109 4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose Kai G. Kahl Ist Komorbidität die Regel oder die Ausnahme? Epidemiologische Studien an großen Bevölkerungsstichproben zeigen, dass eine Reihe psychiatrischer Erkrankungen bei Erwachsenen mit ADHS gehäuft auftreten: Im Gegensatz zu Kontrollstichproben ohne ADHS werden affektive Störungen bis zu 5-mal, Angststörungen bis zu 4-mal und substanzassoziierte Störungen bis zu 3-mal häufiger gefunden (Faraone und Biederman 1997, Kessler et al. 2006). Exemplarisch für eine Stichprobe aus dem norddeutschen Raum stehen die Komorbiditätsdaten der Lübecker ADHS-Ambulanz. Insgesamt wurden 128 erwachsene ADHS-Patienten mit einem Strukturierten Interview (SKID I/II [Wittchen et al. 1997]) untersucht, davon 68 Frauen (53,1 %) und 60 Männer (46,1 %). 86 Patienten (67,2 %) erfüllten die Kriterien für ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ohne hyperkinetische Symptome (ADS), bei dem kleineren Teil der Patienten wurde eine kombinierte Störung der Aufmerksamkeit mit Hyperaktivität diagnostiziert (ADHS; 32,8 %). Dieses Ergebnis kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die hyperkinetischen Symptome mit dem Alter abnehmen, während Symptome des Aufmerksamkeitsdefizits länger bestehen bleiben. Wird die Gesamtzahl der komorbiden Störungen betrachtet, ließen sich bei 93 von 128 Patienten (72,7 %) mindestens 1 komorbide psychische Störung (Achse 1) nachweisen, jeder 3. Patient erfüllte die Kriterien für 2 oder mehr psychische Störungen. Bei 15 von 128 Patienten war eine Persönlichkeitsstörung nachweisbar, besonders häufig war die Komorbidität mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Unter den komorbiden psychischen Störungen waren affektive Störungen am häufigsten. 48 % der ADHS Patienten erfüllten die Kriterien für irgendeine Erkrankung aus dem affektiven Formenkreis. Mit 32 % war die Lebenszeitdiagnose einer unipolaren Major Depression die häufigste Diagnose, bei jedem 5. Patienten wurde eine aktuelle depressive Episode diagnostiziert. Bei immerhin 12 % der Patienten wurde eine Dysthymia und bei 7 % eine komorbide bipolare Störung erkannt. Kurze wiederkehrende depressive Episoden („brief recurrent Tabelle 4.2 Häufigkeit komorbider psychischer Störungen und Persönlichkeitsstörungen bei erwachsenen Patienten mit ADHS (unaufmerksamer und kombinierter Subtyp); dargestellt sind die Ergebnisse der Lübecker ADHS-Ambulanz Komorbidität mit psychischen Störungen (Achse 1) 0 1 2 3 욷4 Anzahl (N) 35 54 27 10 2 % 27,3 42,2 21,1 7,8 1,6 Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen (Achse 2) Anzahl (N) % 0 1 113 15 88,3 11,7 aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 110 4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre) 50 Affektive und Angststrungen Hufigkeit (%) 40 30 20 10 Hufigkeit (%) 40 GA S Zw PT an BS gs st r un g Af fe kt iv M e St aj or ru De ng pr en Bi po es sio la re n St r un g BR D D An ysth gs ym ts ia t So run ge zia n le P Ag hob or i ap e ho bi e 0 Alkohol und Drogen 30 20 10 Al ko ho l/D Al ro ko ge ho n lm iss Al br ko au ho ch la bh n gi Dr gk og ei en t m i ss Dr br og au en ch ab h ng ig ke it 0 Abb. 4.3 Alkohol- und Drogenmissbrauch bei 128 Patienten der Lübecker Ambulanz für Erwachsene mit ADHS (ohne Nikotin). 82 % der Patienten gaben an, regelmäßig Zigaretten zu rauchen. Häufig lag der Beginn zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr. Der blaue Balken zeigt, bei wie viel Prozent der ADHS-Patienten irgendeine Störung durch psychotrope Substanzen diagnostiziert wurde. depression“; BRD) wurden von 4 % der Patienten berichtet. Angst- und Zwangserkrankungen wurden bei 26 % der untersuchten Patienten diagnostiziert. Am Abb. 4.2 Affektive und Angststörungen bei Patienten mit ADHS des Erwachsenenalters. Am häufigsten wurde eine Major Depression diagnostiziert, aber auch bipolare Störungen waren häufiger als in gesunden