habsburgermonarchie weder an der Front
noch im Hinterland auf den Krieg gut
vorbereitet. Das Kriegsgeschehen erreichte
Wien vorerst durch die in den Zeitungen
publizierten Toten- und Vermisstenlisten. Zum
Entsetzen der Führung und der Bevölkerung
setzte es nach kurzer Zeit militärische
Niederlagen mit zehntausenden Toten, füllte
sich Wien auf horrende Weise mit
hunderttausenden Flüchtlingen und Verletzten.
Ab 24. August 1914 trafen täglich große
Massen Verwundeter in Wien ein, einmal bloß
500, dann waren es gar 4.000 an einem Tag.
Bis 2. Oktober 1914 landeten insgesamt
43.151 verletzte Soldaten in Wien. Der Bedarf
an Räumen für die Versorgung war groß, die
Kapazitäten der Krankenhäuser reichten nicht
aus, Universität, Parlament, Secession,
7
Pfoser, Wohin der Krieg führt, S. 583f. Rauchensteiner,
S. 174.
Abb. 5: Verwundeter im Kriegsnotspital in der Universität
Wien
Abb. 6 Junge Männer nach einer Beinamputation
Abb. 7: Kriegsnachrichten und Verlustlisten wurden an
öffentlichen Plätzen angeschlagen.
Abb. 8: Galizische Flüchtlinge registrieren sich in einem
Wiener Flüchtlingsheim.
Künstlerhaus und viele andere öffentliche
Gebäude sowie die Hälfte aller Schulen
wurden in Hospitale umfunktioniert. Ein Bericht
der Wiener Polizei im März 1915 meldete ca.
260.000 Verwundete, die zur Behandlung in
Wien strandeten. Wien war zu einem riesigen
Spital geworden. Zum gleichen Zeitpunkt
hielten sich auch etwa 200.000 bis 250.000
Flüchtlinge aus Galizien und Polen in Wien
8
auf.
Zeitgleich mit der Mobilisierung verschärfte
sich die Versorgungssituation, sorgten Mangel
und Erlässe für Restriktionen im Alltag. Sie
stellten nach und nach auch das Hinterland
unter das Zeichen eines „totalen Krieges“, der
Zerstörungen anderer Art hinterließ. Die
Illusion, dass das Leben in der Stadt vom Krieg
unbehelligt weiter gehen würde, war schnell
weggefegt.
Teuerung
und
mangelndes
Angebot auf den Märkten in Folge
eingeschränkter
Transportmöglichkeiten
erzeugten Krisenstimmung, die kriegsbedingte
Sperre von Betrieben produzierte in den
Anfangsmonaten eine Massenarbeitslosigkeit.
Die von den staatlichen Behörden beauftragte
kommunale
Verwaltung
reagierte
mit
verschärfter Kontrolle und einer Reihe
sozialpolitischer
Maßnahmen,
um
Unzufriedenheit und Unruhe, erst gar mögliche
Krawalle im Zaum zu halten. Im Winter
1914/15 drohte gar eine russische Invasion.
20.000
Arbeiter
waren
fieberhaft
am
„Brückenkopf Wien“ bei
Herstellung und
9
Ausbau von Fortifikationsanlagen im Einsatz.
8
Gabriele Kohlbauer-Fritz: „Elend, überall wohin man
schaut“. Kriegsflüchtlinge in Wien, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S.96-103. Beatrix Hoffmann-Holter:
„Abreisendmachung“. Jüdische Flüchtlinge 1914 bis 1923.
Wien 1995. David Rechter: The Jews of Vienna and the
First World War. London 2001.
9
Karl Fischer: Spuren des Krieges im Stadtbild. Zwei
Beispiele, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.
442-446.
Während die Nachrichten über die Niederlagen
für Depression und Aufregung sorgten und die
Umstellung auf die Kriegswirtschaft lief, wollte
Wien Normalität zeigen. Die Ballsaison wurde
allerdings wegen der trüben Kriegslage
gestrichen. Alle großen traditionellen Wiener
Bälle wurden genauso abgesagt wie die
üblichen „Gschnas“-Abende und Redouten Die
Unterhaltungstheater fielen nach einer kurzen
Konjunktur des Patriotismus wieder in die
Routine des Eskapismus. In einer Wiener
Operette wurde allabendlich gesungen: „Stillen
wir den Liebesdurst/ Alles andere ist uns
10
11
Wurst“ Das katholisch-konservative Wien
sah die Stunde der Rechristianisierung der
Stadt
gekommen,
veranstaltete
Kriegsbittprozessionen, war wegen des
Sittenverfalls besorgt, erregte sich am Befund,
dass viele galizische Flüchtlinge ins Theater
gingen, dass jetzt gar ein polnisches Theater
aus Lemberg in Wien spiele, während „die
12
Söhne im Felde bluten“.
Der Nikolo- und Christkindlmarkt Am Hof fand
wie gewohnt statt, die Zinnsoldaten hatten sich
gegenüber den Vorjahren allerdings um
13
Regimenter vermehrt. Zu Weihnachten 1914
wurde
vermehrt
auch
Kriegsschmuck
geschenkt: „Gold gab ich für Eisen“-Ringe,
„Kameradschaftsringe“ , Ringe mit dem
schwarzgelben Kreuz, Broschen mit Degen,
Kaiserkronen oder Fahnen. Offizieren ließen
für ihre Frauen bei Juwelieren Uhrenarmbänder anfertigen, die wiederum schickten
Weihnachtspakete mit Silberuhren oder
14
silbernen Zigarettendosen ins Feld.
Der
übliche Sylvesterrummel wurde verboten,
Ansammlungen im Freien
untersagt,
Stehenbleiben
mit
Sanktionen
belegt.
Trotzdem war gegen Mitternacht eine
„vermehrte
Bewegung“
im
Bereich
Rotenturmstraße – Stephansplatz – Kärntnerstraße festzustellen. Die vermehrte Präsenz
von Flüchtlingen fiel auf. Kaffee- und
Gasthäuser, in den Musikkapellen spielten,
waren stark besucht; immer wieder wurde die
Kaiserhymne
angestimmt
und
gemein15
schaftlich gesungen.
10
Tägliche Rundschau 18.11.1916.
Maureen Healy: Vienna and the Fall oft he Habsburg
Empire. Total War and Everyday Life in World War I.
Cambridge 2004, S. 127-129.
12
TR 2.3.1915.
13
Fremdenblatt 2.12.1914
14
Neues Wiener Tagblatt 28.12.1914
15
Alfred Pfoser: „Die Röcke hoch! Die Waffen nieder!“ ,
Falter, 01/14, S. 34 ff.
11
3. Sammeln
„Da bin ich gerannt, dort bin ich gerannt, nix
wie Hilfsaktionen; zu Gunsten da, zu Gunsten
dort.“(Karl Kraus, Die letzten Tage der
Menschheit, II,33)
Als der Krieg begann, war der Sozialstaat erst
in zartesten Ansätzen entwickelt. Selbst die
Armenfürsorge stützte sich auf Vereine,
Stiftungen
und
ehrenamtlich
erbrachte
Leistungen. Immerhin brachte die Gemeinde
diese zunehmend unter ihre organisatorische
Kontrolle. In der Luegerzeit (1897-1910) und
danach stiegen sukzessive die kommunalen
Sozialausgaben auf immerhin sieben Prozent
des Gemeindebudgets. Das Versorgungsheim
Lainz (1904), das Jubiläumsspital (1905) und
einige Kinderheilstätten wurden errichtet und
betrieben; die „städtischen Kostkinder“ wurden
erstmals
organisatorisch
durch
einige
16
Fürsorgerinnen begleitet und überwacht. Mit
Kriegsbeginn errichtete die Gemeinde eine
„Zentralstelle der Fürsorge für Soldaten und
ihre in Not geratenen Familienangehörigen“, in
der Zivilgesellschaft konstituierten sich viele
Komitees, angeführt vom Kaiserhaus und der
Aristokratie, zur sozialen Unterstützung
Bedürftiger. Es gehörte zum guten Ton,
„Liebesgaben“ für Soldaten herzustellen. Vor
den Krankenhaus warteten oft hunderte
Freiwillige, um den in die Wiener Spitäler
gebrachten Verletzten Pakete mit kleinen
Aufmerksamkeiten zukommen zulassen. Bald
fokussierten
sich
einzelne
Vereine
(„Kinderfreunde“, „Die Bereitschaft“ etc.)
darauf,
das
Kinderelend
zu
mildern,
Kindergärten
und
Kindertagesheime
einzurichten. Die institutionalisierte Kinderkriegsfürsorge
(Ministerium
für
soziale
Fürsorge, Jugendamt der Stadt Wien,
Mutterberatungsstellen,
Säuglingsfürsorge,
Kriegspatenschaften, Kinderbewahranstalten)
wurde zum Vorboten der umfassenden
17
Wohlfahrtspolitik im Roten Wien.
