1 Herausforderungen an die Familie in der Gesellschaft Kritische

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Herausforderungen an die Familie in der Gesellschaft
Kritische Analysen und progressive Perspektiven
Michael Hirsch
Das traditionelle Familienmodell geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung
hatte eine Grenze gezogen zwischen gesellschaftlichem „System“ und
sozialer bzw. familiärer „Lebenswelt“. Das entsprach sowohl der
fordistischen Industriegesellschaft als auch der prinzipiell vorausgesetzten
Ungleichheit der Geschlechter. Sobald sich das sowohl von den Annahmen
in Bezug auf die Rolle der Geschlechter als auch von den
Arbeitsverhältnissen her auflöst, verschwimmt die Grenze zwischen
Lebenswelt und System. Man könnte sagen, sie implodiert in den Familien.
Von allen Beteiligten (Männer, Frauen und Kinder) wird nun eine erhöhte
Leistung und Leistungsbereitschaft in der Systemwelt (Arbeitswelt,
Schulen und Hochschulen) verlangt. Sodass die Frage aufgeworfen wird,
wer jetzt eigentlich noch die „Lebenswelt“ hegt und pflegt, sowie die
Frage, ob die gegenwärtige Politik der Gleichstellung und der Familie in
Deutschland nicht eigentlich zu einer zunehmenden ökonomischen und
staatlichen „Kolonisierung der Lebenswelt“ führt. Diese stellt, so möchte
ich argumentieren, den Kern eines umfassenden Projekts der
Ökonomisierung und Verstaatlichung der Gesellschaft und des Lebens dar.
Die soziale Lebenswelt zum einen, Bildung und Erziehung zum anderen
sind das Objekt der neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft.
Meine These ist, dass die Steigerung der weiblichen Erwerbsquote eine
erhebliche Verengung und letztlich eine Pervertierung des Projekts der
weiblichen Emanzipation darstellt.
1.) Das traditionelle Familienmodell: Geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung und der „Familienlohn“
Zunächst gilt es jedoch, sich noch einmal die Eigenart des traditionellen
Familienmodells mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu
vergegenwärtigen. Was für ein Modell war das, was für eine soziale
Institution und was für eine Lebensform? Woher hatte es seine spezifische
Evidenz bezogen? Im Kern des patriarchalen Modells stehen der
männliche „Familienlohn“ und die Vorstellung von der Tätigkeit der
Hausfrau und Mutter als Beruf. Darin kommen nicht nur
geschlechtsspezifische Rollenerwartungen zum Ausdruck. Es handelt sich
um ein Ensemble von ökonomischen Vertrags- und Arbeitszeitregimen,
Sozialstaatsregimen (Sozialeigentum) und kulturellen Normen, die über
einen längeren Zeitraum hin relativ stabil in der Alltagspraxis verankert
waren. Als solche haben sie gemeinsam soziale Normalität und soziale
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Anerkennung auf der Basis einer prinzipiellen (und das heißt eben: als
„normal“ geltenden) Ungleichheit der Geschlechter garantiert.
„Männliche“ und „weibliche“ Arbeit werden im Wesentlichen aufgeteilt
(und hierarchisiert) in bezahlte Erwerbsarbeit auf der einen, unbezahlte
Reproduktions-, Erziehungs- und Hausarbeit auf der anderen Seite. Beide
Formen der Arbeit werden innerhalb der Familie, zwischen der Frau und
dem Mann aufgeteilt im Rahmen einer scheinbar natürlichen Disposition
zu je bestimmten Tätigkeitsformen und Fähigkeiten. Dem entspricht eine
stabile Ordnung der Sphäre der Erwerbsarbeit (der Arbeitsplätze) und der
Familie gleichermaßen. Man könnte sagen, dass dies eine
protektionistische Regulierung, eine Verknappung des Angebots von
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt darstellte. Erst durch die zugleich
kulturelle und politische Skandalisierung der Geschlechterungleichheit
erscheint diese Institution als ungerecht. Man muss sich aber bewusst
machen, dass es über lange Zeit hin als eine stabile soziale Norm und
Gewohnheit fungiert hat: als eine spezifische Form des „guten Lebens“,
mit einer ganz bestimmten Fortschrittsperspektive. Die
Fortschrittsperspektive der traditionellen, um die Institution des
„Familienlohns“ herum gebildeten Ordnung der Industriegesellschaft war:
Vollbeschäftigung, sichere Arbeitsplätze mit kalkulierbaren sozialen
Aufstiegsperspektiven und Rentenerwartungen, steigende Löhne, sinkende
Arbeitszeiten entsprechend den Produktivitätsfortschritten der Arbeit.