Kontrollpopulationen. Unter den Angststörungen ist die hohe Prävalenz für die soziale Phobie und die Agoraphobie mit Panikstörung hervorzuheben. (BRD: brief recurrent depression; GAS: Generalisierte Angststörung; PTBS: Posttraumatische Belastungsstörung.) Der blaue Balken zeigt, bei wie viel Prozent der ADHS-Patienten irgendeine Erkrankung aus dem Bereich der affektiven Störungen bzw. der Angstund Zwangsstörungen diagnostiziert wurde. häufigsten waren die soziale Phobie (10,2 %) und die Agoraphobie mit Panikstörung (7,8 %). Darüber hinaus fanden wir bei einigen Patienten eine generalisierte Angststörung (4 %), Posttraumatische Belastungsstörung (2,3 %) und Zwangsstörung (4,7 %). Substanzassoziierte Erkrankungen waren mit 30 % die zweithäufigste Gruppe komorbider Störungen. Besonders Alkoholmissbrauch und Cannabisabusus waren bei ADHS-Patienten verbreitet. Der Konsum „harter Drogen“ wie Heroin oder Kokain wurde von einem kleinen Teil unserer Patienten angegeben. Bei diesen Patienten waren zusätzliche Persönlichkeitsstörungen häufig, insbesondere die Kombination mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung. In der Rückschau stellte sich heraus, dass häufig schon im Schulalter eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens vorlag. Insgesamt war der Anteil der ADHS-Patienten mit „hartem“ Drogenkonsum und antisozialer Persönlichkeitsstörung in unserer Stichprobe niedrig. Gründe dafür dürften zum einen in lokalen Faktoren und den Zuweisungsmodalitäten zur ADHSAmbulanz liegen. Andere Untersucher fanden Komorbiditätsraten von bis zu 28 % für ADHS mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung (Manuzza 1991). Ebenfalls hohe Komorbiditätsraten liefern Untersuchungen in Justizvollzugsanstalten: Rösler und Kollegen fanden bei Inhaftierten eine überdurchschnittlich hohe Prävalenz für ADHS (Rösler et al. 2004). In einer anderen Untersuchung werte- aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose ten Satterfield und Kollegen Polizeiakten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus, bei denen in der Kindheit eine ADHS diagnostiziert wurde. Gegenüber einer Kontrollgruppe fanden sich bei den Inhaftierten mit ADHS-Vorgeschichte signifikant häufiger schwere Verbrechen (beispielsweise bewaffneter Überfall, Einbruch, Raub) und Haftstrafen (Satterfield 1982). Je nach untersuchter Stichprobe (Zuweisungsambulanz, Gefängnis) und Untersuchungsart (prospektive vs. retrospektive Studie) weichen die Komorbiditätsraten für antisoziale Persönlichkeitsstörungen und delinquentes Verhalten daher voneinander ab. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Komorbidität von ADHS mit der Lese-Rechtschreibstörungen. Im Kindes- und Jugendalter ist diese Kombination häufig anzutreffen (Brook et al. 2005). In der Lübecker ADHS-Ambulanz wurde bei 9 % der Patienten eine komorbide Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert. Zusätzlich fanden wir bei diesen Patienten häufig eine soziale Phobie oder selbstunsichere Persönlichkeitsstörung. Aus klinischer Sicht sollte daher bei der Kombination ADHS und Lese-Rechtschreibstörung unbedingt darauf geachtet werden, ob Hinweise für eine Angsterkrankung vorliegen. Schulische, berufliche und soziale Überforderungssituationen führen bei Patienten mit ADHS und Lese-Rechtschreibstörung regelmäßig zu ausgeprägten Blamageängsten, die psychotherapeutisch und pharmakotherapeutisch behandelt werden können. Die nachfolgende Kasuistik illustriert diese Problematik am Beispiel einer Patientin: Bettina ist die 3. Tochter eines Dentallaborleiters und seiner Frau. Ihre beiden Geschwister besuchten das Gymnasium, deswegen erwarteten die Eltern auch bei Bettina eine glatte Schulkarriere. Anfänglich standen bei dem stillen Kind die Probleme beim Rechtschreiben im Vordergrund, deshalb bekam sie Nachhilfeunterricht. Trotz hoher Motivation brachten ihr unkonstantes Arbeitsverhalten und