Taumel, Verdruss, Revolte. In elf Stationen durch das Wien des Ersten Weltkriegs. Texte für Lehrer und Schüler von Alfred Pfoser 1. Das Ende der Langmut “Daß sie’s nur hören die Feind, es ist ein heilinger Verteilungskriegskrieg, was mir führn!“ (Karl Kraus, Die Letzten Tage der Menschheit, I, 1) Es gab durchaus Alternativen. Die Auslösung eines Krieges war weder ein unabwendbares Verhängnis noch ein blindes Schicksal, das 1 über die Habsburgermonarchie hereinbrach. Der Mord an Thronfolger Franz Ferdinand musste keineswegs automatisch einen Krieg gegen Serbien auslösen. Die Machteliten in Österreich-Ungarn wussten, dass sie mit einem Dritten Balkankrieg wahrscheinlich einen Krieg mit Russland und damit in weiterer Folge einen großen europäischen Krieg herbeiführen würden. Aber sie nahmen dieses Risiko in Kauf, wurden geleitet von den damals weit verbreiteten Ideen des Imperialismus und einer offensiven Interessenspolitik in der Krisenregion Balkan. Österreich-Ungarn wollte entgegen allen kolportierten Ansagen vom „kranken Mann an der Donau“ (Friedrich Engels) den Großmachtstatus behaupten. Das expansive Serbien suchte nicht die direkte Konfrontation mit der österreichischungarischen Monarchie, war allerdings ein (erfolgreicher) Konkurrent in der Neuverteilung osmanischer Provinzen in Südosteuropa. Wohl noch wichtiger war die innenpolitische Agenda, die bei der Kriegserklärung im Hintergrund lief: Ein Krieg sollte die Nationalitäten- und Klassenkonflikte dämpfen, dem Parlament die Macht des Staates demonstrieren und einen habsburgisch-österreichischen 2 Reichspatriotismus schaffen. Durchsetzung der albanischen Staatsgründung 1913, wollte Österreich-Ungarn eine Politik der militärischen Stärke praktizieren. Nach dem mörderischen Attentat bot sich eine ausgezeichnete Gelegenheit, ein „Ende der Langmut“ zu verkünden. Die Armeeführung, die schon seit Jahren auf einen Krieg drängte, weil sie sich davon eine Stärkung des Reiches versprach, sollte endlich ihren Willen haben. Unmittelbar nach dem Mord in Sarajevo stellten Kaiser und Regierung, bald auch die ungarische Führung, den Schalter auf Krieg und verfolgten diese Linie konsequent bis zur ersten Beschießung Belgrads am 29. Juli 1914. Nach dem „Blankoscheck“ aus Berlin fühlten sich die Machteliten in Wien sicher. Die Medien apportierten, feierten vorneweg das Habsburgerreich als schnellen Sieger und produzierten eine Stimmung des Größenwahns, wobei das Seite-an-SeiteStehen mit der Deutschen Armee schon bei den patriotischen Kundgebungen in Wien eine auffallende Rolle spielte. Im Schutz der Nibelungentreue fühlte sich Österreich-Ungarn als Kraft strotzende Großmacht, die nun mit dem lästigen Konkurrenten im Südosten aufräumen könne. Schon mit der 1908 erfolgten Annexion Bosnien-Herzegowinas, wie später bei der 1 Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie. Wien 2013. 2 Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, S. 236. Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien 1995, S. 315. Abb. 1: Postkarte mit Hervorhebung des österreichischdeutschen Bündnisses Als am 25. Juli 1914 feststand, dass die Entscheidung zum Krieg gefallen war, rissen Massen in Wien den Extrablattverkäufern die Zeitungen aus den Händen. Menschen zogen jubelnd mit Hurra-Rufen durch die Stadt, in den Straßen ertönten das Andreas-Hofer-Lied, die alte Kaiserhymne, das Prinz-Eugen-Lied, Oh du mein Österreich oder Die Wacht am Rhein. Fahnen wurden gehisst, Taschentücher und Hüte geschwungen, feindliche Botschaften belagert. Bei der Ablöse der Burgwache vor der Hofburg, die von der Regimentsmusik der Deutschmeister musikalisch begleitet wurde, ließen die Anwesenden den Kaiser feierlich 3 4 dreimal hochleben. Viele, etwa Stefan Zweig 5 oder Leo Trotzki , haben den Sog der patriotischen Begeisterung beschrieben. Die Mobilisierung wurde zur Erfolgsgeschichte. In der beispiellosen Belastungsprobe der Julikrise brach das Vielvölkerreich nicht auseinander. Weder rebellierten die Völker, noch lehnten sich die Sozialdemokraten auf. Die Maschinerie der Einberufung funktionierte ohne Gegenwehr, die Dramaturgie der Kriegsauslösung brachte ohne jeden offenen Zwang die Kritik zum Schweigen und hielt alle Friedensdemonstrationen nieder. Das ausgerufene Kriegsnotstandsrecht brauchte Repression und Diffamierung nur in peripheren Einzelfällen einzusetzen. Den eingezogenen Arbeitern und Bauern garantierte die Armeeführung lukullische Versorgung. Wer international auf ein Zerfallen der Habsburgermonarchie gesetzt hatte, wurde durch eine geschlossen wirkende patriotische Front überrascht. Wiens Literaten, Künstler und Intellektuelle zeigten sich vom Erlebnis der Volksgemeinschaft begeistert, schwärmten von Erlösung, Erweckung und Ertüchtigung und ließen ihren Gefühlen angesichts der neuen sozialen Kohäsion freien Lauf. Der alte Kaiser schien mit seinem Entschluss, einen Krieg zu führen, die Habsburgermonarchie in eine 6 Verjüngungskur zu versetzen. Abb. 2-4: Patriotische Anstecknadeln 3 Pfoser, Alfred: Chronik 1914. In: Alfred Pfoser/ Andreas Weigl (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Wien 2013, S. 581-587. 4 Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main 401970, S. 258 (=Fischer Taschenbuch) 5 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Berlin 1930, S. 224f. 6 Zu diesem Ergebnis kommt auch der zeitgenössische Bericht eines schwedischen Journalisten: Karl Hildebrand: Die Donaumonarchie im Kriege. Studien und Eindrücke in Österreich-Ungarn Juni – Juli 1915. Wien 1916. 2. Verlustlisten „Beachten Sie die tägliche Zeitungsrubrik ‚Heldentod‘.“ (Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, I, 29) Die Kriegsbegeisterung war in Wien allerdings keineswegs so einhellig und parteien- und schichtenübergreifend, wie oft dargestellt. Zu klären wäre, wie weit es diese Kriegseuphorie auch in den Vorstädten und Vororten gab und der Enthusiasmus durch Schlagzeilen der Zeitungen, Falschmeldungen der Regierung, Propagandaveranstaltungen der christlichsozialen Stadtregierung oder Kriegspredigten in den Kirchen ferngesteuert war. Beobachter registrierten schon damals, dass sich in den sensationslüsternen Jubel eine gedrückte Stimmung, auch Ärger über gestiegene Preise mischten. Allerlei falsche Gerüchte über Siege, Luftangriffe und Sabotageakte machten die Runde, es war viel Hysterie im Spiel, vereinzelt fiel der Mob über angebliche Feinde und ihre Geschäfte her und prügelte sie halb tot. Tatsache war, dass weder Völker noch Parteien noch die Friedensoder Frauenbewegung öffentlich protestierten. Dazu trug sicherlich auch der bereits auf Hochtouren 7 arbeitende staatliche Repressionsapparat bei. Wenn es sie denn gegeben hat, dann war die Kriegseuphorie ein kurzes Strohfeuer von wenigen Tagen. Denn die Realität, die der Kriegserklärung folgte, war vergleichsweise jämmerlich. Und zwar von Beginn an. Wie sich bereits in Ansätzen an den ersten Tagen nach der Mobilisierung herausstellte, war die Habsburgermonarchie weder an der Front noch im Hinterland auf den Krieg gut vorbereitet. Das Kriegsgeschehen erreichte Wien vorerst durch die in den Zeitungen publizierten Toten- und Vermisstenlisten. Zum Entsetzen der Führung und der Bevölkerung