Rationale Verhaltensalter - Sportwissenschaftliches Institut des

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Konzepte der Gesundheitsförderung
Präv Gesundheitsf 2010
DOI 10.1007/s11553-010-0252-3
© Springer-Verlag 2010
A. Pieter1 · M. Fröhlich2 · E. Emrich2 · V. Papathanassiou1
1 Fachbereich Gesundheitsförderung, Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement, Hermann-Neuberger-Sportschule, Saarbrücken
2 Sportwissenschaftliches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Rationale Verhaltensalternativen und selbstbestimmtes
Handeln als Komponenten
des Gesundheitsverhaltens
Hintergrund
Folgt man den Annahmen der WHOCharta von 1986, so liegt das primäre
Ziel der Gesundheitsförderung u. a. darin, einem Großteil der Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Gesundheit zu ermöglichen. In
diesem Zusammenhang stellt sich jedoch
die Frage, inwieweit Individuen tatsächlich in der Lage und Willens sind, entsprechende selbstbestimmte, gesundheitsförderliche Verhaltensänderungen
dauerhaft zu zeigen [26]. Dies u. a. auch
vor dem Hintergrund, dass eine der Lücken, die im Rahmen der Gesundheitsförderung zu konstatieren ist, das fehlende
Menschenbild betrifft, das man Gesundheitsförderungsmaßnahmen zugrunde legen kann [15]. So ist bis dato noch nicht
dezidiert geklärt, wie die „Personen beschaffen sind“, welche zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten gebracht werden sollen, d. h. welche divergierenden
mehrdimensionalen Menschenbilder entsprechenden Maßnahmen zugrunde gelegt werden können. Die hohe Bewertung
und Wertschätzung von Gesundheit einerseits sowie die Neigung zur Diskontierung der Zukunft andererseits, also im
Sinne eines „lebe heute, zahle morgen“ ist
dabei grundsätzlich zu berücksichtigen
[1]. Hinzu kommt der Umstand, dass Gesundheitsförderung oftmals immer noch
nach dem „naiven Mythos“ konzipiert ist,
in dessen Rahmen man annimmt, es sei
ausreichend, wenn Gesundheitsexperten
die Bevölkerung darüber aufklärt, wie sie
sich gesundheitsgerecht zu verhalten habe [15].
Fragestellung
Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll
analysiert werden, inwieweit es sich beim
Menschen prinzipiell um einen selbstbestimmten, rationalen Entscheider handelt,
der zu selbstbestimmten Verhaltensänderungen zum Wohle der Erhaltung seiner
aktuellen und künftigen Gesundheit fähig und/oder gewillt ist. Ausgehend von
dem Umstand, dass insbesondere im Bereich der Gesundheitsförderung nach wie
vor überwiegend eine eindimensionale biomedizinische Sichtweise vorherrscht, die
bei der Erklärung von Verhalten oftmals
an ihre Grenzen stößt, wird diesem Beitrag eine interdisziplinäre Perspektive zugrunde gelegt, welche (gesundheits)psyc
hologischen und ökonomischen Annahmen folgt.
Methode
Die Autoren haben sich sensu Opp u.
Wippler [23] für die Auswahl problemspezifischer Theorien entschieden, welche für die Lösung des zur Diskussion
stehenden Erklärungsproblems – dem
rationalen Verhalten und der Selbstbestimmung von Individuen – von Bedeutung sind. In diesem Kontext stellt sich die
Frage, welche aus der Vielzahl der vorliegenden Theorien zur Anwendung gelangen sollte? Auch hier orientieren sich die
Autoren an Opp u. Wippler [23] in der
Gestalt, dass spezielle Theorien mittlerer Reichweite mit generellen Theorien
großer Reichweite konfrontiert werden.
Die Symbiose aus psychologischen und
ökonomischen Ansätzen erscheint den
Autoren aufgrund einer Vielzahl inhaltlicher Schnittmengen hierbei als sinnvoll
(für den Bereich der Sporttherapie konnten dies Felder u. Fröhlich [8] sowie Fröhlich et al. [9] zeigen).