Unermüdlich
waren
Komitees
und
Hilfsaktionen des Kriegsfürsorgeamtes, der
Gemeinde oder des Roten Kreuzes
im
Einsatz, um benötigte Güter einzusammeln
und
die
Kasse
für
Wohlfahrt
und
Kriegsfürsorge zu füllen. Immer neue Aktionen,
– ausgedacht, um den Spendeneifer der
Bevölkerung zu erhalten. Der Sammelwagen
erwies sich als besonders großer Erfolg.
Begleitet von Pfadfinderbuben fuhr er durch
die Stadt; die Leute wurden aufgefordert, allen
überflüssigen Hausrat abzugeben. Spektakel
in Sälen und Theatern wurden entwickelt, um
zu Geld zu kommen. Männergesangsvereine,
deren Faschingsfeste berühmt waren, stellten
sich wie viele andere Institutionen und Vereine
in den Dienst des Patriotismus, legitimierten
18
ihre Veranstaltungen mit Spendenaktionen.
Abb. 9: Gummireifen
eingesammelt.
Andreas Weigl: Kommunale Daseinsvorsorge. Zur
Genesis des ‚Fürsorgekomplexes‘, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S.337-338.
17
Andreas Weigl: Kommunale Daseinsvorsorge. Zur
Genesis des ‚Fürsorgekomplexes‘, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S.336-347.
im
Wiener
Rathaus
Ein Einfall jagte den anderen. In den
Wirtshäusern verwendeten Kellner an Stelle
des üblichen weißen Blocks einen gelben vom
Roten Kreuz und verrechneten dafür jedem
Gast zwei Heller zusätzlich. Frauen und
Männer trugen bis zu drei oder mehr
Abzeichen im Knopfloch. Der Sammeleifer
offenbarte sich auch in den Klatschspalten der
Zeitungen und in Fotos der illustrierten Blätter,
wo „Spendenausweise“ auflisteten, wer wie
viel spendete. Dieses Phänomen wiederholte
sich auch beim „Wehrmann im Eisen“, der am
3. März 1915 auf dem Schwarzenbergplatz
feierlich eröffnet wurde. Wer mindestens eine
Krone erlegte, durfte einen Nagel in den Ritter
aus Lindenholz schlagen. Der Name der
Spender und die Höhe ihres Beitrags wurden
in ein Ehrenbuch eingetragen. Zu den
Sammelwägen, die potentiell jede Art von
Hausrat mitnehmen, kamen spezialisierte
Sammlungen, die vor allem auf die von
Munitionsindustrie benötigten Rohstoffe (Gold,
Zinn, Zink, Blei, Messing, Gummireifen)
zielten. Die bekannteste Aktion war wohl das
fürs Vaterland erbrachte Opfer des wertvollen
Eheringes zugunsten „Gold gab ich für
19
Eisen“.
18
16
werden
Die Zeit 29.11.1914
Bernhard Denscher: Gold gab ich für Eisen.
Österreichische Kriegsplakate 1914-1918. Wien 1987.
Alle digitalisierten Plakate der Wienbibliothek sind
erreichbar unter:
http://www.digital.wienbibliothek.at/nav/classification/47997
2
19
das elektrisierte, ein
anderes lautete
„Approvisionierung“. Österreich hinkte der
deutschen Rationierung hinterher, zögerte bei
der Einführung von Brot-, Fett-, Petroleumoder Kleiderkarten. Aber die Einführung der
Karten kam auch hier, Wien war diesbezüglich
der Vorreiter in der Monarchie.
Abb. 10: Sammelwägen dienten zur Abholung von
Sachspenden aus den Wiener Haushalten.
In der Schlussphase des Krieges nahm der
Beutezug der Organisationen und des Staates
mehr und mehr Zwangscharakter an und stieß
auf
Widerstand.
Selbst
Bürgermeister
Weiskirchner weigerte sich, die Messingklinken
des Rathauses abzuliefern. Am begehrtesten
war Geld: Selbst wenn die Vermögen
bescheiden waren, wurde dem Mittelstand mit
aller Dringlichkeit und viel Propaganda
vermittelt, Kriegsanleihen zu zeichnen und
auch die eisernen Reserven dem Staat zur
Verfügung
zu
stellen.
Kriegsanleiheversicherungen und günstige Kreditangebote
sollten die Masse der zahlungsschwächeren
Klientel zur Zeichnung locken. Bei den mit
großem
Aufwand
beworbenen
acht
Kriegsanleihen
wurden
hohe
Zinsen
versprochen. Nie zuvor hat es in der
Geschichte der Wiener Zivilgesellschaft eine
derart breit gestreute, gut organisierte
Sammel- und Spendenaktion gegeben als
20
während des Ersten Weltkrieges.
4. Organisation
„Schaun S‘ meine Herrn, da können S’sagen
was Sie wolln gegen die Deutschen – eines
muß ihnen der Neid lassen, sie ham halt doch
die Organisation.“ (Karl Kraus, Die letzten
Tage der Menschheit, II, 27)
Bereits 1915 wurde es immer deutlicher, dass
die Wienerinnen und Wiener über den Handel
nicht ausreichend ernährt werden konnten und
die logistische Versorgung nicht mehr
funktionierte. Eine zentrale Bewirtschaftung
sollte das Problem lösen. Das große,
bewundernswürdige Vorbild war das Deutsche
Reich, „Organisation“ lautete ein Zauberwort,
20
Charlotte Natmeßnig: Profiteure des Kriegs- und
Inflationskonjunktur? Die Wiener Banken im Ersten
Weltkrieg und nach dem Umbruch, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 240-253. Rudolf Bogensperger: „…
um den gerade unter den heutigen Verhältnissen
wertvollen Sparsinn zu fördern“. Die Zentralsparkasse (Z)
und die Kleinsparer/innen, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 254-261. Rauchensteiner, 585-597.
Abb. 11: Lebensmittelkarte für den Einkauf von Brot bzw.
Mehl
Die Festsetzung von Höchstpreisen, bereits
unmittelbar nach Kriegsbeginn betrieben,
erwies sich vielfach als Bumerang. Die
Produkte verschwanden einfach vom Markt
und wurden unter der Hand verkauft. Um die
Versorgung zu garantieren, wurde in Wien
nach und nach eine Vielzahl von Lebensmitteln
und Bedarfsgütern rationiert. Als weiteres
Steuerungsmittel kam die Rayonierung: Der
Bezug von Lebensmitteln war an bestimmte
Geschäfte und Tage gebunden. „Wer mochte
es glauben, dass Gemeinden und Staat so tief
in das Privatleben eingreifen werden, daß
einem vorgeschrieben werden wird, wann man
Fleisch essen darf, wann die Verwendung von
Fett verboten ist, wie groß die Menge der
verschiedenen Lebensmittel ist, die man
genießen darf?“, schrieb eine Zeitung.