setzte es nach kurzer Zeit militärische Niederlagen mit zehntausenden Toten, füllte sich Wien auf horrende Weise mit hunderttausenden Flüchtlingen und Verletzten. Ab 24. August 1914 trafen täglich große Massen Verwundeter in Wien ein, einmal bloß 500, dann waren es gar 4.000 an einem Tag. Bis 2. Oktober 1914 landeten insgesamt 43.151 verletzte Soldaten in Wien. Der Bedarf an Räumen für die Versorgung war groß, die Kapazitäten der Krankenhäuser reichten nicht aus, Universität, Parlament, Secession, 7 Pfoser, Wohin der Krieg führt, S. 583f. Rauchensteiner, S. 174. Abb. 5: Verwundeter im Kriegsnotspital in der Universität Wien Abb. 6 Junge Männer nach einer Beinamputation Abb. 7: Kriegsnachrichten und Verlustlisten wurden an öffentlichen Plätzen angeschlagen. Abb. 8: Galizische Flüchtlinge registrieren sich in einem Wiener Flüchtlingsheim. Künstlerhaus und viele andere öffentliche Gebäude sowie die Hälfte aller Schulen wurden in Hospitale umfunktioniert. Ein Bericht der Wiener Polizei im März 1915 meldete ca. 260.000 Verwundete, die zur Behandlung in Wien strandeten. Wien war zu einem riesigen Spital geworden. Zum gleichen Zeitpunkt hielten sich auch etwa 200.000 bis 250.000 Flüchtlinge aus Galizien und Polen in Wien 8 auf. Zeitgleich mit der Mobilisierung verschärfte sich die Versorgungssituation, sorgten Mangel und Erlässe für Restriktionen im Alltag. Sie stellten nach und nach auch das Hinterland unter das Zeichen eines „totalen Krieges“, der Zerstörungen anderer Art hinterließ. Die Illusion, dass das Leben in der Stadt vom Krieg unbehelligt weiter gehen würde, war schnell weggefegt. Teuerung und mangelndes Angebot auf den Märkten in Folge eingeschränkter Transportmöglichkeiten erzeugten Krisenstimmung, die kriegsbedingte Sperre von Betrieben produzierte in den Anfangsmonaten eine Massenarbeitslosigkeit. Die von den staatlichen Behörden beauftragte kommunale Verwaltung reagierte mit verschärfter Kontrolle und einer Reihe sozialpolitischer Maßnahmen, um Unzufriedenheit und Unruhe, erst gar mögliche Krawalle im Zaum zu halten. Im Winter 1914/15 drohte gar eine russische Invasion. 20.000 Arbeiter waren fieberhaft am „Brückenkopf Wien“ bei Herstellung und 9 Ausbau von Fortifikationsanlagen im Einsatz. 8 Gabriele Kohlbauer-Fritz: „Elend, überall wohin man schaut“. Kriegsflüchtlinge in Wien, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.96-103. Beatrix Hoffmann-Holter: „Abreisendmachung“. Jüdische Flüchtlinge 1914 bis 1923. Wien 1995. David Rechter: The Jews of Vienna and the First World War. London 2001. 9 Karl Fischer: Spuren des Krieges im Stadtbild. Zwei Beispiele, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 442-446. Während die Nachrichten über die Niederlagen für Depression und Aufregung sorgten und die Umstellung auf die Kriegswirtschaft lief, wollte Wien Normalität zeigen. Die Ballsaison wurde allerdings wegen der trüben Kriegslage gestrichen. Alle großen traditionellen Wiener Bälle wurden genauso abgesagt wie die üblichen „Gschnas“-Abende und Redouten Die Unterhaltungstheater fielen nach einer kurzen Konjunktur des Patriotismus wieder in die Routine des Eskapismus. In einer Wiener Operette wurde allabendlich gesungen: „Stillen wir den Liebesdurst/ Alles andere ist uns 10 11 Wurst“ Das katholisch-konservative Wien sah die Stunde der Rechristianisierung der Stadt gekommen, veranstaltete Kriegsbittprozessionen, war wegen des Sittenverfalls besorgt, erregte sich am Befund, dass viele galizische Flüchtlinge ins Theater gingen, dass jetzt gar ein polnisches Theater aus Lemberg in Wien spiele, während „die 12 Söhne im Felde bluten“. Der Nikolo- und Christkindlmarkt Am Hof fand wie gewohnt statt, die Zinnsoldaten hatten sich gegenüber den Vorjahren allerdings um 13 Regimenter vermehrt. Zu Weihnachten 1914 wurde vermehrt auch Kriegsschmuck geschenkt: „Gold gab ich für Eisen“-Ringe, „Kameradschaftsringe“ , Ringe mit dem schwarzgelben Kreuz, Broschen mit Degen, Kaiserkronen oder Fahnen. Offizieren ließen für ihre Frauen bei Juwelieren Uhrenarmbänder anfertigen, die wiederum schickten Weihnachtspakete mit Silberuhren oder 14 silbernen Zigarettendosen ins Feld. Der übliche Sylvesterrummel wurde verboten, Ansammlungen im Freien untersagt, Stehenbleiben mit Sanktionen belegt. Trotzdem war gegen Mitternacht eine „vermehrte Bewegung“ im Bereich Rotenturmstraße – Stephansplatz – Kärntnerstraße festzustellen. Die vermehrte Präsenz von Flüchtlingen fiel auf. Kaffee- und Gasthäuser, in den Musikkapellen spielten, waren stark besucht; immer wieder wurde die Kaiserhymne angestimmt und gemein15 schaftlich gesungen. 10 Tägliche Rundschau 18.11.1916. Maureen Healy: Vienna and the Fall oft he Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I. Cambridge 2004, S. 127-129. 12 TR 2.3.1915. 13 Fremdenblatt 2.12.1914 14 Neues Wiener Tagblatt 28.12.1914 15 Alfred Pfoser: „Die Röcke hoch! Die Waffen nieder!“ , Falter, 01/14, S. 34 ff. 11 3. Sammeln „Da bin ich gerannt, dort bin ich gerannt, nix wie Hilfsaktionen; zu Gunsten da, zu Gunsten dort.“(Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, II,33) Als der Krieg begann, war der Sozialstaat erst in zartesten Ansätzen entwickelt. Selbst die Armenfürsorge stützte sich auf Vereine, Stiftungen und ehrenamtlich erbrachte Leistungen. Immerhin brachte die Gemeinde diese zunehmend unter ihre organisatorische Kontrolle. In der Luegerzeit (1897-1910) und danach stiegen sukzessive die kommunalen Sozialausgaben auf immerhin sieben Prozent des Gemeindebudgets. Das Versorgungsheim Lainz (1904), das Jubiläumsspital (1905) und einige Kinderheilstätten wurden errichtet und betrieben; die „städtischen Kostkinder“ wurden erstmals organisatorisch durch einige 16 Fürsorgerinnen begleitet und überwacht. Mit Kriegsbeginn errichtete die Gemeinde eine „Zentralstelle der Fürsorge für Soldaten und ihre in Not geratenen Familienangehörigen“, in der Zivilgesellschaft konstituierten sich viele Komitees, angeführt vom Kaiserhaus und der Aristokratie, zur sozialen Unterstützung Bedürftiger. Es gehörte zum guten Ton, „Liebesgaben“ für Soldaten herzustellen. Vor den Krankenhaus warteten oft hunderte Freiwillige, um den in die Wiener Spitäler gebrachten Verletzten Pakete mit kleinen Aufmerksamkeiten zukommen zulassen. Bald fokussierten sich einzelne Vereine („Kinderfreunde“, „Die Bereitschaft“ etc.) darauf, das Kinderelend zu mildern, Kindergärten und Kindertagesheime einzurichten. Die institutionalisierte Kinderkriegsfürsorge (Ministerium für soziale Fürsorge, Jugendamt der Stadt Wien, Mutterberatungsstellen, Säuglingsfürsorge, Kriegspatenschaften, Kinderbewahranstalten) wurde zum Vorboten der umfassenden 17 Wohlfahrtspolitik im Roten Wien. Unermüdlich waren Komitees und Hilfsaktionen des Kriegsfürsorgeamtes, der Gemeinde oder des Roten Kreuzes im Einsatz, um benötigte Güter einzusammeln und die Kasse für Wohlfahrt und Kriegsfürsorge zu füllen. Immer neue Aktionen, – ausgedacht, um den Spendeneifer der Bevölkerung zu erhalten. Der Sammelwagen erwies sich als besonders großer Erfolg. Begleitet von Pfadfinderbuben fuhr er durch die Stadt; die Leute wurden aufgefordert, allen überflüssigen Hausrat abzugeben. Spektakel in Sälen und Theatern wurden entwickelt, um zu Geld zu kommen. Männergesangsvereine, deren Faschingsfeste berühmt waren, stellten sich wie viele andere Institutionen und Vereine in den Dienst des Patriotismus, legitimierten 18 ihre Veranstaltungen mit Spendenaktionen. Abb. 9: Gummireifen eingesammelt. Andreas Weigl: Kommunale Daseinsvorsorge. Zur Genesis des ‚Fürsorgekomplexes‘, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.337-338. 