Russlands verfassungsrechtliche Struktur Flaggen der russischen Regionen In dieser Veröffentlichung werden das föderale System Russlands und die diesbezüglich bestehenden Herausforderungen beschrieben. Die verschiedenen Regierungsebenen – zentral, regional und lokal – werden betrachtet und es wird hinterfragt, ob Russland wirklich als Föderation eingeordnet werden kann. PE 569.035 ISBN 978-92-823-8020-8 doi:10.2861/075258 QA-01-15-691-DE-N Das Originalmanuskript in englischer Sprache wurde im Oktober 2015 fertiggestellt. Fertigstellung der Übersetzung: Dezember 2015. HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHT Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments; eventuelle Meinungsäußerungen entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments. Das Dokument richtet sich an die Mitglieder und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt. Nachdruck und Übersetzung zu nicht kommerziellen Zwecken mit Quellenangabe gestattet, sofern der Herausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird. © Europäische Union, 2015 [email protected] http://www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet) http://www.europarl.europa.eu/thinktank (Internet) http://epthinktank.eu (Blog) Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 1 von 19 ZUSAMMENFASSUNG Russland ist, wie auch zuvor die Sowjetunion, als Föderation konstituiert – eine naheliegende Wahl für ein solch großes und heterogenes Land. Die 85 Verwaltungseinheiten, in die sich das Land gliedert (bezeichnet als „Subjekte der Russischen Föderation“ oder „Föderationssubjekte“), verfügen über weitreichende Kompetenzen. Auf föderaler Ebene werden sie durch das Oberhaus des Parlaments (den Föderationsrat) vertreten und haben somit, zumindest auf dem Papier, Einfluss auf die nationale Gesetzgebung. Das föderale System Russlands steht vor einigen Herausforderungen. Deren schwierigste ist der drohende Separatismus, insbesondere im Nordkaukasus. Tschetschenien und seine Nachbarn leiden nicht nur unter starker Gewalt (wenn auch mit sinkender Tendenz), sondern auch unter extremer Armut. Es herrschen große wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen verarmten Regionen wie den genannten einerseits und Sibirien mit seinem Reichtum an Öl und Gas andererseits. In einigen Regionen verschlimmern sich die wirtschaftlichen Probleme durch Finanzierungsschwierigkeiten, eine hohe Abhängigkeit von Subventionen seitens der föderalen Ebene und steigender, wenn auch noch niedriger, regionaler Verschuldung. Obwohl die Verfassung regionale Autonomie festschreibt, konzentriert sich die Macht in der Regierung Putins zunehmend auf seine Person. Legislative Reformen und die Dominanz von Putins Partei Einiges Russland in Regionalparlamenten und -regierungen schränken Letztere in ihrem Handlungsspielraum bei der Umsetzung unabhängiger Politik stark ein. So wie zuvor die Sowjetunion funktioniert Russland als Zentralstaat, trotz seiner verfassungsmäßigen Ordnung als Föderation. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 2 von 19 INHALTSVERZEICHNIS 1 Struktur des föderalen Systems Russlands ................................................................ 3 1.1 Föderale Ebene ................................................................................................... 3 1.2 Neun Föderationskreise: Brücken zwischen der föderalen und der regionalen Ebene ........................................................................................................... 4 2 1.3 85 Föderationssubjekte ...................................................................................... 5 1.4 Gemeinden.......................................................................................................... 8 Herausforderungen für das föderale System Russlands ............................................ 8 2.1 3 Drohender Separatismus .................................................................................... 8 2.1.1 Tschetschenien: Kadyrows persönliches Reich ...................................................... 8 2.1.2 Der unruhige Nordkaukasus ................................................................................... 9 2.1.3 Tatarstan – einige Regionen sind gleicher als andere .......................................... 10 2.1.4 Separatistische Bewegungen in anderen Teilen Russlands ................................. 10 2.2 Wirtschaftliche Probleme – enorme regionale Unterschiede .......................... 11 2.3 Finanzierungsangelegenheiten ......................................................................... 12 2.3.1 Einnahmen und Ausgaben der Regionen ............................................................. 12 2.3.2 Der beschränkte Einfluss der Regionen auf ihre eigenen Finanzen ..................... 13 2.3.3 Zunehmende Abhängigkeit von Transfers aus dem föderalen Haushalt ............. 13 2.3.4 Verschlechterung der finanziellen Lage ............................................................... 14 2.3.5 Maßnahmen der Föderation zur Unterstützung der Finanzen in den Regionen.... 14 Russland – ein echter Föderalstaat? ........................................................................ 15 3.1 Putin regiert in den Regionen ........................................................................... 15 3.1.1 Vor Putin: Bedrohung der nationalen Einheit ...................................................... 15 3.1.2 1999 bis heute: Putins Reformen ......................................................................... 15 3.2 Vorherrschaft von Putins Partei Einiges Russland in regionalen Regierungen und Parlamenten.......................................................................................................... 16 3.2.1 Vorherrschaft in den Regierungen ........................................................................ 16 3.2.2 Vorherrschaft in den regionalen Parlamenten ...................................................... 17 3.2.3 Das föderale Russland funktioniert dank Einiges Russland wie ein Zentralstaat ... 17 3.3 Örtliche Selbstverwaltung ebenfalls bedroht ................................................... 