Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS

Werbung
109
4.3
Komorbidität und klinische
Differenzialdiagnose
Kai G. Kahl
Ist Komorbidität die Regel
oder die Ausnahme?
Epidemiologische Studien an großen Bevölkerungsstichproben zeigen, dass eine Reihe psychiatrischer Erkrankungen bei Erwachsenen mit
ADHS gehäuft auftreten: Im Gegensatz zu Kontrollstichproben ohne ADHS werden affektive Störungen bis zu 5-mal, Angststörungen bis zu 4-mal und
substanzassoziierte Störungen bis zu 3-mal häufiger gefunden (Faraone und Biederman 1997, Kessler et al. 2006). Exemplarisch für eine Stichprobe
aus dem norddeutschen Raum stehen die Komorbiditätsdaten der Lübecker ADHS-Ambulanz. Insgesamt wurden 128 erwachsene ADHS-Patienten
mit einem Strukturierten Interview (SKID I/II
[Wittchen et al. 1997]) untersucht, davon 68
Frauen (53,1 %) und 60 Männer (46,1 %). 86 Patienten (67,2 %) erfüllten die Kriterien für ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ohne hyperkinetische
Symptome (ADS), bei dem kleineren Teil der Patienten wurde eine kombinierte Störung der Aufmerksamkeit mit Hyperaktivität diagnostiziert
(ADHS; 32,8 %).
Dieses Ergebnis kann als Hinweis darauf
gewertet werden, dass die hyperkinetischen
Symptome mit dem Alter abnehmen, während
Symptome des Aufmerksamkeitsdefizits länger
bestehen bleiben.
Wird die Gesamtzahl der komorbiden Störungen
betrachtet, ließen sich bei 93 von 128 Patienten
(72,7 %) mindestens 1 komorbide psychische Störung (Achse 1) nachweisen, jeder 3. Patient erfüllte
die Kriterien für 2 oder mehr psychische Störungen. Bei 15 von 128 Patienten war eine Persönlichkeitsstörung nachweisbar, besonders häufig war
die Komorbidität mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Unter den komorbiden psychischen Störungen
waren affektive Störungen am häufigsten. 48 % der
ADHS Patienten erfüllten die Kriterien für irgendeine Erkrankung aus dem affektiven Formenkreis.
Mit 32 % war die Lebenszeitdiagnose einer unipolaren Major Depression die häufigste Diagnose, bei
jedem 5. Patienten wurde eine aktuelle depressive
Episode diagnostiziert. Bei immerhin 12 % der Patienten wurde eine Dysthymia und bei 7 % eine komorbide bipolare Störung erkannt. Kurze wiederkehrende depressive Episoden („brief recurrent
Tabelle 4.2 Häufigkeit komorbider psychischer Störungen und Persönlichkeitsstörungen bei erwachsenen Patienten mit ADHS (unaufmerksamer und kombinierter Subtyp); dargestellt sind die Ergebnisse der Lübecker ADHS-Ambulanz
Komorbidität mit psychischen Störungen (Achse 1)
0
1
2
3
욷4
Anzahl (N)
35
54
27
10
2
%
27,3
42,2
21,1
7,8
1,6
Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen (Achse 2)
Anzahl (N)
%
0
1
113
15
88,3
11,7
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
110
4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre)
50
Affektive und Angststšrungen
HŠufigkeit (%)
40
30
20
10
HŠufigkeit (%)
40
GA
S
Zw
PT
an
BS
gs
st
šr
un
g
Af
fe
kt
iv
M e St
aj
or šru
De ng
pr en
Bi
po
es
sio
la
re
n
St
šr
un
g
BR
D
D
An ysth
gs
ym
ts
ia
tš
So run
ge
zia
n
le
P
Ag hob
or
i
ap e
ho
bi
e
0
Alkohol und Drogen
30
20
10
Al
ko
ho
l/D
Al
ro
ko
ge
ho
n
lm
iss
Al
br
ko
au
ho
ch
la
bh
Šn
gi
Dr
gk
og
ei
en
t
m
i
ss
Dr
br
og
au
en
ch
ab
hŠ
ng
ig
ke
it
0
Abb. 4.3 Alkohol- und Drogenmissbrauch bei 128 Patienten der Lübecker Ambulanz für Erwachsene mit
ADHS (ohne Nikotin). 82 % der Patienten gaben an, regelmäßig Zigaretten zu rauchen. Häufig lag der Beginn zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr. Der blaue
Balken zeigt, bei wie viel Prozent der ADHS-Patienten
irgendeine Störung durch psychotrope Substanzen
diagnostiziert wurde.