17 Andreas Weigl: Kommunale Daseinsvorsorge. Zur Genesis des ‚Fürsorgekomplexes‘, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.336-347. im Wiener Rathaus Ein Einfall jagte den anderen. In den Wirtshäusern verwendeten Kellner an Stelle des üblichen weißen Blocks einen gelben vom Roten Kreuz und verrechneten dafür jedem Gast zwei Heller zusätzlich. Frauen und Männer trugen bis zu drei oder mehr Abzeichen im Knopfloch. Der Sammeleifer offenbarte sich auch in den Klatschspalten der Zeitungen und in Fotos der illustrierten Blätter, wo „Spendenausweise“ auflisteten, wer wie viel spendete. Dieses Phänomen wiederholte sich auch beim „Wehrmann im Eisen“, der am 3. März 1915 auf dem Schwarzenbergplatz feierlich eröffnet wurde. Wer mindestens eine Krone erlegte, durfte einen Nagel in den Ritter aus Lindenholz schlagen. Der Name der Spender und die Höhe ihres Beitrags wurden in ein Ehrenbuch eingetragen. Zu den Sammelwägen, die potentiell jede Art von Hausrat mitnehmen, kamen spezialisierte Sammlungen, die vor allem auf die von Munitionsindustrie benötigten Rohstoffe (Gold, Zinn, Zink, Blei, Messing, Gummireifen) zielten. Die bekannteste Aktion war wohl das fürs Vaterland erbrachte Opfer des wertvollen Eheringes zugunsten „Gold gab ich für 19 Eisen“. 18 16 werden Die Zeit 29.11.1914 Bernhard Denscher: Gold gab ich für Eisen. Österreichische Kriegsplakate 1914-1918. Wien 1987. Alle digitalisierten Plakate der Wienbibliothek sind erreichbar unter: http://www.digital.wienbibliothek.at/nav/classification/47997 2 19 das elektrisierte, ein anderes lautete „Approvisionierung“. Österreich hinkte der deutschen Rationierung hinterher, zögerte bei der Einführung von Brot-, Fett-, Petroleumoder Kleiderkarten. Aber die Einführung der Karten kam auch hier, Wien war diesbezüglich der Vorreiter in der Monarchie. Abb. 10: Sammelwägen dienten zur Abholung von Sachspenden aus den Wiener Haushalten. In der Schlussphase des Krieges nahm der Beutezug der Organisationen und des Staates mehr und mehr Zwangscharakter an und stieß auf Widerstand. Selbst Bürgermeister Weiskirchner weigerte sich, die Messingklinken des Rathauses abzuliefern. Am begehrtesten war Geld: Selbst wenn die Vermögen bescheiden waren, wurde dem Mittelstand mit aller Dringlichkeit und viel Propaganda vermittelt, Kriegsanleihen zu zeichnen und auch die eisernen Reserven dem Staat zur Verfügung zu stellen. Kriegsanleiheversicherungen und günstige Kreditangebote sollten die Masse der zahlungsschwächeren Klientel zur Zeichnung locken. Bei den mit großem Aufwand beworbenen acht Kriegsanleihen wurden hohe Zinsen versprochen. Nie zuvor hat es in der Geschichte der Wiener Zivilgesellschaft eine derart breit gestreute, gut organisierte Sammel- und Spendenaktion gegeben als 20 während des Ersten Weltkrieges. 4. Organisation „Schaun S‘ meine Herrn, da können S’sagen was Sie wolln gegen die Deutschen – eines muß ihnen der Neid lassen, sie ham halt doch die Organisation.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, II, 27) Bereits 1915 wurde es immer deutlicher, dass die Wienerinnen und Wiener über den Handel nicht ausreichend ernährt werden konnten und die logistische Versorgung nicht mehr funktionierte. Eine zentrale Bewirtschaftung sollte das Problem lösen. Das große, bewundernswürdige Vorbild war das Deutsche Reich, „Organisation“ lautete ein Zauberwort, 20 Charlotte Natmeßnig: Profiteure des Kriegs- und Inflationskonjunktur? Die Wiener Banken im Ersten Weltkrieg und nach dem Umbruch, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 240-253. Rudolf Bogensperger: „… um den gerade unter den heutigen Verhältnissen wertvollen Sparsinn zu fördern“. Die Zentralsparkasse (Z) und die Kleinsparer/innen, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 254-261. Rauchensteiner, 585-597. Abb. 11: Lebensmittelkarte für den Einkauf von Brot bzw. Mehl Die Festsetzung von Höchstpreisen, bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn betrieben, erwies sich vielfach als Bumerang. Die Produkte verschwanden einfach vom Markt und wurden unter der Hand verkauft. Um die Versorgung zu garantieren, wurde in Wien nach und nach eine Vielzahl von Lebensmitteln und Bedarfsgütern rationiert. Als weiteres Steuerungsmittel kam die Rayonierung: Der Bezug von Lebensmitteln war an bestimmte Geschäfte und Tage gebunden. „Wer mochte es glauben, dass Gemeinden und Staat so tief in das Privatleben eingreifen werden, daß einem vorgeschrieben werden wird, wann man Fleisch essen darf, wann die Verwendung von Fett verboten ist, wie groß die Menge der verschiedenen Lebensmittel ist, die man genießen darf?“, schrieb eine Zeitung. Die Behörden konnten mittels Bezugskarten, Einkaufsscheinen und Rayonierung steuern, welche Mengen dem einzelnen zustanden. Zumindest theoretisch. Denn garantieren konnten sie sie nicht, da die Lebensmittel- und Kohlezufuhr an die Stadt dafür zu unstabil war. Klagen, dass einzelne Bezirke schlecht versorgt würden, beschäftigten die Obmännerkonferenz der Stadtregierung. Versorgungssicherheit konnte es nicht geben. Die Wiener Bevölkerung lebte sozusagen von der Hand in den Mund. Abhilfe schaffen sollen neue städtischen Lagerhäuser und Lagerflächen, die Gemeinde kaufte in Kooperation mit den Zentralbehörden und den Einkaufszentralen in großen Mengen ein und brachte die Güter je nach Bedarf auf den Markt. Darüber hinaus versuchten Stadt und Regierung, der Not in Wien mit der Erweiterung sozialpolitischer Maßnahmen (Mieterschutz, Kriegsküchen, Kriegsgärten, Unterstützungen für Mindestbemittelte) und Hilfe zur Selbsthilfe (Boden für Kriegsgärten) entgegenzutreten. Abb. 12: Schulkinder legen einen Kriegs-Gemüsegarten an. Nach der großen Bestandsaufnahme von Getreide und Mahlprodukten im Februar 1915 wurde mit April 1915 die Brotkarte eingeführt. Zur Ausgabe in den Kommissionssprengeln wurden die aktiven Lehrpersonen verpflichtet. Ab April 1916 kam die Zuckerkarte, ab Mai 1916 für Kinder unter zwei Jahren besondere Milchkarten (ergänzt durch die Mehlrayonierung ab Februar 1917), ab Juli 1916 die Kaffeekarte, ab September 1916 die Fett- und Butterkarte. Ab Dezember 1916 trat die auf der Grundlage der Mehlbezugskarte beschlossene Mehlrayonierung, im Februar 1917 die Brotrayonierung in Kraft. Die Petroleumbezugskarte ermöglichte die mit Februar 1917 begonnene Rayonierung des Petroleums; einige Monate später wurde mit der Petroleumbezugskarte in Kombination mit der Kerzenkarte und der Kerzenrayonierung die Versorgungssicherheit zu erhöhen versucht. Mitte August 1917 kam die Seifenkarte, mit Oktober 1917 wurde unter Zugrundelegung der Kartoffelkarte der Kartoffelbezug mit ein Kilogramm für die Person und die Woche rayoniert. Mit November 1917 trat die auf die Kohlenbezugskarte aufgebaute Kohlenrayonierung in Kraft. Mit September 21 1918 kam die