ihre Vergesslichkeit ihr bald den Ruf eines „Schulversagers“ ein. Es folgten mehrere Schulwechsel, schließlich ein Hauptschulabschluss. Ihre Schüchternheit führte mittlerweile zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten. Sie hatte wenige Freunde und traute sich nicht zu, Bewerbungen für eine Lehrstelle zu 111 schreiben. Deshalb erhielt sie im elterlichen Betrieb eine Ausbildungsstelle. Trotz der Schwierigkeiten, die die Mitarbeit im elterlichen Betrieb mit sich brachte („Tochter des Chefs“), bewies Bettina praktisches Talent und organisatorisches Geschick. Innerhalb kurzer Zeit eignete sie sich die notwendigen technisch-handwerklichen Abläufe an und arbeitete bald selbstständig. Aufgaben, die mit Lese- oder Schreibaufwand verbunden waren, vermied sie weitestgehend. Schwierigkeiten ergaben sich dennoch aus ihren Konzentrationsproblemen und ihrer Vergesslichkeit. Nachdem sie beim Surfen im Internet eher zufällig auf ADHS aufmerksam wurde, entschloss sie sich nach längerem Zögern und auf Anraten der Eltern, unsere ADHS-Ambulanz aufzusuchen. Neben einem ADHS (vorwiegend unaufmerksamer Typ) und einer Lese-Rechtschreibstörung wurde zusätzlich eine soziale Phobie diagnostiziert. Die Behandlung wurde kombiniert psychotherapeutisch (Behandlung der sozialen Phobie) und pharmakotherapeutisch (Stimulanzientherapie) mit Erfolg durchgeführt. Zusammengefasst lässt sich aufgrund der bisherigen Datenlage zeigen, dass komorbide psychische Störungen bei erwachsenen Patienten mit ADHS die Regel und nicht die Ausnahme sind. Augenfällig ist die Häufung von affektiven Störungen, Angststörungen und substanzassoziierten Erkrankungen. Ein weiteres Augenmerk sollte auf das Vorliegen von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine antisoziale Persönlichkeitsstörung gelegt werden. Bei ADHS-Patienten, die in besonderer Weise durch Schulversagen in der Kindheit auffällig wurden, sollte gezielt nach Hinweisen für komorbide Entwicklungsstörungen (Lese-Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie) und Angststörungen (insbesondere die soziale Phobie) gefragt werden. Im Zweifelsfall ist eine testpsychologische Untersuchung anzuraten. Hier eignet sich beispielsweise der Wechsler-Intelligenztest, mit dem eine Intelligenzminderung sicher ausgeschlossen werden kann. aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 112 4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre) Klinische Differenzialdiagnose ADHS und Major Depression. Die differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass 앫 ADHS häufig mit Depression kombiniert ist, 앫 Depression aber auch gehäuft mit ADHS kombiniert ist und 앫 einige charakteristische Symptome bei beiden Erkrankungen überlappen. Das gemeinsame Auftreten von ADHS und Depression wurde im vorangegangenen Abschnitt bereits eingehend beschrieben. Als Faustregel kann man sich merken, dass statistisch jeder 3.-4. Patient mit ADHS eine zusätzliche Major Depression aufweist. Werden andersherum Patienten mit der Primärdiagnose einer Major Depression betrachtet, muss ebenfalls mit einem höheren Risiko für das komorbide Bestehen einer ADHS gerechnet werden. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Patienten mit Depression ein 2−3-fach erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer ADHS haben. Patienten mit der Pri- Tabelle 4.3 märdiagnose einer Dysthymie haben sogar ein 3− 4-fach erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer ADHS (Kessler et al. 2006). Es ist deshalb in der Praxis gar nicht so leicht, die von Patienten häufig geschilderten Symptome wie Unkonzentriertheit, Fahrigkeit, Motivationsmangel und Vergesslichkeit entweder einer ADHS oder einer Depression (akut oder teilremittiert) zuzuordnen. Nachfolgend sind Anhaltspunkte für eine gezielte Exploration von Patienten aufgelistet, die über anhaltende Symptome von Unaufmerksamkeit oder Motivationslosigkeit berichten