Kurzfassung zum Vortrag

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Sabine Bobert
Die Rolle des immerwährenden Jesusgebets im Konzept des „MTP – Mental Turning Point®“
für mystische Erfahrungen heute
1. Mystische Erfahrungen heute
Das Jesusgebet ist aus meiner Sicht der Königsweg für mystische Erfahrungen. Als wichtige
Voraussetzung gilt dafür, dass man es tatsächlich als tendenziell immerwährendes Gebet übt. Im
Mittelpunkt des von mir entwickelten Konzepts „MTP – Mental Turning Point®“ steht daher das
Jesusgebet als möglichst ununterbrochene Gebetspraxis während der normalen Alltagsvollzüge. Der
anstrengende Weg zur Selbsterkenntnis und zu einem erweiterten Weltbild wird durch eine Übung
zur Stärkung des Willens und eine Übung zum Verweilen in positiven Gefühle erleichtert.1
Im Folgenden versuche ich, Stufen auf dem Entwicklungsweg des immerwährenden Betens zu
beschreiben. Meine Gliederung und die Benennung der Stufen sind subjektiv. Man könnte kleinere
oder größere Stufen hervorheben. Zudem gibt es für die Benennung traditionelle und neue
spirituelle Begriffe. Ich habe Begriffe gewählt, die die Phänomenen dicht beschreiben.
Ich bitte im Voraus um Entschuldigung dafür, dass mein Vortrag ein Gebiet thematisiert, das in einer
materialistisch eingestellten Lebens- und Bildungskultur „abgefahren“ klingt. Ich setze ein Weltbild
voraus, das unser heutiges Oberflächenweltbild um Tiefenstrukturen ergänzt.
Ich werde damit der Mehrheit der heutigen Gebildeten, auch der Mehrheit heutiger Theologen,
widersprechen. Jedoch bewege ich mich beim Ernstnehmen mystischer Phänomene im Hauptstrom
der christlichen Mystik, ebenso im Hauptstrom der Mystik der Weltreligionen. Gegenüber der
Ignoranz heutiger evangelischer Universitätstheologie verweise ich auf akademische Psychologen,
die mystische Erfahrungen inzwischen als Forschungsgegenstand ernst nehmen. Psychologen haben
inzwischen eine Differentialdiagnostik entwickelt, mit deren Hilfe man seelische Krankheiten von
authentischen mystischen Erfahrungen unterscheiden kann. Leider kann ich auf diese spannende
Forschung im Rahmen dieses Vortrages nicht näher eingehen. Ich verweise dafür auf Tanja
Scagnetti-Feurer sowie auf Renaud von Quekelberghe.2
2. Rahmenbedingungen für den mystischen Weg mit dem Jesusgebet
Meiner Stufeneinteilung für den Entwicklungsweg mit dem immerwährende Jesusgebet im Rahmen
von MTP liegen Beobachtungen auf dem eigenen Weg sowie Berichte von MTP-Praktizierenden
zugrunde. Stufeneinteilungen haben, wie so oft auch hier, nur eine relative Geltung. Große
Abweichungen gibt es zum Beispiel durch:
1. die Eingangsvoraussetzungen wie: Hat dieser Mensch schon vor seinem Zugang zum
Jesusgebet meditiert? Ist er sensitiv veranlagt, also hatte er schon vor dem Beten des
Jesusgebets eine verfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit für Kraftfelder von Personen und
Orten? Bringt er eine große Konzentrationsfähigkeit und einen starken Willen mit? Hat er
einen Beruf, z.B. als Berufsmusiker, der bereits eine vertiefte Wahrnehmungsfähigkeit
geschult hat?