2.) Die neue Forderung der Gleichberechtigung der Geschlechter: ein
historischer Kompromiss von sozialen Bewegungen (Frauenbewegung,
Feminismus) und Staat – eine gesellschaftliche Formation „ohne
Familienmodell“
Die neue soziale Norm der Gleichberechtigung der Geschlechter zerstört
die Evidenz des traditionellen Familienmodells – aber erst, seitdem der
Staat durch eine Reihe von Reformen des Sozialstaats und des
Arbeitsmarkts die neue Norm politisch und kulturell durchgesetzt hat.
Weibliche Gleichberechtigung wird nunmehr gleichgesetzt mit der
Steigerung der weiblichen Erwerbsquote: mit der wachsenden
Unabhängigkeit von Frauen mit und ohne Kindern von der „Ernährerrolle“
ihres Partners (oder Partnerin). Die neue Norm lautet faktisch also:
Übertragung der Norm männlicher Vollzeiterwerbstätigkeit auch auf alle
Frauen. Die traditionelle Rollenerwartung an Männer hingegen bleibt
intakt, das heißt es wird nur die eine Seite der traditionellen
Geschlechterordnung angegriffen. Dadurch entsteht ein Vakuum in Bezug
auf die Frage, wie nicht nur die mit der Aufzucht, Erziehung und
Betreuung von Kindern, sondern überhaupt die mit der Pflege von
Beziehungen und allen anderen im „Haus“ verbundenen Arbeiten
organisiert werden sollen. Es findet eine geradezu revolutionäre
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Entwertung von (traditionell weiblicher) unbezahlter Haus- und
Familienarbeit statt (Kinder gebären und großziehen, Wohnungen
aufräumen und putzen, in einer familienintern schwachen ökonomischen
Machtposition bleiben, unbefriedigende Beziehungen über längere Zeit
ertragen, usw.). Die andere Seite dieses Prozesses ist die ebenso
revolutionäre Aufwertung von Erwerbsarbeit: ein beispielsloser Run auf
den Arbeitsmarkt mit der logischen Folge eines chronischen Überangebots
an Arbeitskraft (Arbeitslosigkeit, Lohnsenkung, Prekarisierung von Arbeit,
Mehrarbeit usw.). Alle Staatsbürger werden nunmehr im soziologischen
Sinne als Männer adressiert: Alle Menschen, Männer wie Frauen, werden
durch die Normalerwartung lebenslanger Vollzeiterwerbsarbeit
identifiziert. (Das bedeutet auch, dass alle, die dieser Erwartungs-Norm
nicht genügen, nicht im vollen Sinne anerkannt sein werden). Menschliche
Sinnbedürfnisse werden deswegen im Wesentlichen auf Erwerbsarbeit
(Verdienst- und Aufstiegschancen) und auf Konsumchancen konzentriert.
Die neue gleichberechtigte Frau ist vor allem emanzipiert in ihrem Status
als Lohnarbeiterin und Konsumentin. Selbstverwirklichung im Beruf ist die
entsprechende neue Kulturidee der Gesellschaft (eine Idee, von der
offensichtlich ist, dass sie immer nur für Minderheiten realisierbar ist).