Die Überschneidungen bestehen im
Hinblick auf die Thematik des vorliegenden Aufsatzes insbesondere hinsichtlich der Erklärung der Bedürfnisse von
Menschen sowie der Bedeutung motivationaler und kognitiver Aspekte im
menschlichen Handeln. Als relevante (ges
undheits)psychologische Ansätze werden
das Health-Belief-Modell (spezielle Theorie mittlerer Reichweite) und die Selbstbestimmungstheorie (generelle Theorie)
sowie als relevanter ökonomischer Ansatz das Modell des Homo oeconomicus
(generelle Theorie) zugrunde gelegt. Diese Ansätze werden im Folgenden erläutert und integrativ an geeigneten Knotenpunkten hinsichtlich der Frage nach dem
Menschen als selbstbestimmt rational
handelndem Wesen zusammengeführt.
Prävention und Gesundheitsförderung 2010 | Konzepte der Gesundheitsförderung
Demografische und
soziopsychologische Variablen
Kosten minus Nutzen
Schweregrad
Bedrohung
Gesundheitsverhalten
Verwundbarkeit
Handlungsanreize
Abb. 1 8 Health-Belief-Modell [29]
Ergebnisse
Selbstbestimmtes und rationales
Handeln – (gesundheits-) psychologische und ökonomische
Modellbetrachtungen
Health-Belief-Modell
Die Grundgedanken des Health-BeliefModells, in dessen Zentrum die spezielle
Prognose von gesundheitlichem Vorsorgeverhalten und das selbständige Aufsuchen medizinischer Behandlung stehen,
wurden von Rosenstock [27] in der Tradition von Lewin [16] und seiner Theorie
der Zielerreichung konzipiert. Für Lewin
hängt das Verhalten von Individuen primär von zwei Faktoren ab: dem Wert, den
das Individuum dem Ergebnis der Handlung beimisst sowie der Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung [19]. Bedeutsam
hierbei ist, dass das Ziel einen hohen subjektiven Selbstbezug für das Individuum
aufweist [16].
Im Rahmen des Health-Belief-Modells wird basierend auf diesen Annahmen menschliches Verhalten als primär
rational bestimmt angesehen und mittels
sozial-kognitiver Faktoren erklärt. Die
. Abb. 1 nimmt hierauf Bezug.
Ob gesundheitsförderliches Verhalten
gezeigt wird, hängt nach diesem Modell
von den folgenden theoretischen Annahmen ab [19]:
| Prävention und Gesundheitsförderung 2010
1.Von der Verletzlichkeit (subjektive
Vulnerabilität bzw. „perceived susceptibility to illness“): d. h. dem Umstand, ob sich ein Individuum subjektiv als gesundheitlich gefährdet fühlt.
Dies schließt explizit auch den subjektiven Wert mit ein, den das Individuum seiner Gesundheit generell beimisst, inwieweit es von der eigenen
Vulnerabilität überzeugt ist und wie
es die Bedeutsamkeit der gesundheitlichen Bedrohung einschätzt.
2.Vom Schweregrad von Symptomen
(„perceived severity“): Diese Annahme umfasst den wahrgenommenen
Schweregrad einer Erkrankung, d. h.
wie schwerwiegend die Folgen einer
möglichen Erkrankung für das Individuum aus dessen subjektiver Sicht
wären. Oft wird die subjektive Gefährlichkeit von Krankheiten unterschätzt (optimistischer Fehlschluss),
das Individuum entwickelt kein Gefühl der Bedrohung und ist somit
auch nicht motiviert Gesundheitsverhalten zu zeigen.
3.Vom Grad der Bedrohung: Die perzipierte Anfälligkeit gegenüber einer Erkrankung und die perzipierte
Ernsthaftigkeit der Erkrankung bilden zusammengenommen den Grad
der Bedrohung. Diese Faktoren entsprechen in ihrem Ausmaß, wie oben
ausgeführt, unserer individuellen
Wahrnehmung und können bei extremer Ausprägung, z. B. im Sinne lebensbedrohlicher Situationen, als
subjektiv wahrgenommene Hochkostensituation charakterisiert werden.
