Herausforderungen an die Familie in der Gesellschaft Kritische Analysen und progressive Perspektiven Michael Hirsch Das traditionelle Familienmodell geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung hatte eine Grenze gezogen zwischen gesellschaftlichem „System“ und sozialer bzw. familiärer „Lebenswelt“. Das entsprach sowohl der fordistischen Industriegesellschaft als auch der prinzipiell vorausgesetzten Ungleichheit der Geschlechter. Sobald sich das sowohl von den Annahmen in Bezug auf die Rolle der Geschlechter als auch von den Arbeitsverhältnissen her auflöst, verschwimmt die Grenze zwischen Lebenswelt und System. Man könnte sagen, sie implodiert in den Familien. Von allen Beteiligten (Männer, Frauen und Kinder) wird nun eine erhöhte Leistung und Leistungsbereitschaft in der Systemwelt (Arbeitswelt, Schulen und Hochschulen) verlangt. Sodass die Frage aufgeworfen wird, wer jetzt eigentlich noch die „Lebenswelt“ hegt und pflegt, sowie die Frage, ob die gegenwärtige Politik der Gleichstellung und der Familie in Deutschland nicht eigentlich zu einer zunehmenden ökonomischen und staatlichen „Kolonisierung der Lebenswelt“ führt. Diese stellt, so möchte ich argumentieren, den Kern eines umfassenden Projekts der Ökonomisierung und Verstaatlichung der Gesellschaft und des Lebens dar. Die soziale Lebenswelt zum einen, Bildung und Erziehung zum anderen sind das Objekt der neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft. Meine These ist, dass die Steigerung der weiblichen Erwerbsquote eine erhebliche Verengung und letztlich eine Pervertierung des Projekts der weiblichen Emanzipation darstellt. 1.) Das traditionelle Familienmodell: Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und der „Familienlohn“ Zunächst gilt es jedoch, sich noch einmal die Eigenart des traditionellen Familienmodells mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu vergegenwärtigen. Was für ein Modell war das, was für eine soziale Institution und was für eine Lebensform? Woher hatte es seine spezifische Evidenz bezogen? Im Kern des patriarchalen Modells stehen der männliche „Familienlohn“ und die Vorstellung von der Tätigkeit der Hausfrau und Mutter als Beruf. Darin kommen nicht nur geschlechtsspezifische Rollenerwartungen zum Ausdruck. Es handelt sich um ein Ensemble von ökonomischen Vertrags- und Arbeitszeitregimen, Sozialstaatsregimen (Sozialeigentum) und kulturellen Normen, die über einen längeren Zeitraum hin relativ stabil in der Alltagspraxis verankert waren. Als solche haben sie gemeinsam soziale Normalität und soziale 1 Anerkennung auf der Basis einer prinzipiellen (und das heißt eben: als „normal“ geltenden) Ungleichheit der Geschlechter garantiert. „Männliche“ und „weibliche“ Arbeit werden im Wesentlichen aufgeteilt (und hierarchisiert) in bezahlte Erwerbsarbeit auf der einen, unbezahlte Reproduktions-, Erziehungs- und Hausarbeit auf der anderen Seite. Beide Formen der Arbeit werden innerhalb der Familie, zwischen der Frau und dem Mann aufgeteilt im Rahmen einer scheinbar natürlichen Disposition zu je bestimmten Tätigkeitsformen und Fähigkeiten. Dem entspricht eine stabile Ordnung der Sphäre der Erwerbsarbeit (der Arbeitsplätze) und der Familie gleichermaßen. Man könnte sagen, dass dies eine protektionistische Regulierung, eine Verknappung des Angebots von Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt darstellte. Erst durch die zugleich kulturelle und politische Skandalisierung der Geschlechterungleichheit erscheint diese Institution als ungerecht. Man muss sich aber bewusst machen, dass es über lange Zeit hin als eine stabile soziale Norm und Gewohnheit fungiert hat: als eine spezifische Form des „guten Lebens“, mit einer ganz bestimmten Fortschrittsperspektive. Die Fortschrittsperspektive der traditionellen, um die Institution des „Familienlohns“ herum gebildeten Ordnung der Industriegesellschaft war: Vollbeschäftigung, sichere Arbeitsplätze mit kalkulierbaren sozialen Aufstiegsperspektiven und Rentenerwartungen, steigende Löhne, sinkende Arbeitszeiten entsprechend den Produktivitätsfortschritten der Arbeit. 