Auf der Ebene der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik entspricht
dies dem Ziel der Steigerung von Wachstum und Beschäftigung als der
neuen gesellschaftlichen Ziel- und Konsensformel (im Gegensatz, und das
ist immer wieder wichtig, es sich ins Bewusstsein zu rufen, zur früheren
Formel der fortschreitenden sozialen Abschöpfung des Potentials der
Steigerung gesellschaftlicher Arbeitsproduktivität zugunsten von nicht nur
materiellen, sondern auch immateriellen Wohlfahrtsfortschritten).
Vereinfacht ausgedrückt, lautet das neue Staatsziel heute Beschäftigung,
Produktivitätssteigerung und Mehrarbeit um jeden Preis – und zwar ohne
irgendeine soziale Fortschrittsperspektive oder eine Idee des guten Lebens.
Darin steckt, und das ist sehr wichtig zu betonen, eine bestimmte zugleich
politische, ökonomische und kulturelle Wertvorstellung und
Wertentscheidung.
3.) Neue Herausforderungen an die Familie – das sozialdarwinistische
Regime unerfüllbarer Anforderungen und Erwartungen
Die neue Ordnung des historischen Kompromisses von Staat und
Frauenbewegung erschließt im großen Stil die weibliche Arbeitskraft für
den Arbeitsmarkt. Die neuen Figuren in diesem System sind die „Top
Girls“, erfolgreiche, meist junge Frauen, die wie Männer auch Karriere
machen. In der linken feministischen Literatur wird mittlerweile mit Sorge
der Aufstieg eines neoliberalen Geschlechterregimes registriert.1 Die
1
Vgl. Angela McRobbie, Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des
neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden 2010; Nancy Fraser, Feminismus,
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feministischen Befreiungsforderungen wurden, so scheint es, vor den
Karren einer brutalen neoliberalen Modernisierung der Gesellschaft
gespannt. Das Resultat der Tatsache, dass Erwerbsarbeit als einzig
relevanter Weg zur Gleichberechtigung von Frauen erscheint, ist zum
einen die Brutalisierung sozialer Kämpfe um Arbeitsplätze, Einkommen,
Qualifikationen, Status und Anerkennung insgesamt. Zum anderen entsteht
fast unbemerkt ein autoritärer Neo-Paternalismus des „aktivierenden
Sozialstaats“. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „Employability“ der
Arbeitnehmer zu steigern. Und er subventioniert mit der Förderung
öffentlicher und privater Kinderbetreuung sowie Hausarbeit einen riesigen
Dienstleistungsbereich zumeist im Niedriglohnsektor.
Dieses neue Ordnung installiert letztlich eine ganze Reihe von
unerfüllbaren Erwartungen: zum einen, dass alle Menschen, Männer wie
Frauen, eine qualifizierte Vollzeiterwerbsarbeit finden könnten (die
meritokratische Ideologie); zum anderen, dass ein sinnvolles, gutes und
gerecht gestaltetes Familienleben möglich und wünschbar ist auf der Basis
der Vollzeiterwerbsarbeit sowohl des Mannes als auch der Frau (die
produktivistische Ideologie). Beide Ideologien verkennen die Grenzen der
Belastbarkeit des Arbeitsmarktes sowohl als auch von menschlichen
Individuen. Das Resultat der Verkennung dieser Grenzen sind alle
möglichen Symptome der Überforderung und physischen wie psychischen
Erkrankungen. Das Resultat ist eine Situation permanenter (Selbst)Überforderung aller Menschen, die versuchen, Erwerbsarbeit und Familie
mit einander zu vereinbaren. Es muss betont werden: Es gilt eine
prinzipielle Unvereinbarkeit von Arbeitsleben und Familienleben. Sie wird
im Augenblick weniger gesellschaftspolitisch thematisiert (es sei denn
selektiv als Aufforderung zum Ausbau öffentlicher Kinderbetreuung) als
persönlich am eigenen Leib erlebt und erlitten.