und bei denen sich die Frage nach dem Vorliegen einer ADHS und/oder einer Depression stellt: Diagnostische Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich v. a. bei der Querschnittsbetrachtung beider Erkrankungen. Eine Reihe von Symptomen − depressiver Affekt, Interesseverlust, Schlafstörung, Konzentrationsprobleme, Selbstwertzweifel − können bei beiden Erkrankungen die akute Symptomatik prägen. Die Längsschnittbetrachtung liefert i. d. R. Hinweise für das Vorliegen einer der beiden Störungen oder für eine Komorbidität. Mögliche Ursachen von Konzentrationsmängeln und Motivationslosigkeit Mögliche Ursachen für Unkonzentriertheit oder Motivationsschwäche erhöhte Stressbelastung durch: 앫 앫 앫 앫 앫 앫 앫 앫 Faktoren bei ADHS 앫 Wurde die Erkrankung bislang diagnostiziert und behandelt? 앫 Wurde die Medikation ausreichend dosiert? 앫 Liegt eine komorbide psychische Störung, insbesondere eine Depression vor? Faktoren bei Vorliegen einer Depression 앫 Liegt eine bislang nicht erkannte oder neu aufgetretene Dysthymia vor? 앫 Liegt eine Teilremission einer bereits behandelten Depression vor? 앫 Liegt eine komorbide psychische Störung (beispielsweise eine ADHS) vor? organische Faktoren 앫 Liegt eine körperliche Erkrankung vor? 앫 Wurde eine Ausschlussdiagostik für beispielsweise endokrine und kardiovaskuläre Erkrankungen, Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und Krankheiten des Zentralnervensystems durchgeführt? weitere Faktoren 앫 Liegt eine Schlafstörung vor? 앫 Liegt ein Restless-Legs-Syndrom vor? berufliche Faktoren Berufswechsel berufliche Qualifizierungsmaßnahmen/ Aufstieg Überforderung familiäre Beanspruchung Partnerschaftskonflikt Kinder (evtl. mit ADHS) kritische Lebensereignisse („life events“) aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose Wichtige Informationsquellen sind Schul- und Arbeitszeugnisse, Berichte von Bezugspersonen, aber auch ein vom Patienten selbst auszufüllender Phasenkalender für depressive Stimmung. Am Beispiel der folgenden Patientin, die sich primär wegen einer Depression in stationäre Behandlung begeben hatte, werden die differenzialdiagnostischen Probleme illustriert: Die 37-jährige, kinderlose Finanzbuchhalterin stellte sich nach der Lektüre des Buchs „Zwanghaft zerstreut“ zur Diagnostik in unserer ADHSAmbulanz vor. Sie schilderte vordergründig Konzentrationsstörungen, die sich in einer nachlassenden Arbeitsgeschwindigkeit und häufigen Fehlern bemerkbar machten, außerdem vermehrte Ablenkbarkeit mit Tagträumen. Darüber hinaus schilderte sie „seit Jahren bestehende“ Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen mit Wechsel zwischen „unbegründetem Traurigsein und Gereiztheit“. Auf Nachfragen gab sie eine Veränderung des Essverhaltens mit vermehrtem Verzehr von Schokoriegeln an, Grübeln, Lustlosigkeit und Interesseverlust. Die Symptome bestanden in dieser Intensität seit mehreren Wochen, einige Veränderungen (Konzentrationsstörungen, Ablenkbarkeit, häufiges Unterbrechen anderer) waren ihr aber schon früher aufgefallen. Sie konnte jedoch nicht genau angeben, ob diese Veränderungen jemals außerhalb einer depressiven Episode bestanden. Die zusätzlich eingeholten fremdanamnestischen Angaben und Zeugnisvermerke waren klinisch nicht wegweisend. Die testpsychologische Zusatzuntersuchung ergab 23 Punkte im Beck’sDepressions-Inventar (BDI). Es wurde die Diagnose einer Major Depression gestellt. Mit der Patientin wurde eine antidepressive Therapie mit einem kombiniert serotonerg und noradrenerg wirksamen Antidepressivaum (SNRI) in üblicher Dosierung gewählt, zudem wurde eine ambulante Psychotherapie der Depression vereinbart. Nach 4 Wochen war die Depression vollremittiert, allerdings bestanden weiterhin Probleme in den Bereichen Konzentration und Ablenkbarkeit. Zirka ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbrachte die Patientin mit Surfen im Internet und mit Computerspielen, die zu