depression“; BRD) wurden von 4 % der Patienten
berichtet.
Angst- und Zwangserkrankungen wurden bei
26 % der untersuchten Patienten diagnostiziert. Am
Abb. 4.2 Affektive und Angststörungen bei Patienten mit ADHS
des Erwachsenenalters. Am häufigsten wurde eine Major Depression diagnostiziert, aber auch bipolare Störungen waren häufiger
als in gesunden Kontrollpopulationen. Unter den Angststörungen ist
die hohe Prävalenz für die soziale
Phobie und die Agoraphobie mit
Panikstörung hervorzuheben.
(BRD: brief recurrent depression;
GAS: Generalisierte Angststörung;
PTBS: Posttraumatische Belastungsstörung.) Der blaue Balken
zeigt, bei wie viel Prozent der
ADHS-Patienten irgendeine Erkrankung aus dem Bereich der affektiven Störungen bzw. der Angstund Zwangsstörungen diagnostiziert wurde.
häufigsten waren die soziale Phobie (10,2 %) und
die Agoraphobie mit Panikstörung (7,8 %). Darüber
hinaus fanden wir bei einigen Patienten eine generalisierte Angststörung (4 %), Posttraumatische Belastungsstörung (2,3 %) und Zwangsstörung (4,7 %).
Substanzassoziierte Erkrankungen waren mit
30 % die zweithäufigste Gruppe komorbider Störungen. Besonders Alkoholmissbrauch und Cannabisabusus waren bei ADHS-Patienten verbreitet.
Der Konsum „harter Drogen“ wie Heroin oder
Kokain wurde von einem kleinen Teil unserer Patienten angegeben. Bei diesen Patienten waren zusätzliche Persönlichkeitsstörungen häufig, insbesondere die Kombination mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung. In der Rückschau stellte sich
heraus, dass häufig schon im Schulalter eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens vorlag.
Insgesamt war der Anteil der ADHS-Patienten
mit „hartem“ Drogenkonsum und antisozialer Persönlichkeitsstörung in unserer Stichprobe niedrig.
Gründe dafür dürften zum einen in lokalen Faktoren und den Zuweisungsmodalitäten zur ADHSAmbulanz liegen. Andere Untersucher fanden Komorbiditätsraten von bis zu 28 % für ADHS mit der
antisozialen Persönlichkeitsstörung (Manuzza
1991). Ebenfalls hohe Komorbiditätsraten liefern
Untersuchungen in Justizvollzugsanstalten: Rösler
und Kollegen fanden bei Inhaftierten eine überdurchschnittlich hohe Prävalenz für ADHS (Rösler
et al. 2004). In einer anderen Untersuchung werte-
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose
ten Satterfield und Kollegen Polizeiakten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus, bei denen in der Kindheit eine ADHS diagnostiziert
wurde. Gegenüber einer Kontrollgruppe fanden
sich bei den Inhaftierten mit ADHS-Vorgeschichte
signifikant häufiger schwere Verbrechen (beispielsweise bewaffneter Überfall, Einbruch, Raub)
und Haftstrafen (Satterfield 1982). Je nach untersuchter Stichprobe (Zuweisungsambulanz, Gefängnis) und Untersuchungsart (prospektive vs. retrospektive Studie) weichen die Komorbiditätsraten für antisoziale Persönlichkeitsstörungen und
delinquentes Verhalten daher voneinander ab.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Komorbidität von ADHS mit der Lese-Rechtschreibstörungen. Im Kindes- und Jugendalter ist diese Kombination häufig anzutreffen (Brook et al. 2005).