4.Von Handlungsanreizen („cue to action“): Auf die oben genannte perzipierte Gefahr durch die Erkrankung
wirken konkrete Handlungsanreize,
damit das gesundheitsförderliche Verhalten vom Individuum auch tatsächlich gezeigt und somit handlungswirksam wird. Dies können einerseits
konkrete körperliche Symptome oder
Krankheitssignale oder andererseits
externe an das Individuum herangetragen Faktoren sein. Bei den externen Faktoren wären beispielsweise massenmediale Anstöße in Form
von Kampagnen, persönlichen Ratschlägen Betroffener, Aufforderungen
durch einen Arzt, Erkrankung eines
Familienmitgliedes o. ä. zu nennen.
5.Von Kosten-Nutzen-Abwägungen
(„expectancies for efficacy of treatment“): Im Rahmen des Health-Belief-Modells wird eine Kosten-NutzenAbwägung dann ausgelöst, wenn eine wirksame Gegenmaßnahme existiert, welche Vorbeugung bzw. Heilung verspricht. Die Kosten-NutzenAbwägung entspricht dem wahrgenommenen Nutzen des eigenen Verhaltens abzüglich der wahrgenommenen, zu überwindenden Barrieren,
die dem präventiven Verhalten entgegenstehen. Da in diesem Rahmen jedoch nicht abzusehen ist, ob die Kosten oder der Nutzen sicher eintreten,
ist von Erwartungswerten auszugehen
(Erwartung-mal-Wert-Modelle [19]).
Das konkrete Handeln korrespondiert im
Weiteren notwendigerweise mit der Motivation der Individuen und ihrem Glauben
an die Beeinflussbarkeit von Gesundheitszuständen. In Religionsgemeinschaften
oder Sekten, in denen medizinische Eingriffe verboten sind, oder in Kulturen, in
denen man sein gesundheitliches Schicksal als wesentlich oder vollständig von
höheren Mächten bestimmt ansieht, gelten divergente Kosten-Nutzen-Überlegungen. Die Motive für das Handeln unterscheiden sich somit individuell nach
der jeweiligen Wahrnehmung der Indivi-
Zusammenfassung · Abstract
duen [19] und sind kulturell sowie sozial beeinflusst.
Es gibt bis dato unseres Wissens zwar
konsistente, aber nur schwache Zusammenhänge zwischen den einzelnen sozial-kognitiven Modellkomponenten
des Health-Belief-Modells und dem gezeigten gesundheitsförderlichen Verhalten [10, 11]. Hinsichtlich der Bewährung
des Modells als Gesamtmodell und hinsichtlich seines Geltungsbereichs ist derzeit kaum eine Aussage möglich [17]. Das
Health-Belief-Modell wurde dennoch für
viele weitere Gesundheitsverhaltensmodelle als vorwiegend heuristische Ausgangsbasis genutzt und findet insbesondere wegen des darin integrierten KostenNutzen-Ansatzes in den nachfolgenden
Überlegungen Berücksichtigung.
Selbstbestimmungstheorie
In der Selbstbestimmungstheorie [6, 7]
werden motivierte Handlungen nach
dem Grad ihrer Selbstbestimmung bzw.