Die Behörden konnten mittels Bezugskarten,
Einkaufsscheinen und Rayonierung steuern,
welche Mengen dem einzelnen zustanden.
Zumindest theoretisch. Denn garantieren
konnten sie sie nicht, da die Lebensmittel- und
Kohlezufuhr an die Stadt dafür zu unstabil war.
Klagen, dass einzelne Bezirke schlecht
versorgt
würden,
beschäftigten
die
Obmännerkonferenz
der
Stadtregierung.
Versorgungssicherheit konnte es nicht geben.
Die Wiener Bevölkerung lebte sozusagen von
der Hand in den Mund. Abhilfe schaffen sollen
neue
städtischen
Lagerhäuser
und
Lagerflächen, die Gemeinde kaufte in
Kooperation mit den Zentralbehörden und den
Einkaufszentralen in großen Mengen ein und
brachte die Güter je nach Bedarf auf den
Markt. Darüber hinaus versuchten Stadt und
Regierung, der Not in Wien mit der
Erweiterung sozialpolitischer Maßnahmen
(Mieterschutz, Kriegsküchen, Kriegsgärten,
Unterstützungen für Mindestbemittelte) und
Hilfe zur Selbsthilfe (Boden für Kriegsgärten)
entgegenzutreten.
Abb. 12: Schulkinder legen einen Kriegs-Gemüsegarten
an.
Nach der großen Bestandsaufnahme von
Getreide und Mahlprodukten im Februar 1915
wurde mit April 1915 die Brotkarte eingeführt.
Zur Ausgabe in den Kommissionssprengeln
wurden die aktiven Lehrpersonen verpflichtet.
Ab April 1916 kam die Zuckerkarte, ab Mai
1916 für Kinder unter zwei Jahren besondere
Milchkarten
(ergänzt
durch
die
Mehlrayonierung ab Februar 1917), ab Juli
1916 die Kaffeekarte, ab September 1916 die
Fett- und Butterkarte. Ab Dezember 1916 trat
die auf der Grundlage der Mehlbezugskarte
beschlossene Mehlrayonierung, im Februar
1917 die Brotrayonierung in Kraft. Die
Petroleumbezugskarte ermöglichte die mit
Februar 1917 begonnene Rayonierung des
Petroleums; einige Monate später wurde mit
der Petroleumbezugskarte in Kombination mit
der Kerzenkarte und der Kerzenrayonierung
die
Versorgungssicherheit
zu
erhöhen
versucht. Mitte August 1917 kam die
Seifenkarte, mit Oktober 1917 wurde unter
Zugrundelegung
der
Kartoffelkarte
der
Kartoffelbezug mit ein Kilogramm für die
Person und die Woche rayoniert. Mit
November 1917
trat die auf die
Kohlenbezugskarte
aufgebaute
Kohlenrayonierung in Kraft. Mit September
21
1918 kam die Fleischkarte.
Als weiteres Steuerungsinstrument wurden
amtliche Einkaufsscheine eingeführt, damit
konnten große Kontingente verschiedener auf
den Markt kommender, zum Teil von der
Gemeinde selbst eingekaufter Lebensmittel
gezielt verteilt werden. Spezielle Gruppen
(Schwangere, stillende Mütter, Säuglinge etc.),
die sich nur begrenzt über den Markt
versorgen konnten, wurden dabei besonders
berücksichtigt. Im Juli 1917 wurden die ersten
amtlichen Einkaufsscheine an alle Wiener
ausgegeben,
gestaffelt
je
nach
Haushaltseinkommen. Von großer Bedeutung
war
die
Zuerkennung
des
Status
„Minderbemittelter“, weil dieser den Zugang zu
eigenen Verkaufsaktionen ermöglichte. So
wurde an den Ständen der Großschlächterei
„Wohlfahrtsfleisch“ an die sogenannten
„Mindestbemittelten“ abgegeben. In Aktionen
gelangten auf diese Weise auch Eier, Kerzen,
Käse, Kraut, saure Rüben, Reis, Zwirn,
Brennholz oder Dörrgemüse zur Verteilung.
Die Zahl der „Mindestbemittelten“ war
imposant: Insgesamt bezogen mehr als
200.000 Haushalte und 700.000 Personen
22
Einkaufsscheine.
Der bürokratische Aufwand war erheblich,
auch weil immer wieder die Berechtigungen
behördlich überprüft wurden. Außerdem
mussten Besonderheiten einzelner Gruppen
berücksichtigt werden. Mit 10. Februar 1916
wurden etwa 1.862.264 volle Brotkarten, 3.566
geminderte
Brotkarten,
30.480
Junggesellenkarten,
443
Störbrotkarten,
23
190.244 Schwerarbeiterkarten ausgeben.
Zugleich war die Menge der Bezugsberechtigten in Folge von Zuzug und
temporärem Aufenthalt alles andere als stabil.
So brachten Fronturlauber bzw. ab 1917 von
Ostfront zurückkommende Soldaten ihre
Forderungen
nach
Versorgung
ein;
Soldatengruppen versuchten oft gewaltsam
Zugang zu Lebensmittel zu erhalten. Mit
Dezember
1917
wurden
erstmals
Militärurlauberkarten in Umlauf gebracht und
an 90.000 Soldaten ausgegeben; ab 1. Juni
1919 tragen diese Karten die Aufschrift
21
Christian Mertens: Die Auswirkungen des Ersten
Weltkriegs auf die Ernährung Wiens, in: Im Epizentrum
des Zusammenbruchs, S. 162-171.
22
Die Gemeindeverwaltung der Stadt Wien in der Zeit vom
1. Jänner 1914 bis 30. Juni 1919. Wien 1923, S. 372-381.
23
Ebenda, S. 376.
‚Lebensmittelkarten
24
Aufenthalt‘.
für
vorübergehenden
gehört
dessen
tägliche
Feststellung,
Belobigung und behagliche Beschreibung.“
5. Durchhalten!
Der Wiener speziell is ein Prima-Durchhalter.
Alle Entbehrungen tragen sie bei uns, als ob
es ein Vergnügen wär. (Karl Kraus, Die letzten
Tage der Menschheit, I,11)
Als klar wurde, dass der Krieg nicht schnell zu
gewinnen war und sich die Bevölkerung auf
gravierende Veränderungen in der Versorgung
und Ernährung einstellten musste, wurden die
Hausfrauen als „Soldatinnen des Hinterlandes“
propagandistisch
mobilisiert:
Dutzende
25
Kriegskochbücher
sollten auf die neue
Kriegsküche einstimmen, Kochkurse der
„Reichsorganisation
der
Hausfrauen
Österreichs“ (ROHÖ) zielten auf die Schulung
im Umgang mit neuen Lebensmitteln,
Zeitungen ergingen sich im Lob der
„sparsamen Hausfrau“, die etwa ein kluges
Küchenregiment mit Kartoffelgerichten führt.
Auf der Rückseite von Straßenbahnscheinen
sollten Kochrezepte Lust aufs Backen und
Kochen mit Maismehl machen. Alle wurden
eingeschworen auf das „Opfer-Bringen“, auf
26
die Opferbereitschaft.
Wien wurde zur Stadt der Kleintierzüchter.
Kaninchen, Hühner, Gänse, Ziegen wurden
gehalten, Abfälle zur Fütterung genutzt.
Hinterhöfe dienten als Weideplätze. Die Stadt
vergab
Kleingärten,
um
die
27
Selbstversorgungsrate zu erhöhen. Neben
konkreten
Anleitungen
lieferten
die
bürgerlichen Zeitungen auch allgemeine
Durchhalte-Feuilletons. Sogar die aristokratische Gesellschaft pries die „Vereinfachung
des Lebens“, die „Rückkehr zur schlichten Art“.