2.) Die neue Forderung der Gleichberechtigung der Geschlechter: ein historischer Kompromiss von sozialen Bewegungen (Frauenbewegung, Feminismus) und Staat – eine gesellschaftliche Formation „ohne Familienmodell“ Die neue soziale Norm der Gleichberechtigung der Geschlechter zerstört die Evidenz des traditionellen Familienmodells – aber erst, seitdem der Staat durch eine Reihe von Reformen des Sozialstaats und des Arbeitsmarkts die neue Norm politisch und kulturell durchgesetzt hat. Weibliche Gleichberechtigung wird nunmehr gleichgesetzt mit der Steigerung der weiblichen Erwerbsquote: mit der wachsenden Unabhängigkeit von Frauen mit und ohne Kindern von der „Ernährerrolle“ ihres Partners (oder Partnerin). Die neue Norm lautet faktisch also: Übertragung der Norm männlicher Vollzeiterwerbstätigkeit auch auf alle Frauen. Die traditionelle Rollenerwartung an Männer hingegen bleibt intakt, das heißt es wird nur die eine Seite der traditionellen Geschlechterordnung angegriffen. Dadurch entsteht ein Vakuum in Bezug auf die Frage, wie nicht nur die mit der Aufzucht, Erziehung und Betreuung von Kindern, sondern überhaupt die mit der Pflege von Beziehungen und allen anderen im „Haus“ verbundenen Arbeiten organisiert werden sollen. Es findet eine geradezu revolutionäre 2 Entwertung von (traditionell weiblicher) unbezahlter Haus- und Familienarbeit statt (Kinder gebären und großziehen, Wohnungen aufräumen und putzen, in einer familienintern schwachen ökonomischen Machtposition bleiben, unbefriedigende Beziehungen über längere Zeit ertragen, usw.). Die andere Seite dieses Prozesses ist die ebenso revolutionäre Aufwertung von Erwerbsarbeit: ein beispielsloser Run auf den Arbeitsmarkt mit der logischen Folge eines chronischen Überangebots an Arbeitskraft (Arbeitslosigkeit, Lohnsenkung, Prekarisierung von Arbeit, Mehrarbeit usw.). Alle Staatsbürger werden nunmehr im soziologischen Sinne als Männer adressiert: Alle Menschen, Männer wie Frauen, werden durch die Normalerwartung lebenslanger Vollzeiterwerbsarbeit identifiziert. (Das bedeutet auch, dass alle, die dieser Erwartungs-Norm nicht genügen, nicht im vollen Sinne anerkannt sein werden). Menschliche Sinnbedürfnisse werden deswegen im Wesentlichen auf Erwerbsarbeit (Verdienst- und Aufstiegschancen) und auf Konsumchancen konzentriert. Die neue gleichberechtigte Frau ist vor allem emanzipiert in ihrem Status als Lohnarbeiterin und Konsumentin. Selbstverwirklichung im Beruf ist die entsprechende neue Kulturidee der Gesellschaft (eine Idee, von der offensichtlich ist, dass sie immer nur für Minderheiten realisierbar ist). Auf der Ebene der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik entspricht dies dem Ziel der Steigerung von Wachstum und Beschäftigung als der neuen gesellschaftlichen Ziel- und Konsensformel (im Gegensatz, und das ist immer wieder wichtig, es sich ins Bewusstsein zu rufen, zur früheren Formel der fortschreitenden sozialen Abschöpfung des Potentials der Steigerung gesellschaftlicher Arbeitsproduktivität zugunsten von nicht nur materiellen, sondern auch immateriellen Wohlfahrtsfortschritten). Vereinfacht ausgedrückt, lautet das neue Staatsziel heute Beschäftigung, Produktivitätssteigerung und Mehrarbeit um jeden Preis – und zwar ohne irgendeine soziale Fortschrittsperspektive oder eine Idee des guten Lebens. Darin steckt, und das ist sehr wichtig zu betonen, eine bestimmte zugleich politische, ökonomische und kulturelle Wertvorstellung und Wertentscheidung. 