2. Die Bereitschaft, sich zum Üben Zeit zu nehmen. Viele Meditationslehrer raten beim
mantrischen Jesusgebet zur Vorsicht, indem sie eine Zeitgrenze bei etwa zwei mal 20
Minuten täglich setzen. Das Beachten auf der eigenen Belastungsgrenze ist sehr wichtig auf
dem mystischen Entwicklungsweg. Wer intensiv übt, wird seinen Ur-Ängsten begegnen und
1 Die detaillierte Beschreibung bietet: Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Münsterschwarzach 2011.
2 Tanja Scagnetti-Feurer, Himmel und Erde verbinden. Integration spiritueller Erfahrungen, Würzburg 2009; Renaud
van Quekelberghe, Grundzüge der spirituellen Psychotherapie, Eschborn bei Frankfurt M. 2007.
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seine mentale und emotionale Hölle durchreisen. Wer tendenziell immerwährend betet,
verlässt den spirituellen Wellness-Bereich. Das immerwährende Beten des Jesusgebets führt
zu spirituellen Outdoor-Erfahrungen, ähnlich, wie sie Einsiedler und Mönche beschreiben.
Doch genau auf solche Klärungs- und Verwandlungsprozesse zielen die ursprünglichen
Anweisungen zum Jesusgebet, die uns z.B. von Cassian aus dem 4. Jahrhundert überliefert
sind.3 Spiritualität diente damals nicht der Wellness, sondern der Umformung der
Persönlichkeit.
Die Sehnsucht nach Veränderung. Es macht einen großen Unterschied aus, ob jemand nur
zum Wohlfühlen und aus Neugierde meditiert oder ob ihn beispielsweise die Sehnsucht nach
Veränderung antreibt. Meine Beobachtungen als Meditationslehrer zeigen mir, dass
Menschen mit Leidensdruck am schnellsten vorankommen. Sie nehmen sich Zeit, schrecken
vor Krisen nicht zurück und erleben wesentlich rascher als Gelegenheitsmeditierer
Persönlichkeitsveränderungen und oft auch mystische Erfahrungen.
Mentale Blockaden zum Thema Mystik. Wir gelangen nur dorthin, wonach wir uns sehnen.
Wer es nicht für möglich hält, dass wir Mensch nicht nur körperliche Wesen sind, sondern
auch aus emotionalen und mentalen Kraftfeldern bestehen und mit einem glasklaren
Grundbewusstsein ausgestattet sind, der wird kaum zu diesen Erfahrungen gelangen. Man
muss für Neues offen sein.
Synchrone und diachrone Gemeinschaft. Der mystische Weg ist für Einzelgänger
gefährlich. Schutz bieten: die Fürbitte und das Feedback anderer auf dem Wege, die
Übertragung klarer Bewusstseinskräfte durch alte Eucharistie-Rituale, Tage im Kloster und
die unsichtbare Gemeinschaft, die wir im Glaubensbekenntnis „Gemeinschaft der Heiligen“
nennen. Ich rate Menschen auf dem Weg des immerwährenden Gebets gerne dazu, sich
einen persönlichen Heiligen auszusuchen und sich seiner Fürbitte anzuvertrauen, indem man
den Namen dieses Heiligen als „... durch die Fürbitte des N.N.“ bzw. kurz „durch N.N.“ von
Zeit zu Zeit öfter an das Jesusgebet anfügt.
Konzentriert auf einem Weg bleiben! Ungeduld ist auf dem mystischen Weg eine
Untugend. In einer Kultur der Glückverheißungen durch Konsum ist der mühselige Aufbau
von Konzentration und positiven Gefühlen eine Zumutung. Das Jesusgebet erweist sich
gerade für die Ernsthaft Übenden nach anfänglichen High-Gefühlen und vielen positiven
Erfahrungen als ein belastender Weg mitten hinein in bislang unbewusste Selbstanteile.
Entsprechend habe ich viele Menschen erlebt, die bei ersten Krisen abbrachen und sich
lieber meditativem Tanz und anderen schönen Erfahrungen zuwandten. Die Suche nach
Wohlgefühl durch Spiritualität ist einer der Gründe dafür, warum in unserer Kultur
Menschen trotz reger spiritueller Aktivitäten zwar viel Interessantes erleben, aber in
mystischen Dingen nur wenig vorankommen. Die Präferenz für Wohlgefühl schützt
Menschen davor, die eigene Tiefe zu erleben – den Himmel und die Hölle in uns. Genau
dorthin führt Mystik.