nach dem Ausmaß ihrer Kontrolliertheit
(Fremdbestimmung) unterschieden. Eine Handlung wird von einem Individuum dann als selbstbestimmt ausgeführt
empfunden, wenn es das subjektive Gefühl hat, diese frei wählen zu können. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob diese Handlung intrinsisch oder extrinsisch
motiviert ausgeführt wird [7]. Im Gegensatz zu früheren Ausführungen geht man
heute davon aus, dass intrinsische und
extrinsische Motivation nicht unbedingt
als diametrale Ansätze zu betrachten
sind. Auch extrinsisch motiviertes Verhalten kann durchaus als selbstbestimmt
ausgeführt wahrgenommen werden und
zwar immer dann, wenn es einem Individuum gelingt, ursprünglich extrinsisch
motivierte Handlungen durch Internalisierungs- und Integrationsprozesse als
selbstbestimmte Handlungen zu erleben
[6, 7]. Überträgt man diese Annahmen
auf selbstbestimmtes Gesundheitsverhalten, so bedeutet dies, dass das jeweilige
Individuum seiner Gesundheit einen hohen Wert beimessen muss, damit es in die
Handlungsphase (aktionale Phase) eintritt und die gesundheitsförderliche Verhaltensänderung dann als selbstbestimmt
einstuft, wenn es das Gefühl hat, diese
Änderung aus eigenem Willen vorgenommen zu haben, auch wenn die ursprüng-
Präv Gesundheitsf 2010 DOI 10.1007/s11553-010-0252-3
© Springer-Verlag 2010
A. Pieter · M. Fröhlich · E. Emrich · V. Papathanassiou
Rationale Verhaltensalternativen und selbstbestimmtes Handeln
als Komponenten des Gesundheitsverhaltens
Zusammenfassung
Hintergrund. Im Rahmen des vorliegenden
Beitrags wird der Frage nachgegangen, inwieweit Individuen zu rationalen und selbstbestimmten Verhaltensänderungen zum
Wohle ihrer aktuellen oder zukünftigen Gesundheit fähig sind.
Methode. Die Ausführungen verfolgen eine interdisziplinäre Perspektive, welche (gesu
ndheits)psychologischen und ökonomischen
Annahmen folgt. Als relevante (gesundheits)
psychologische Ansätze werden das HealthBelief-Modell und die Selbstbestimmungstheorie sowie aus dem Bereich der Ökonomie das Modell des Homo oeconomicus zugrunde gelegt.
Ergebnisse. Den theoretischen Annahmen
folgend wird zum einen gezeigt, dass der
Mensch zwar zu selbstbestimmtem, rationalem Handeln bezüglich seiner Gesundheit
fähig scheint, dieses vom Individuum subjektiv als rational empfundene Handeln jedoch
objektiv eingeschränkt rational sein kann.
Zum anderen wird erläutert, weshalb es aus
Sicht des Individuums durchaus nur bedingt
rational sein kann, in die eigene Gesundheit
zu investieren.
Schlüsselwörter
Gesundheitsförderliches Verhalten · HealthBelief-Modell · Selbstbestimmungstheorie ·
Homo oeconomicus · Rationalität
Rational and self-determined behavior as components
of health behavior
Abstract
Background. This paper analyzes whether
individuals are able to change their behavior
in a rational and self-determined way in order
to maintain their current or future health.
Method. An interdisciplinary perspective
is applied based on (health) psychological
and economic assumptions. The health belief model and the self-determination theory serve as relevant (health) psychological approaches, and the homo economicus model
is the basis for economic aspects.
Results. They are all used to illustrate that
humans are able to act in a self-determined,
rational way as far as their health is concerned, but that this behavior, which the individual subjectively perceives to be rational, can objectively be limited in its rationality. This paper also explains why individuals
may only conditionally consider investments
in their own health as rational.
Keywords
Health-promoting behavior · Health belief model · Self-determination theory · Homo economicus · Rationality
Prävention und Gesundheitsförderung 2010 | Konzepte der Gesundheitsförderung
Individuelle Präferenzen
Restriktionen
Verhalten / Lebensstil
Gesundheitszustand
Opportunitätskosten
liche Motivation von außen (z. B. durch
den Arzt) an es herangetragen wurde.