3.) Neue Herausforderungen an die Familie – das sozialdarwinistische Regime unerfüllbarer Anforderungen und Erwartungen Die neue Ordnung des historischen Kompromisses von Staat und Frauenbewegung erschließt im großen Stil die weibliche Arbeitskraft für den Arbeitsmarkt. Die neuen Figuren in diesem System sind die „Top Girls“, erfolgreiche, meist junge Frauen, die wie Männer auch Karriere machen. In der linken feministischen Literatur wird mittlerweile mit Sorge der Aufstieg eines neoliberalen Geschlechterregimes registriert.1 Die 1 Vgl. Angela McRobbie, Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden 2010; Nancy Fraser, Feminismus, 3 feministischen Befreiungsforderungen wurden, so scheint es, vor den Karren einer brutalen neoliberalen Modernisierung der Gesellschaft gespannt. Das Resultat der Tatsache, dass Erwerbsarbeit als einzig relevanter Weg zur Gleichberechtigung von Frauen erscheint, ist zum einen die Brutalisierung sozialer Kämpfe um Arbeitsplätze, Einkommen, Qualifikationen, Status und Anerkennung insgesamt. Zum anderen entsteht fast unbemerkt ein autoritärer Neo-Paternalismus des „aktivierenden Sozialstaats“. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „Employability“ der Arbeitnehmer zu steigern. Und er subventioniert mit der Förderung öffentlicher und privater Kinderbetreuung sowie Hausarbeit einen riesigen Dienstleistungsbereich zumeist im Niedriglohnsektor. Dieses neue Ordnung installiert letztlich eine ganze Reihe von unerfüllbaren Erwartungen: zum einen, dass alle Menschen, Männer wie Frauen, eine qualifizierte Vollzeiterwerbsarbeit finden könnten (die meritokratische Ideologie); zum anderen, dass ein sinnvolles, gutes und gerecht gestaltetes Familienleben möglich und wünschbar ist auf der Basis der Vollzeiterwerbsarbeit sowohl des Mannes als auch der Frau (die produktivistische Ideologie). Beide Ideologien verkennen die Grenzen der Belastbarkeit des Arbeitsmarktes sowohl als auch von menschlichen Individuen. Das Resultat der Verkennung dieser Grenzen sind alle möglichen Symptome der Überforderung und physischen wie psychischen Erkrankungen. Das Resultat ist eine Situation permanenter (Selbst)Überforderung aller Menschen, die versuchen, Erwerbsarbeit und Familie mit einander zu vereinbaren. Es muss betont werden: Es gilt eine prinzipielle Unvereinbarkeit von Arbeitsleben und Familienleben. Sie wird im Augenblick weniger gesellschaftspolitisch thematisiert (es sei denn selektiv als Aufforderung zum Ausbau öffentlicher Kinderbetreuung) als persönlich am eigenen Leib erlebt und erlitten. Ich würde diese neue neoliberale Ordnung als paradoxen Triumph des kapitalistischen Patriarchats durch die Bewegung der Gleichberechtigung hindurch beschreiben. Wo liegt hier der Fehler? Warum wurde, wie Nancy Fraser sagt, der Feminismus von den herrschenden Mächten (die noch immer männliche Mächte sind, selbst wenn der Anteil sogenannter weiblicher Spitzenkräfte ansteigt) „kooptiert“, wie Nancy Fraser sagt? Ich würde sagen, der Fehler lag darin, dass der Term der Gleichheit, die Vergleichsgröße im Begriff der Gleichberechtigung eben immer nur der männliche war. Die männliche Lebensform galt und gilt immer noch und immer mehr als die maßgebende und allein sozial anerkannte. Der Androzentrismus der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft wurde, so meine ich, gerade durch den historischen Kompromiss von Frauenbewegung und Staat zementiert. Frauen können gleich sein – wenn sie werden wie die Männer. Der wirkliche Kampf gegen die männliche Herrschaft und Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2009 4 Vorherrschaft wurde in Wirklichkeit nie aufgenommen. Dies wird die Aufgabe der Zukunft sein. Der wirkliche Kampf wäre der Kampf gegen die männliche Lebensform der weitgehenden Spezialisierung der Existenz auf Tätigkeiten und Fähigkeiten im Rahmen von Lohnarbeit: im Rahmen eines zugleich kapitalistischen und staatlichen Systems von Motivationen und Belohnungen für menschliche Arbeit. Die Verdrängung und Missachtung traditionell weiblicher Formen von Sorgearbeit wird gerade durch die Propagierung des Zugangs von Frauen zu Erwerbsarbeit als allein seligmachendem Weg zur gleichen Anerkennung als Mensch auf die Spitze getrieben. Man kann sagen, dass der zeitgenössische aktivierende Sozialstaat ein postmoderner patriarchaler Staat ist: Er universalisiert die männliche Lebensform und Subjektposition; er macht sie zur einzigen sozial anerkannten. „Teilzeit“-Arbeit, also ein Existenzmodus der gleichzeitigen und gleichwertigen