Felix Salten lobte den Zuckermangel, die
Fußmärsche oder das Ende der vermeintlichen
Notwendigkeiten: „Heute überlegen wir uns
jedes Gelüste. Und das ist am Ende kein übler
Zustand.“
Karl
Kraus
über
die
„Durchunddurchhalter“: „Zu den grauslichsten
Begleiterscheinungen des Durchhaltens, als
wär’s kein Leiden, sondern eine Passion,
24
Ebenda, S. 380f. Drei Jahre Brotkarte, in: Illustrierte
Kronen-Zeitung 10. April 1918.
25
Volltexte gibt es in der Digitalen Bibliothek der
Wienbibliothek:
http://www.digital.wienbibliothek.at/nav/classification/44293
0
26
Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S.
36-43. Auch: Maureen Healy: Vom Ende des
Durchhaltens, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.
132-139.
27
Siegfried Mattl: Lob des Gärtners. Der Krieg und die
Krise der Urbanität, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 470-475.
Abb. 13.: In Zeitungsinseraten werden Hilfsmittel für
Selbstversorger beworben.
Noch 1916 priesen die Feuilletonisten die neue
Schlankheit
und
die
neue,
durch
Reduktionskost hervorgerufene Schönheit der
Frauen. Die „Genialitäten der Sparsamkeit“
warteten auf die Anwendung durch die
bürgerliche
Hausfrau.
Schweinsbraten,
Wienerschnitzel oder Backhendl kamen nicht
mehr auf den Tisch, die fleischlosen Tage
wurden erweitert, die vegetarische Küche war
auf dem Vormarsch. Auf dem Markt machten
sich auch immer mehr (meist dubiose)
Ersatznahrungsmittel breit; Mehl, Kaffee, Seife,
Wurst wurde durch minderwertige Anteile
28
gestreckt. Im Sinn einer preiswerten Führung
der Küche wurde geraten, sich vom Angebot
und den Preisen auf den Märkten leiten zu
lassen. Ein genau geplanter Speisezettel für
die ganze Woche, wie das früher üblich war,
erwies sich für die Hausfrau, „die tapfere und
erfolgreiche Kämpferin des Hinterlandes“, als
zunehmend unmöglich. Annoncen bewarben
Haushaltsgeräte, die sparen helfen sollten: die
Kochkiste, den Gemüse- und Obstdörrapparat,
die Weck- und Rexsysteme. Männer mischten
sich massiv in den Einkauf ein und
interessierten sich für die Preise der
Lebensmittel. Bei geselligen Abenden wurden
fast nur mehr von der Versorgung und den
Preisen gesprochen. Der Feuilletonist Ludwig
Hirschfeld brachte die neueste Stimmung im
bürgerlichen Wien humoristisch auf den Punkt:
„Die
Verlobungs-,
Scheidungsund
Theaternachrichten hören auf, die einzig
interessanten Themen zu sein ... Die
pikanteste Eheirrung verliert neben der
bedrohlichen
Situation
auf
dem
Borstenviehmarkt, und der mangelnde Auftrieb
an Beinlvieh ist entschieden wichtiger, als das
28
Andrea Brenner: Das Maisgespenst im Stacheldraht.
Improvisation und Ersatz in der Wiener
Lebensmittelversorgung des Ersten Weltkrieges, in: Im
Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 140-149.
Erscheinen sämtlicher Librettisten bei einer
29
Opernpremiere.“
6. Anstellen und Hamstern – Eine
Stadt in Aufruhr
Die regelmäßige Zufuhr von Nahrungsmitteln
war erheblich (1915/1916) bis schwer
(1917/1918)
beeinträchtigt. Das in Wien
erzeugte Brot war zur Hälfte aus ungarischem
Mehl
gebacken,
die
Hälfte
der
Schlachtviehzufuhr stammte ebenfalls aus
Ungarn.
Die
Importe
aus
der
transleithanischen
Reichshälfte
sanken
während der Kriegszeit auf ein Sechstel des
Vorkriegsvolumens. Auch das von der
russischen Armee zerstörte Galizien fiel als
Agrarlieferant aus. Erst mit dem Sieg gegen
Rumänien gab es erstmals den Zugriff auf
landwirtschaftliche Produkte aus den besetzten
Ländern. Personal-, Pferde-, Dünger- und
Saatgutmangel ließen auch die heimische
Nahrungsmittelproduktion
sinken.
Die
verstärkte Nachfrage durch die Armeeverwaltung reduzierte ebenfalls das Angebot
für den zivilen Sektor. Hinzu kamen die
Schwierigkeiten des Transports, die die
Belieferung
der
Märkte
erheblich
30
beeinträchtigten. Die mangelnde Versorgung
mit Kohle im Steckrübenwinter 1916/17 war
ausschließlich
auf
den
Vorrang
der
Militärlogistik und die Benachteiligung des
31
Zivilverkehrs zurückzuführen.
„Ein Wachmann: ‚Sechts denn net, daß
ausverkauft is‘.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage
der Menschheit, II,11)
Als sich Anfang August 1914 Gemüse und
Kartoffeln verteuerten, verwüsteten Frauen auf
dem Yppenplatz
im Bezirk Ottakring
Marktstände. Ein Jahr später eskalierte die
Situation vielerorts vor Geschäften und auf den
Märkten. Bei mehreren Grundnahrungsmitteln
zeichneten sich Engpässe ab, lieb gewordene
Gewohnheiten (etwa beim Feingebäck wie
Semmeln) wurden behördlich unterbunden,
Weizen- und Roggenmehl durch Maismehl
ersetzt.
Stimmungsberichte
der
Polizei
vermerkten
erste
Warteschlangen
für
bestimmte Waren.
Im Mai 1916 gab es erstmals bezirksübergreifende Hungerkrawalle. Die Dramatik
des Anstellens verschärfte sich von Monat zu
Monat. Täglich stellten sich hunderttausende
Menschen (nach Berichten der Polizei 300.000
bis 500.000) unter entsetzlichen Bedingungen
an, um an ihre Ration Brot zu kommen, ein
Stückchen Fleisch oder ein paar Eier zu
erobern. Wer dies nicht tat, lief Gefahr,
überhaupt nichts oder nur minderwertige Ware
zu Hause zu haben. Die Behörden versuchten
das Anstellen zu verbieten, Bürgermeister und
Gemeindepolitiker traten dagegen auf – allein
es half nichts. Das Anstellen wurde zum
32
Zeichen dieses Krieges.
Abb. 14: Auch Heizmaterial war knapp- Anfertigung von
Altpapierbriketts als Ersatz für Kohlen
Abb. 15: Anstellen vor einer Bäckerei. Die Polizei muss die
Massen beruhigen.
32
29
Neue Freie Presse 25. April 1915.
30 Ernst Langthaler: Die Grossstadt und ihr Hinterland, in:
Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 232-239.
31 Richard Hufschmied: Energie für die Stadt. Die
Kohlenversorgung von Wien im Ersten Weltkrieg, in: Im
Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 180-189.
Maureen Healy: Eine Stadt, in der sich täglich
Hunderttausende anstellen, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 150-162. General Landwehr:
Hunger. Die Erschöpfungsjahre der Mittelmächte 1917/18.
Wien 1931. Hans Loewenfeld-Russ: Die Regelung der
Volksernährung im Kriege. Wien 1916 (=Carnegie-Stiftung
für internationalen Frieden. Wirtschafts- und
Sozialgeschichte des Weltkrieges. Österreichischungarische Serie). Hans Loewenfeld-Russ: Im Kampf
gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des
Staatssekretärs für Volksernährung 1918-1920. Hrsg. und
bearb. Von Isabella Ackerl. Wien 1986, S. 1-135.