Fleischkarte. Als weiteres Steuerungsinstrument wurden amtliche Einkaufsscheine eingeführt, damit konnten große Kontingente verschiedener auf den Markt kommender, zum Teil von der Gemeinde selbst eingekaufter Lebensmittel gezielt verteilt werden. Spezielle Gruppen (Schwangere, stillende Mütter, Säuglinge etc.), die sich nur begrenzt über den Markt versorgen konnten, wurden dabei besonders berücksichtigt. Im Juli 1917 wurden die ersten amtlichen Einkaufsscheine an alle Wiener ausgegeben, gestaffelt je nach Haushaltseinkommen. Von großer Bedeutung war die Zuerkennung des Status „Minderbemittelter“, weil dieser den Zugang zu eigenen Verkaufsaktionen ermöglichte. So wurde an den Ständen der Großschlächterei „Wohlfahrtsfleisch“ an die sogenannten „Mindestbemittelten“ abgegeben. In Aktionen gelangten auf diese Weise auch Eier, Kerzen, Käse, Kraut, saure Rüben, Reis, Zwirn, Brennholz oder Dörrgemüse zur Verteilung. Die Zahl der „Mindestbemittelten“ war imposant: Insgesamt bezogen mehr als 200.000 Haushalte und 700.000 Personen 22 Einkaufsscheine. Der bürokratische Aufwand war erheblich, auch weil immer wieder die Berechtigungen behördlich überprüft wurden. Außerdem mussten Besonderheiten einzelner Gruppen berücksichtigt werden. Mit 10. Februar 1916 wurden etwa 1.862.264 volle Brotkarten, 3.566 geminderte Brotkarten, 30.480 Junggesellenkarten, 443 Störbrotkarten, 23 190.244 Schwerarbeiterkarten ausgeben. Zugleich war die Menge der Bezugsberechtigten in Folge von Zuzug und temporärem Aufenthalt alles andere als stabil. So brachten Fronturlauber bzw. ab 1917 von Ostfront zurückkommende Soldaten ihre Forderungen nach Versorgung ein; Soldatengruppen versuchten oft gewaltsam Zugang zu Lebensmittel zu erhalten. Mit Dezember 1917 wurden erstmals Militärurlauberkarten in Umlauf gebracht und an 90.000 Soldaten ausgegeben; ab 1. Juni 1919 tragen diese Karten die Aufschrift 21 Christian Mertens: Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Ernährung Wiens, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 162-171. 22 Die Gemeindeverwaltung der Stadt Wien in der Zeit vom 1. Jänner 1914 bis 30. Juni 1919. Wien 1923, S. 372-381. 23 Ebenda, S. 376. ‚Lebensmittelkarten 24 Aufenthalt‘. für vorübergehenden gehört dessen tägliche Feststellung, Belobigung und behagliche Beschreibung.“ 5. Durchhalten! Der Wiener speziell is ein Prima-Durchhalter. Alle Entbehrungen tragen sie bei uns, als ob es ein Vergnügen wär. (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, I,11) Als klar wurde, dass der Krieg nicht schnell zu gewinnen war und sich die Bevölkerung auf gravierende Veränderungen in der Versorgung und Ernährung einstellten musste, wurden die Hausfrauen als „Soldatinnen des Hinterlandes“ propagandistisch mobilisiert: Dutzende 25 Kriegskochbücher sollten auf die neue Kriegsküche einstimmen, Kochkurse der „Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs“ (ROHÖ) zielten auf die Schulung im Umgang mit neuen Lebensmitteln, Zeitungen ergingen sich im Lob der „sparsamen Hausfrau“, die etwa ein kluges Küchenregiment mit Kartoffelgerichten führt. Auf der Rückseite von Straßenbahnscheinen sollten Kochrezepte Lust aufs Backen und Kochen mit Maismehl machen. Alle wurden eingeschworen auf das „Opfer-Bringen“, auf 26 die Opferbereitschaft. Wien wurde zur Stadt der Kleintierzüchter. Kaninchen, Hühner, Gänse, Ziegen wurden gehalten, Abfälle zur Fütterung genutzt. Hinterhöfe dienten als Weideplätze. Die Stadt vergab Kleingärten, um die 27 Selbstversorgungsrate zu erhöhen. Neben konkreten Anleitungen lieferten die bürgerlichen Zeitungen auch allgemeine Durchhalte-Feuilletons. Sogar die aristokratische Gesellschaft pries die „Vereinfachung des Lebens“, die „Rückkehr zur schlichten Art“. Felix Salten lobte den Zuckermangel, die Fußmärsche oder das Ende der vermeintlichen Notwendigkeiten: „Heute überlegen wir uns jedes Gelüste. Und das ist am Ende kein übler Zustand.“ Karl Kraus über die „Durchunddurchhalter“: „Zu den grauslichsten Begleiterscheinungen des Durchhaltens, als wär’s kein Leiden, sondern eine Passion, 24 Ebenda, S. 380f. Drei Jahre Brotkarte, in: Illustrierte Kronen-Zeitung 10. April 1918. 25 Volltexte gibt es in der Digitalen Bibliothek der Wienbibliothek: http://www.digital.wienbibliothek.at/nav/classification/44293 0 26 Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 36-43. Auch: Maureen Healy: Vom Ende des Durchhaltens, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 132-139. 27 Siegfried Mattl: Lob des Gärtners. Der Krieg und die Krise der Urbanität, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 470-475. Abb. 13.: In Zeitungsinseraten werden Hilfsmittel für Selbstversorger beworben. Noch 1916 priesen die Feuilletonisten die neue Schlankheit und die neue, durch Reduktionskost hervorgerufene Schönheit der Frauen. Die „Genialitäten der Sparsamkeit“ warteten auf die Anwendung durch die bürgerliche Hausfrau. Schweinsbraten, Wienerschnitzel oder Backhendl kamen nicht mehr auf den Tisch, die fleischlosen Tage wurden erweitert, die vegetarische Küche war auf dem Vormarsch. Auf dem Markt machten sich auch immer mehr (meist dubiose) Ersatznahrungsmittel breit; Mehl, Kaffee, Seife, Wurst wurde durch minderwertige Anteile 28 gestreckt. Im Sinn einer preiswerten Führung der Küche wurde geraten, sich vom Angebot und den Preisen auf den Märkten leiten zu lassen. Ein genau geplanter Speisezettel für die ganze Woche, wie das früher üblich war, erwies sich für die Hausfrau, „die tapfere und erfolgreiche Kämpferin des Hinterlandes“, als zunehmend unmöglich. Annoncen bewarben Haushaltsgeräte, die sparen helfen sollten: die Kochkiste, den Gemüse- und Obstdörrapparat, die Weck- und Rexsysteme. Männer mischten sich massiv in den Einkauf ein und interessierten sich für die Preise der Lebensmittel. Bei geselligen Abenden wurden fast nur mehr von der Versorgung und den Preisen gesprochen. Der Feuilletonist Ludwig Hirschfeld brachte die neueste Stimmung im bürgerlichen Wien humoristisch auf den Punkt: „Die Verlobungs-, Scheidungsund Theaternachrichten hören auf, die einzig interessanten Themen zu sein ... Die pikanteste Eheirrung verliert neben der bedrohlichen Situation auf dem Borstenviehmarkt, und der mangelnde Auftrieb an Beinlvieh ist entschieden wichtiger, als das 28 Andrea Brenner: Das Maisgespenst im Stacheldraht. Improvisation und Ersatz in der Wiener Lebensmittelversorgung des Ersten Weltkrieges, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 140-149. Erscheinen sämtlicher Librettisten bei einer 29 Opernpremiere.“ 6. Anstellen und Hamstern – Eine Stadt in Aufruhr Die regelmäßige Zufuhr von Nahrungsmitteln war erheblich (1915/1916) bis schwer (1917/1918) beeinträchtigt. Das in Wien erzeugte Brot war zur Hälfte aus ungarischem Mehl gebacken, die Hälfte der Schlachtviehzufuhr stammte ebenfalls aus Ungarn. Die Importe aus der transleithanischen Reichshälfte sanken während der Kriegszeit auf ein Sechstel des Vorkriegsvolumens. Auch das von der russischen Armee zerstörte Galizien fiel als Agrarlieferant aus. Erst mit dem Sieg gegen Rumänien gab es erstmals den Zugriff auf landwirtschaftliche Produkte aus den besetzten Ländern. Personal-, Pferde-, Dünger- und Saatgutmangel ließen auch die heimische Nahrungsmittelproduktion sinken. Die verstärkte Nachfrage durch die Armeeverwaltung reduzierte ebenfalls das Angebot für den zivilen Sektor. Hinzu kamen die Schwierigkeiten des Transports, die die Belieferung der Märkte erheblich 30 beeinträchtigten. Die mangelnde Versorgung mit Kohle im Steckrübenwinter 1916/17 war ausschließlich auf den Vorrang der Militärlogistik und die Benachteiligung des 31 Zivilverkehrs zurückzuführen. „Ein Wachmann: ‚Sechts denn net, daß ausverkauft is‘.