In der Lübecker ADHS-Ambulanz wurde bei 9 % der
Patienten eine komorbide Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert. Zusätzlich fanden wir bei diesen Patienten häufig eine soziale Phobie oder
selbstunsichere Persönlichkeitsstörung. Aus klinischer Sicht sollte daher bei der Kombination ADHS
und Lese-Rechtschreibstörung unbedingt darauf
geachtet werden, ob Hinweise für eine Angsterkrankung vorliegen. Schulische, berufliche und soziale Überforderungssituationen führen bei Patienten mit ADHS und Lese-Rechtschreibstörung
regelmäßig zu ausgeprägten Blamageängsten, die
psychotherapeutisch und pharmakotherapeutisch
behandelt werden können. Die nachfolgende Kasuistik illustriert diese Problematik am Beispiel einer Patientin:
Bettina ist die 3. Tochter eines Dentallaborleiters
und seiner Frau. Ihre beiden Geschwister
besuchten das Gymnasium, deswegen erwarteten
die Eltern auch bei Bettina eine glatte Schulkarriere. Anfänglich standen bei dem stillen Kind die
Probleme beim Rechtschreiben im Vordergrund,
deshalb bekam sie Nachhilfeunterricht. Trotz
hoher Motivation brachten ihr unkonstantes
Arbeitsverhalten und ihre Vergesslichkeit ihr bald
den Ruf eines „Schulversagers“ ein. Es folgten
mehrere Schulwechsel, schließlich ein Hauptschulabschluss. Ihre Schüchternheit führte mittlerweile zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten. Sie hatte wenige Freunde und traute sich
nicht zu, Bewerbungen für eine Lehrstelle zu
111
schreiben. Deshalb erhielt sie im elterlichen
Betrieb eine Ausbildungsstelle. Trotz der Schwierigkeiten, die die Mitarbeit im elterlichen Betrieb
mit sich brachte („Tochter des Chefs“), bewies
Bettina praktisches Talent und organisatorisches
Geschick. Innerhalb kurzer Zeit eignete sie sich
die notwendigen technisch-handwerklichen
Abläufe an und arbeitete bald selbstständig.
Aufgaben, die mit Lese- oder Schreibaufwand
verbunden waren, vermied sie weitestgehend.
Schwierigkeiten ergaben sich dennoch aus ihren
Konzentrationsproblemen und ihrer Vergesslichkeit. Nachdem sie beim Surfen im Internet eher
zufällig auf ADHS aufmerksam wurde, entschloss
sie sich nach längerem Zögern und auf Anraten
der Eltern, unsere ADHS-Ambulanz aufzusuchen.
Neben einem ADHS (vorwiegend unaufmerksamer Typ) und einer Lese-Rechtschreibstörung
wurde zusätzlich eine soziale Phobie diagnostiziert. Die Behandlung wurde kombiniert psychotherapeutisch (Behandlung der sozialen Phobie)
und pharmakotherapeutisch (Stimulanzientherapie) mit Erfolg durchgeführt.
Zusammengefasst lässt sich aufgrund der bisherigen Datenlage zeigen, dass komorbide
psychische Störungen bei erwachsenen Patienten
mit ADHS die Regel und nicht die Ausnahme sind.
Augenfällig ist die Häufung von affektiven
Störungen, Angststörungen und substanzassoziierten Erkrankungen. Ein weiteres Augenmerk
sollte auf das Vorliegen von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine antisoziale Persönlichkeitsstörung gelegt werden.
Bei ADHS-Patienten, die in besonderer Weise
durch Schulversagen in der Kindheit auffällig
wurden, sollte gezielt nach Hinweisen für
komorbide Entwicklungsstörungen (Lese-Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie) und Angststörungen (insbesondere die soziale Phobie)
gefragt werden. Im Zweifelsfall ist eine testpsychologische Untersuchung anzuraten. Hier
eignet sich beispielsweise der Wechsler-Intelligenztest, mit dem eine Intelligenzminderung
sicher ausgeschlossen werden kann.