Der Blick, den die Gesundheitsförderung auf die Selbstbestimmung wirft,
scheint jedoch in manchen Fällen durchaus fragwürdig: „Das vielleicht beste Beispiel für die mit der Selbstbestimmung verbundenen ethischen Probleme
stellt sich für die Gesundheitsberufe immer dann, wenn sie es mit Patienten und
Klienten zu tun haben, die ihre Empfehlungen oder Behandlungsvorschläge nicht
befolgen, obwohl dies für ihre Gesundheit
am Besten wäre“ [22]. In diesen paternalistischen Überlegungen wird Selbstbestimmung im Sinne von Compliance geduldet, Nicht-Compliance wird als ernstzunehmendes Problem gewertet – d. h.
der eigene Wille des Individuums kann
ein Problem darstellen, und Gesundheitsförderung in diesem Sinne korrespondiert
sehr stark mit Machtausübung und Kontrolle [15]. Dies bedeutet, an dieser Stelle wird die Selbstbestimmung hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens negiert
bzw. zur entmündigenden Fürsorgediktatur. In diesem Zusammenhang wäre es
wünschenswert, wenn diese paternalistische Sichtweise noch mehr als bisher bereits geschehen, von dem sich zunehmend
verbreitenden „Shared-decision-makingAnsatz“ in der Arzt-Patient-Interaktion
abgelöst würde [28], um die Handlungswirksamkeit zu erhöhen.
Homo oeconomicus
Einer der zentralen Ausgangspunkte der
Analyse ökonomischer Verhaltenstheorien ist das Individuum mit seinen wertenden Vorstellungen, der Möglichkeit
| Prävention und Gesundheitsförderung 2010
Abb. 2 9 Präferenzen
und Restriktionen für
das Gesundheitsverhalten von Individuen.
(Mod. nach [14])
Entscheidungen zu treffen und sich zum
Handeln zu entschließen, wenn es die
Freiheit dazu hat [21]. Ökonomen gehen
in ihren Analysen menschlichen Verhaltens davon aus, dass Menschen rational
handelnde Subjekte sind, die auf Präferenzen und Restriktionen agieren bzw.
reagieren [2, 21]. Von Coleman [5] wurde
diesbezüglich die Rational-choice-Theorie in die Soziologie eingeführt: Im Rahmen dieser Theorie wird davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Handlung wirksam wird, ausgedrückt
werden kann als eine Funktion der erwarteten Nutzensteigerung multipliziert mit
der Eintrittswahrscheinlichkeit der Handlung. Das Individuum hat somit im Sinne
des Rational-choice-Ansatzes eine rationale Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen.
Weiterhin wird postuliert, dass es unerheblich ist, ob der Mensch einen freien
Willen besitzt, sondern es sei ausreichend,
wenn festgestellt werden kann, dass er bestimmte Entscheidungen trifft [21]. Diese werden durch zwei Elemente beschrieben: Präferenzen und Restriktionen – z. B.
Einkommen, rechtliche Rahmenbedingungen des Handelns, (erwartete) Reaktionen anderer etc. [13]. Die Präferenzen
ergeben sich aus den Intentionen des Individuums. Sie spiegeln die Wertvorstellungen wider, die sich in Sozialisationsund Erziehungsprozessen entwickelt haben und unabhängig sind von den aktuellen Handlungsmöglichkeiten.
Anhand der Präferenzen bewertet das
Individuum die einzelnen ihm zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten, d. h.
es wägt Vor- und Nachteile, Kosten und
Nutzen der einzelnen Alternativen gegeneinander ab und entscheidet sich für die
Alternative mit dem höchsten Nettonutzen, in den der entgangene Nutzen nicht
gewählter Alternativen einbezogen wird
(Opportunitätskostenanalyse).
Vor dem Fällen von Entscheidungen
muss das Individuum (bedingte) Erwartungen bilden und Konsequenzen abschätzen können, d. h. Prognosen für die
Zukunft entwickeln. Eine Handlungsmöglichkeit besteht immer darin, die eigentliche Entscheidung aufzuschieben und
sich neue Informationen zu verschaffen,
d. h. seine Kenntnis über die Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen
zu erweitern. Gemäß dieser Theorie ändern sich Präferenzen im Zeitverlauf nicht
zwingend und variieren auch nicht deutlich zwischen verschiedenen Individuen [14]. Die Annahmen des Modells werden bezogen auf das Gesundheitsverhalten von Individuen in . Abb. 2 veranschaulicht:
Auch wenn die Annahmen des Rational-choice-Modells keineswegs auf jeden einzelnen Menschen zutreffen, erlaubt dieses Modell jedoch erstaunlicherweise häufig eine adäquate Vorhersage des
mittleren Verhaltens. Generell ist jedoch
zu beachten, dass nicht jede Verhaltensänderung durch eine Änderung in den
Präferenzen erklärt werden kann. Präferenzen sind nicht a priori gegeben, sondern sie entstehen im Laufe der Sozialisation. Verhaltensänderungen können
zumeist einfacher und wirkungsvoller erreicht werden, wenn man nicht versucht,
die Präferenzen zu ändern, sondern wenn
man die Restriktionen und Anreize so ändert, dass es auch im eigennützigen Interesse der Individuen ist [13], zumal Anreize das für offene und freiheitliche Gesellschaften zuträglichere Steuerungsmittel zu sein scheinen.