Die Bezugskartensysteme verbesserten zwar
die Verteilungsgerechtigkeit, hatten aber den
Nachteil, dass nur wenige Waren erfasst
wurden, während die Teuerung andere Waren,
etwa auch Obst und Gemüse, für die ärmeren
Bevölkerungsteile unerreichbar machte. Hinzu
kam, dass die Karten nur theoretisch zum
Bezug berechtigten. Praktisch war trotz
Rationierung oft kein Brot zu haben. Das hatte
auch mit der Attraktivität der Läden zu tun: Da
die Qualität von Kartoffel, Brot und Mehl oft
sehr unterschiedlich war, verteilten sich die
Konsumenten auch ganz verschieden. Alle
wollten das „bessere Brot“ oder das „bessere
Mehl“. Die Stimmungsberichte hielten oft fest,
dass ein Viertel der angestellten Massen leer
ausging, was erhebliche Unruhe erzeugte und
die ohnehin vorhandene Aggressivität noch
verstärkte.
Das Gros der Bevölkerung war 1916 längst
unterernährt, Kleider und Anzüge passten nicht
mehr.
Der
Kalorienmangel
produzierte
Krankheiten und erhöhte die Sterblichkeitsrate.
Dem Staat und der Stadt gelang es nicht mehr,
ausreichende Versorgung zu gewährleisten.
Die patriotische Stimmung schwang um,
zunehmend auch bei den Mittelschichten. Die
„Kriegsgrobheit“ machte den Umgang der
Menschen miteinander zunehmend rauer. Der
„Hungerkrieg“ war in vollem Gange, Politiker
wurden bedroht, die Geduld war am Ende. Die
Verzweiflung über die Lebensmittelnot machte
der Opferbereitschaft ein Ende, die Menschen
in Wien waren im Totalen Krieg angekommen.
Maus: Schuhgeschäfte wurden gestürmt,
Bäckerautos überfallen, Fleischergeschäfte
ausgeraubt, Keller und Dachböden nächtens
von Banden nach Lebensmitteln abgesucht.
Jahr für Jahr wurden die zugeteilte Ration
kleiner und der Hunger größer. Die
Bevölkerung
wurde
zum
„Abhungern“
gezwungen. Meldungen von der Februar- und
Oktoberrevolution
in
Russland
wirkten
elektrisierend; der Slogan „Brot und Frieden“
33
verfing auch in Wien.
Die Massenstreiks im Jänner 1918 hingen eng
mit der Halbierung der Brot- und Mehlration
zusammen.
113.000
Arbeiterinnen
und
Arbeiter waren am 20. Jänner in Wien und im
Wiener Neustädter Becken im Ausstand. Sie
setzten Kaiser und Regierung in Panik, die
Verhängung des Ausnahmezustandes wurde
angedacht, in der Metallindustrie gab man den
Lohnforderungen nach. Im Juni 1918 gab es
eine weitere revolutionäre Streikwelle, diesmal
verbunden mit erheblichen Ausschreitungen.
Die Front wuchs endgültig ins Hinterland
34
hinein.
Die Regierung bot der Sozialdemokratie die Kooperation an: Unterstützung
bei der Einhegung der revolutionären Massen
gegen politische Zusagen für die Zeit nach
dem Krieg (allgemeines Wahlrecht für Frauen
und
Männer,
Konstitutionalisierung
der
35
Regierung).
7. Wien ist voll
Metropole sein
–
Noch
einmal
„Hier ist das Herz von Wien und in dem Herzen
von Wien ist eine Pestsäule errichtet.“ (Karl
Kraus, Die letzten Tage der Menschheit III, 46)
Abb.15: Die verarmte Bevölkerung bekam verdorbenes
Pferdefleisch.
Ab Spätherbst 1916 kam eine neue, politische
Dimension ins Spiel. Jetzt griffen die
Belegschaften einzelner Firmen ein, um die
Belieferung mit Lebensmitteln zu erzwingen.
Sie streikten, zogen mit Forderungen nach
Brot und ausreichender Ernährung Richtung
Innenstadt oder zu den Bezirksämtern.
Jugendliche spielten mit der Polizei Katz und
Es gehört zu den Pikanterien des Krieges,
dass Wien in seiner gesamten Geschichte just
zu einem Zeitpunkt einen EinwohnerHöchststand erreichte, als hunderttausend
Wiener weit weg von ihrer Heimatstadt an der
Front im Einsatz waren. Hotels und Pensionen
waren in der Endphase des Krieges
überbelegt. Die Chance, eine Wohnung
anmieten zu können, war gleich null.
Neuankömmlinge
hatten
größte
Mühe,
irgendwo eine Bettstelle zu bekommen. Die
Stadtverwaltung fürchtete die Rückkehr der
Soldaten, weil es für sie keine Wohnungen
33
Hans Hautmann: Hunger ist ein schlechter Koch. Die
Ernährungslage der österreichischen Arbeiter im Ersten
Weltkrieg, in: Bewegung und Klasse. Studien zur
österreichischen Arbeitergeschichte. Hrsg. von Gerhard
Botz. Wien 1978, S. 661-681.
34
Margarete Grandner: Hungerstreiks, Rebellion,
Revolutionsbereitschaft, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 558-565.
35
Ebenda.
gab. Der Wiener Vizebürgermeister Josef Rain
behauptete bereits 1916, dass die Bevölkerung
seit Kriegsbeginn um 400.000 gestiegen sei.
Wahrscheinlich hat Rain noch untertrieben.
Denn unübersehbar wurde Wien in den letzten
Jahren der Monarchie noch einmal zum
zentralen Knotenpunkt: In den überfüllten
Kasernen und angemieteten Quartieren
wurden Soldaten aus der ganzen Monarchie
für den Krieg vorbereitet. Hier landete ein
Großteil der Verletzten, die von der Front ins
Hinterland
verbracht
wurden;
Wien
verwandelte sich zur Lazarettstadt. In Wien
war
die
zentrale
Verwaltung
aller
Kriegsanstrengungen massiert; rund um das
Kriegsministerium
und
das
Armeeoberkommando (ab 1917 in Baden bei
Wien) wurden neue Behörden geschaffen.
Nach Wien strömten auch die meisten
Flüchtlinge, weil ihnen einzig die Großstadt
einige Chancen für die Zukunft zu bieten
schien; als sich etwa 250.000 Flüchtlinge in
Wien angesammelt hatten, wurde der Zuzug
gesperrt.
in der Kriegswirtschaft deutlich an Bedeutung
36
verlor.
Die
Wiener
Bahnhöfe
bildeten
die
Relaisstationen dieser Bewegungsströme.
Züge
transportierten
Militärs,
Verletzte,
Flüchtlinge, Kriegsgefangene, besorgten den
Gütertransport zwischen den einzelnen Teilen
der Monarchie, zwischen Front und Hinterland.
Nie
zuvor
wurden
Lokomotiven
und
Waggonmaterial mehr beansprucht als in
diesen Kriegstagen. Die Bahnhöfe glichen
Heerlagern, in den Parks rund um sie
übernachteten Reisende, florierten Schleichhandel, Kleinkriminalität und Prostitution. In der
Endphase des Krieges durchquerten täglich (!)
hunderttausend Menschen den Transitraum
Wien. All die genannten Personenströme
ließen die Zahl der Bewohnerinnen und
Bewohner und temporären Gäste auf weit über
2,4 Millionen klettern.
Abb. 17: Russische Kriegsgefangene werden in die
Rossauer Kaserne gebracht.
Abb. 16: Massenversammlung in der Leopoldstadt: im
zweiten Bezirk lebten besonders viele Flüchtlinge.