Dies sind nur einige Faktoren von vielen, die über das Vorankommen auf dem Weg in die eigene
Tiefe entscheiden.
3. Die Stufen
Im Folgenden werde ich auf Entwicklungsstufen mit dem immerwährenden Jesusgebet, wie es bei
MTP vorausgesetzt wird, eingehen. Die hier genannten Stufen reichen von Anfängererfahrungen bis
zu ersten vertieften Wahrnehmungen der Wirklichkeit. Es gibt selbstverständlich noch höhere
mystische Stufen beim Jesusgebet, die beispielsweise von Athos-Mönchen wie Paisios und
Porphyrios im 20. Jahrhundert bezeugt sind.4 Ich werde sprechen über:
3 Johannes Cassian, Unterredungen mit den Vätern, Münsterschwarzach 2011, Kapitel X.
4 Hieromonk Isaac, Elder Paisios of Mount Athos, 2012; Priestmonk Christodoulos, Elder Paisios of the Holy
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Gesteigerte Konzentration
Zugang zu unbewussten Persönlichkeitsanteilen
Emotionale Energien wahrnehmen und ein Bewusstsein ohne räumliche Grenzen entwickeln
Herzöffnung
3.1. Stufe: Gesteigerte Konzentration
Die Kunst, sich konzentrieren zu können, ist das A und O für die mystische Entwicklung. Wir
können unsere Konzentration aus mystischer Sicht unendlich steigern und merken erst rückwirkend,
wie zerstreut und vernebelt wir waren. Mystik ist die Kunst trennscharfer Wahrnehmung. Wir sind
im Kern reines Bewusstsein, von Gedanken und Emotionen freie ungetrübte Wahrnehmung. Der
christliche Mystiker und Wüsteneinsiedler Evagrius Ponticus aus dem 4. Jahrhundert beschreibt
diesen Bereich in uns mit den Worten „Wenn der Geist des Menschen sein eigenes Licht zu sehen
beginnt“. Unser gedankenfreier Geist gleicht „einem Saphir..., der klar und hell wie der Himmel
leuchtet“.5 Dieses zunehmende Lichtwerden, Klarwerden, macht den Erleuchtungsprozess aus.
Im Vergleich zu unserer ureigenen Klarheit erscheint unser Alltagsbewusstsein den Mystikern des
Jesusgebets als Verfinsterung. Auf dem Weg des tendenziell immerwährenden Betens wollen wir
aus einem zerstreuten, verfinsterten Geist zu einem glasklaren Bewusstseinszustand gelangen.
Von diesem Zielzustand glasklarer Wahrnehmung her geurteilt, ist es gleichgültig, ob Sie hierfür
einen tibetischen Weg gehen, Zen praktizieren oder den Weg des Jesusgebets gehen. Für Ihre
Persönlichkeitsentwicklung macht es einen gewaltigen Unterschied aus, ob Sie sich am Ziel noch
als Individuum erleben oder ob Sie sich in ein allgemeines Bewusstseinsfeld aufgelöst haben. Solch
eine Total-Auflösung kann mit schweren Persönlichkeitsstörungen verbunden sein.
Vor allem unser Körper spielt für unsere Individualität eine wichtige Rolle. Die
Körperwahrnehmung schützt uns im Erleben mystischer Grenzenlosigkeit. Im Körper konzentriert
sich der individuelle Geist als individuellem Tempel. Wir westlichen Meditierer sind durch das
Christentum auf diesen Weg der Vereinzelung gebracht worden. Wir betrachten die Vereinzelung
nicht als spirituellen Irrweg oder Maja und bekämpfen den Körper nicht. Ich grenze mich daher von
spirituellen Wegen ab, die Individualität kritisieren oder gar auflösen wollen. Die Balance zwischen
Mystik und abgegrenzter Einzel-Identität ist phasenweise schwer zu halten. Denn Mystik drängt
stets zur Auflösung des Einzelnen und zur Vermischung hin. Der Körper und unser Alltag mit all
seinen Konflikten bleiben wichtige spirituelle Gegengewichte. Hier erleben wir uns als voneinander
getrennt.