Verpflichtung zu Erwerbsarbeit und zu unbezahlter Sorgearbeit, ist in diesem Modell ein defizienter Existenzmodus. Nicht nur wird er von den Arbeitsmärkten nicht anerkannt und bleibt zu subalternen Tätigkeiten verdammt. Auch von den Rentenansprüchen her ist ein Leben, das nicht im Vollzeiterwerbsmodus ausgeübt wird, sozial nicht mehr anerkennenswert. Es führt direkt in die Armut, das heißt in die Abhängigkeit vielleicht nicht mehr so sehr vom Ehemann als vom „Vater“ Sozialstaat. Das bedeutet, heute werden alle Menschen, Männer wie Frauen, immer wieder vor tragische Entscheidungen gestellt: Möchte ich mich dem Familienleben widmen oder einem interessanten und qualifizierten Beruf? Möchte ich mit meinem Ehepartner eine gleiche Aufteilung von familiären Aufgaben leben oder möchten wir „Karriere machen“? Die familiäre Gleichheit von Frauen und Männern ist mit den gegenwärtigen Anforderungen der Arbeitswelt schlechterdings unvereinbar. Der wirkliche politische und kulturelle Kampf steht uns also noch bevor: die männliche Vorherrschaft dadurch zu brechen, dass wir die „weiblichen“ Tätigkeiten und Fähigkeiten, die unbezahlt und freiwillig geleistete Arbeit mit Menschen und in Haushalten, in Familien, Freundschaftsverbänden und Kommunen aller Art, in ihrem eigenen Wert anerkennen. Diese Arbeiten sind nicht, wie es heute dargestellt wird, im Wesentlichen ein Freiheitshindernis für die Einzelnen, ein Hindernis ihrer gleichberechtigten Entfaltung als Menschen, sondern gerade umgekehrt die Bedingung ihrer Entfaltung als Menschen und die Bedingung einer guten, menschlichen Gesellschaft. Dies gilt für alle Männer und Frauen. In einer wirklich fortschrittlichen Perspektive ginge es also weniger darum, den Zugang aller (Frauen) zu Erwerbsarbeit zu verbessern, als darum, den Zugang aller (Männer) zu unbezahlter Sorgearbeit. Anders ausgedrückt: den gleichen Zugang aller Menschen (Frauen wie Männer) zu fordern hat nur dann einen Sinn, wenn gleichzeitig gesagt wird, dass die bisher gültigen (wesentlich männlichen) Normalarbeitszeiten nicht etwa beibehalten, sondern radikal reduziert werden müssen. Nur dann handelt 5 es sich beim Programm der Steigerung weiblicher Erwerbstätigkeit nicht um ein letztlich unsoziales und die Lebensbedingungen und Familienverhältnisse aller verschlechterndes Programm. Die kulturelle Forderung wäre: Nicht die Frauen müssen sich verändern und sich den männlichen Lebensmustern anpassen, sondern umgekehrt die Männer müssen sich verändern und Erfahrungen mit weiblichen Lebensformen und Lebensmustern sammeln. 4.) Ein neues, fortschrittliches Modell vom Zusammenleben in Familien Um die gegenwärtigen Verhältnisse wirksam kritisieren zu können, brauchen wir eine Vorstellung von einem guten Leben: Wie wollen wir zusammenleben? Meine These ist, dass eine fortschrittliche Frauenbewegung, dass ein wirklich fortschrittlicher Feminismus nur dann entstehen kann, wenn er sich neu erfindet und von der Unterwerfung unter falsche androzentrische Prämissen in kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht emanzipiert. Dies erfordert meines Erachtens ein Bündnis der Frauenbewegung mit der sozialen und der ökologischen Bewegung. Es ist zu vermuten, dass der Hauptgrund für den nur selektiven Erfolg, für die Kooptation von Feminismus und Frauenbewegung durch die herrschenden Mächte der neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft in ihrer falschen Partikularität lag: in ihrer Institutionalisierung als sektorales Sonderinteresse, als Sondersparte ohne tiefere Verbindung mit anderen emanzipatorischen Bewegungen und Ideen (dasselbe wird man umgekehrt von großen Teilen insbesondere der Arbeiter- und Umweltbewegung sagen müssen). Daraus folgt, dass all diese Interessen erst noch wirklich universal werden müssen. Dafür braucht man eine gemeinsame Idee nicht nur über gerechte Aufteilungen von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit, von Einkommen und sozialer Anerkennung, von Tätigkeiten und Fähigkeiten, von Entscheidungs- und Machtbefugnissen. Dafür