Diskussion
Fasst man die genannten Ausführungen
und Modellannahmen zusammen, so
wird ein Individuum dann ein gesundheitsförderliches Verhalten zeigen und
sich als subjektiv rational und selbstbestimmt handelnd empfinden, wenn zum
einen der Wunsch zur Verhaltensänderung handlungswirksam wird, wenn das
Gesundheitsverhalten einen hohen subjektiven Wert für das Individuum mit sich
bringt und wenn konkrete Handlungsanreize vorliegen. . Abb. 3 stellt die aus den
im Vorfeld dargestellten Theorien abgeleiteten Faktoren, die ein selbstbestimmtes
Gesundheitsverhalten unter Rationalitätsgesichtspunkten beeinflussen, zusammenfassend dar.
Dieses subjektiv als rational empfundene Verhalten kann objektiv betrachtet
jedoch durchaus nur beschränkt rational
selbstbestimmt sein:
1.Um ein bestimmtes Verhalten aus eigenem Willen zu zeigen, ist es nötig, dass der im Individuum entstandene bloße Wunsch handlungswirksam wird. Dies ist jedoch abhängig
von der Möglichkeit, diesen Wunsch
in die Tat umzusetzen. So hängt also das, was wir wollen, nicht unwesentlich auch von den äußeren Bedingungen und Umständen ab [4]. Diese äußeren Umstände sind für das Individuum im Gesundheitsbereich jedoch nicht immer leicht zu beurteilen. Dies alleine schon aus dem
Grund, dass Gesundheit ein vielschichtiges Konstrukt darstellt, das
man kaum fassen kann.
Angesichts eines Paradigmenwechsels
von einer überwiegend auf Kuration ausgerichteten Krankheitspolitik hin zu einer
die Prävention und Gesundheitsförderung
(mitunter gar Wellness) stärker berücksichtigenden Gesundheitspolitik stellt sich
die berechtigte Frage, welche normativen
Vorstellungen mit diesem Wechsel korrespondieren? Legt man die Gesundheitsdefinition der WHO aus dem Jahr 1946 bzw.
die Ottawa-Charta von 1986 zugrunde, so
ist hierunter ein Zustand des vollständigen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens zu fassen und nicht
nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. In diesem Rahmen wird Gesundheit als utopischer Idealzustand verstanden, dem man sich im Prinzip nur annähern kann. Nach Parsons [25] wiederum
ist Gesundheit ein „Zustand der optimalen Leistungsfähigkeit eines Individuums
für die Erfüllung der Aufgaben und Rollen, für die es sozialisiert wurde“ – d. h.
auch hier wird Gesundheit als vager Ziel-
Subjektiver Wert
der Gesundheit
Vulnerabilität
Individuelle
Präferenzen
Verhalten /
Lebensstil
Demografische, kulturelle
und soziopsycholog.
Variablen
Restriktionen
Aktueller Gesundheitszustand
Intrinsische und
extrinsische
Handlungsanreize
Opportunitätskosten
(Erwartungs-malWert-Modelle)
Wahrscheinlichkeit
der Zielerreichung
Handlung frei
wählbar
Selbstbestimmtes
Gesundheitsverhalten
Abb. 3 8 Faktoren, die ein selbstbestimmtes Gesundheitsverhalten unter Rationalitätsgesichtspunkten beeinflussen. (Angelehnt an [14])
zustand definiert, der viel Spielraum für
individuelle Interpretationen lässt.