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, II,11) Als sich Anfang August 1914 Gemüse und Kartoffeln verteuerten, verwüsteten Frauen auf dem Yppenplatz im Bezirk Ottakring Marktstände. Ein Jahr später eskalierte die Situation vielerorts vor Geschäften und auf den Märkten. Bei mehreren Grundnahrungsmitteln zeichneten sich Engpässe ab, lieb gewordene Gewohnheiten (etwa beim Feingebäck wie Semmeln) wurden behördlich unterbunden, Weizen- und Roggenmehl durch Maismehl ersetzt. Stimmungsberichte der Polizei vermerkten erste Warteschlangen für bestimmte Waren. Im Mai 1916 gab es erstmals bezirksübergreifende Hungerkrawalle. Die Dramatik des Anstellens verschärfte sich von Monat zu Monat. Täglich stellten sich hunderttausende Menschen (nach Berichten der Polizei 300.000 bis 500.000) unter entsetzlichen Bedingungen an, um an ihre Ration Brot zu kommen, ein Stückchen Fleisch oder ein paar Eier zu erobern. Wer dies nicht tat, lief Gefahr, überhaupt nichts oder nur minderwertige Ware zu Hause zu haben. Die Behörden versuchten das Anstellen zu verbieten, Bürgermeister und Gemeindepolitiker traten dagegen auf – allein es half nichts. Das Anstellen wurde zum 32 Zeichen dieses Krieges. Abb. 14: Auch Heizmaterial war knapp- Anfertigung von Altpapierbriketts als Ersatz für Kohlen Abb. 15: Anstellen vor einer Bäckerei. Die Polizei muss die Massen beruhigen. 32 29 Neue Freie Presse 25. April 1915. 30 Ernst Langthaler: Die Grossstadt und ihr Hinterland, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 232-239. 31 Richard Hufschmied: Energie für die Stadt. Die Kohlenversorgung von Wien im Ersten Weltkrieg, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 180-189. Maureen Healy: Eine Stadt, in der sich täglich Hunderttausende anstellen, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 150-162. General Landwehr: Hunger. Die Erschöpfungsjahre der Mittelmächte 1917/18. Wien 1931. Hans Loewenfeld-Russ: Die Regelung der Volksernährung im Kriege. Wien 1916 (=Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden. Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges. Österreichischungarische Serie). Hans Loewenfeld-Russ: Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918-1920. Hrsg. und bearb. Von Isabella Ackerl. Wien 1986, S. 1-135. Die Bezugskartensysteme verbesserten zwar die Verteilungsgerechtigkeit, hatten aber den Nachteil, dass nur wenige Waren erfasst wurden, während die Teuerung andere Waren, etwa auch Obst und Gemüse, für die ärmeren Bevölkerungsteile unerreichbar machte. Hinzu kam, dass die Karten nur theoretisch zum Bezug berechtigten. Praktisch war trotz Rationierung oft kein Brot zu haben. Das hatte auch mit der Attraktivität der Läden zu tun: Da die Qualität von Kartoffel, Brot und Mehl oft sehr unterschiedlich war, verteilten sich die Konsumenten auch ganz verschieden. Alle wollten das „bessere Brot“ oder das „bessere Mehl“. Die Stimmungsberichte hielten oft fest, dass ein Viertel der angestellten Massen leer ausging, was erhebliche Unruhe erzeugte und die ohnehin vorhandene Aggressivität noch verstärkte. Das Gros der Bevölkerung war 1916 längst unterernährt, Kleider und Anzüge passten nicht mehr. Der Kalorienmangel produzierte Krankheiten und erhöhte die Sterblichkeitsrate. Dem Staat und der Stadt gelang es nicht mehr, ausreichende Versorgung zu gewährleisten. Die patriotische Stimmung schwang um, zunehmend auch bei den Mittelschichten. Die „Kriegsgrobheit“ machte den Umgang der Menschen miteinander zunehmend rauer. Der „Hungerkrieg“ war in vollem Gange, Politiker wurden bedroht, die Geduld war am Ende. Die Verzweiflung über die Lebensmittelnot machte der Opferbereitschaft ein Ende, die Menschen in Wien waren im Totalen Krieg angekommen. Maus: Schuhgeschäfte wurden gestürmt, Bäckerautos überfallen, Fleischergeschäfte ausgeraubt, Keller und Dachböden nächtens von Banden nach Lebensmitteln abgesucht. Jahr für Jahr wurden die zugeteilte Ration kleiner und der Hunger größer. Die Bevölkerung wurde zum „Abhungern“ gezwungen. Meldungen von der Februar- und Oktoberrevolution in Russland wirkten elektrisierend; der Slogan „Brot und Frieden“ 33 verfing auch in Wien. Die Massenstreiks im Jänner 1918 hingen eng mit der Halbierung der Brot- und Mehlration zusammen. 113.000 Arbeiterinnen und Arbeiter waren am 20. Jänner in Wien und im Wiener Neustädter Becken im Ausstand. Sie setzten Kaiser und Regierung in Panik, die Verhängung des Ausnahmezustandes wurde angedacht, in der Metallindustrie gab man den Lohnforderungen nach. Im Juni 1918 gab es eine weitere revolutionäre Streikwelle, diesmal verbunden mit erheblichen Ausschreitungen. Die Front wuchs endgültig ins Hinterland 34 hinein. Die Regierung bot der Sozialdemokratie die Kooperation an: Unterstützung bei der Einhegung der revolutionären Massen gegen politische Zusagen für die Zeit nach dem Krieg (allgemeines Wahlrecht für Frauen und Männer, Konstitutionalisierung der 35 Regierung). 7. Wien ist voll Metropole sein – Noch einmal „Hier ist das Herz von Wien und in dem Herzen von Wien ist eine Pestsäule errichtet.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit III, 46) Abb.15: Die verarmte Bevölkerung bekam verdorbenes Pferdefleisch. Ab Spätherbst 1916 kam eine neue, politische Dimension ins Spiel. Jetzt griffen die Belegschaften einzelner Firmen ein, um die Belieferung mit Lebensmitteln zu erzwingen. Sie streikten, zogen mit Forderungen nach Brot und ausreichender Ernährung Richtung Innenstadt oder zu den Bezirksämtern. Jugendliche spielten mit der Polizei Katz und Es gehört zu den Pikanterien des Krieges, dass Wien in seiner gesamten Geschichte just zu einem Zeitpunkt einen EinwohnerHöchststand erreichte, als hunderttausend Wiener weit weg von ihrer Heimatstadt an der Front im Einsatz waren. Hotels und Pensionen waren in der Endphase des Krieges überbelegt. Die Chance, eine Wohnung anmieten zu können, war gleich null. Neuankömmlinge hatten größte Mühe, irgendwo eine Bettstelle zu bekommen. Die Stadtverwaltung fürchtete die Rückkehr der Soldaten, weil es für sie keine Wohnungen 33 Hans Hautmann: Hunger ist ein schlechter Koch. Die Ernährungslage der österreichischen Arbeiter im Ersten Weltkrieg, in: Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. Hrsg. von Gerhard Botz. Wien 1978, S. 661-681. 34 Margarete Grandner: Hungerstreiks, Rebellion, Revolutionsbereitschaft, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 558-565. 