Am Anfang des Übungsweges üben wir Konzentration ein, um unseren individuellen Geist zu
sammeln, kennenzulernen und zu reinigen. Beim immerwährenden Gebet im Rahmen von MTP
fangen wir an, das Gebet bei Alltagshandlungen wie Duschen, Joggen, Schlangestehen,
Staubsaugen und Abwaschen zu sprechen. So bleiben wir im Üben stets geerdet und heiligen
gleichzeitig alles, was wir tun.
Methode in MTP für diese Phase beim Jesusgebet: Ich empfehle den Übenden, die zahlreichen
Störungen aus dem Alltag in das mantrische Beten einzubeziehen, statt gegen sie anzukämpfen.
Dadurch lernt der Mystiker bereits im Ansatz, in der Welt zu bleiben und sich nicht nach dem
Ausstieg zu sehnen. Wenn etwas oder jemand Ihr Gebet stört, beten Sie beispielsweise: „Jesus
Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meines Genervtseins“ oder schon in Richtung Feindesliebe:
„...des nervigen Gartennachbarn mit seinem Laubbläser“. Bei anderen Störungen können Sie an Ihr
Mantra anfügen: „... erbarme Dich meiner Angst vor dem morgigen Treffen“, oder bei Sorgen um
eine Person: „... erbarme dich N.N.s“.
Mountain, 1998; Paissios der Agiorit, Athonitische Väter und Athonitisches, Sourotí bei Thessaloniki 112005; Hl.
Kloster Chrysopigi Chania (Hg.), Altvater Porphyrios von Kavsokalyvia. Leben und Lehre, Kreta 2006; The Holy
Convent of the Transfiguration of the Savior, Miraculous Occurences and Counsels of Elder Porphyrios, 2013.
5 Vgl. Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Münsterschwarzach 2011, S. 120.
3.2. Stufe: Zugang zu unbewussten Persönlichkeitsanteilen
Die Lebenswende vom Zerstreutsein ins Außen hin zur Konzentration nach Innen ist folgenreich.
Das, wovor wir früher fortliefen, tritt uns jetzt gegenüber, in Träumen, in unangenehmen
Stimmungen, in Körperzuständen. Die Gottesschau beginnt, verläuft und endet mit der Selbstschau.
Wer spirituell wird, um vor sich zu fliehen, sollte das immerwährende Gebet meiden. Durch die
gesteigerte Konzentration nehmen wir sowohl unsere Umwelt als auch uns viel genauer wahr. Je
stärker wir uns konzentrieren können, desto ungeliebter werden die Entdeckungen. Was bislang in
unseren Träumen und in kleinen Ängsten ein Schattendasein führte, tritt in den Vordergrund: in
anhaltenden negativen Gefühlen, als Ängste mit ihren verschiedenen Körpererscheinungen (wie
Frieren, Schwitzen oder Schlafstörungen). Der Weg nach Innen gleicht in vielem einer
Psychoanalyse, die ja auch das Unbewusste erkundet. Daher kann therapeutische Hilfe beim
Verarbeiten des unbewussten Materials eine große Entlastung bringen.
Wozu diese Quälerei der Bewusstwerdung? In der christlichen Mystik bildet das Entrümpeln des
Unbewussten – die „Reinigung“ (purificatio) – die längste Phase. Ein mit negativen Gefühlen und
Gedanken vollgemülltes Bewusstsein kann nichts klar wahrnehmen, erst recht nicht die subtilen
geistigen Welten. Auch die Mystiker anderer Weltreligionen verbringen die meiste Zeit mit der
Entrümplung und mit dem Erlernen großer Konzentration. Die Buddhisten nennen die negativen
Bewusstseinszustände „Geistesgifte“.