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
112
4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre)
Klinische Differenzialdiagnose
ADHS und Major Depression. Die differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass
앫 ADHS häufig mit Depression kombiniert ist,
앫 Depression aber auch gehäuft mit ADHS kombiniert ist und
앫 einige charakteristische Symptome bei beiden
Erkrankungen überlappen.
Das gemeinsame Auftreten von ADHS und Depression wurde im vorangegangenen Abschnitt bereits
eingehend beschrieben. Als Faustregel kann man
sich merken, dass statistisch jeder 3.-4. Patient mit
ADHS eine zusätzliche Major Depression aufweist.
Werden andersherum Patienten mit der Primärdiagnose einer Major Depression betrachtet, muss
ebenfalls mit einem höheren Risiko für das komorbide Bestehen einer ADHS gerechnet werden. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Patienten mit
Depression ein 2−3-fach erhöhtes Risiko für das
Vorliegen einer ADHS haben. Patienten mit der Pri-
Tabelle 4.3
märdiagnose einer Dysthymie haben sogar ein 3−
4-fach erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer
ADHS (Kessler et al. 2006).
Es ist deshalb in der Praxis gar nicht so leicht,
die von Patienten häufig geschilderten Symptome wie Unkonzentriertheit, Fahrigkeit, Motivationsmangel und Vergesslichkeit entweder einer
ADHS oder einer Depression (akut oder teilremittiert) zuzuordnen. Nachfolgend sind Anhaltspunkte für eine gezielte Exploration von Patienten aufgelistet, die über anhaltende Symptome
von Unaufmerksamkeit oder Motivationslosigkeit
berichten und bei denen sich die Frage nach dem
Vorliegen einer ADHS und/oder einer Depression
stellt:
Diagnostische Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich v. a. bei der Querschnittsbetrachtung
beider Erkrankungen. Eine Reihe von Symptomen
− depressiver Affekt, Interesseverlust, Schlafstörung, Konzentrationsprobleme, Selbstwertzweifel
− können bei beiden Erkrankungen die akute
Symptomatik prägen. Die Längsschnittbetrachtung
liefert i. d. R. Hinweise für das Vorliegen einer der
beiden Störungen oder für eine Komorbidität.
Mögliche Ursachen von Konzentrationsmängeln und Motivationslosigkeit
Mögliche Ursachen für Unkonzentriertheit oder Motivationsschwäche
erhöhte Stressbelastung
durch:
앫
앫
앫
앫
앫
앫
앫
앫
Faktoren bei ADHS
앫 Wurde die Erkrankung bislang diagnostiziert und behandelt?
앫 Wurde die Medikation ausreichend dosiert?
앫 Liegt eine komorbide psychische Störung, insbesondere eine Depression
vor?
Faktoren bei Vorliegen einer
Depression
앫 Liegt eine bislang nicht erkannte oder neu aufgetretene Dysthymia vor?
앫 Liegt eine Teilremission einer bereits behandelten Depression vor?
앫 Liegt eine komorbide psychische Störung (beispielsweise eine ADHS) vor?
organische Faktoren
앫 Liegt eine körperliche Erkrankung vor?
앫 Wurde eine Ausschlussdiagostik für beispielsweise endokrine und kardiovaskuläre Erkrankungen, Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und
Krankheiten des Zentralnervensystems durchgeführt?
weitere Faktoren
앫 Liegt eine Schlafstörung vor?