35 Ebenda. gab. Der Wiener Vizebürgermeister Josef Rain behauptete bereits 1916, dass die Bevölkerung seit Kriegsbeginn um 400.000 gestiegen sei. Wahrscheinlich hat Rain noch untertrieben. Denn unübersehbar wurde Wien in den letzten Jahren der Monarchie noch einmal zum zentralen Knotenpunkt: In den überfüllten Kasernen und angemieteten Quartieren wurden Soldaten aus der ganzen Monarchie für den Krieg vorbereitet. Hier landete ein Großteil der Verletzten, die von der Front ins Hinterland verbracht wurden; Wien verwandelte sich zur Lazarettstadt. In Wien war die zentrale Verwaltung aller Kriegsanstrengungen massiert; rund um das Kriegsministerium und das Armeeoberkommando (ab 1917 in Baden bei Wien) wurden neue Behörden geschaffen. Nach Wien strömten auch die meisten Flüchtlinge, weil ihnen einzig die Großstadt einige Chancen für die Zukunft zu bieten schien; als sich etwa 250.000 Flüchtlinge in Wien angesammelt hatten, wurde der Zuzug gesperrt. in der Kriegswirtschaft deutlich an Bedeutung 36 verlor. Die Wiener Bahnhöfe bildeten die Relaisstationen dieser Bewegungsströme. Züge transportierten Militärs, Verletzte, Flüchtlinge, Kriegsgefangene, besorgten den Gütertransport zwischen den einzelnen Teilen der Monarchie, zwischen Front und Hinterland. Nie zuvor wurden Lokomotiven und Waggonmaterial mehr beansprucht als in diesen Kriegstagen. Die Bahnhöfe glichen Heerlagern, in den Parks rund um sie übernachteten Reisende, florierten Schleichhandel, Kleinkriminalität und Prostitution. In der Endphase des Krieges durchquerten täglich (!) hunderttausend Menschen den Transitraum Wien. All die genannten Personenströme ließen die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner und temporären Gäste auf weit über 2,4 Millionen klettern. Abb. 17: Russische Kriegsgefangene werden in die Rossauer Kaserne gebracht. Abb. 16: Massenversammlung in der Leopoldstadt: im zweiten Bezirk lebten besonders viele Flüchtlinge. Wien wurde zu einem Zentrum der Kriegswirtschaft und zog Arbeitskräfte aus der ganzen Monarchie an. Im Arsenal, einer der wichtigsten Waffenschmieden der Monarchie, wuchs die Zahl der Arbeiter von rund 2.600 auf 20.000 Beschäftigte. Es gab keine Firma in der Wiener metallverarbeitenden Industrie, die ihre Produktion nicht um ein Vielfaches erhöhte, sondern auch wesentlich mehr Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigte. Die Automobil- und Flugzeugfabriken errichteten neue, riesige Produktionshallen, die Wiener Elektroindustrie investierte in einen rapiden Ausbau. Die Wiener Industrie zählte zu den großen ökonomischen Gewinnern des Krieges, ganz im Gegensatz zum Wiener Kleingewerbe, das 8. Die „sterbende Stadt“ „Erkrankt, verarmt, verludert, verludert, verlaust, verhungert, verendet, gefallen zur Hebung des Fremdenverkehrs – dies unser aller Los!“ (Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit V, 54) Die Wiener Bevölkerung war sichtlich gezeichnet. Mittel gegen Krätzmilben waren stark nachgefragt, Schuhe und Ledersohlen wurden zum hoch begehrten Gut, Ärzte diagnostizierten hin und hin Mangelkrankheiten. Kinder waren selbst im November barfuß unterwegs. Müllabfuhr und Schneeräumung funktionierten nicht mehr, der Straßenbahnverkehr war heillos überlastet und schrumpfte in den Augen der Stadtbewohner 36 Andreas Weigl: Kriegsindustrie. Die Wiener Wirtschaft im Dienst der Kriegsökonomie, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 220-231. 37 zu einem Notbetrieb. Landgemeinden taten mit Tafeln kund, dass „Hamsterer“, Ausflügler und Sommerfrischler aus Wien unerwünscht seien, bisweilen wurden diese recht brutal gestoppt. Die Wiener Bevölkerung fühlte sich eingesperrt, vergessen von Regierung und Verwaltung. Jugendliche zogen auf der Suche nach Nahrung plündernd durch die Stadt, Kinder klopften bettelnd an die Wohnungstüren, invalide Soldaten waren als Werkelmänner auf der Suche nach Almosen. Die Stimmung war aggressiv, die Klage über die Kriegsgrobheit allgegenwärtig. Rücksicht und Höflichkeit blieben im Überlebenskampf auf der Strecke. Autos und Fiaker waren von den Straßen verschwunden, in den Schaufenstern dominierte die Leere, viele Waren gab es nicht mehr, an den versperrten Türen der Restaurants hieß es: „Bis Kriegsende geschlossen“. Urbanität starb. 39 Personen) zu versorgen hatte. Bis auf einige wenige Ausnahmen wurde jegliche Bautätigkeit eingestellt, viereinhalb Jahre lang gab es kaum Renovierungen. Gar vieles, was vor 1914 projektiert, geplant oder baureif war, konnte nicht mehr begonnen, geschweige denn fertiggestellt werden. Die Planungen für den U-Bahn-Bau, das neue städtische Museum auf der Schmelz und das Prunkgebäude der österreichisch-ungarischen Bank auf den Gründen der ehemaligen Bosniakenkaserne in der Alserstraße mussten aufgegeben werden. Der Kriegsbeginn bildete eine epochale Zäsur in der glanzvollen Baugeschichte der Stadt. 9. Im Ausnahmezustand – Chaos und Polarisierung „Vormittag hams noch im Akkord ihre 6 Kronen verdient, Mittag hat mas gemustert und ihnen schön eröffnet, daß sie jetzt Soldaten sein, no und Nachmittag hams am gleichen Arbeitsplatz für die gleiche Arbeitsleistung schön um Soldatengebühren gearbeit.“(Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, II,32) Abb. 18: Öffentliche Suppenküche Direkt an Hunger kamen zwar, nur wenige Menschen ums Leben, aber die Mangelsituation machte die Bevölkerung zu einer leichten Beute der Epidemien, der Ruhr, der Influenza, des Typhus, vor allem aber der Tuberkulose. Gegenüber einem vergleichbaren Zeitraum vor dem Krieg gab es während der Kriegszeit eine markante Erhöhung der Sterbefälle um etwa 70.000 – 80.000. Besonders dramatisch waren die Sterbefälle in den Spitälern und Altersheimen („Greisenasylen“), in denen die Ernährungskatastrophe die Zahl der Sterbenden verdoppelte. Im Vergleich zu den gefallenen 25.000 – 30.000 Soldaten gab es fast zwei- bis dreimal so viele zivile Tote. Nach einer am 1. Juni 1918 durchgeführten Erhebung fühlte sich 38 ein Drittel der Witwen und Waisen krank. Mit Kriegsende kam hinzu, dass die Stadt etwa 40.000 Invalide plus ihre Familien (ca. 120.000 Je länger der Krieg dauerte, desto stärker stieg 40 der Pegel der Polarisierung. Kaiser Karl wollte einen politischen Frühling mit volksnaher Politik, Ausgleich zwischen den Völkern der Monarchie, weniger Zensur, Wiedereinberufung des Parlaments, Friedensinitiativen und Amnestie für politische Gefangene einleiten, aber seinen Initiativen folgten Militarisierung, Ausdehnung der Kriegswirtschaft, Chaos, Verwirrung und noch mehr Hader. Jetzt gab es tatsächlich keine Alternativen zur Logik des Totalen Krieges und dem Vorrang der Militärindustrie. Zu viele Menschenleben und materielle Güter waren bereits geopfert worden, um eine Niederlage, ja selbst einen Frieden ohne Annexionen und Reparationen zu akzeptieren. Das Vielvölkermanifest vom 16. Oktober 1918 und die Ankündigung einer Umwandlung der Monarchie in einen Bundesstaat kamen zu einem Zeitpunkt, als nur mehr wenige diesen Vorschlag ernst nehmen wollten. Die Abgeordneten der einzelnen Nationen waren inzwischen längst aus dem Reichsrat ausgezogen. 39 37 Sándor Békési: Straßenbahnstadt wider Willen oder zur Verkehrsmobilität im Hinterland, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 452-461. 38 Andreas Weigl: Eine Stadt stirbt nicht so schnell. Demographische Fieberkurven am Rande des Abgrunds, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 62-71. Verena Pawlowsky/ Harald Wendelin: Der Krieg und seine Opfer. Kriegsbeschädigte in Wien, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 312. 