Die Geistesgifte werden uns in der Konzentration durch das Jesusgebet bewusst. Wer nicht auf
diesen Prozess vorbereitet ist, verzweifelt leicht daran. Denn er denkt: Ich komme nicht voran. Ich
entwickle mich sogar rückwärts. Das Gegenteil ist der Fall: Sein Selbstbewusstsein bekommt
Tiefgang und erweitert sich auf bislang verborgen gebliebene Bereiche, die auf Klärung warten.
Methoden in MTP für diese Phase beim Jesusgebet:
1. Halten Sie alles Negative, das im Tagesbewusstsein auftaucht, im Jesusgebet Gott hin. „Jesus
Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meines Schmerzes / meiner rasenden Wut etc.“ Dies empfiehlt
sich auch für bedrückende Motiven aus Träumen.
2. Fürbitte erbitten. Wieviel verdanke ich den geistlichen Freunden!
3. Möglichst viel in positiven Gefühlen durch die Übung „Idealer Ort“6 verweilen und positive
Erlebnisse im Alltag einbauen (Musik, Sport, sich mit Freunden treffen etc.).
4. Mit dem Jesusgebet pausieren, um nicht noch tiefer in bislang Unbewusstes abzutauchen.
5. Befreiende energetische Massagen wie Shiatsu, Thai-Massage, China-Massage nutzen, um
Energieblockaden zu lösen.
6. Stress-senkende Hausmittel wie Baldriankapseln, homöopathische Mittel wie Bachblüten
„Rescue-Tropfen“, „Neurodoron“ etc. nutzen.
3.3. Emotionale Energien wahrnehmen und ein Bewusstsein ohne räumliche Grenzen entwickeln
Je gründlicher Sie Ihr Bewusstsein von negativen Gefühlen und Gedankenmustern reinigen, umso
klarer („lichter“, „erleuchteter“) wird Ihre Wahrnehmung. Dies ist zugleich die wichtigste
Voraussetzung für die Wahrnehmung von nicht-physischen Realitäten, von denen z.B. Menschen
mit Nahtoderfahrungen berichten: Verstorbene, Heilige, Engel, ein Licht voller Liebe. Gott umgibt
uns ständig. Er ist der Urgrund all dessen, was ist. Wir baden in seiner Liebe, spüren sie jedoch viel
zu selten. Das Hauptproblem ist nicht Gottes Abwesenheit, sondern unsere
Wahrnehmungsunfähigkeit seiner Gegenwart. Wir leiden an unserer empfundenen Gottesferne, die
durch unser verfinstertes Bewusstsein erzeugt wird. Im Bilde gesprochen: Die Sonne scheint
6 Vgl. Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Münsterschwarzach 2011, S. 45-55. In der 2. Auflage empfehle ich
zusätzlich die Übung „Idealer Ort“: Erschaffen Sie sich in der Phantasie einen Ort, an dem Sie tief entspannen
können.
ständig am Himmel. Wir fühlen uns jedoch von Schatten umgeben, weil unsere mentalen und
emotionalen Vorhänge vor unseren Bewusstseins-Fenstern hängen. Die Reinigung des Bewusstseins
führt zum Öffnen der Vorhänge. Die Folge ist „Erleuchtung“. Wer die Vorhänge öffnet, in dem wird
es licht. Daher produzieren wir keine Gnade (ein häufiger evangelischer Vorwurf an Mystiker),
sondern wir machen uns lediglich wahrnehmungsfähiger für sie.