Wien wurde zu einem Zentrum der
Kriegswirtschaft und zog Arbeitskräfte aus der
ganzen Monarchie an. Im Arsenal, einer der
wichtigsten Waffenschmieden der Monarchie,
wuchs die Zahl der Arbeiter von rund 2.600 auf
20.000 Beschäftigte. Es gab keine Firma in der
Wiener metallverarbeitenden Industrie, die ihre
Produktion nicht um ein Vielfaches erhöhte,
sondern auch wesentlich mehr Arbeiterinnen
und Arbeiter beschäftigte. Die Automobil- und
Flugzeugfabriken errichteten neue, riesige
Produktionshallen, die Wiener Elektroindustrie
investierte in einen rapiden Ausbau. Die
Wiener Industrie zählte zu den großen
ökonomischen Gewinnern des Krieges, ganz
im Gegensatz zum Wiener Kleingewerbe, das
8. Die „sterbende Stadt“
„Erkrankt,
verarmt,
verludert,
verludert,
verlaust, verhungert, verendet, gefallen zur
Hebung des Fremdenverkehrs – dies unser
aller Los!“ (Karl Kraus: Die letzten Tage der
Menschheit V, 54)
Die Wiener Bevölkerung war sichtlich
gezeichnet. Mittel gegen Krätzmilben waren
stark nachgefragt, Schuhe und Ledersohlen
wurden zum hoch begehrten Gut, Ärzte
diagnostizierten
hin und hin
Mangelkrankheiten. Kinder waren selbst im November
barfuß unterwegs. Müllabfuhr und Schneeräumung funktionierten nicht mehr, der
Straßenbahnverkehr war heillos überlastet und
schrumpfte in den Augen der Stadtbewohner
36
Andreas Weigl: Kriegsindustrie. Die Wiener Wirtschaft im
Dienst der Kriegsökonomie, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 220-231.
37
zu einem Notbetrieb. Landgemeinden taten
mit Tafeln kund, dass „Hamsterer“, Ausflügler
und Sommerfrischler aus Wien unerwünscht
seien, bisweilen wurden diese recht brutal
gestoppt. Die Wiener Bevölkerung fühlte sich
eingesperrt, vergessen von Regierung und
Verwaltung. Jugendliche zogen auf der Suche
nach Nahrung plündernd durch die Stadt,
Kinder
klopften
bettelnd
an
die
Wohnungstüren, invalide Soldaten waren als
Werkelmänner auf der Suche nach Almosen.
Die Stimmung war aggressiv, die Klage über
die Kriegsgrobheit allgegenwärtig. Rücksicht
und Höflichkeit blieben im Überlebenskampf
auf der Strecke. Autos und Fiaker waren von
den
Straßen
verschwunden,
in
den
Schaufenstern dominierte die Leere, viele
Waren gab es nicht mehr, an den versperrten
Türen der Restaurants hieß es: „Bis
Kriegsende geschlossen“. Urbanität starb.
39
Personen) zu versorgen hatte. Bis auf einige
wenige
Ausnahmen
wurde
jegliche
Bautätigkeit eingestellt, viereinhalb Jahre lang
gab es kaum Renovierungen. Gar vieles, was
vor 1914 projektiert, geplant oder baureif war,
konnte nicht mehr begonnen, geschweige
denn fertiggestellt werden. Die Planungen für
den U-Bahn-Bau, das neue städtische
Museum auf der Schmelz und das
Prunkgebäude der österreichisch-ungarischen
Bank auf den Gründen der ehemaligen
Bosniakenkaserne in der Alserstraße mussten
aufgegeben werden. Der Kriegsbeginn bildete
eine epochale Zäsur in der glanzvollen
Baugeschichte der Stadt.
9. Im Ausnahmezustand – Chaos und
Polarisierung
„Vormittag hams noch im Akkord ihre 6
Kronen verdient, Mittag hat mas gemustert und
ihnen schön eröffnet, daß sie jetzt Soldaten
sein, no und Nachmittag hams am gleichen
Arbeitsplatz für die gleiche Arbeitsleistung
schön um Soldatengebühren gearbeit.“(Karl
Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, II,32)
Abb. 18: Öffentliche Suppenküche
Direkt an Hunger kamen zwar, nur wenige
Menschen
ums
Leben,
aber
die
Mangelsituation machte die Bevölkerung zu
einer leichten Beute der Epidemien, der Ruhr,
der Influenza, des Typhus, vor allem aber der
Tuberkulose. Gegenüber einem vergleichbaren
Zeitraum vor dem Krieg gab es während der
Kriegszeit eine markante Erhöhung der
Sterbefälle um etwa 70.000 – 80.000.
Besonders dramatisch waren die Sterbefälle in
den
Spitälern
und
Altersheimen
(„Greisenasylen“), in denen die Ernährungskatastrophe die Zahl der Sterbenden
verdoppelte. Im Vergleich zu den gefallenen
25.000 – 30.000 Soldaten gab es fast zwei- bis
dreimal so viele zivile Tote. Nach einer am 1.
Juni 1918 durchgeführten Erhebung fühlte sich
38
ein Drittel der Witwen und Waisen krank. Mit
Kriegsende kam hinzu, dass die Stadt etwa
40.000 Invalide plus ihre Familien (ca. 120.000
Je länger der Krieg dauerte, desto stärker stieg
40
der Pegel der Polarisierung.
Kaiser Karl
wollte einen politischen Frühling mit volksnaher
Politik, Ausgleich zwischen den Völkern der
Monarchie,
weniger
Zensur,
Wiedereinberufung des Parlaments, Friedensinitiativen und Amnestie für politische
Gefangene einleiten, aber seinen Initiativen
folgten Militarisierung, Ausdehnung der
Kriegswirtschaft, Chaos, Verwirrung und noch
mehr Hader. Jetzt gab es tatsächlich keine
Alternativen zur Logik des Totalen Krieges und
dem Vorrang der Militärindustrie. Zu viele
Menschenleben und materielle Güter waren
bereits geopfert worden, um eine Niederlage,
ja selbst einen Frieden ohne Annexionen und
Reparationen
zu
akzeptieren.
Das
Vielvölkermanifest vom 16. Oktober 1918 und
die Ankündigung einer Umwandlung der
Monarchie in einen Bundesstaat kamen zu
einem Zeitpunkt, als nur mehr wenige diesen
Vorschlag ernst nehmen wollten. Die
Abgeordneten der einzelnen Nationen waren
inzwischen längst aus dem Reichsrat
ausgezogen.
39
37
Sándor Békési: Straßenbahnstadt wider Willen oder zur
Verkehrsmobilität im Hinterland, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 452-461.
38
Andreas Weigl: Eine Stadt stirbt nicht so schnell.
Demographische Fieberkurven am Rande des Abgrunds,
in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 62-71.
Verena Pawlowsky/ Harald Wendelin: Der Krieg und
seine Opfer. Kriegsbeschädigte in Wien, in: Im Epizentrum
des Zusammenbruchs, S. 312.
40
Maureen Healy: Gerüchte und Denunzierungen, in: Im
Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 478-485. Maureen
Healy: Am Ende und doch kein Ende, in: Im Epizentrum
des Zusammenbruchs, S. 572-577.
Auch in Wien selbst nahmen die Konflikte zu.
Die Mangelsituation schuf ein Klima, das im
Kampf
ums
Überleben
ständig
neue
Feindbilder produzierte. Zuerst waren es die
Ungarn, die an der Grenze Lebensmittelblockaden errichteten und die nach Wien
exportierten Güter kräftig reduzierten. Die
Wiener Tschechen standen seit Kriegsbeginn
unter
Verdacht,
mit
dem
Feind
zu
sympathisieren und fraternisieren; viele von
ihnen wurden bei der Polizei denunziert. Die
jüdischen Flüchtlinge aus Galizien fachten den
ohnehin
weit
verbreiteten
Wiener
Antisemitismus
bis
zu
Vertreibungsforderungen weiter an. Der
Antisemitismus erreichte eine bisher nie
dagewesene Intensität. Juden wurden für den
Krieg, die Teuerung oder die Spanische Grippe
verantwortlich gemacht, und es wurde
administrativ viel getan, um ihnen das Leben in
der Hauptstadt zu vergällen. Ab 1916 tobte
zwischen Stadt und Umgebung ein Kampf um
Lebensmittel; Landgemeinden stellten Schilder
gegen Sommerfrischler auf, Bürgerwehren
versuchten Wiener vom Hamstern abzuhalten.
Die Stadtregierung positionierte sich gegen die
Regierung, der sie die Schuld für das
Versorgungsdesaster gab.