40 Maureen Healy: Gerüchte und Denunzierungen, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 478-485. Maureen Healy: Am Ende und doch kein Ende, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 572-577. Auch in Wien selbst nahmen die Konflikte zu. Die Mangelsituation schuf ein Klima, das im Kampf ums Überleben ständig neue Feindbilder produzierte. Zuerst waren es die Ungarn, die an der Grenze Lebensmittelblockaden errichteten und die nach Wien exportierten Güter kräftig reduzierten. Die Wiener Tschechen standen seit Kriegsbeginn unter Verdacht, mit dem Feind zu sympathisieren und fraternisieren; viele von ihnen wurden bei der Polizei denunziert. Die jüdischen Flüchtlinge aus Galizien fachten den ohnehin weit verbreiteten Wiener Antisemitismus bis zu Vertreibungsforderungen weiter an. Der Antisemitismus erreichte eine bisher nie dagewesene Intensität. Juden wurden für den Krieg, die Teuerung oder die Spanische Grippe verantwortlich gemacht, und es wurde administrativ viel getan, um ihnen das Leben in der Hauptstadt zu vergällen. Ab 1916 tobte zwischen Stadt und Umgebung ein Kampf um Lebensmittel; Landgemeinden stellten Schilder gegen Sommerfrischler auf, Bürgerwehren versuchten Wiener vom Hamstern abzuhalten. Die Stadtregierung positionierte sich gegen die Regierung, der sie die Schuld für das Versorgungsdesaster gab. Ein Zwischenfall im Rathauskeller Anfang Mai 1918 war ein kleiner Baustein im großen Nationalitätenkonflikt: Weil dort tschechische Reichsratsabgeordnete und andere hochrangige Repräsentanten aus Brünn Tschechisch sprachen, wurden sie aus dem Lokal gemobbt. Auf die Schlägerei folgte der Konter: Die tschechischen Abgeordneten ersuchten den Ministerpräsidenten, von einer Kartoffelbelieferung aus Mähren nach Wien abzusehen. Bürgermeister Weiskirchner verlangte am Deutschen Volkstag im Juni 1918 antislawische Maßnahmen und generell eine Politik, die einbekennen möge, dass „den Deutschen die führende Rolle im Reich gebührt“. Mit Kriegsende zogen viele Wiener Tschechen die Konsequenz aus der antislawischen Hetze: 150.000 von kehrten ihrer langjährigen Heimatstadt den Rücken und siedelten in der neu gegründeten 41 Tschechoslowakei an. Die Niederlage im November 1918 deckte zu, dass noch in den Monaten davor die Funktionseliten auf einen Siegfrieden setzten. Der Friede von Brest-Litowsk im Februar 1918 gab den Erwartungen von einem deutsch dominierten Mittel-, Ost und Südosteuropa kräftigen Auftrieb. Auch im Innern der Monarchie arbeiteten die deutschnationalen Eliten an einer Umsetzung einer politischen Agenda (Loslösung Polens und Galizien aus Cisleithanien, Kreiseinteilung in Böhmen und Mähren), die den Deutschen in der österreichischen Hälfte der Monarchie endlich die gewünschte Mehrheit in Parlament und Verwaltung verschaffen und eine stärkere Anbindung an das Deutsche Reich umsetzen sollte. Deutschnationale stießen sich an allen Versuchen, einen neuen supranationalen Österreich-Patriotismus zu kreieren und durch Entgegenkommen gegenüber den slawischen Völkern die gleich berechtigte Multiethnizität als europäische Besonderheit der österreichischen Monarchie zu betonen. So kamen, zur Empörung der Deutschnationalen, an der Wiener Staatsoper die tschechischen Opernkomponisten Smetana, Dvořák und Janáček zu späten Ehren. 10. Soziale Veränderungen und „Kriegsfrauendienst“ „In einem unbeschreiblichen Tumult gellender Beschimpfungen, Flüche und unartikulierter Laute wird aus dem Beiwagen durch den Knäuel von Tornistern, Rucksäcken und zusammengequetschten Leibern, durch den Pferch einer unterernährten, ungewaschenen und abgerissenen Menschheit eine Frau gezerrt, die soeben vor Hunger zusammengebrochen ist.“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, V, 3) Auch der Druck im sozialen und politischen 42 Gefüge Wiens nahm zu. Der Mittelstand schaute neidvoll auf die Arbeiterschaft, die sich durch Streiks höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen konnte. Die Sozialdemokratie bekam Hass und Argwohn zu spüren, weil sie bei den Streiks zur Konfliktregulierung gebraucht und als politischer Aufsteiger der Stunde gehandelt wurde. Die Militärs setzten die Militarisierung der Betriebe durch und erweiterten eine Notstandsgesetzgebung. Der breiten Masse der Bevölkerung standen Kriegsgewinnler gegenüber, die ihren neuen Reichtum offen zur Schau stellten und die in den Medien besonders angeprangert wurden. Der Erste Weltkrieg brachte bei Löhnen und Einkommen die verschiedenen sozialen Gruppen durcheinander und zerstörte die eingeübten und standesüblichen Lebensbedingungen. Von der Verarmung besonders betroffen waren die Bezieher fixer Gehälter, 42 41 Alfred Pfoser: Chronik 1918, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 670f und 676f. Hannes Stekl: „Die Verelendung der Mittelklassen nimmt ungeahnte Dimensionen an …“, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 88-95. also Beamte und Angestellte, deren Gehälter innerhalb der Teuerungsspiralen (Lebenshaltungskostenindex im Juli 1914 100, im November 1918 1.640) dramatisch verfielen. Viele Kleingewerbetreibende sperrten mangels Waren ihre Geschäfte, die Gruppe der Hausbesitzer musste durch den Mieterschutz kräftige Einkommenseinbußen hinnehmen; so fühlte sich die traditionelle christlichsoziale Klientel von der eigenen Parteileitung verraten. Es gehört zu den Paradoxien des Ersten Weltkrieges, dass er gerade den besonders patriotischen Schichten den ökonomischen Boden entzog und ihnen im Überlebenskampf neben Hunger und Kälte Lebensbedingungen (Kriegsküche, Einküchenhaus, Unterstützung für Mindestbemittelte, keine Sommerfrische) zumutete, die ihrer Standesehre elementar widersprachen. Der Krieg fungierte als großer Gleichmacher. Der Abstand zwischen der sozialen Lage der Mittelschichte zu jener der Arbeiterschaft, die ab den Massenstreiks 1917 erhebliche Erhöhungen der Löhne durchsetzen konnte, verringerte sich deutlich. „Liebesgaben“ für die Soldaten im Feld oder die Verwundeten zu verfertigen oder im „Labedienst“ im Einsatz zu sein. Die Frauenbewegung mobilisierte massiv, um die schwierige Situation im Hinterland zu 43 bewältigen. Als die Kriegswirtschaft alle Ressourcen gebunden hatte, wurden immer mehr Frauen auch in Männerberufen (als Krankenschwestern, Schaffnerinnen, Beamtinnen, Kutscherinnen, Kellnerinnen etc.) eingesetzt. Analog der Wehrpflicht wurde ein Arbeitsdienst für Frauen erwogen. In der Endphase des Krieges wurden zwischen 36.000 und 50.000 „weibliche Hilfskräfte im Felde“ auch in der habsburgischen Armee 44 eingesetzt. Abb. 20: Sehr viele Frauen arbeiteten für das Rote Kreuz in der Verwundetenpflege. Die dabei erlebten Schrecken prägten eine ganze Frauengeneration. Frauen sollten „Männerarbeitsplätze“ allerdings nur vorübergehend einnehmen, bekamen auch deshalb weniger bezahlt. Frauen sollten nach dem Krieg keine Männer in den Berufen verdrängen, auch nicht deren Stellung in den Familien antasten. Und doch war nach Kriegsende im Geschlechterverhältnis vieles anderes. Das Frauenwahlrecht wurde mit Republikgründung durchgesetzt, und das traditionelle Staatsbürgerrecht, das in der Monarchie die Frau als Anhängsel des Mannes betrachtete, als Problem diskutiert. Wie weit der Krieg den Frauen einen kräftigen Emanzipationsschritt gebracht hat, wird in der Historiographie sehr unterschiedlich 45 bewertet. Zu Beginn des Krieges schienen die Frauen von eingerückten Soldaten ausreichend unterstützt, aber durch die Teuerung schmolzen diese gewährten Beträge zusammen. Erst recht brachte die VerAbb.19: Frauen ersetzen die Arbeitskraft eingerückter Männer: eine Schaffnerin in Wien Der Kriegsbeginn hat zunächst die traditionellen Geschlechterrollen bestätigt. Während die Soldaten schon vorweg als „Helden“ gefeiert wurden, ließen sich Frauen massenhaft einspannen, um freiwillig 43 Ines Rebhan-Glück: Die österreichische Frauenbewegung und der Krieg, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 82-87. 