Die erste geistige Wahrnehmung beginnt, wenn Sie Kraftfelder farblich sehen oder wie mit einem
feineren Tastsinn spüren. Das frühe Christentum kannte diese Kraftfelder und beschrieb sie vor
allem als Lichtphänomene bei gotterfüllten Menschen sowie im Rahmen der damals noch sehr
kraftvollen Rituale. Diese Energien wurden als Heiligenschein oder Mandorla – ein ovaler
Ganzkörperheiligenschein – dargestellt und vielfältig in Texten beschrieben.7 Heutzutage sind es
vor allem asiatische Meditationsrichtungen wie Yoga, Tai Chi und Kampfsport, die Interessierte in
der Wahrnehmung solcher Kraftfelder schulen.
Beim Jesusgebet vertieft sich die Wahrnehmung energetischer Wirklichkeit mit zunehmender
Konzentration und Entrümpelung des Unbewussten. Im Zuge der dadurch gewonnen seelischen
Stabilität wird man auch für die Folgen der gesteigerten Sensibilität belastbarer. Stellen Sie sich vor:
Sie nehmen alle Gefühle der Menschen in Ihrer Nähe wahr, als wären es Ihre eigenen Gefühle. Das
bedeutet: Wenn Sie sich in den Bus setzen, spüren Sie Schmerz und Trauer Ihres Sitznachbarn in
Ihrem Körper. Sie fühlen, wie der Schmerz Ihres Nachbarn Ihre Schultern verspannt, Ihren
Brustkorb zusammenschnürt, und Sie fühlen die Angst, die sein Herz verengt, als Stich in Ihrem
Herzen. Unsere Gefühle strahlen über unsere Körpergrenze hinaus. Wir laden mit unseren Gefühlen
alles auf, was uns umgibt: Räume, unsere Kleidung, ebenso die Menschen in unserer Umgebung.
Wenn wir diese Prozesse bewusst wahrzunehmen beginnen, kann uns das sehr belasten. Wir fühlen
uns bedrängt, verletzt, ausgeliefert. Es gibt Menschen, die sich aufgrund der verfeinerten
Wahrnehmung von dicht besiedelten Gebieten in die Natur zurückziehen. Es gibt aber auch
umgekehrt Menschen, die belastete Orte durch ihr Gebet und ihre Meditation heilen wollen wie die
Schwestern vom Karmel-Kloster „Heilig Blut“, die am Rande des ehemaligen Konzentrationslagers
Dachau leben.
Menschen, deren Aufmerksamkeit von Kindheit an auf die Bedürfnisse anderer Menschen
hingelenkt wurde, erfahren schneller die mystische Verbundenheit aller Dinge, Wesen und
Ereignisse miteinander. Hier gibt es den geschlechtsspezifischen Aspekt einer frauentypischen
Erziehung hin zu Mitgefühl und Fürsorge für andere. Diese empathischen, für die Bedürfnisse
Anderer wachen Menschen stehen dann jedoch vor der umgekehrten spirituellen Aufgabe: Grenzen
zu ziehen und die terra incognita ihrer eigenen Individualität zu erkunden. Sie müssen lernen, in
sich zu ruhen statt außen um Andere zu kreisen. Wer als Empath nicht die Konzentration bei sich
halten kann, wird durch die mystische Sensitivität sehr unglücklich werden.
Eine weitere Stufe der mystischen Erkenntnis unserer unmittelbaren Verbundenheit miteinander in
Kraftfeldern liegt in der Fernwahrnehmung. Es genügt der Name oder das Foto eines Menschen als
Konzentrationshilfe, um über räumliche Grenzen hinweg mit ihm zu verschmelzen. Da alle
Menschen in Jesus Christus miteinander verbunden sind, kann man sich durch das Jesusgebet auch
in entfernte Menschen einfühlen und erfahren, wie es ihnen emotional gerade geht, ob sie
gedanklich unruhig sind, wo ihr Körper verspannt ist, usf. Diese im Jesusgebet erzeugte Einheit
bildet die Grundlage für geistiges Heilen. Man wird dabei im Jesusgebet zeitweise eins mit dem
Kranken als würde man in seiner Haut stecken. Seine Angst wird zur eigenen, sein Schmerz bildet
sich im Körper des Heilers ab. Der Heiler kann im Zustand der zeitweiligen Verschmelzung mit
dem Kranken Gottes Gegenwart in die gefühlten Blockaden hinein erbitten, indem er das Jesusgebet
in alles Dunkle, Harte hinein spricht, damit es licht wird.