18 4 Zeitstrahl: wichtige Daten des russischen Föderalismus ......................................... 18 5 Wichtige Quellen ...................................................................................................... 19 Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 3 von 19 FSB: Verzeichnis der wichtigsten Akronyme Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation (Nachfolger des KGB) BIP: Bruttoinlandsprodukt HDI: UN-Entwicklungsindex ISIL/Da'esh: Selbst ernannter Islamischer Staat in Irak und der Levante RUB: Russischer Rubel 1 Struktur des föderalen Systems Russlands Die zwei wichtigsten Regierungsebenen der Russischen Föderation sind die Regierung der Föderation und die Regierungen der 85 Föderationssubjekte (hier auch als „Regionen“ bezeichnet). 1.1 Föderale Ebene Auf föderaler Ebene wird die Staatsgewalt durch den Präsidenten, die Föderationsversammlung (Parlament), die Regierung der Föderation und die Gerichte (Artikel 11 der Verfassung) ausgeübt. Seit der Annahme der Verfassung von 19931 nach einer Machtprobe zwischen dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin und dem russischen Parlament hat sich das Machtgefüge zugunsten des Präsidenten verschoben, der weitreichende Befugnisse hat.2 Er ernennt beispielsweise den Ministerpräsidenten und kann die Staatsduma (das Unterhaus des Parlaments) auflösen. Das Parlament hingegen braucht eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern, die durch den Verfassungsgerichtshof und den obersten Gerichtshof bestätigt werden muss, um den Präsidenten seines Amtes zu entheben. Dies ist in der Praxis so gut wie unmöglich. Die Föderationsversammlung umfasst zwei Häuser. Die Staatsduma ist das Unterhaus und wird durch allgemeine Direktwahl nach Verhältniswahlrecht bestellt.3 Seit 2001 wird sie von Putins Partei Einiges Russland dominiert. Auch wenn die Staatsduma in der nationalen Politik das weit wichtigere der beiden Häuser ist, hat sie keine direkte Relevanz für das Verhältnis zwischen den Regionen und der obersten Regierung und wird daher hier nicht detailliert betrachtet werden. Das Oberhaus, der Föderationsrat, hat eine ähnliche Funktion wie der deutsche Bundesrat, d. h. über ihn werden die Föderationssubjekte an der Gesetzgebung der Föderation beteiligt. Er hat 170 Sitze, zwei pro Region. Ursprünglich handelte es sich bei diesen beiden Abgeordneten um den Gouverneur/Präsidenten und um den Parlamentssprecher der Region. Seit 2000 dürfen diese jedoch nicht mehr direkt im Föderationsrat sitzen. Stattdessen wird einer der beiden Abgeordneten durch den Gouverneur/Präsidenten ernannt und der zweite durch das Regionalparlament gewählt. Der Rat hat wichtige Befugnisse: Beispielsweise bedarf es einer Zustimmung des Rates für einen Einsatz der Streitkräfte außerhalb des Landes (z. B. in Syrien) und für die Änderung von Grenzen zwischen den Subjekten. 1 Verfassung der Russischen Föderation. 2 The Problem of Executive Power in Russia, Shevtsova L., Eckert M., 2000. 3 Russia: political parties in a 'managed democracy', Russell M., 2014. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 4 von 19 Weiterhin bestätigt er nationale Gesetze, die vom Unterhaus (Staatsduma) angenommen wurden. Wenn der Föderationsrat diese nicht bestätigt (er kann keine Änderungen vorschlagen), wird ein Vermittlungsausschuss gebildet. Wenn dann noch immer keine Einigung erzielt werden kann, hat die Staatsduma die Möglichkeit, den Föderationsrat mit einer Zweidrittelmehrheit zu überstimmen. In der Praxis repräsentiert der Föderationsrat die Subjekte nicht wirklich und spielt auch keine unabhängige Rolle. Auch wenn politische Fraktionen verboten sind, so stammen doch die meisten Abgeordneten aus der Partei Einiges Russland und schließen so jeden Konflikt zwischen dem Föderationsrat und dem Unterhaus oder der Regierung aus. Die Kammer tagt nur zweimal pro Monat und winkt Gesetzentwürfe mit großen Mehrheiten durch.4 Ein drittes Organ, der Staatsrat (nicht Teil der Föderationsversammlung und nicht in der Verfassung festgehalten), umfasst Gouverneure/Präsidenten und wurde im Jahr 2000 geschaffen, um sie für den Verlust ihrer direkten Mitgliedschaft im Föderationsrat zu entschädigen. Er verfügt jedoch lediglich über eine konsultative Rolle und tagt viermal pro Jahr, um den Präsidenten zu beraten. Rechtliche Grundlagen für Russlands föderales System Die russische Verfassung aus dem Jahr 1993 definiert das Land als Föderation und nennt die 85 Subjekte, bleibt aber in Hinblick auf die meisten ihrer Funktionen vage. Diese fehlenden Details haben es Wladimir Putin ermöglicht, das föderale System grundlegend zu reformieren und die regionale Autonomie einzuschränken, ohne die Verfassung zu ändern (siehe unten). Relevante abgeleitete föderale Gesetze: 119 über die Gewaltenteilung zwischen der föderalen Ebene und den Föderationssubjekten (inzwischen aufgehoben), 184 über die Gewaltenteilung zwischen der föderalen Ebene und den Föderationssubjekten und 95 über politische Parteien. 1.2 Neun Föderationskreise: Brücken zwischen der föderalen und der regionalen Ebene Die Föderationskreise wurden im Jahr 2000 geschaffen, um der föderalen Regierung die Kontrolle der 85 Subjekte zu erleichtern. Ursprünglich handelte es sich um sieben Kreise, zwei kamen später hinzu (zuletzt die Krim). Jedem steht ein vom russischen Präsidenten ernannter Verwalter vor. Die Föderationskreise werden in der Verfassung nicht erwähnt, haben keine eigenen Kompetenzen und sind nicht für regionale Angelegenheiten zuständig. Ihre Aufgaben bestehen unter anderem darin, die Kontinuität zwischen föderalem Recht und den Vorschriften der 85 regionalen Gesetzeswerke zu überwachen und die zentrale Kontrolle über den öffentlichen Dienst, die Justiz und die föderalen Behörden (z. B. Steuerbehörden, Polizei und FSB), die in den Regionen tätig sind, sicherzustellen. 4 Law of no importance, Russia Law Online. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 5 von 19 Die Krim wurde 2014 als Russlands neunter Föderationskreis hinzugefügt, ist aber international nicht als Teil Russlands anerkannt. 