einer Ermahnung durch den Arbeitgeber geführt hatte. Als Gründe nannte sie „Langeweile“ beim Erledigen der Akten, Schwierigkeiten im Aufrechterhalten der Konzentration und Sorgen vor Bearbeitungs- 113 fehlern. Auch aus ihrem Umfeld konnte sie nun Beispiele für kontinuierliche Ablenkbarkeit und Vergesslichkeit nennen. Wir entschlossen uns zu einer Medikation mit Stimulanzien zusätzlich zur antidepressiven Therapie. Dieses Vorgehen ist im Rahmen eines individuellen Heilversuchs möglich. Der Erfolg stellte sich nach kurzer Zeit ein. Die Patientin erlangte eine bessere Konzentrationsfähigkeit, war weniger ablenkbar und erledigte ihre Aufgaben zur Zufriedenheit des Arbeitgebers. Anhand eines „Symptomtagebuchs“ konnte nachvollzogen werden, dass die Patientin nur noch einen Bruchteil ihrer Arbeitszeit mit anderen Tätigkeiten (PC, Internet) verbrachte. Das Führen eines „Symptomtagebuchs“ hat sich in der Praxis bewährt. In diesem kann individuell festgehalten werden, wie sich Stimmung, Konzentrationsvermögen und ggf. weitere Zielsymptome im Tages- und Wochenverlauf entwickeln. Die Informationen sind im Rahmen einer begleitenden Psychotherapie wertvoll und erleichtern die Optimierung einer Pharmakotherapie, beispielsweise hinsichtlich der tageszeitlichen Verteilung und der Dosis. Im Verlauf der Therapie von Patienten mit Major Depression können sich, ähnlich wie in unserem Beispiel, Hinweise auf eine Komorbidität mit ADHS ergeben. In der akuten Phase der Depression können unerwartete Stimmungseinbrüche im Therapieverlauf, risikoreiche oder impulsive Verhaltensweisen, selbst gefährdendes Verhalten, verzögertes oder unzureichendes Ansprechen auf eine antidepressive Medikation solche Hinweise sein. Nach Remission der Depression können anhaltende Probleme mit der Aufmerksamkeit und Konzentration oder Impulsivität Hinweise auf eine komorbide ADHS sein. Psychomotorische Unruhe kann Ausdruck einer „agitierten“ Depression sein, hält das Symptom aber trotz erfolgreicher Pharmakotherapie an, sollte ebenfalls die Möglichkeit einer gleichzeitig bestehenden ADHS in Betracht gezogen werden. Erwachsene mit ADHS schildern häufig eine sie quälende „innere Unruhe“, die von einigen Autoren als das Pendant zu hypermotorischen Symptomen angesehen wird. ADHS und bipolar affektive Störung. Bipolar affektive Störungen sind eine wichtige Differenzialdiagnose zu ADHS, vor allem bei Jugendlichen und Adoleszenten. Die Frage nach einer möglichen As- aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 114 4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre) soziation beider Erkrankungen ist bislang nicht eindeutig beantwortet. Einige Studien deuten auf eine familiäre Häufung bipolarer Störungen und ADHS hin und darauf, dass ADHS im Kindesalter ein Risikofaktor für eine früh beginnende bipolar affektive Störung ist (Faraone et al. 1997). In anderen Untersuchungen wurde kein Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen gefunden (Jaideep et al. 2006). Erschwert wird die Abgrenzung dadurch, dass bei etwa 20 % der Betroffenen die bipolare Erkrankung schon in der Adoleszenz oder früher beginnt (Kennedy et al. 2005, Loranger et al. 1978). Auch auf der Symptomebene lassen sich Überschneidungen beiden Erkrankungen feststellen. Gedankenrasen, Ablenkbarkeit, Impulsivität, mangelndes Schlaf und vermehrtes Redebedürfnis sind i. d. R. bei beiden Störungen nachzuweisen. Klinische Untersuchungen bei komorbiden Patienten (mit bipolar affektiver Störung und ADHS) zeigten, dass beide Erkrankungen i. d. R. zu differenzieren sind und nicht als „Artefakt“ der jeweils anderen Störung auftreten (Milberger et al. 1995). Im Erwachsenenalter kann die differenzialdiagnostische Abgrenzung bei hypomanischen Phasen und bei schnellem Phasenwechsel der bipolaren Störungen (rapid-cycling) problematisch sein. Dies gilt vor allem für Patienten, bei denen ein Phasenwechsel innerhalb von Minuten