Eine übereinstimmende und präzise
Definition von Gesundheit und Krankheit stellt sowohl Laien als auch Experten
vor eine große Herausforderung [3]. Damit ein Individuum jedoch rational und
selbstbestimmt hinsichtlich seiner Gesundheit handeln kann, muss es in der
Lage sein zu verstehen, was Gesundheit
genau meint und welche Möglichkeiten
ihm zur Verfügung stehen, in der derzeit
bestehenden Verworrenheit der Bereiche
Gesundheit, Gesundheitstourismus, Fitness, Wellness etc., seinen individuellen
Bedürfnissen entsprechend gesundheitsförderlich zu handeln.
2.Weiterhin sind die subjektive Vulnerabilität sowie der subjektive Wert,
den das Individuum seiner Gesundheit beimisst, hinsichtlich seines rationalen Verhaltens von entscheidender
Bedeutung. Je wichtiger einem Indivi-
duum seine Gesundheit ist und je höher es sein Risiko zu erkranken einschätzt, um so eher wird es selbstbestimmt eine Verhaltensänderung anstreben – erfahrungsgemäß und in
Übereinstimmung mit dem Homo
oeconomicus in einem Bereich, dessen Aufgabe mit den geringsten Kosten verbunden ist. So lässt sich beispielsweise gesundheitliches Risikoverhalten von Jugendlichen damit begründen, dass der gegenwärtige Nutzen aus diesem Verhalten gemäß der
Präferenzstruktur Jugendlicher die
damit verbundenen negativen Konsequenzen für die Gesundheit überwiegt [18]. Da der Erfolg eines gesundheitsförderlichen Verhaltens für
das Individuum jedoch zumeist noch
nicht abzusehen ist, legt das Individuum seinen Überlegungen Erwartungswerte zugrunde und ist gezwungen, in die Zukunft zu diskontieren.
Prävention und Gesundheitsförderung 2010 | Konzepte der Gesundheitsförderung
Inwieweit die Rationalität dadurch
eingeschränkt wird, hängt wesentlich von den institutionellen Bedingungen ab, in denen sie sich vollzieht.
Eine Rolle spielt dabei u. a. auch, wie
gut die Individuen über die ihnen offen stehenden Alternativen informiert
sind bzw. sein könnten, wie hoch die
Kosten sind, die für zusätzliche Informationen aufgewendet werden müssen und wie hoch der mögliche Ertrag solcher Informationen ist bzw.
wie hoch die Kosten suboptimaler
Entscheidungen ausfallen (Transaktionskostenansatz).
3.Wie bereits dargestellt, ist es kurzfristig effektiver, statt der Präferenzen der Individuen die Restriktionen und Handlungsanreize zu verändern [13]. Einen Hinweis, wie die
aktuellen Handlungsanreize nutzenbringend, im Sinne eines zu erwartenden relativ langen und gesunden
Lebens geändert werden können, liefern die Befunde einer Studie, bei der
insgesamt 515 Personen (52% Frauen,
48% Männer; im Mittel 50 Jahre alt,
SD=16, Range=16–91) hinsichtlich
der Akzeptanz von „Pay-for-performance-for-patients-Programmen“
(P4P4P) befragt wurden [18]. In diesen Programmen erhalten Patienten
monetäre oder nichtmonetäre Belohnungen für die Teilnahme an gesundheitsförderlichen Interventionen. 42%
der Befragten befürworteten solche
Programme, insbesondere im Rahmen der Blutdruckkontrolle, der Raucherentwöhnung sowie der Gewichtsreduktion. 40% der Befragten hielten
Summen zwischen 50–500 $ für angemessen.
Es zeigte sich auch, dass die Zustimmung
für solche Programme insbesondere bei
Personen mit einem niedrigen Einkommen, recht hoch war. Diese Befunde sprechen dafür, dass es weniger präventive, gesundheitsförderliche Überlegungen sind,
welche die Kosten-Nutzen-Überlegungen
der Individuen bestimmen, sondern diese durchaus pekuniär ausgerichtet sind.