1.3 85 Föderationssubjekte Die Föderationssubjekte, hier als „Regionen“ bezeichnet, entsprechen den deutschen Ländern oder US-amerikanischen Bundesstaaten. Aktuell gibt es 85 Regionen (einschließlich Sewastopol und der Republik Krim, die 2014 annektiert wurden). In der Verfassung werden sie in sechs Kategorien unterteilt. Deren Unterschiede werden jedoch nicht genau definiert. Es wird lediglich festgestellt, dass die Republiken (im Gegensatz zu den anderen Regionentypen) ihre eigene Verfassung und offizielle Sprachen annehmen dürfen. Jede der 22 Republiken, wie Tschetschenien, Tatarstan oder Baschkortostan, ist Heimat einer Titularnation (wie beispielsweise der Tataren in Tatarstan), auch wenn in vielen der Republiken die Titularnation gegenüber den Russen in der Minderheit ist (z. B. in Baschkortostan). In der Praxis haben sie tendenziell mehr Autonomie als die anderen Typen von Regionen. Die 46 Oblaste, die oft nach ihrer Hauptstadt benannt sind (z. B. Swerdlowsk, Wolgograd), haben meist eine überwiegend russische Bevölkerung. Den Oblasten ähnlich sind die 9 Kraje, z. B. Kamtschatka oder Krasnodar, die aus historischen Gründen anders genannt werden (Kraj bedeutet Rand oder Grenze und verweist auf den Umstand, dass diese Regionen sich einst an den Grenzen Russlands befanden). Wie die Republiken umfassen die 4 Autonomen Kreise Titularnationen (der Autonome Kreis der Nenzen beispielsweise die Nenzen, ein Urvolk im arktischen Russland, das entfernt mit den Samen im Norden Skandinaviens verwandt ist). Diese sind aber weniger autonom, da sie keine eigenständigen Regionen darstellen, sondern Untereinheiten der Oblaste oder Kraje (der Autonome Kreis (Okrug) der Nenzen ist beispielsweise Teil der Oblast Archangelsk). Die genaue Beziehung zwischen einem Autonomen Kreis und dem größeren Gebiet, zu dem er gehört, wird in der Verfassung nicht definiert und ist nicht eindeutig. Sechs ehemalige Autonome Kreise sind durch Zusammenlegungen mit anderen Regionen verschwunden, während von den übrigen vier Tschukotka vollständig unabhängig wurde und drei weiterhin teilweise den Oblasten untergeordnet sind. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 6 von 19 Drei Städte mit Subjektstatus: Moskau, St. Petersburg und Sewastopol. Eine autonome Oblast: die Jüdische Autonome Oblast, durch Stalin in Sibirien als Heimat für russische Juden etabliert (auch wenn Juden heute weniger als 1 %5 der Bevölkerung ausmachen). Jeder Region steht ein gewähltes Oberhaupt vor (in Oblasten und Krajen: Gouverneure oder Leiter der Verwaltung; in den Republiken: Regierungschefs oder Präsidenten der Republik; in den Städten: Bürgermeister). Außerdem verfügen sie über ein Parlament (in der Regel ein Einkammerparlament). Zuständigkeiten auf föderaler und regionaler Ebene Laut Verfassung beinhalten die Zuständigkeiten der föderalen Ebene Folgendes: Außenpolitik, Währung, Verteidigung, Justiz, Finanzregulierung, Belange der Staatsangehörigkeit und Verkehr auf föderaler Ebene. Geteilte Zuständigkeiten beinhalten: Minderheitenrechte, Umweltschutz, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kultur, Arbeitsrecht, soziale Sicherung, Familienrecht und Naturkatastrophen. Regionale Zuständigkeiten: Diese beinhalten Bereiche, die nicht unter die ersten beiden Punkte fallen, z. B. Lokalregierung (außer der Festlegung gemeinsamer Organisationsprinzipien), regionaler Verkehr. Das Gesundheitswesen ist ein Beispiel für eine Zuständigkeit, die die zentrale, die regionale und die lokale Ebene teilen. Auf zentraler Ebene ist die Föderation für die allgemeine Politik, staatliche Gesundheitsprogramme, die verpflichtende Krankenversicherung, medizinische Forschung und Ausbildungseinrichtungen sowie eine beschränkte Anzahl an Krankenhäusern (ca. 4 % der gesamten Kapazität) zuständig. Die Regionen und Lokalbehörden verwalten die übrigen Kliniken. Die meisten Einrichtungen zur medizinischen Grundversorgung werden lokal verwaltet.6 5 Volkszählung aus dem Jahr 2010 (auf Russisch). 6 Russian Healthcare System Overview, Stockholm Region Office in St. Petersburg, 2010. Jüdische Autonome Oblast Städte mit Subjektstatus Autonomer Kreis Hinweis: Die Krim wurde 2014 von Russland annektiert, ist aber international nicht als Teil Russlands anerkannt. Kraj Oblast Republik Die Föderationssubjekte Russlands Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 7 von 19 Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 8 von 19 1.4 Gemeinden Die Verfassung garantiert das Recht auf örtliche Selbstverwaltung (Artikel 12) und definiert, dass die Festlegung gemeinsamer Organisationsprinzipien für die örtliche Selbstverwaltung in die Zuständigkeit der Regierung der Russischen Föderation fällt. Es gab jedoch bis zum Gesetz über die örtliche Selbstverwaltung 20037 kaum solche gemeinsamen Prinzipien. Das Gesetz führte zu einer gewissen Standardisierung örtlicher Regierungsstrukturen und -zuständigkeiten: Zwei Ebenen der lokalen Regierung: o obere Ebene – hauptsächlich die kommunalen Rajone (insgesamt 1 815) und die Stadtkreise (520);8 o untere Ebene: städtische und ländliche Siedlungen (derzeit 1 660 bzw. 18 525); Gemeinderäte werden, wie meist auch Bürgermeister, durch allgemeine Wahl bestimmt; in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden fallen die örtliche Strom- und Gasversorgung, Straßen, öffentlicher Verkehr, Polizei, Bildung, Kinderbetreuung, medizinische Versorgung, Abfallwirtschaft, Raumplanung, Bibliotheken, Sporteinrichtungen etc. 2 Herausforderungen für das föderale System Russlands 2.1 Drohender Separatismus Auch wenn sie angeblich ostukrainische Rebellen unterstützt,9 wehrt sich die russische Regierung im eigenen Land vehement gegen Separatismus. Seit 2013 ist das Eintreten für eine Abspaltung russischer Gebiete eine Straftat.10 Heutzutage gibt es ohnehin weniger Unabhängigkeitsbestrebungen als in den späten Jahren der Sowjetunion. Dies liegt teilweise darin begründet, dass ethnische Minderheiten heute einen weitaus kleineren Teil der Bevölkerung ausmachen: In der Volkszählung 201011 gaben 78 % an, dass sie russisch seien, im Vergleich zu nur knapp über 50 % im Jahr 1989.12 Dennoch gibt es weiterhin Gebiete, die sich der zentralen Regierung widersetzen. 