3.4. Stufe: Herzöffnung
7 Vgl. Sabine Bobert, Jesusgebet und neue Mystik, Münsterschwarzach 22012, S. 406ff: „Phänomenologie der
eucharistischen Transformationsprozesse“.
Die gegenwärtige Spiritualitätsszene ist sich weitgehend in der These einig: Alle Energien sind eins.
Die christliche Tradition hingegen legt Wert auf Differenzierung und lehrt die „Unterscheidung der
Geister“.8 Vor allem für den mystischen Weg ist es wichtig, von welchem Geist wir uns erfüllen und
leiten lassen.
Geistige Gaben wie Heilen, hellfühlig sein, Gedanken lesen können oder in die Zukunft blicken
sind kein Zeichen für Gottesnähe oder Heiligkeit. Das Neue Testament kennt destruktive spirituelle
Energien, die dort mythologisch mit „Satan“ oder als gefallene Engelmächte bezeichnet werden.
Auch solche destruktiven Mächte verfügen über wunderbare Kräfte und können Menschen an nicht
alltäglichen Kräften Anteil geben.
Die wichtigste Unterscheidung zwischen Gott und Satan, zwischen himmlischen und höllischen
Bewusstseinszuständen ist die Liebe. Ob Sie „Satan“ mythologisch als Wesen denken oder als
Metapher für destruktive Mächte: Ihm fehlt die Liebe. Gott hingegen ist die Liebe, und Liebe gilt
als die höchste Macht im Christentum. Lieben und geliebt werden machen den Himmel auf Erden
aus. Daher ist die Liebe das wichtigste Kriterium für die Unterscheidung der Geister.
Das Jesusgebet schützt nicht vor Verirrungen im Reich der Energien und Mächte. Die AthosMönche berichten von Mitbrüdern, die stolz und kalt wurden oder denen Satan in Christusgestalt
erschien und die in Wahn verfielen.9
Liebe schützt. Ich rate Menschen daher gerne zu Zusatzmeditationen wie der Herz-Jesu- oder HerzMaria-Meditation. Sie kann bildhaft sein oder als Bitte um Verbindung geschehen: „Jesus Christus,
verbinde mich bitte mit deinem Herzen / bzw.: mit dem Herzen Marias“.
Wenn Meditierende sensitiv sind, kann der Lehrer solche Energiefelder direkt auf den Schüler
übertragen. Die Erfahrung göttlicher Liebe wird in der christlichen Mystik immer wieder mit
Metaphern von „Süße“ (suavitas) beschrieben. Es ist solch eine Zärtlichkeit, eine Wärme und ein
Gefühl von Zu-Hause-Angekommen-Sein in diesen Kraftfeldern, dass man diesen Weg nicht mehr
loslassen möchte. Gleichzeitig wirken diese Felder göttlicher Liebe tief reinigend auf unsere Seele.
Es kann sich so viel auf einmal lösen, dass man lange Zeit weint. Man kann Verbitterung, Hass und
Schmerz loslassen, weil man von unendlicher Zärtlichkeit gehalten wird. Dann begreift man, was es
mit der „Gabe der Tränen“ auf sich hat, die von Mönchen früher viel beschrieben wurde. Man will
nicht mehr kämpfen. Es gibt nichts mehr zu verteidigen. Man gibt sich der gespürten Zärtlichkeit
hin und fühlt sich inmitten der eigenen Finsternis getragen und licht werden.
8 Vgl. Sabine Bobert, Mystik und Coaching, Münsterschwarzach 2011, S. 56-58.
9 Vgl. a.a.O., S. 203-205.
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