Ich würde diese neue neoliberale Ordnung als paradoxen Triumph des
kapitalistischen Patriarchats durch die Bewegung der Gleichberechtigung
hindurch beschreiben. Wo liegt hier der Fehler? Warum wurde, wie Nancy
Fraser sagt, der Feminismus von den herrschenden Mächten (die noch
immer männliche Mächte sind, selbst wenn der Anteil sogenannter
weiblicher Spitzenkräfte ansteigt) „kooptiert“, wie Nancy Fraser sagt? Ich
würde sagen, der Fehler lag darin, dass der Term der Gleichheit, die
Vergleichsgröße im Begriff der Gleichberechtigung eben immer nur der
männliche war. Die männliche Lebensform galt und gilt immer noch und
immer mehr als die maßgebende und allein sozial anerkannte. Der
Androzentrismus der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft wurde, so meine ich,
gerade durch den historischen Kompromiss von Frauenbewegung und
Staat zementiert. Frauen können gleich sein – wenn sie werden wie die
Männer. Der wirkliche Kampf gegen die männliche Herrschaft und
Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und
internationale Politik 8/2009
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Vorherrschaft wurde in Wirklichkeit nie aufgenommen. Dies wird die
Aufgabe der Zukunft sein. Der wirkliche Kampf wäre der Kampf gegen die
männliche Lebensform der weitgehenden Spezialisierung der Existenz auf
Tätigkeiten und Fähigkeiten im Rahmen von Lohnarbeit: im Rahmen eines
zugleich kapitalistischen und staatlichen Systems von Motivationen und
Belohnungen für menschliche Arbeit. Die Verdrängung und Missachtung
traditionell weiblicher Formen von Sorgearbeit wird gerade durch die
Propagierung des Zugangs von Frauen zu Erwerbsarbeit als allein
seligmachendem Weg zur gleichen Anerkennung als Mensch auf die
Spitze getrieben.
Man kann sagen, dass der zeitgenössische aktivierende Sozialstaat ein
postmoderner patriarchaler Staat ist: Er universalisiert die männliche
Lebensform und Subjektposition; er macht sie zur einzigen sozial
anerkannten. „Teilzeit“-Arbeit, also ein Existenzmodus der gleichzeitigen
und gleichwertigen Verpflichtung zu Erwerbsarbeit und zu unbezahlter
Sorgearbeit, ist in diesem Modell ein defizienter Existenzmodus. Nicht nur
wird er von den Arbeitsmärkten nicht anerkannt und bleibt zu subalternen
Tätigkeiten verdammt. Auch von den Rentenansprüchen her ist ein Leben,
das nicht im Vollzeiterwerbsmodus ausgeübt wird, sozial nicht mehr
anerkennenswert. Es führt direkt in die Armut, das heißt in die
Abhängigkeit vielleicht nicht mehr so sehr vom Ehemann als vom „Vater“
Sozialstaat.
Das bedeutet, heute werden alle Menschen, Männer wie Frauen, immer
wieder vor tragische Entscheidungen gestellt: Möchte ich mich dem
Familienleben widmen oder einem interessanten und qualifizierten Beruf?
Möchte ich mit meinem Ehepartner eine gleiche Aufteilung von familiären
Aufgaben leben oder möchten wir „Karriere machen“? Die familiäre
Gleichheit von Frauen und Männern ist mit den gegenwärtigen
Anforderungen der Arbeitswelt schlechterdings unvereinbar.
Der wirkliche politische und kulturelle Kampf steht uns also noch bevor:
die männliche Vorherrschaft dadurch zu brechen, dass wir die
„weiblichen“ Tätigkeiten und Fähigkeiten, die unbezahlt und freiwillig
geleistete Arbeit mit Menschen und in Haushalten, in Familien,
Freundschaftsverbänden und Kommunen aller Art, in ihrem eigenen Wert
anerkennen. Diese Arbeiten sind nicht, wie es heute dargestellt wird, im
Wesentlichen ein Freiheitshindernis für die Einzelnen, ein Hindernis ihrer
gleichberechtigten Entfaltung als Menschen, sondern gerade umgekehrt die
Bedingung ihrer Entfaltung als Menschen und die Bedingung einer guten,
menschlichen Gesellschaft. Dies gilt für alle Männer und Frauen.