2.1.1 Tschetschenien: Kadyrows persönliches Reich Tschetschenien erklärte sich 1992 von der Russischen Föderation unabhängig und tschetschenische Rebellen besiegten die Streitkräfte der Föderation im Ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996). Nachdem Wladimir Putin an die Macht kam, unterlag das Land schließlich im Zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009). Seither wurde unter 7 Föderales Gesetz 131 über die allgemeinen Prinzipien der Organisation örtlicher Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (auf Russisch). 8 Russische Statistikbehörde: Angaben zur Anzahl selbstverwalteter Gebiete. 9 Entschließung des Europäischen Parlaments über den Stand der Beziehungen EU-Russland, 10. Juni 2015. 10 Putin signs law criminalizing calls to separatism, The Moscow News, 30. Dezember 2013. 11 Volkszählung aus dem Jahr 2010 (auf Russisch). 12 Growth and Diversity of the Population of the Soviet Union, Anderson B., Silver B., 1990. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 9 von 19 der harten Führung des tschetschenischen Führers Kadyrow13 die Stabilität weitgehend wiederhergestellt. Kadyrow behandelt Tschetschenien fast wie sein eigenes Reich. Beispielsweise droht er an, Polizisten aus anderen Landesteilen erschießen zu lassen, wenn sie ohne sein Wissen in Tschetschenien tätig werden,14 oder er ordnet unter Verstoß gegen föderales Recht die Ausweisung der Familien von Terroristen und die Zerstörung ihres Eigentums an.15 Unter seiner Herrschaft ist die Republik zu einem kleinen islamischen Staat geworden, in dem Frauen in der Öffentlichkeit Kopftücher tragen müssen,16 der Verkauf von Alkohol eingeschränkt ist und Polygamie,17 obwohl nach russischem Recht illegal, weit verbreitet ist. Eine polygame Ehe,18 die vor kurzem in den Medien große Aufmerksamkeit fand, hat anscheinend die persönliche Zustimmung Kadyrows. Auch wenn Putins „Vertikale der Macht“ dieser Missachtung der Zentralmacht in anderen Landesteilen ein Ende bereitet hat, sieht der russische Präsident bisher von offener Kritik an Kadyrow ab. Er scheint ihm lieber bei der Kontrolle Tschetscheniens freie Hand zu lassen, solange er sich seiner Loyalität sicher ist.19 2.1.2 Der unruhige Nordkaukasus Krasnodar Stawropol Adygeja KaratschaiTscherkessien Nord ossetien Schwarzes Meer Inguscheti en KabardinoBalkarien Tschetschenien Kaspisches Meer Dagestan GEORGIEN Im übrigen Föderationskreis Nordkaukasus herrscht weiterhin Gewalt20. Diese hat zwar in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen (von 749 Opfern 2010 auf 341 Opfer 2014),21 bleibt aber weiterhin hoch, insbesondere in Dagestan (das direkt an Tschetschenien grenzt). Die Gründe für die Gewalt sind unter anderem: der jahrelange Widerstand gegen die russische Herrschaft, seit der Kaukasus unter großen Schwierigkeiten Mitte des 19. Jahrhunderts unterworfen wurde; Rivalitäten zwischen den rund 40 ethnischen Gruppen, die in der Region ansässig sind; religiöser Fundamentalismus und die Forderung von Extremisten (darunter auch Unterstützter von ISIL/Da'esh) nach einem nordkaukasischen Kalifat; sowie Armut und gravierende 13 'Absolute Schizophrenia' Reigns In Kadyrov's Chechnya, Says Filmmaker, Radio Freies Europa, 15. März 2015. 14 Kadyrov Authorizes His Police to Shoot Officers From Other Parts of Russia, The Moscow Times, 23. April 2015. 15 A Return to Feudal Law?, Institute of Modern Russia, 16. Januar 2015. 16 For Chechen Women, Modesty is the New Normal, Open Society Foundations, 19. September 2014. 17 Putin is Down With Polygamy, FP, 24. Juli 2015. 18 Will Moscow Allow Polygamy in Chechnya?, The Moscow Times, 13. Mai 2015. 19 Chechnya's Kadyrov 'Volunteers' His Men to Defend Russia, Russia Insider, 7. Januar 2015. 20 Instability in Russia’s North Caucasus Region, Laub Z., 6. Februar 2014. 21 Angaben der Online-Nachrichtenseite Caucasian Knot. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 10 von 19 Arbeitslosigkeit (fast 30 % in Inguschetien und 20 % in Tschetschenien22 und somit weit ausgeprägter als in den übrigen Landesteilen). 2.1.3 Tatarstan – einige Regionen sind gleicher als andere Nach Tschetschenien war Tatarstan die zweite Republik, die sich ursprünglich gegen einen Anschluss an die Russische Föderation wehrte und ihren Widerwillen erst 1994 nach einem bilateralen Vertrag23 aufgab, der sie zu einem mit der Russischen Föderation vereinigten Staat machte und ihr weitreichende Autonomie zusicherte. Auch wenn die Eigenstaatlichkeit im aktuellen Vertrag (2007 unterzeichnet) zwischen der Russischen Föderation und Tatarstan24 nicht mehr erwähnt wird, wird sie am Tag der Republik, einem Feiertag am Jahrestag der Erklärung der Souveränität 1990, noch immer gefeiert.25 Der aktuelle Vertrag sichert der Republik noch immer bestimmte Sonderrechte zu, die anderen Regionen nicht zustehen. So beispielsweise eine gemeinsame Verwaltung der Ölreserven der Republik durch tatarische und zentrale Behörden, das Recht der Bewohner auf eine besondere Einlage auf Tatarisch in ihren Reisepässen und die Anforderung, dass der tatarische Präsident Tatarisch spricht, wodurch die nichttatarischen Bewohner der Republik (47 % der Bevölkerung) potenziell vom Amt ausgeschlossen sind. Obwohl dieser Sonderstatus dazu beiträgt, den tatarischen Separatismus in Grenzen zu halten, widerspricht er der verfassungsmäßigen Voraussetzung, nach der alle Föderationssubjekte der Russischen Föderation in ihren Beziehungen mit den zentralen Behörden untereinander gleichgestellt sein müssen.26 2.1.4 Separatistische Bewegungen in anderen Teilen Russlands In der Republik Karelien gibt es Forderungen27 der karelischen Minderheit nach Unabhängigkeit oder zumindest nach mehr Autonomie. Ethnische Unterschiede sind nicht der einzige Grund, weswegen sich einige Teile Russlands mehr Autonomie wünschen. Einige Bewohner der westlichen Enklave Kaliningrad fühlen sich dem angrenzenden Polen oder Litauen näher als Russland und sind der Ansicht, dass die Politik der Föderation (z. B. Gegensanktionen gegen die EU) ihre Interessen nicht berücksichtigt.28 Das Ende der Zollbefreiungen in der wirtschaftlichen Sonderzone Kaliningrads 201629 wird die Wirtschaft der Oblast voraussichtlich hart treffen. Unzufriedenheit in Kaliningrad führte zu einer beispiellosen Niederlage für Putins Partei Einiges Russland in den Wahlen zum Bezirksrat von Baltijsk im Mai 2015.30 Nur 35 % der Befragten einer Umfrage, die durch die Kaliningrad Monitoring Group im April 2014 durchgeführt wurde,31 waren mit dem aktuellen Status Kaliningrads zufrieden. 