앫 Liegt ein Restless-Legs-Syndrom vor?
berufliche Faktoren
Berufswechsel
berufliche Qualifizierungsmaßnahmen/ Aufstieg
Überforderung
familiäre Beanspruchung
Partnerschaftskonflikt
Kinder (evtl. mit ADHS)
kritische Lebensereignisse („life events“)
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose
Wichtige Informationsquellen sind Schul- und Arbeitszeugnisse, Berichte von Bezugspersonen, aber
auch ein vom Patienten selbst auszufüllender Phasenkalender für depressive Stimmung. Am Beispiel
der folgenden Patientin, die sich primär wegen einer Depression in stationäre Behandlung begeben
hatte, werden die differenzialdiagnostischen Probleme illustriert:
Die 37-jährige, kinderlose Finanzbuchhalterin
stellte sich nach der Lektüre des Buchs „Zwanghaft zerstreut“ zur Diagnostik in unserer ADHSAmbulanz vor. Sie schilderte vordergründig
Konzentrationsstörungen, die sich in einer nachlassenden Arbeitsgeschwindigkeit und häufigen
Fehlern bemerkbar machten, außerdem
vermehrte Ablenkbarkeit mit Tagträumen.
Darüber hinaus schilderte sie „seit Jahren bestehende“ Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen mit Wechsel zwischen „unbegründetem
Traurigsein und Gereiztheit“. Auf Nachfragen
gab sie eine Veränderung des Essverhaltens mit
vermehrtem Verzehr von Schokoriegeln an,
Grübeln, Lustlosigkeit und Interesseverlust. Die
Symptome bestanden in dieser Intensität seit
mehreren Wochen, einige Veränderungen
(Konzentrationsstörungen, Ablenkbarkeit,
häufiges Unterbrechen anderer) waren ihr aber
schon früher aufgefallen. Sie konnte jedoch nicht
genau angeben, ob diese Veränderungen jemals
außerhalb einer depressiven Episode bestanden.
Die zusätzlich eingeholten fremdanamnestischen
Angaben und Zeugnisvermerke waren klinisch
nicht wegweisend. Die testpsychologische Zusatzuntersuchung ergab 23 Punkte im Beck’sDepressions-Inventar (BDI). Es wurde die Diagnose einer Major Depression gestellt.
Mit der Patientin wurde eine antidepressive Therapie mit einem kombiniert serotonerg und noradrenerg wirksamen Antidepressivaum (SNRI)
in üblicher Dosierung gewählt, zudem wurde
eine ambulante Psychotherapie der Depression
vereinbart. Nach 4 Wochen war die Depression
vollremittiert, allerdings bestanden weiterhin
Probleme in den Bereichen Konzentration und
Ablenkbarkeit. Zirka ein Drittel ihrer Arbeitszeit
verbrachte die Patientin mit Surfen im Internet
und mit Computerspielen, die zu einer Ermahnung durch den Arbeitgeber geführt hatte. Als
Gründe nannte sie „Langeweile“ beim Erledigen
der Akten, Schwierigkeiten im Aufrechterhalten
der Konzentration und Sorgen vor Bearbeitungs-
113
fehlern. Auch aus ihrem Umfeld konnte sie nun
Beispiele für kontinuierliche Ablenkbarkeit und
Vergesslichkeit nennen.
Wir entschlossen uns zu einer Medikation mit
Stimulanzien zusätzlich zur antidepressiven
Therapie. Dieses Vorgehen ist im Rahmen eines
individuellen Heilversuchs möglich. Der Erfolg
stellte sich nach kurzer Zeit ein. Die Patientin
erlangte eine bessere Konzentrationsfähigkeit,
war weniger ablenkbar und erledigte ihre
Aufgaben zur Zufriedenheit des Arbeitgebers.
Anhand eines „Symptomtagebuchs“ konnte
nachvollzogen werden, dass die Patientin nur
noch einen Bruchteil ihrer Arbeitszeit mit
anderen Tätigkeiten (PC, Internet) verbrachte.
Das Führen eines „Symptomtagebuchs“ hat sich in
der Praxis bewährt. In diesem kann individuell
festgehalten werden, wie sich Stimmung, Konzentrationsvermögen und ggf. weitere Zielsymptome
im Tages- und Wochenverlauf entwickeln. Die Informationen sind im Rahmen einer begleitenden
Psychotherapie wertvoll und erleichtern die Optimierung einer Pharmakotherapie, beispielsweise
hinsichtlich der tageszeitlichen Verteilung und der
Dosis.