Diesem Umstand wäre in entsprechenden
Maßnahmen auch durch eine adäquate
Auswahl der Anreize Rechnung zu tragen, wenn man Gesundheitsförderung
| Prävention und Gesundheitsförderung 2010
erfolgreich betreiben will. Da aber nach
wie vor gilt, dass die Folgen individuellen gesundheitlichen Fehlverhaltens eine der zentralen Einkommensquellen vieler Berufe ist und somit eben der „Allerschlechteste für’s Allgemeinwohl“ tätig ist
[20], wird wohl eine solche Rahmenordnung erst dann wirklich ökonomisch interessant, wenn die solidargestützte Individualisierung der Kosten nicht mehr erträglich scheint. Verschiedene Anreizpräferenzen wären experimentell zu prüfen
und auf ihre langfristigen Effekte im Sinne
einer Verhaltensänderung zu evaluieren.
Generell ist jedoch hinsichtlich der Interaktion zwischen Individuum und Vertretern der „Gesundheitsgesellschaft“ [12]
– was immer man unter diesen Chamäleonbegriff subsumieren möchte – auch
durchaus kritisch zu berücksichtigen,
dass es oftmals den Anschein hat, als
würde sich in den Augen vieler Gesundheitsexperten die Bevölkerung im Prinzip immer suboptimal verhalten [15]. Der
Nicht-Experte verhält sich per definitionem nicht richtigkeitsrational in der Terminologie Max Webers. Möglicherweise
nimmt das Individuum auch aus diesem
Grund in Teilen eine Art Trotzhaltung ein
und reagiert aus seiner Sicht rational und
selbstbestimmt mit Reaktanz auf die vermeintlich gut gemeinten Ratschläge und
die „Pflicht zur Gesundheit“ [15].
Prof. Dr. A. Pieter
Fachbereich Gesundheitsförderung, Deutsche Hochschule für
Prävention und Gesundheitsmanagement, Hermann- Neuberger-Sportschule,
66123 Saarbrücken
[email protected]
Fazit für die Praxis
Interessenskonflikt. Der korrespondierende Autor
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Zusammenfassend kann man resümieren, dass der Mensch zu selbstbestimmtem, rationalen Handeln im Bereich der
Gesundheitsförderung durchaus fähig
scheint. Das vom Individuum als rational empfundene Handeln kann objektiv jedoch eingeschränkt rational sein,
wenn im Rahmen der Kosten-NutzenAnalyse verzerrte oder falsche Informationen, beispielsweise im Sinne einer Unterschätzung der eigenen Vulnerabilität
durch einen optimistischen Fehlschluss
oder subjektiven Optimismus zum Tragen kommt. In der Praxis wäre diesbezüglich beispielsweise durch eine effektivere Wissensvermittlung im Rahmen
von Interventionen zu reagieren [26].
Der subjektive Nutzen kann
(Zufalls)Schwankungen unterliegen,
wenn Individuen sich inkonsistent ent-
scheiden, d. h. dass dasselbe Individuum zwischen identischen Wahlalternativen zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Entscheidungen trifft. Dies
resultiert in der Gesundheitsförderung
oftmals aus einer weitgehenden Unkenntnis der Handlungsmöglichkeiten
und insbesondere über deren mittel- und
langfristigen Konsequenzen. Auch hier
herrscht noch Forschungs- und Informationsbedarf.
Anreize zur Verhaltensänderung sollten, folgt man ökonomischen Vorschlägen zur Veränderung gesellschaftlicher
Situationen, den Handlungsspielraum
der Individuen in geeigneter Weise verändern, d. h. die Anreize sind so zu setzen, dass die einzelnen Individuen ein eigenes Interesse daran haben, sich in der
gewünschten Weise zu verhalten. Hierbei ist empirisch zu überprüfen, welche
Anreize in diesem Zusammenhang in der
Gesundheitsförderung den größten Erfolg versprechen.
Korrespondenzadresse
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