44 Klaralinda Ma-Kircher: Die Frauen, der Krieg und die Stadt, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S.72-81. Maureen Healy: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, S. 163-210. 45 Christa Hämmerle: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn. Wien 2014. sorgungskrise Frauen in Opposition zu Stadtverwaltung, Regierung und Krieg; an Hungerkrawallen und Streiks waren Frauen führend beteiligt. Frauen sahen sich zunehmend als Kriegsopfer. Unter Extrembedingungen mussten sie sich um Lebensmittel anstellen, ihre Kinder versorgen und in den Kriegsbetrieben um kargen Lohn arbeiten. Ihr gesundheitlicher Zustand war stark gefährdet. Zur Erschöpfung kam in zehntausenden Fällen die Tuberkulose als Todesstoß. Die Stimmungsberichte der Wiener Polizeidirektion sprechen eine deutliche Sprache: Aus einer aggressiven Verzweiflung entwickelte sich ein revolutionäres Klima. Je länger der Krieg dauerte, desto weniger waren Frauen bereit, diese Verhältnisse hinzunehmen. Vom „Durchhalten“ konnte keine 46 Reden mehr sein. 11. Die verlorene Generation „Mutter, gibt’s heut wieder nix z’essen?“ (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, IV, 18) Der Erste Weltkrieg war der erste europäische Krieg, der die gesamte Bevölkerung in den kriegsführenden Ländern in die Kriegsmaschinerie integrierte und von allen Menschen Opfer erwartete. Alle Bereiche des Lebens wurden der Optimierung der Kriegsführung und der Mobilisierung aller Reserven untergeordnet. Die „Heimatfront“ war nicht mehr Hinterland, sondern ein substanzieller Ort, an dem sich der Krieg 47 entschied. Das betraf auch die Kinder. Schon vor dem Krieg zeigte sich eine gewisse Militarisierung der Schule. Nicht nur der Patriotismus sollte dort gelehrt werden, der 1908 eingeführte Turnunterricht diente der körperlichen Ertüchtigung als Vorbereitung des Militärdienstes. Für Gymnasiasten waren in den letzten beiden Klassen Schießübungen vorgesehen. Mit Kriegsbeginn wurde fast die Hälfte der Wiener Schulen, insgesamt waren es 150 Gebäude, freigemacht; sie dienten nun als Hilfskasernen zur Einquartierung der Soldaten, später als Hilfsspitäler zur Versorgung von Verletzten. Die Kinder wurden an den verbleibenden Schulen im Wechselunterricht betreut, das Unterrichten verkürzt. Der Patriotismus sollte in möglichst alle Gegenstände eingebracht werden. Kinder und Jugendliche wurden immer wieder zu verschiedenen Hilfstätigkeiten herangezogen, etwa bei den Sanitätskolonnen des Roten Kreuzes, beim Sammelwagen, beim „Labedienst“, beim Schneeschaufeln, beim Erntedienst, bei der Mobilisierung für die Kriegsanleihen oder bei der Herstellung von „Liebesgaben“; unter der Obhut des Lehrpersonals betreuten sie Kriegsschulgärten. Wenn die Kohleversorgung wie im Winter 1916/17 zusammenbrach, blieben die Schulen einfach geschlossen. Es gab allerdings auch noch eine andere Form der „Kriegsschule“. Kinder und Jugendliche mussten sich bei Geschäften und vor Markständen stundenlang anstellen, ältere Geschwister übernahmen die Versorgung der Familien. Die Situation vieler Kinder und Jugendlicher in der Stadt wurde bereits seit 48 1915 in Zeitungen als kritisch geschildert. In vielen Fällen waren Väter an der Front, Mütter mit Erwerbstätigkeit beschäftigt. Selbst Hochschwangere verdingten sich auf dem Bau zu Schwerarbeiten, um bei der Krankenkasse gemeldet zu sein und etwas zusätzliches Geld täglich zu verdienen. Kinder wurden vielfach in die Elternrolle gedrängt, konnten nicht beaufsichtigt werden, streunten wild in der Stadt herum, verloren zu den Eltern den Bezug oder lebten gar allein, bettelten an Wohnungstüren um Brot und Essen, verkauften in den Straßen Zeitungen oder Schuhbänder. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr gab es in Wien notorisch unterernährte und vom Hunger gezeichnete Kinder, für die es auch im Sommer keine Erholung außerhalb der Stadt gab. Kinderhilfsaktionen und Kinderverschickungen erreichten, trotz aller Bemühungen, nur einen kleineren Teil der Jugend. Als Folge der Mangelerscheinungen waren Kinder überproportional häufig Opfer der Tuberkulose. Die Kindersterblichkeit nahm um 60 Prozent zu. 80 Prozent der Kinder litten an Unterernährung, im Durchschnitt verloren Kinder und Jugendliche dramatisch an Gewicht und blieben im Wachstum deutlich zurück. Wien konnte seine halbe Million Kinder nicht mehr genügend mit Lebensmitteln versorgen und ärztlich betreuen. Mediziner befürchteten langfristige Folgen für eine ganze Generation. 46 Maureen Healy: Vom Ende des Durchhaltens, in: Im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 132-139. 47 Christa Hämmerle: Kindheit im Ersten Weltkrieg. Wien 1993. Oskar Achs: Von der Feder zum Säbel. Das Wiener Schulwesen im Ersten Weltkrieg, in: im Epizentrum des Zusammenbruchs, S. 420-429. 48 Max Winter: Unter der Herrschaft des Maisbrotes, in: Arbeiter-Zeitung 10.6.1915. ernähren und zumindest im Sommer an die frische Luft zu bringen. Jugendkriminalität wurde zum großen Thema. Banden betrieben gezielt Beschaffungsaktionen, Erwachsene schickten die Kinder zum Betteln aus. Die Schriftstellerin Else Feldmann schlug bereits 1916 Alarm: „Hunderttausende Kinder sind zu retten. Ein Ausweg aus dem städtischen Kinderelend waren Kinderverschickungen (im Sommer 1918 in die Schweiz, nach Holland und Ungarn), vor allem aber Sommerlager, in denen Kinder beaufsichtigt, versorgt und aus dem tristen Alltag herausgerissen wurden. Anfang Juli 1916 fassten die Stadtväter den Plan, vier große Jugendspiel- und Sportplätze (Laaerberg, Girzenberg, Schafberg, Kreuzwiese) zu errichten, sie mit Unterkunftsbaracken zu versehen und mit Küchen auszustatten. Auch viele Vereine (etwa die „Kinderfreunde“) und Einzelpersonen waren höchst engagiert, um das Kinderelend zu lindern. Abb. 21: Unterernährtes und schwer erkranktes Kind Die Bilder vom Kinderelend in Wien entsetzten nach dem Krieg ganz Europa und ließen Hilfsorganisationen in die Stadt eilen. Die Sorge um Wiens Kinder wurde international zum großen Thema. Die Gemeindeverwaltung richtete schon während des Krieges ein eigenes Jugendamt ein und betrieb aktiver denn je Kinderfürsorge. Unzählige Organisationen widmeten sich mit Hingabe und Spendengeldern der Mission, Kinder der Verwahrlosung zu entziehen, sie notdürftig zu Abb. 22: Um die Kinder vor dem Verhungern zu retten, wurden sie für einige Wochen neutrale Staaten geschickt.