22 Angaben der Russischen Statistikbehörde (auf Russisch). 23 Vertrag zwischen der Russischen Föderation und der Republik Tatarstan, 15. Februar 1994 (auf Russisch). 24 Vertrag über Abgrenzung von Zuständigkeiten zwischen den Behörden der Russischen Föderation und der Republik Tatarstan, 2007 (auf Russisch). 25 Erklärung über die staatliche Souveränität der Tatarischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990. 26 Verfassung der Russischen Föderation, Artikel 5 Absatz 4. 27 Siehe Webseite der Bewegung für ein freies Karelien. 28 Authorities fear separatism with a European face, Russia Beyond the Headlines, Oxford Analytica, 25. September 2012. 29 Why Kaliningrad Hasn’t Transformed into the 'Singapore' of Russia, EastBook.eu, 4. Juli 2013. 30 Rumblings of Dissent In Russia's West, Radio Freies Europa, 27. Mai 2015. 31 Survey of residents of Kaliningrad Oblast, Kaliningrad Monitoring Group, 22. April 2015 (auf Russisch). Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 11 von 19 Am anderen Ende des Landes hat der sibirische Regionalismus seine Wurzeln in der oblastnichestvo32 (regionalistische Bewegung) des 19. Jahrhunderts. Vielen Sibirern (meist Russen) widerstrebt,33 dass der Öl- und Gasreichtum aus der Region fließt, und im August 2014 mussten die Behörden eine Unabhängigkeitsdemonstration in Novosibirsk verbieten. Obwohl solche Bewegungen manchmal als Bedrohung34 für die russische Einheit gewertet werden, so bleiben die meisten doch eher unbedeutend. In der Republik Karelien kommen auf einen Karelier elf Russen. Angaben für Sibirien35 (aus einem ukrainischen Nachrichtenportal, das keine Quelle zitiert), dass bis zu 25-30 % der Sibirer ihre Region gerne von Russland abspalten würden, sind wahrscheinlich übertrieben. Trotz Zuspruchs36 durch Regionalisten, dass die Befragten der Volksbefragung 201037 ihre Nationalität mit „sibirisch“ angeben sollten, taten dies nur 4 000 (0,02 %). In der oben genannten Befragung in Kaliningrad war die Unterstützung für einen Sonderstatus der Oblast zwar groß (53 %), aber lediglich 4 % der Befragten waren der Ansicht, dass die Enklave entweder unabhängig werden oder von der EU verwaltet werden sollte. Zehn Jahre zuvor teilte noch ein Fünftel der Befragten diese Ansicht. 2.2 Wirtschaftliche Probleme – enorme regionale Unterschiede Starke wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Regionen sind eine Herausforderung für den nationalen Zusammenhalt. Das BIP pro Kopf im Jahr 2011 auf der Insel Sachalin, die über reiche Erdöl- und Gasvorkommen verfügt, betrug 30 000 EUR, das Zwanzigfache des BIP des verarmten Inguschetien. Dieser Unterschied übersteigt bei weitem die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten oder in Deutschland, wo das Verhältnis des BIP pro Kopf zwischen den ärmsten und reichsten Regionen 5 bzw. 2,5 beträgt.38 Auch wenn die Kluft zwischen Russlands reichsten und ärmsten Regionen sich seit 2002, als das erdölreiche Tjumen 26-mal reicher war als Inguschetien, leicht verringert hat, ist sie doch größer als 1995 (18-mal).39 Somit ist es nicht möglich, einen klaren allgemeinen Trend hin zu stärkerer wirtschaftlicher Gleichheit festzustellen. Auch die Arbeitslosenquote unterscheidet sich laut offiziellen russischen Statistiken stark, von 1,5 % in Moskau bis hin zu 29,8 % in Inguschetien.40 Auch hier gibt es keine Anzeichen, dass sich die Kluft in den letzten zwei Jahrzehnten verringert hat. 32 The Sibiriak Movement and the Roots of Modern Siberian Regionalism, Charron A., 2014. 33 Russia bans Siberia independence march, The Guardian, 5. August 2014. 34 Separatism in Karelia More Serious than Many Think, Petrozavodsk Deputy Says, Window on Eurasia, 17. Dezember 2014. 35 Siberians do not consider themselves to be Russians and want to separate from Russia, joinfo.ua, 25. Juli 2014. 36 The Sibiriak Movement and the Roots of Modern Siberian Regionalism, Charron A., 2014. 37 Volkszählung aus dem Jahr 2010 (auf Russisch). 38 Angaben zu russischen Regionen: Russische Statistikbehörde (auf Russisch); Vereinigte Staaten: Bureau of Economic Analysis; Deutschland: Statista Statistikportal. Umrechnung des Rubel basierend auf einem Wechselkurs von 1 EUR = 65 RUB. 39 Angaben der Russischen Statistikbehörde (auf Russisch). 40 Angaben für 2014, Russische Statistikbehörde (auf Russisch). Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 12 von 19 BIP pro Kopf in Tausend Euro, 2011 Angaben: Russische Statistikbehörde (auf Russisch), basierend auf dem Wechselkurs 1 EUR = 40 RUB vom Dezember 2011. Das BIP pro Kopf ist im öl- und gasreichen Sibirien, in Moskau und St. Petersburg am höchsten. Im Nordkaukasus ist es am niedrigsten. Der Abstand ist etwas geringer, wenn andere Faktoren wie Lebenserwartung und Ausbildung, wie sie beispielsweise der UN-Entwicklungsindex misst, in Betracht gezogen werden.41 2013 hatte Moskau einen UN-Entwicklungsindex (HDI) von 0,931 („sehr hoch“, ähnlich zu Australien), im Vergleich zu 0,750 in der Republik Tuwa, die den niedrigsten Wert verzeichnete („hoch“, ähnlich dem Wert von Mexiko), oder Inguschetien mit 0,790.42 Der Unterschied ist nach wie vor groß, jedoch sind die Verhältnisse in Zahlen betrachtet den Unterschieden zwischen den am besten und am schlechtesten gestellten US-Staaten sehr ähnlich (der HDI von Connecticut ist 1,6-mal höher als der von Mississippi).43 2.3 Finanzierungsangelegenheiten 2.3.1 Einnahmen und Ausgaben der Regionen Der größte Teil der Einnahmen der Regionen stammt aus Einkommensteuer (31 % der Gesamteinnahmen),44 gefolgt von einem Anteil an Ertragssteuern (22 %) und Transfers aus dem Haushalt der Föderation (18 %). Im Gegensatz dazu bezieht die Regierung der Föderation rund die Hälfte ihrer Einnahmen aus Steuern auf Erdöl und Erdgas (nur ein kleiner Teil davon geht an die Regionen – 0,5 % der regionalen Einkünfte), Umsatzsteuer und dem verbleibenden Teil der Ertragssteuern. 