bis Stunden stattfindet („ultra-rapid-cycling“-Typ). Bei diesen Patienten sollen emotionale Turbulenzen, Konzentrationsprobleme und unvorhersehbares Verhalten im Vordergrund stehen. Hinweise für das Vorliegen einer bipolaren Störung ergeben sich aus der Längsschnittbetrachtung mit abgrenzbarem phasenhaften Verlauf der Erkrankung. Im Gegensatz dazu ist die Symptomatik bei ADHS durchgängig vorhanden, auch wenn es in Zeiten äußerer Belastung zu einem stärkeren Ausprägungsgrad kommen kann. Eine positive Familienanamnese und früheres Ansprechen auf eine phasenprophylaktische Medikation sind ebenfalls Hinweise für das Vorliegen bipolarer Erkrankungen (Wilens et al. 2003). ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Abgrenzung von ADHS und der Borderline-Persönlichkeitsstörung kann mitunter Schwierigkeiten bereiten. Beiden Störungen ist der Beginn in der Kindes- und Jugendzeit gemeinsam, und beide führen häufig zu Schulproblemen. Bei beiden Störungen können emotionale Probleme im Vorder- grund stehen. Mitunter kommt es bei Patienten mit ADHS aufgrund der begleitenden Impulsivität auch zu Selbstverletzungen. Im Gegensatz zu Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist dieses Verhalten aber weniger konstant und dient i. d. R. nicht zur Spannungsregulierung. Eine Patientin mit ADHS (ohne komorbide Borderline-Persönlichkeitsstörung) schilderte dies folgendermaßen: „In der Schule war es häufig langweilig. Ich habe mir dann manchmal mit einer Nadel Tätowierungen gemacht. Dazu habe ich Tinte auf die Nadelspitze getropft und mir ein Muster auf meinen Arm tätowiert. Das hat natürlich ein bisschen weh getan, aber es war auszuhalten. Besser jedenfalls, als nur so rumzusitzen“. Klinisch ist Patienten mit ADHS und BorderlinePersönlichkeitsstörung gemeinsam, dass Schwierigkeiten in der Affektregulation bestehen. Bei beiden Erkrankungen können Probleme und Konflikte zu einer instabilen Gefühlslage beitragen, die sich durch rasche und intensive Veränderungen der Stimmung bemerkbar machen. Ärger und intensive Wut, aber auch Traurigkeit können sekundenschnell beginnen und relativ lange anhalten. Situative Auslöser können von den Patienten oftmals nicht benannt werden. Ein anderes typisches Symptom bei ADHS ist die Neigung, in schwierigen Situationen ungewöhnlich heftig zu reagieren. Stressintoleranz wird v. a. im schulisch-beruflichen oder familiären Umfeld auffällig. Während Zeiten hoher Arbeitsbelastung neigen Patienten mit ADHS dazu, an vielen „Baustellen“ gleichzeitig zu arbeiten, ohne einzelne Projekte gezielt abzuschließen. Solche Situationen können die ohnehin schon bestehenden Probleme im Bereich Aufmerksamkeit und Impulsivität fördern, unbesonnene Reaktionen oder Wutausbrüche belasten langfristig zwischenmenschliche Beziehungen. Nicht selten stehen die Patienten im Ruf, „engagiert, aber ungenießbar“ zu sein. Im Unterschied dazu besteht bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung eine ausgeprägte emotionale Dysregulation mit Ärgerkontrollstörung und Impulsivität, die sich besonders in Situationen manifestiert, in denen die Selbstwertregulation in Frage gestellt ist oder in denen biografische Motive (Erfahrung von Vernachlässigung, Scham oder Traumatisierung) eine Rolle spielen. aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 4.3 Komorbidität und klinische Differenzialdiagnose Tabelle 4.4 115 Diagnosekriterien der internationalen RLS-Study Group (modifiziert nach Gerloff und Danek 2003) Minimalkriterien (obligat, d. h. alle 4 Kriterien müssen erfüllt sein) Zusatzkriterien (fakultativ) 1. Bewegungsdrang der Beine, üblicherweise begleitet von Missempfindungen 2. motorische Unruhe 3. Die Symptome treten ausschließlich in Ruhe auf und werden zumindest zeitweise durch Aktivität gemildert. 4. Die Symptome treten bevorzugt abends und nachts auf. 