In einer wirklich fortschrittlichen Perspektive ginge es also weniger darum,
den Zugang aller (Frauen) zu Erwerbsarbeit zu verbessern, als darum, den
Zugang aller (Männer) zu unbezahlter Sorgearbeit. Anders ausgedrückt:
den gleichen Zugang aller Menschen (Frauen wie Männer) zu fordern hat
nur dann einen Sinn, wenn gleichzeitig gesagt wird, dass die bisher
gültigen (wesentlich männlichen) Normalarbeitszeiten nicht etwa
beibehalten, sondern radikal reduziert werden müssen. Nur dann handelt
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es sich beim Programm der Steigerung weiblicher Erwerbstätigkeit nicht
um ein letztlich unsoziales und die Lebensbedingungen und
Familienverhältnisse aller verschlechterndes Programm.
Die kulturelle Forderung wäre: Nicht die Frauen müssen sich verändern
und sich den männlichen Lebensmustern anpassen, sondern umgekehrt die
Männer müssen sich verändern und Erfahrungen mit weiblichen
Lebensformen und Lebensmustern sammeln.
4.) Ein neues, fortschrittliches Modell vom Zusammenleben in
Familien
Um die gegenwärtigen Verhältnisse wirksam kritisieren zu können,
brauchen wir eine Vorstellung von einem guten Leben: Wie wollen wir
zusammenleben? Meine These ist, dass eine fortschrittliche
Frauenbewegung, dass ein wirklich fortschrittlicher Feminismus nur dann
entstehen kann, wenn er sich neu erfindet und von der Unterwerfung unter
falsche androzentrische Prämissen in kultureller, wirtschaftlicher und
politischer Hinsicht emanzipiert. Dies erfordert meines Erachtens ein
Bündnis der Frauenbewegung mit der sozialen und der ökologischen
Bewegung. Es ist zu vermuten, dass der Hauptgrund für den nur selektiven
Erfolg, für die Kooptation von Feminismus und Frauenbewegung durch die
herrschenden Mächte der neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft in
ihrer falschen Partikularität lag: in ihrer Institutionalisierung als sektorales
Sonderinteresse, als Sondersparte ohne tiefere Verbindung mit anderen
emanzipatorischen Bewegungen und Ideen (dasselbe wird man umgekehrt
von großen Teilen insbesondere der Arbeiter- und Umweltbewegung sagen
müssen). Daraus folgt, dass all diese Interessen erst noch wirklich
universal werden müssen. Dafür braucht man eine gemeinsame Idee nicht
nur über gerechte Aufteilungen von bezahlter Erwerbsarbeit und
unbezahlter Sorgearbeit, von Einkommen und sozialer Anerkennung, von
Tätigkeiten und Fähigkeiten, von Entscheidungs- und Machtbefugnissen.
Dafür braucht man zuallererst eine neue Idee über die Form des sozialen
Zusammenlebens. Im Mittelpunkt stehen dabei die beiden Institutionen der
Erwerbsarbeit und der Familie. Wie sollten in einer fortschrittlichen
Gesellschaft die verschiedenen Aufgaben gerecht verteilt werden, um eine
für alle Beteiligten sinnvolle, ihre individuelle und soziale Entwicklung
fördernde Form des Zusammenlebens zu erzeugen (ohne dass dies auf
Kosten der ökologischen Gleichgewichte der Gesellschaft geht)?