Ein Zwischenfall im Rathauskeller Anfang Mai
1918 war ein kleiner Baustein im großen
Nationalitätenkonflikt: Weil dort tschechische
Reichsratsabgeordnete
und
andere
hochrangige Repräsentanten aus Brünn
Tschechisch sprachen, wurden sie aus dem
Lokal gemobbt. Auf die Schlägerei folgte der
Konter: Die tschechischen Abgeordneten
ersuchten den Ministerpräsidenten, von einer
Kartoffelbelieferung aus Mähren nach Wien
abzusehen.
Bürgermeister
Weiskirchner
verlangte am Deutschen Volkstag im Juni 1918
antislawische Maßnahmen und generell eine
Politik, die einbekennen möge, dass „den
Deutschen die führende Rolle im Reich
gebührt“. Mit Kriegsende zogen viele Wiener
Tschechen
die
Konsequenz
aus
der
antislawischen Hetze: 150.000 von kehrten
ihrer langjährigen Heimatstadt den Rücken und
siedelten
in
der
neu
gegründeten
41
Tschechoslowakei an.
Die Niederlage im November 1918 deckte zu,
dass noch in den Monaten davor die
Funktionseliten auf einen Siegfrieden setzten.
Der Friede von Brest-Litowsk im Februar 1918
gab den Erwartungen von einem deutsch
dominierten Mittel-, Ost und Südosteuropa
kräftigen Auftrieb. Auch im Innern der
Monarchie arbeiteten die deutschnationalen
Eliten an einer Umsetzung einer politischen
Agenda (Loslösung Polens und Galizien aus
Cisleithanien, Kreiseinteilung in Böhmen und
Mähren), die den Deutschen in der
österreichischen Hälfte der Monarchie endlich
die gewünschte Mehrheit in Parlament und
Verwaltung verschaffen und eine stärkere
Anbindung an das Deutsche Reich umsetzen
sollte. Deutschnationale stießen sich an allen
Versuchen, einen neuen supranationalen
Österreich-Patriotismus zu kreieren und durch
Entgegenkommen gegenüber den slawischen
Völkern die gleich berechtigte Multiethnizität
als
europäische
Besonderheit
der
österreichischen Monarchie zu betonen. So
kamen, zur Empörung der Deutschnationalen,
an der Wiener Staatsoper die tschechischen
Opernkomponisten Smetana, Dvořák und
Janáček zu späten Ehren.
10. Soziale Veränderungen und
„Kriegsfrauendienst“
„In einem unbeschreiblichen Tumult gellender
Beschimpfungen, Flüche und unartikulierter
Laute wird aus dem Beiwagen durch den
Knäuel von Tornistern, Rucksäcken und
zusammengequetschten Leibern, durch den
Pferch einer unterernährten, ungewaschenen
und abgerissenen Menschheit eine Frau
gezerrt, die soeben vor Hunger zusammengebrochen ist.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage
der Menschheit, V, 3)
Auch der Druck im sozialen und politischen
42
Gefüge Wiens nahm zu.
Der Mittelstand
schaute neidvoll auf die Arbeiterschaft, die sich
durch Streiks höhere Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen erkämpfen konnte. Die
Sozialdemokratie bekam Hass und Argwohn
zu spüren, weil sie bei den Streiks zur
Konfliktregulierung
gebraucht
und
als
politischer Aufsteiger der Stunde gehandelt
wurde. Die Militärs setzten die Militarisierung
der Betriebe durch und erweiterten eine
Notstandsgesetzgebung. Der breiten Masse
der Bevölkerung standen Kriegsgewinnler
gegenüber, die ihren neuen Reichtum offen zur
Schau stellten und die in den Medien
besonders angeprangert wurden.
Der Erste Weltkrieg brachte bei Löhnen und
Einkommen die verschiedenen sozialen
Gruppen durcheinander und zerstörte die
eingeübten und standesüblichen Lebensbedingungen. Von der Verarmung besonders
betroffen waren die Bezieher fixer Gehälter,
42
41
Alfred Pfoser: Chronik 1918, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 670f und 676f.
Hannes Stekl: „Die Verelendung der Mittelklassen nimmt
ungeahnte Dimensionen an …“, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 88-95.
also Beamte und Angestellte, deren Gehälter
innerhalb
der
Teuerungsspiralen
(Lebenshaltungskostenindex im Juli 1914 100,
im November 1918 1.640) dramatisch
verfielen.
Viele
Kleingewerbetreibende
sperrten mangels Waren ihre Geschäfte, die
Gruppe der Hausbesitzer musste durch den
Mieterschutz kräftige Einkommenseinbußen
hinnehmen; so fühlte sich die traditionelle
christlichsoziale Klientel von der eigenen
Parteileitung verraten. Es gehört zu den
Paradoxien des Ersten Weltkrieges, dass er
gerade den besonders patriotischen Schichten
den ökonomischen Boden entzog und ihnen im
Überlebenskampf neben Hunger und Kälte
Lebensbedingungen
(Kriegsküche,
Einküchenhaus,
Unterstützung
für
Mindestbemittelte,
keine
Sommerfrische)
zumutete, die ihrer Standesehre elementar
widersprachen. Der Krieg fungierte als großer
Gleichmacher. Der Abstand zwischen der
sozialen Lage der Mittelschichte zu jener der
Arbeiterschaft, die ab den Massenstreiks 1917
erhebliche Erhöhungen der Löhne durchsetzen
konnte, verringerte sich deutlich.
„Liebesgaben“ für die Soldaten im Feld oder
die Verwundeten zu verfertigen oder im
„Labedienst“ im Einsatz zu sein. Die
Frauenbewegung mobilisierte massiv, um die
schwierige Situation im Hinterland zu
43
bewältigen.
Als die Kriegswirtschaft alle
Ressourcen gebunden hatte, wurden immer
mehr Frauen auch in Männerberufen (als
Krankenschwestern,
Schaffnerinnen,
Beamtinnen, Kutscherinnen, Kellnerinnen etc.)
eingesetzt. Analog der Wehrpflicht wurde ein
Arbeitsdienst für Frauen erwogen. In der
Endphase des Krieges wurden zwischen
36.000 und 50.000 „weibliche Hilfskräfte im
Felde“ auch in der habsburgischen Armee
44
eingesetzt.
Abb. 20: Sehr viele Frauen arbeiteten für das Rote Kreuz
in der Verwundetenpflege. Die dabei erlebten Schrecken
prägten eine ganze Frauengeneration.
Frauen sollten „Männerarbeitsplätze“ allerdings
nur vorübergehend einnehmen, bekamen auch
deshalb weniger bezahlt. Frauen sollten nach
dem Krieg keine Männer in den Berufen
verdrängen, auch nicht deren Stellung in den
Familien antasten. Und doch war nach
Kriegsende im Geschlechterverhältnis vieles
anderes. Das Frauenwahlrecht wurde mit
Republikgründung durchgesetzt, und das
traditionelle Staatsbürgerrecht, das in der
Monarchie die Frau als Anhängsel des Mannes
betrachtete, als Problem diskutiert. Wie weit
der Krieg den Frauen einen kräftigen
Emanzipationsschritt gebracht hat, wird in der
Historiographie
sehr
unterschiedlich
45
bewertet.
Zu Beginn des Krieges schienen die Frauen
von eingerückten Soldaten ausreichend
unterstützt, aber durch die Teuerung
schmolzen
diese
gewährten
Beträge
zusammen. Erst recht brachte die VerAbb.19: Frauen ersetzen die Arbeitskraft eingerückter
Männer: eine Schaffnerin in Wien
Der
Kriegsbeginn
hat
zunächst
die
traditionellen Geschlechterrollen bestätigt.
Während die Soldaten schon vorweg als
„Helden“ gefeiert wurden, ließen sich Frauen
massenhaft
einspannen,
um
freiwillig
43
Ines Rebhan-Glück: Die österreichische
Frauenbewegung und der Krieg, in: Im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 82-87.