41 UN-Entwicklungsindex (HDI), Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. 42 Bericht über die menschliche Entwicklung in der Russischen Föderation, UNDP, 2013 (auf Russisch). 43 Angaben aus Measure of America. Die zur Berechnung des HDI für US-Bundestaaten angewendete Methode unterscheidet sich jedoch von der, die das UNDP für Vergleiche zwischen Ländern oder russischen Regionen nutzt. 44 Alle Angaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf 2014 und stammen von der Webseite des Finanzministeriums der Russischen Föderation (auf Russisch). Sie beinhalten die örtlichen Behörden (die den Großteil ihrer Einnahmen von den Regionen beziehen). Die Beträge in Euro wurden auf Basis eines Wechselkurses von 1 EUR = 65 RUB berechnet. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 13 von 19 Die wichtigsten Bereiche, in die die regionalen Ausgaben fließen, sind: Bildung (30 % der Gesamtausgaben), Gesundheit und Soziales (19 %), Wirtschaft (11 %) und Wohnungs- und Versorgungswirtschaft (7 %).45 2014 betrugen die Haushalte aller russischen Regionen zusammengenommen 8,7 Bio. RUB (135 Mrd. EUR, 17 % des BIP). Der Haushalt der föderalen Ebene betrug 14,5 Bio. RUB (220 Mrd. EUR, 28 % des BIP). Einnahmequellen auf regionaler und lokaler Ebene (%) Ausgaben auf regionaler und lokaler Ebene (%) Private Einkommensteuer Haushalte auf lokaler/ regionaler/zentraler Ebene, in Bio. RUB Ertragssteuer Bildung Transfers aus dem föderalen Haushalt Sozialpolitik Vermögenssteuer für Unternehmen Verbrauchssteuer Nationale Wirtschaft Mineralsteuer Wohnungs- und Versorgungswirtschaft Andere Angaben: Russisches Finanzministerium, 2014 (auf Russisch). 2.3.2 Der beschränkte Einfluss der Regionen auf ihre eigenen Finanzen Die Regionen haben nicht die Befugnis, eigene Steuern zu erheben oder die Höhe der Steuern festzulegen, mit denen ihre Haushalte finanziert werden. Ein großer Teil ihrer Ausgaben, beispielsweise die Gehälter im öffentlichen Dienst, wird durch Entscheidungen auf föderaler Seite festgelegt. 2.3.3 Zunehmende Abhängigkeit von Transfers aus dem föderalen Haushalt Nur einige der reicheren Regionen sind finanziell unabhängig. Die meisten erhalten einen erheblichen Anteil ihrer Einnahmen (im Schnitt 18 %) über Transfers. In Inguschetien und Tschetschenien ist dieser Anteil mit 86 % bzw. 81 % am größten. Weitere neun Regionen beziehen die Hälfte oder mehr ihrer Einnahmen aus föderalen Mitteln. Problematisch ist oftmals die ineffiziente Beitreibung von Steuern. 46 Auch wenn die Zahlen des Finanzministeriums für 2014 keine Angaben zu den beiden Regionen auf der Krim beinhalten, kann man aufgrund ihrer schwierigen wirtschaftlichen Situation47 davon ausgehen, dass auch sie stark von zentraler Unterstützung abhängen. 45 Das Finanzministerium, von dem diese Angaben stammen, stellt keine nach Regionen und örtlichen Behörden aufgeschlüsselten Zahlen zur Verfügung. Außerdem macht es keine Angaben dazu, woraus sich die Ausgaben für Sozialpolitik oder die nationale Wirtschaft zusammensetzen. 46 Siehe beispielsweise Dagestan expenses may become problem for Russia, Oxford Analytica, 30. Juli 2015. 47 Now Joined to Russia, Crimea’s Economy Is Sliding Downhill, Bloomberg Business, 2. Juni 2014. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Regionen mit dem niedrigsten/höchsten Anteil föderaler Transferzahlungen am Haushalt (%) Regionen mit den höchsten Haushaltsdefiziten/ -überschüssen (%), 2014 Seite 14 von 19 Haushaltsdefizit und Schulden auf regionaler Ebene insgesamt Einnahmen Bio. RUB Ausgaben Verschuldung Angaben: Russisches Finanzministerium (Angaben zu den gesamten Ausgaben auf föderaler Ebene für 2012 sind nicht verfügbar). Hinweis: Die Oblast um St. Petersburg heißt immer noch Leningrad. 2.3.4 Verschlechterung der finanziellen Lage Die regionalen Einnahmen konnten im Laufe der Jahre nicht mit den steigenden Ausgaben mithalten. Die finanzielle Lage der Regionen hat sich somit stetig verschlechtert und die Haushaltsdefizite und die öffentliche Verschuldung haben zugenommen.48 2014 wiesen bis auf neun Regionen alle ein Defizit aus (selbst nach Berücksichtigung der oben genannten Transferleistungen von föderaler Ebene), bei einem kombinierten regionalen Haushaltsdefizit von 469 Mio. RUB insgesamt (7,6 Mrd. EUR, 5.3 % der gesamten regionalen Einnahmen, 0,9 % des BIP). Die Staatsschuld lag bei 2,1 Bio. RUB (37 Mrd. EUR), was nach wie vor einem relativ kleinen Prozentsatz der gesamten regionalen Einnahmen (24 %) und des BIP (4 %) entspricht. In Anbetracht der finanziellen Belastungen durch den aktuellen Wirtschaftsabschwung ist es jedoch wahrscheinlich, dass die Staatsschuld steigen und zu Problemen führen wird. In ihrem Bericht zur Finanzstabilität vom April 201549 warnte die Russische Zentralbank davor, dass die regionalen Defizite im Zusammenhang mit einem Konjunkturabschwung wahrscheinlich steigen würden und forderte die Regierung der Föderation eindringlich dazu auf, die Belastungen für die Regionen durch eine Erhöhung des Kofinanzierungsanteils von föderalen Programmen zu reduzieren. 2.3.5 Maßnahmen der Föderation zur Unterstützung der Finanzen in den Regionen Um die Regionen bei der Bekämpfung ihrer Defizite zu unterstützen, bietet die Regierung der Föderation ihnen Darlehen zu niedrigen Zinsen, allerdings nur wenn ihre Finanzlage bestimmte Kriterien erfüllt. So dürfen beispielsweise ihre für Ende 2017 veranschlagten Schulden 50 % der Einnahmen nicht übersteigen. Um die aktuellen finanziellen Schwierigkeiten anzugehen, hat das russische Finanzministerium dieses Kriterium kürzlich gelockert50 und die Anforderung auf 70 % erhöht. Gesetzesentwürfe51 zu öffentlich-privaten Partnerschaften könnten Regionen und 48 Russian regions' financing problems will grow, Oxford Analytica, 10. April 2015. 49 Financial Stability Review, Russische Zentralbank, April 2015 (auf Russisch). 50 Regions unable to pay off debts as quickly as planned, Vedomosti, 29. Juli 2015 (auf Russisch). 51 Partnerships between the State and state banks to be limited, Vedomosti, 30. Juni 2015 (auf Russisch). Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 15 von 19 örtlichen Behörden ebenfalls dabei helfen, alternative Quellen zur Finanzierung von Investitionen zu erschließen. 3 Russland – ein echter Föderalstaat? Trotz ihres verfassungsmäßigen Status als freiwilliger Zusammenschluss gleichberechtigter Republiken funktionierte die Sowjetunion wie ein Zentralstaat. Während der chaotischen Phase nach ihrer Auflösung genossen einige Teile Russlands einen teilweise unabhängigen Status. Seit 1999 konzentriert Wladimir Putin jedoch mit seiner „Vertikale der Macht“52 die Gewalten auf seine Person und unterwirft regionale und zentrale Institutionen seiner persönlichen Autorität. Diese Entwicklungen hin zu einer Rückkehr zum Autoritarismus finden sich nach einer Periode relativer Freiheit auch in anderen Bereichen wieder, wie beispielsweise in der Parteipolitik,53 den Medien54 und der Zivilgesellschaft.55 56 3.1 Putin regiert in den Regionen 3.1.1 Vor Putin: Bedrohung der nationalen Einheit Unter Jelzin war die russische Einheit bedroht – nicht nur in Tschetschenien, das sich von der Russischen Föderation unabhängig erklärte, sondern auch in vielen anderen ethnischen Republiken, in denen autoritäre Herrscher wie Murtasa Rachimow57 in Baschkortostan freie Hand im Gegenzug für ihr Loyalitätsbekenntnis zu Moskau hatten. Auch wenn die Verfassung Außenpolitik klar als Zuständigkeit der Föderation festlegt, stellte sich Tatarstan 1999 gegen Russlands proserbische Haltung und drohte, das Kosovo zu unterstützen. Die Republik schloss auch ihre eigenen internationalen Abkommen.58 Regionale Gesetzgebung war buchstäblich eigenständiges Recht, mit geschätzt 20 000 Gesetzen,59 die mit föderalem Recht in Konflikt standen. 3.1.2 1999 bis heute: Putins Reformen Nachdem Wladimir Putin 1999 Premierminister wurde, führte er eine Reihe von Reformen ein, die eine zentrale Kontrolle über die Regionen schaffen sollten. Diese beinhalten: Gesetzgebung, die die Regionen dazu verpflichtet, die Vereinbarkeit ihrer Rechtsvorschriften mit denen der föderalen Ebene sicherzustellen;60 die Schaffung von Föderationskreisen, um die Überwachung der Regionen zu erleichtern; 52 Putin’s Power Vertical Stretches Back to Kursk, The Moscow Times, 17. August 2010. 53 Russia: political parties in a 'managed democracy', Russell M., Dezember 2014. 54 Russian media – under state control, Russell M., Mai 2015. 55 Organised civil society in Russia, Russell M., Juni 2015. 56 Siehe z. B. Freedom House, das in den letzten Jahren einen steigenden Autoritarismus in einer Reihe von Bereichen festgestellt hat. 57 Putin redraws the map of Russia, The Guardian, 15. Mai 2000. 58 „Russian Politics and Society“, Sakwa R., 2008. 59 Putin redraws the map of Russia, The Guardian, 15. Mai 2000. 60 Föderale Gesetze 119 über die Gewaltenteilung zwischen der föderalen Ebene und den Föderationssubjekten und 184 über die Gewaltenteilung zwischen der föderalen Ebene und den Föderationssubjekten (auf Russisch). Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 16 von 19 Wiedereinführung der sowjetischen Praxis, öffentliche Bedienstete der Föderation alle paar Jahre von einem Teil des Landes in einen anderen zu versetzen, um zu verhindern, dass die Regionen auf die föderalen Einrichtungen, die in ihrem Gebiet tätig sind, ungebührlich Einfluss nehmen;61 Einschränkung der Macht der Gouverneure/Präsidenten: Seit 2000 dürfen Gouverneure nicht mehr Mitglied im Föderationsrat sein; seit 2004 dürfen sie ihre Vertreter im Föderationsrat nicht mehr abberufen und haben so noch mehr Einfluss auf die zentrale Gesetzgebung verloren. Das Verfassungsgericht vertrat eine ähnliche Haltung und entschied gegen regionale Souveränitätserklärungen, die mehrere Republiken in den 1990er-Jahren abgegeben hatten.62 Viele dieser Reformen wurden dadurch begründet, dass Russland als geeintes Land funktionieren müsse, wofür ein einheitlicher rechtlicher Raum nötig sei und verhindert werden müsse, dass regionale Führer ihre Gebiete als halbfeudale Herrschaftsbereiche behandeln würden. 2004 ging Putin jedoch noch weiter und schaffte die Gouverneurswahlen ab;63 die Gouverneure/Präsidenten sollten stattdessen vom russischen Präsidenten nominiert und von den Regionalparlamenten bestätigt werden, unter dem Vorwand, dass so als Antwort auf das Massaker von Beslan der Staat durch ein geeintes System exekutiver Macht64 gestärkt werde. Dies stellte eine direkte Bedrohung sowohl der regionalen Autonomie als auch der demokratischen Staatsführung dar. 3.2 Vorherrschaft von Putins Partei Einiges Russland in regionalen Regierungen und Parlamenten 3.2.1 Vorherrschaft in den Regierungen Direkte Gouverneurswahlen wurden nach Protesten gegen Putin65 in den Jahren 2011 und 2012 wieder eingeführt. Doch auch wenn die regionalen Regierungschefs wieder gewählt werden, bedeutet dies nicht, dass sie sich in absehbarer Zukunft gegen die zentralen Behörden stellen werden. Die meisten Kandidaten werden effektiv dadurch ausgeschlossen,66 dass sie die Unterschriften von 10 % der Mitglieder der Gemeinderäte einer Region sammeln müssen, die selbstverständlich von den Verwaltungen abhängig sind, denen die aktuellen Amtsinhaber vorstehen (meist von Putin vor den kürzlich wieder eingeführten Wahlen ernannt), die dadurch im Wahlkampf einen deutlichen Vorsprung bekommen. Derzeit sind nicht weniger als 70 der 85 regionalen Regierungschefs (Gouverneure, Präsidenten der Republiken etc.) Mitglied der Partei Einiges Russland. 12 sind unabhängig, zwei kommunistisch und einer liberaler Demokrat. 61 Sakwa, a. a. O. 62 Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 über die Republik Altai, in der erklärt wurde, dass nur die Föderation souverän sei. 63 Russia: Putin Signs Bill Eliminating Direct Elections of Governors, Radio Freies Europa, 13. Dezember 2004. 64 Speech at the Enlarged Government Meeting with the Government and Heads of the Regions, Putin W., 13. September 2004. 65 A Russian awakening, The Economist, 11. Dezember 2011. 66 Russian Governors Rush to Early Elections, Institute of Modern Russia, 25. Juni 2014. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 17 von 19 Um ihre Chancen weiter zu verbessern, folgen die amtierenden Gouverneure oft der auf föderaler Ebene verbreiteten Praxis67 und rufen vorgezogene Wahlen aus, bevor ihre Amtszeit endet. Im Jahr 2014 taten dies 19 Gouverneure, und am 13. September 2015 stellten sich acht68 vorgezogenen Wahlen. Dies geschieht aus unterschiedlichen Gründen69 – um den Gegenkandidaten keine Zeit zu lassen, ihre Wahlkämpfe vorzubereiten, oder um von den hohen aktuellen Zustimmungswerten für Wladimir Putin zu profitieren. 3.2.2 Vorherrschaft in den regionalen Parlamenten Während der 1990er-Jahre spielten nationale politische Parteien nur eine sehr untergeordnete Rolle in der Regionalpolitik. Von 1995 bis 1997 hatten diese Parteien nur 19 % der Sitze in Regionalparlamenten inne. Im Ergebnis achteten die regionalen Regierungen und Parlamente mehr auf die lokalen Eliten als auf die zentralen Behörden. Dies änderte sich 2001 mit dem Föderalen Gesetz 95 über politische Parteien,70 das Regionalparteien effektiv abschaffte, da regionale Parteien nach Maßgabe des Gesetzes mindestens in der Hälfte der russischen Regionen Ortsvereine haben müssen, um sich für die Registrierung zu qualifizieren. Aufgrund einer erneuten Änderung desselben Gesetzes aus dem Jahr 2003 muss mindestens die Hälfte der Mitglieder der Regionalparlamente von Parteilisten gewählt werden.71 Dies führte dazu, dass die Vertretung der nationalen Parteien weiter auf Kosten unabhängiger Kandidaten gestärkt wurde. Im September 2014 hielten die vier nationalen Parteien, die in der Föderationsversammlung vertreten sind, bereits 96 % aller Sitze in den Regionalparlamenten. Der größte Gewinner dieser Änderung ist Putins Einiges Russland, das jetzt 73 % aller Sitze hält und in 83 der 85 Parlamente über eine Mehrheit verfügt72 (in den verbleibenden zwei Parlamenten haben die Kommunistische Partei, die Partei Gerechtes Russland und Jabloko Koalitionen gebildet). Weiterhin sind die Oppositionsparteien, die offene Kritik üben, in der Regel von vornherein von Kandidaturen bei den Regionalwahlen ausgeschlossen. Bei den Wahlen vom September 2015 wurde die Oppositionskoalition RPR-PARNAS, die unter anderem von Alexei Nawalny geführt wird, fast überall verboten.73 Angeblich hatte sie Unterschriften für die Registrierung der Koalition zur Wahl gefälscht. So sollte offensichtlich verhindert werden, dass sich das Wahldebakel der Bürgermeisterwahlen in Moskau aus dem Jahr 2013 wiederholt, bei dem Nawalny den Kandidaten der Partei Einiges Russland fast geschlagen hätte. 3.2.3 Das föderale Russland funktioniert dank Einiges Russland wie ein Zentralstaat Einiges Russland ist eine stark zentralisierte Partei74 mit wenig Demokratie im Innern. Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass regionale Vertreter der Partei die 67 Russian lawmakers back bill holding 2016 parliamentary election to several months earlier, US News, 19. Juni 2015. 68 Gemäß Angaben der Webseite der zentralen russischen Wahlkommission (auf Russisch). 69 Russian Governors Rush to Early Elections, Institute of Modern Russia, 25. Juni 2014. 70 Föderales Gesetz 95 über politische Parteien (auf Russisch). 71 2013 wurde der Anteil der Parlamentarier, der über Parteilisten gewählt werden muss, von 50 % auf 25 % herabgesetzt. Allerdings hat bisher keine der Regionen von dieser Option Gebrauch gemacht (auf Russisch). 72 Angaben von den Internetseiten der Regionalparlamente. 73 Russia bars anti-Kremlin coalition from upcoming polls, The Daily Star, 10. August 2015. 74 How United is United Russia? Regional Sources of Intra-party Conflict, Slider D., 18. Mai 2010. Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 18 von 19 Föderationspolitik kritisieren. Im Ergebnis schränkt die Dominanz der Partei in Parlamenten und Regierungen den Spielraum für echte regionale Autonomie ein. Einiges Russland spielt bei der zentralisierten Staatsführung eine Rolle, die der der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sehr ähnlich ist – trotz der föderalen Struktur des Landes. 3.3 Örtliche Selbstverwaltung ebenfalls bedroht 2014 und 2015 wurde durch Änderungen des Föderalen Gesetzes 13175 über die örtliche Selbstverwaltung die Option eingeführt, dass die Gemeindevertreter aus ihrer Mitte einen Bürgermeister wählen können, anstelle einer direkten Wahl des Bürgermeisters durch die Bevölkerung – eine Option, die von mehreren Regionen aufgegriffen wurde. Es wurden mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die Abschaffung der direkten Bürgermeisterwahlen eingereicht, u. a. eine zu den Bürgermeisterwahlen in Irkutsk, die von 90 Mitgliedern der Staatsduma unterstützt wurde, hauptsächlich aus den Oppositionsparteien, aber auch durch den Abgeordneten Anton Romanow der Partei Einiges Russland.76 Ein neuer Gesetzesentwurf würde es, sofern angenommen, Gouverneuren erlauben, gewählte Bürgermeister zu entlassen, wenn sie regionale Gelder, die lokalen Behörden zur Verfügung gestellt werden, nicht korrekt verwenden – eine Maßnahme, die laut einem Experten als Mittel genutzt werden könnte, „unliebsame“ Bürgermeister loszuwerden.77 Es scheint auch bedenklich, dass diese Entwicklungen mit Forderungen 78 von Oleg Iwanow, dem Vorsitzenden der Vereinigung lokaler Behörden im Großraum Moskau, nach Verfassungsänderungen zur Abschaffung örtlicher Selbstverwaltung zusammenfallen. 4 Zeitstrahl: wichtige Daten des russischen Föderalismus 75 Föderales Gesetz 131 über die allgemeinen Prinzipien der Organisation örtlicher Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (auf Russisch). 76 Referral to Constitutional Court by State Duma, Kommersant, 24. August 2015 (auf Russisch). 77 Elected Mayors to Come under Governors' Scrutiny, Kommersant, 24. August 2015 (auf Russisch). 78 Greater Moscow Feels Affinity with China, Kommersant, 20. August 2015 (auf Russisch). Russlands verfassungsrechtliche Struktur Seite 19 von 19 5 Wichtige Quellen Politics Russia, Danks C., Pearson Education, 2009. Elusive Russia: Current Developments in Russian State Identity and Institutional Reform under President Putin, herausgegeben von Laenen R., Malfliet K., Leuven University Press, 2007. Russian Politics and Society, Sakwa R., Routledge, 2008. Russian Government and Politics, Shiraev E., Palgrave Macmillan, 2010.