Die soziale Frage, die ökologische und die Geschlechterfrage – sie alle
zielen gemeinsam auf die eine Frage ab: Wie wollen wir leben? Was ist
Lebensqualität? Wie lässt sich ein gutes Leben für nicht nur einige,
sondern alle erreichen? Welchen materiellen Mindeststandard, und
welchen immateriellen Lebensstandard legen wir dabei zu Grunde? Der
erste Schritt einer Antwort auf diese Frage wird sein müssen, den
männlichen Primat der Erwerbsarbeit wirklich in Frage zu stellen: Nur
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wenn wir alle insgesamt weniger arbeiten, können wir die Arbeit gerechter
verteilen sowie besser und nachhaltiger leben. Nur dann kann die Frage
nach einem guten Leben überhaupt Gestalt annehmen: nur dann können
Modelle eines freien und gleichberechtigten Zusammenlebens der
Geschlechter in und außerhalb von Familien gedacht und erprobt werden.
An erster Stelle steht dabei, so würde ich sagen, der Wunsch überhaupt,
anders zu leben, der Wunsch, ein Leben zu leben, das nicht in erster Linie
durch die Anforderungen und Zwänge beruflicher Arbeit bestimmt ist.
Denn wir müssen uns klarmachen: Alles was wir erlebt haben in den
letzten Jahrzehnten, die immensen Erfolge der ökonomischen und
staatlichen Zurichtung der Gesellschaft im Neoliberalismus – sie waren
auch Ausflüchte vor dieser einen, ganz einfachen Frage nach der
Emanzipation. In grober Verkürzung könnte man sagen, dass die
fortschrittliche Idee der Emanzipation eine Idee der fortschreitenden
Befreiung von allen möglichen gesellschaftlichen Zwängen und
Rollenerwartungen war. An erster Stelle stand dabei der Zwang zu
lebenslanger Lohnarbeit in Vollzeit. Soll es etwa ein Fortschritt sein, dass
sich nunmehr auch alle Frauen diesem Zwang unterwerfen (und dass man
uns nun alle glauben macht, diese Unterwerfung sei Freiheit)?
In den 1960er und 1970er Jahren war die Frage nach einem anderen Leben
schon einmal virulent. Aber sie wurde nicht aufgenommen. Sie wurde
abgedrängt in alle möglichen Richtungen, und die hinter diesen Fragen
stehenden Ideen und Bewegungen wurden durch partielle Anerkennung
ihrer Forderungen, durch alle möglichen staatlichen Maßnahmen und
Ämter kooptiert und in ihrer schöpferischen Macht neutralisiert. Das gilt
für soziale, ökologische und Frauenbewegungen gleichermaßen. Um in
Zukunft eine Chance auf einen fortschrittlichen Neuanfang des kulturellen
Bewusstseins und des politischen Handelns zu haben, müssen wir uns erst
einmal das unermessliche Scheitern auf der Ebene der dominierenden
politisch-kulturellen Werte eingestehen; vor allem den Triumph der
bürgerlichen Arbeitsgesellschaft über alle Versuche, ihre institutionelle
und kulturelle Vorherrschaft zu brechen.
Wir sind auf manchen Ebenen nicht viel weiter als vor 50 Jahren. Ich
möchte daher zum Abschluss eine längere Passage aus einem typischen
Roman der damaligen Epoche zitieren. In dem vor ein paar Jahren von
Sam Mendes mit Kate Winslett und Leonardo di Caprio in den Hauptrollen
verfilmten Roman Revolutionary Road (deutsch: „Zeiten des Aufruhrs“)
von Richard Yates aus dem Jahre 1961 gibt es eine Stelle, welche die
Problematik des bürgerlichen, in seiner Identität einseitig durch
Erwerbsarbeit bestimmten Mannes anschaulich macht. April Wheeler
schlägt ihrem Mann Frank vor, zusammen nach Paris zu gehen. Sie, die
bisher immer nur Hausfrau war, möchte dort als Sekretärin arbeiten und
Frank damit seinerseits ermöglichen, sein entfremdetes Angestelltenleben
zu unterbrechen – um herauszufinden, was für ihn wirklich wichtig ist.