44
Klaralinda Ma-Kircher: Die Frauen, der Krieg und die
Stadt, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.72-81.
Maureen Healy: Vienna and the Fall of the Habsburg
Empire, S. 163-210.
45
Christa Hämmerle: Heimat/Front.
Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in
Österreich-Ungarn. Wien 2014.
sorgungskrise Frauen in Opposition zu Stadtverwaltung, Regierung und Krieg; an
Hungerkrawallen und Streiks waren Frauen
führend
beteiligt.
Frauen
sahen
sich
zunehmend
als
Kriegsopfer.
Unter
Extrembedingungen mussten sie sich um
Lebensmittel anstellen, ihre Kinder versorgen
und in den Kriegsbetrieben um kargen Lohn
arbeiten. Ihr gesundheitlicher Zustand war
stark gefährdet. Zur Erschöpfung kam in
zehntausenden Fällen die Tuberkulose als
Todesstoß. Die Stimmungsberichte der Wiener
Polizeidirektion sprechen eine deutliche
Sprache: Aus einer aggressiven Verzweiflung
entwickelte sich ein revolutionäres Klima. Je
länger der Krieg dauerte, desto weniger waren
Frauen
bereit,
diese
Verhältnisse
hinzunehmen. Vom „Durchhalten“ konnte keine
46
Reden mehr sein.
11. Die verlorene Generation
„Mutter, gibt’s heut wieder nix z’essen?“ (Karl
Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, IV,
18)
Der Erste Weltkrieg war der erste europäische
Krieg, der die gesamte Bevölkerung in den
kriegsführenden
Ländern
in
die
Kriegsmaschinerie integrierte und von allen
Menschen Opfer erwartete. Alle Bereiche des
Lebens
wurden
der
Optimierung
der
Kriegsführung und der Mobilisierung aller
Reserven untergeordnet. Die „Heimatfront“ war
nicht
mehr
Hinterland,
sondern
ein
substanzieller Ort, an dem sich der Krieg
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entschied. Das betraf auch die Kinder.
Schon vor dem Krieg zeigte sich eine gewisse
Militarisierung der Schule. Nicht nur der
Patriotismus sollte dort gelehrt werden, der
1908 eingeführte Turnunterricht diente der
körperlichen Ertüchtigung als Vorbereitung des
Militärdienstes. Für Gymnasiasten waren in
den letzten beiden Klassen Schießübungen
vorgesehen. Mit Kriegsbeginn wurde fast die
Hälfte der Wiener Schulen, insgesamt waren
es 150 Gebäude, freigemacht; sie dienten nun
als Hilfskasernen zur Einquartierung der
Soldaten,
später
als
Hilfsspitäler
zur
Versorgung von Verletzten. Die Kinder wurden
an
den
verbleibenden
Schulen
im
Wechselunterricht betreut, das Unterrichten
verkürzt. Der Patriotismus sollte in möglichst
alle Gegenstände eingebracht werden. Kinder
und Jugendliche wurden immer wieder zu
verschiedenen Hilfstätigkeiten herangezogen,
etwa bei den Sanitätskolonnen des Roten
Kreuzes,
beim
Sammelwagen,
beim
„Labedienst“, beim Schneeschaufeln, beim
Erntedienst, bei der Mobilisierung für die
Kriegsanleihen oder bei der Herstellung von
„Liebesgaben“;
unter
der
Obhut
des
Lehrpersonals
betreuten
sie
Kriegsschulgärten. Wenn die Kohleversorgung
wie im Winter 1916/17 zusammenbrach,
blieben die Schulen einfach geschlossen.
Es gab allerdings auch noch eine andere Form
der „Kriegsschule“. Kinder und Jugendliche
mussten sich bei Geschäften und vor
Markständen stundenlang anstellen, ältere
Geschwister übernahmen die Versorgung der
Familien. Die Situation vieler Kinder und
Jugendlicher in der Stadt wurde bereits seit
48
1915 in Zeitungen als kritisch geschildert. In
vielen Fällen waren Väter an der Front, Mütter
mit
Erwerbstätigkeit
beschäftigt.
Selbst
Hochschwangere verdingten sich auf dem Bau
zu Schwerarbeiten, um bei der Krankenkasse
gemeldet zu sein und etwas zusätzliches Geld
täglich zu verdienen. Kinder wurden vielfach in
die Elternrolle gedrängt, konnten nicht
beaufsichtigt werden, streunten wild in der
Stadt herum, verloren zu den Eltern den Bezug
oder lebten gar allein, bettelten an
Wohnungstüren um
Brot und Essen,
verkauften in den Straßen Zeitungen oder
Schuhbänder. Je länger der Krieg dauerte,
desto mehr gab es in Wien notorisch
unterernährte und vom Hunger gezeichnete
Kinder, für die es auch im Sommer keine
Erholung
außerhalb
der
Stadt
gab.
Kinderhilfsaktionen und Kinderverschickungen
erreichten, trotz aller Bemühungen, nur einen
kleineren Teil der Jugend. Als Folge der
Mangelerscheinungen
waren
Kinder
überproportional häufig Opfer der Tuberkulose.
Die Kindersterblichkeit nahm um 60 Prozent
zu. 80 Prozent der Kinder litten an
Unterernährung, im Durchschnitt verloren
Kinder und Jugendliche dramatisch an Gewicht
und blieben im Wachstum deutlich zurück.
Wien konnte seine halbe Million Kinder nicht
mehr genügend mit Lebensmitteln versorgen
und ärztlich betreuen. Mediziner befürchteten
langfristige Folgen für eine ganze Generation.
46
Maureen Healy: Vom Ende des Durchhaltens, in: Im
Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 132-139.
47
Christa Hämmerle: Kindheit im Ersten Weltkrieg. Wien
1993. Oskar Achs: Von der Feder zum Säbel. Das Wiener
Schulwesen im Ersten Weltkrieg, in: im Epizentrum des
Zusammenbruchs, S. 420-429.
48
Max Winter: Unter der Herrschaft des Maisbrotes, in:
Arbeiter-Zeitung 10.6.1915.
ernähren und zumindest im Sommer an die
frische Luft zu bringen. Jugendkriminalität
wurde zum großen Thema. Banden betrieben
gezielt Beschaffungsaktionen, Erwachsene
schickten die Kinder zum Betteln aus. Die
Schriftstellerin Else Feldmann schlug bereits
1916 Alarm: „Hunderttausende Kinder sind zu
retten. Ein Ausweg aus dem städtischen
Kinderelend waren Kinderverschickungen (im
Sommer 1918 in die Schweiz, nach Holland
und Ungarn), vor allem aber Sommerlager, in
denen Kinder beaufsichtigt, versorgt und aus
dem tristen Alltag herausgerissen wurden.
Anfang Juli 1916 fassten die Stadtväter den
Plan, vier große Jugendspiel- und Sportplätze
(Laaerberg,
Girzenberg,
Schafberg,
Kreuzwiese)
zu
errichten,
sie
mit
Unterkunftsbaracken zu versehen und mit
Küchen auszustatten. Auch viele Vereine
(etwa die „Kinderfreunde“) und Einzelpersonen
waren höchst engagiert, um das Kinderelend
zu lindern.
Abb. 21: Unterernährtes und schwer erkranktes Kind
Die Bilder vom Kinderelend in Wien entsetzten
nach dem Krieg ganz Europa und ließen
Hilfsorganisationen in die Stadt eilen. Die
Sorge um Wiens Kinder wurde international
zum großen Thema. Die Gemeindeverwaltung
richtete schon während des Krieges ein
eigenes Jugendamt ein und betrieb aktiver
denn
je
Kinderfürsorge.
Unzählige
Organisationen widmeten sich mit Hingabe
und Spendengeldern der Mission, Kinder der
Verwahrlosung zu entziehen, sie notdürftig zu
Abb. 22: Um die Kinder vor dem Verhungern zu retten,
wurden sie für einige Wochen neutrale Staaten geschickt.
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