앫 Ein- und/oder Durchschlafstörungen (teilweise auch Tagesmüdigkeit und Erschöpfung) 앫 periodische Beinbewegungen 앫 neurologische Untersuchung unauffällig 앫 initial häufig fluktuierende Symptomatik, im Verlauf kontinuierliche oder chronisch progrediente Symptomatik 앫 positive Familienanamnese Wichtige Unterscheidungsmerkmale ergeben sich zunächst aus der biografischen und der Familienanamnese. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung schildern i. d. R. ein Sozialisationsgefüge, in dem ungünstige Lebensbedingungen wie emotionale Vernachlässigung, Herabsetzung, unerreichbar hohe Leistungsideale oder (physische und/oder sexuelle) Traumatisierung eine Rolle gespielt haben. In der Familienanamnese berichten erstgradige Angehörige von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung selten typische Symptome einer ADHS. Demgegenüber berichten Angehörige von Patienten mit ADHS häufig ähnliche Symptome wie die Betroffenen selbst. Die Leeregefühle von Patienten mit ADHS sind häufig zurückzuführen auf das subjektive Gefühl von Langeweile oder Unausgefülltheit, beispielsweise bei der Erledigung von Routineaufgaben. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung schildern demgegenüber ausgeprägte Leeregefühle im Zusammenhang mit tatsächlichem oder imaginiertem Alleinsein. Restless-Legs-Syndrom (RLS). Im Ewachsenenalter ist das Restless-Legs-Syndrom eine wichtige Differenzialdiagnose zur ADHS, v. a. wenn die hyperkinetische Komponente im Vordergrund steht. Mit einer Prävalenz von etwa 7 % ist das RLS eine der häufigsten und zugleich am wenigsten diagnostizierten Bewegungsstörungen. Patienten schildern eine Kombination typischer Symptome mit schwer beschreibbaren Missempfindungen, die vorzugsweise die Beine betreffen, und Bewegungsdrang. Die Beschwerden können einseitig betont auftreten und betreffen bei bis zu 50 % der Patienten auch die Arme. Nach den Kriterien der internationalen RLS-Study-Group ist die Diagnose eines RLS zu stellen, wenn ein Bewegungsdrang der Beine (i. d. R. begleitet von Missempfindungen) und eine motorische Unruhe auftreten, die in Ruhe zunehmen und eine Betonung abends oder nachts erfahren (Tab. 4.4) Als Ursache des primären RLS wird eine Störung des dopaminergen Systems diskutiert, einige Autoren vermuten auch eine Rolle des Opioidsystem. Hierfür sprechen u. a. klinische Befunde, die eine Wirksamkeit von Benzodiazepinen und Opioiden auf die RLS-Symptomatik zeigten. Mehrere klinische Studien deuten auf einen Zusammenhang zwischen ADHS und RLS. In einer Metaanalyse wurde gezeigt, dass bei etwa einem Viertel der Patienten mit RLS die diagnostischen Kriterien einer ADHS erfüllt waren (oder es lagen Symptome einer ADHS vor). Bei bis zu 44 % der Patienten mit ADHS ließ sich in dieser Untersuchung ein RLS oder RLS-Symptome nachweisen (Cortese et al. 2004). Neben Überschneidungen in der klinischen Symptomatik teilen beide Erkrankungen weitere Gemeinsamkeiten: Bei beiden lässt sich eine familiäre Häufung feststellen, und bei beiden treten gehäuft Depressionen auf. Hinsichtlich der pharmakologischen Therapie bestehen allerdings Unterschiede: Während Dopamin-Agonisten die Therapie der Wahl zur Behandlung eines RLS sind, haben sich diese Substanzen zur Behandlung einer ADHS bislang als wenig wirksam erwiesen. Noradrenerg wirksame Substanzen zeigen bei RLS keine therapeutische Wirksamkeit, während NoradrenalinWiederaufnahmehemmer die ADHS-Symptomatik verbessern. aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG 116 4 Erwachsenenalter (ab 21 Jahre) In Deutschland ist L-Dopa die bislang einzige Substanz, die zur Behandlung eines RLS zugelassen ist. Darüber hinaus wurde in klinischen Studien gezeigt, dass auch andere dopaminerg wirksame Substanzen (u. a. Pergolid und Pramipexol) und Phasenprophylaktika (Carbamazepin, Valproinsäure) zu einer Linderung von RLS-Symptomen führen. aus: Kahl, Puls, Schmid, u.a., Praxishandbuch ADHS (ISBN 9783131430212) © 2007 Georg Thieme Verlag KG