Im Verlauf der Therapie von Patienten mit Major
Depression können sich, ähnlich wie in unserem
Beispiel, Hinweise auf eine Komorbidität mit ADHS
ergeben. In der akuten Phase der Depression können unerwartete Stimmungseinbrüche im Therapieverlauf, risikoreiche oder impulsive Verhaltensweisen, selbst gefährdendes Verhalten, verzögertes oder unzureichendes Ansprechen auf eine antidepressive Medikation solche Hinweise sein. Nach
Remission der Depression können anhaltende
Probleme mit der Aufmerksamkeit und Konzentration oder Impulsivität Hinweise auf eine komorbide ADHS sein. Psychomotorische Unruhe kann
Ausdruck einer „agitierten“ Depression sein, hält
das Symptom aber trotz erfolgreicher Pharmakotherapie an, sollte ebenfalls die Möglichkeit einer
gleichzeitig bestehenden ADHS in Betracht gezogen werden. Erwachsene mit ADHS schildern häufig eine sie quälende „innere Unruhe“, die von einigen Autoren als das Pendant zu hypermotorischen
Symptomen angesehen wird.
ADHS und bipolar affektive Störung. Bipolar affektive Störungen sind eine wichtige Differenzialdiagnose zu ADHS, vor allem bei Jugendlichen und
Adoleszenten. Die Frage nach einer möglichen As-
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
114
4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre)
soziation beider Erkrankungen ist bislang nicht
eindeutig beantwortet. Einige Studien deuten auf
eine familiäre Häufung bipolarer Störungen und
ADHS hin und darauf, dass ADHS im Kindesalter
ein Risikofaktor für eine früh beginnende bipolar
affektive Störung ist (Faraone et al. 1997). In anderen Untersuchungen wurde kein Zusammenhang
zwischen beiden Erkrankungen gefunden (Jaideep
et al. 2006).
Erschwert wird die Abgrenzung dadurch, dass
bei etwa 20 % der Betroffenen die bipolare Erkrankung schon in der Adoleszenz oder früher beginnt
(Kennedy et al. 2005, Loranger et al. 1978). Auch
auf der Symptomebene lassen sich Überschneidungen beiden Erkrankungen feststellen. Gedankenrasen, Ablenkbarkeit, Impulsivität, mangelndes
Schlaf und vermehrtes Redebedürfnis sind i. d. R.
bei beiden Störungen nachzuweisen. Klinische Untersuchungen bei komorbiden Patienten (mit bipolar affektiver Störung und ADHS) zeigten, dass
beide Erkrankungen i. d. R. zu differenzieren sind
und nicht als „Artefakt“ der jeweils anderen Störung auftreten (Milberger et al. 1995).
Im Erwachsenenalter kann die differenzialdiagnostische Abgrenzung bei hypomanischen Phasen
und bei schnellem Phasenwechsel der bipolaren
Störungen (rapid-cycling) problematisch sein. Dies
gilt vor allem für Patienten, bei denen ein Phasenwechsel innerhalb von Minuten bis Stunden stattfindet („ultra-rapid-cycling“-Typ). Bei diesen Patienten sollen emotionale Turbulenzen, Konzentrationsprobleme und unvorhersehbares Verhalten
im Vordergrund stehen. Hinweise für das Vorliegen
einer bipolaren Störung ergeben sich aus der
Längsschnittbetrachtung mit abgrenzbarem phasenhaften Verlauf der Erkrankung. Im Gegensatz
dazu ist die Symptomatik bei ADHS durchgängig
vorhanden, auch wenn es in Zeiten äußerer Belastung zu einem stärkeren Ausprägungsgrad kommen kann. Eine positive Familienanamnese und
früheres Ansprechen auf eine phasenprophylaktische Medikation sind ebenfalls Hinweise für das
Vorliegen bipolarer Erkrankungen (Wilens et al.
2003).
ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die
Abgrenzung von ADHS und der Borderline-Persönlichkeitsstörung kann mitunter Schwierigkeiten
bereiten. Beiden Störungen ist der Beginn in der
Kindes- und Jugendzeit gemeinsam, und beide
führen häufig zu Schulproblemen. Bei beiden Störungen können emotionale Probleme im Vorder-
grund stehen. Mitunter kommt es bei Patienten
mit ADHS aufgrund der begleitenden Impulsivität
auch zu Selbstverletzungen. Im Gegensatz zu Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist
dieses Verhalten aber weniger konstant und dient
i. d. R. nicht zur Spannungsregulierung. Eine Patientin mit ADHS (ohne komorbide Borderline-Persönlichkeitsstörung) schilderte dies folgendermaßen:
„In der Schule war es häufig langweilig. Ich
habe mir dann manchmal mit einer Nadel Tätowierungen gemacht. Dazu habe ich Tinte auf die
Nadelspitze getropft und mir ein Muster auf
meinen Arm tätowiert. Das hat natürlich ein
bisschen weh getan, aber es war auszuhalten.
Besser jedenfalls, als nur so rumzusitzen“.
Klinisch ist Patienten mit ADHS und BorderlinePersönlichkeitsstörung gemeinsam, dass Schwierigkeiten in der Affektregulation bestehen. Bei beiden Erkrankungen können Probleme und Konflikte
zu einer instabilen Gefühlslage beitragen, die sich
durch rasche und intensive Veränderungen der
Stimmung bemerkbar machen. Ärger und intensive Wut, aber auch Traurigkeit können sekundenschnell beginnen und relativ lange anhalten. Situative Auslöser können von den Patienten oftmals
nicht benannt werden.
Ein anderes typisches Symptom bei ADHS ist
die Neigung, in schwierigen Situationen ungewöhnlich heftig zu reagieren. Stressintoleranz
wird v. a. im schulisch-beruflichen oder familiären
Umfeld auffällig. Während Zeiten hoher Arbeitsbelastung neigen Patienten mit ADHS dazu, an
vielen „Baustellen“ gleichzeitig zu arbeiten, ohne
einzelne Projekte gezielt abzuschließen. Solche Situationen können die ohnehin schon bestehenden
Probleme im Bereich Aufmerksamkeit und Impulsivität fördern, unbesonnene Reaktionen oder
Wutausbrüche belasten langfristig zwischenmenschliche Beziehungen. Nicht selten stehen die
Patienten im Ruf, „engagiert, aber ungenießbar“
zu sein. Im Unterschied dazu besteht bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung eine
ausgeprägte emotionale Dysregulation mit Ärgerkontrollstörung und Impulsivität, die sich besonders in Situationen manifestiert, in denen die
Selbstwertregulation in Frage gestellt ist oder in
denen biografische Motive (Erfahrung von Vernachlässigung, Scham oder Traumatisierung) eine
Rolle spielen.
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose
Tabelle 4.4
115
Diagnosekriterien der internationalen RLS-Study Group (modifiziert nach Gerloff und Danek 2003)
Minimalkriterien (obligat,
d. h. alle 4 Kriterien müssen
erfüllt sein)
Zusatzkriterien (fakultativ)
1. Bewegungsdrang der Beine, üblicherweise begleitet von Missempfindungen
2. motorische Unruhe
3. Die Symptome treten ausschließlich in Ruhe auf und werden zumindest
zeitweise durch Aktivität gemildert.
4. Die Symptome treten bevorzugt abends und nachts auf.
앫 Ein- und/oder Durchschlafstörungen (teilweise auch Tagesmüdigkeit
und Erschöpfung)
앫 periodische Beinbewegungen
앫 neurologische Untersuchung unauffällig
앫 initial häufig fluktuierende Symptomatik, im Verlauf kontinuierliche
oder chronisch progrediente Symptomatik
앫 positive Familienanamnese
Wichtige Unterscheidungsmerkmale ergeben
sich zunächst aus der biografischen und der
Familienanamnese.
Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
schildern i. d. R. ein Sozialisationsgefüge, in dem
ungünstige Lebensbedingungen wie emotionale
Vernachlässigung, Herabsetzung, unerreichbar
hohe Leistungsideale oder (physische und/oder sexuelle) Traumatisierung eine Rolle gespielt haben.
In der Familienanamnese berichten erstgradige
Angehörige von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung selten typische Symptome einer
ADHS. Demgegenüber berichten Angehörige von
Patienten mit ADHS häufig ähnliche Symptome
wie die Betroffenen selbst.
Die Leeregefühle von Patienten mit ADHS sind
häufig zurückzuführen auf das subjektive Gefühl
von Langeweile oder Unausgefülltheit, beispielsweise bei der Erledigung von Routineaufgaben. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
schildern demgegenüber ausgeprägte Leeregefühle im Zusammenhang mit tatsächlichem oder
imaginiertem Alleinsein.
Restless-Legs-Syndrom (RLS). Im Ewachsenenalter
ist das Restless-Legs-Syndrom eine wichtige Differenzialdiagnose zur ADHS, v. a. wenn die hyperkinetische Komponente im Vordergrund steht. Mit
einer Prävalenz von etwa 7 % ist das RLS eine der
häufigsten und zugleich am wenigsten diagnostizierten Bewegungsstörungen. Patienten schildern
eine Kombination typischer Symptome mit schwer
beschreibbaren Missempfindungen, die vorzugsweise die Beine betreffen, und Bewegungsdrang.
Die Beschwerden können einseitig betont auftreten und betreffen bei bis zu 50 % der Patienten auch
die Arme. Nach den Kriterien der internationalen
RLS-Study-Group ist die Diagnose eines RLS zu
stellen, wenn ein Bewegungsdrang der Beine
(i. d. R. begleitet von Missempfindungen) und eine
motorische Unruhe auftreten, die in Ruhe zunehmen und eine Betonung abends oder nachts erfahren (Tab. 4.4) Als Ursache des primären RLS wird
eine Störung des dopaminergen Systems diskutiert, einige Autoren vermuten auch eine Rolle des
Opioidsystem. Hierfür sprechen u. a. klinische Befunde, die eine Wirksamkeit von Benzodiazepinen
und Opioiden auf die RLS-Symptomatik zeigten.
Mehrere klinische Studien deuten auf einen Zusammenhang zwischen ADHS und RLS. In einer
Metaanalyse wurde gezeigt, dass bei etwa einem
Viertel der Patienten mit RLS die diagnostischen
Kriterien einer ADHS erfüllt waren (oder es lagen
Symptome einer ADHS vor). Bei bis zu 44 % der Patienten mit ADHS ließ sich in dieser Untersuchung
ein RLS oder RLS-Symptome nachweisen (Cortese
et al. 2004).
Neben Überschneidungen in der klinischen
Symptomatik teilen beide Erkrankungen weitere
Gemeinsamkeiten: Bei beiden lässt sich eine familiäre Häufung feststellen, und bei beiden treten gehäuft Depressionen auf. Hinsichtlich der pharmakologischen Therapie bestehen allerdings Unterschiede: Während Dopamin-Agonisten die Therapie der Wahl zur Behandlung eines RLS sind, haben
sich diese Substanzen zur Behandlung einer ADHS
bislang als wenig wirksam erwiesen. Noradrenerg
wirksame Substanzen zeigen bei RLS keine therapeutische Wirksamkeit, während NoradrenalinWiederaufnahmehemmer die ADHS-Symptomatik
verbessern.
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
116
4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre)
In Deutschland ist L-Dopa die bislang einzige
Substanz, die zur Behandlung eines RLS zugelassen ist. Darüber hinaus wurde in klinischen
Studien gezeigt, dass auch andere dopaminerg
wirksame Substanzen (u. a. Pergolid und Pramipexol) und Phasenprophylaktika (Carbamazepin,
Valproinsäure) zu einer Linderung von RLS-Symptomen führen.
aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG
Herunterladen