Frank reagiert folgendermaßen:
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„Er räusperte sich. ‚Hör mal, Schatz. Zunächst mal, was für eine Arbeit könnte
ich dort...’
‚Überhaupt keine. Ach, ich weiß ja, wenn’s sein müsste, würdest du überall auf
der Welt Arbeit finden, aber darum geht’s nicht. Es geht darum, daß du gar keine
Arbeit brauchst, weil ich das dann übernehme. Nicht lachen – hör mal einen
Moment zu. Hast du eine Ahnung, wie viel die für eine Sekretariatstätigkeit in
den Behörden in Übersee bezahlen?’ (...)
Sein Lachen war nicht ganz echt, ebenso wenig wie die Art und Weise, wie er ihr
immer wieder die Schulter knetete, als wollte er die Sache als liebenswerte
Schnapsidee abtun. Er versuchte vor ihr – wenn nicht gar vor sich selbst – zu
verbergen, daß ihm der Plan von Anfang an Angst eingejagt hatte.
‚Ich meine es ernst, Frank’, sagte sie. ‚Glaubst du vielleicht, ich mach Spaß oder
so?’
‚Nein, ist mir schon klar. Ich hab bloß noch ein paar Fragen dazu. Erstens, was
soll ich eigentlich tun, während du den ganzen Zaster verdienst?’
Sie lehnte sich ein Stück zurück und versuchte im trüben Licht sein Gesicht zu
mustern, als könnte sie nicht glauben, daß er sie überhaupt nicht verstanden hatte.
‚Begreifst du nicht? Begreifst du nicht, daß darin die ganze Idee besteht? Du wirst
tun, was du eigentlich schon vor sieben Jahren hättest tun sollen – Du wirst dich
selbst finden. Du wirst lesen, studieren, lange Spaziergänge machen und
nachdenken. Du wirst Zeit haben. Zum ersten Mal in deinem Leben wirst du die
Zeit haben, herauszufinden, was du wirklich willst, und wenn du’s dann weißt,
dann hast du die Zeit und die Freiheit, damit anzufangen.’ Und diese Auskunft,
das wusste er, als er kichernd den Kopf schüttelte, war es, vor der er sich
gefürchtet hatte.“2
Es ist, so möchte ich abschließend sagen, unmöglich, die gegenwärtige
Gesellschaft und ihre Arbeits- und Geschlechterordnung sinnvoll zu
kritisieren, wenn auch wir, wie Frank Wheeler, dieser Frage ausweichen.
Wir müssen sie stellen und zu beantworten suchen als eine nicht nur
private, sondern höchst politische Frage. Denn, um noch einmal einen
klassischen Slogan in Erinnerung zu rufen: Das Persönliche ist politisch.
Eine Gleichberechtigung der Geschlechter ist nicht durch die einseitige
Verbesserung des Zugangs zu Erwerbsarbeit zu erreichen, die nichts
anderes als die gesellschaftliche Entwertung von ‚weiblicher’ Arbeit
darstellt. Gleichberechtigung ist nur durch die gleiche Verteilung und
gleiche Anerkennung von ‚männlicher’ Erwerbsarbeit und ‚weiblicher’
Sorgearbeit möglich – durch eine Verbesserung der Lebensqualität von
allen.
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Richard Yates, Zeiten des Aufruhrs, München 2008, S. 120
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Weiterführende Literatur:
Auth, Diana / Buchholz, Eva / Janczyk, Stefanie (Hg.): Selektive Emanzipation.
Analysen zur Gleichstellungs- und Familienpolitik, Opladen & Farmington Hills
2010
Franz, Matthias / Karger, André (Hg.): Neue Männer – muss das sein? Risiken
und Perspektiven der heutigen Männerrolle, Göttingen 2011
Kontakt:
Dr. phil. Michael Hirsch
Habsburgerstr. 3
80801 München
[email protected]
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