braucht man zuallererst eine neue Idee über die Form des sozialen Zusammenlebens. Im Mittelpunkt stehen dabei die beiden Institutionen der Erwerbsarbeit und der Familie. Wie sollten in einer fortschrittlichen Gesellschaft die verschiedenen Aufgaben gerecht verteilt werden, um eine für alle Beteiligten sinnvolle, ihre individuelle und soziale Entwicklung fördernde Form des Zusammenlebens zu erzeugen (ohne dass dies auf Kosten der ökologischen Gleichgewichte der Gesellschaft geht)? Die soziale Frage, die ökologische und die Geschlechterfrage – sie alle zielen gemeinsam auf die eine Frage ab: Wie wollen wir leben? Was ist Lebensqualität? Wie lässt sich ein gutes Leben für nicht nur einige, sondern alle erreichen? Welchen materiellen Mindeststandard, und welchen immateriellen Lebensstandard legen wir dabei zu Grunde? Der erste Schritt einer Antwort auf diese Frage wird sein müssen, den männlichen Primat der Erwerbsarbeit wirklich in Frage zu stellen: Nur 6 wenn wir alle insgesamt weniger arbeiten, können wir die Arbeit gerechter verteilen sowie besser und nachhaltiger leben. Nur dann kann die Frage nach einem guten Leben überhaupt Gestalt annehmen: nur dann können Modelle eines freien und gleichberechtigten Zusammenlebens der Geschlechter in und außerhalb von Familien gedacht und erprobt werden. An erster Stelle steht dabei, so würde ich sagen, der Wunsch überhaupt, anders zu leben, der Wunsch, ein Leben zu leben, das nicht in erster Linie durch die Anforderungen und Zwänge beruflicher Arbeit bestimmt ist. Denn wir müssen uns klarmachen: Alles was wir erlebt haben in den letzten Jahrzehnten, die immensen Erfolge der ökonomischen und staatlichen Zurichtung der Gesellschaft im Neoliberalismus – sie waren auch Ausflüchte vor dieser einen, ganz einfachen Frage nach der Emanzipation. In grober Verkürzung könnte man sagen, dass die fortschrittliche Idee der Emanzipation eine Idee der fortschreitenden Befreiung von allen möglichen gesellschaftlichen Zwängen und Rollenerwartungen war. An erster Stelle stand dabei der Zwang zu lebenslanger Lohnarbeit in Vollzeit. Soll es etwa ein Fortschritt sein, dass sich nunmehr auch alle Frauen diesem Zwang unterwerfen (und dass man uns nun alle glauben macht, diese Unterwerfung sei Freiheit)? In den 1960er und 1970er Jahren war die Frage nach einem anderen Leben schon einmal virulent. Aber sie wurde nicht aufgenommen. Sie wurde abgedrängt in alle möglichen Richtungen, und die hinter diesen Fragen stehenden Ideen und Bewegungen wurden durch partielle Anerkennung ihrer Forderungen, durch alle möglichen staatlichen Maßnahmen und Ämter kooptiert und in ihrer schöpferischen Macht neutralisiert. Das gilt für soziale, ökologische und Frauenbewegungen gleichermaßen. Um in Zukunft eine Chance auf einen fortschrittlichen Neuanfang des kulturellen Bewusstseins und des politischen Handelns zu haben, müssen wir uns erst einmal das unermessliche Scheitern auf der Ebene der dominierenden politisch-kulturellen Werte eingestehen; vor allem den Triumph der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft über alle Versuche, ihre institutionelle und kulturelle Vorherrschaft zu brechen. Wir sind auf manchen Ebenen nicht viel weiter als vor 50 Jahren. Ich möchte daher zum Abschluss eine längere Passage aus einem typischen Roman der damaligen Epoche zitieren. In dem vor ein paar Jahren von Sam Mendes mit Kate Winslett und Leonardo di Caprio in den Hauptrollen verfilmten Roman Revolutionary Road (deutsch: „Zeiten des Aufruhrs“) von Richard Yates aus dem Jahre 1961 gibt es eine Stelle, welche die Problematik des bürgerlichen, in seiner Identität einseitig durch Erwerbsarbeit bestimmten Mannes anschaulich macht. April Wheeler schlägt ihrem Mann Frank vor, zusammen nach Paris zu gehen. Sie, die bisher immer nur Hausfrau war, möchte dort als Sekretärin arbeiten und Frank damit seinerseits ermöglichen, sein entfremdetes Angestelltenleben zu unterbrechen – um herauszufinden, was für ihn wirklich wichtig ist. Frank reagiert folgendermaßen: 7 „Er räusperte sich. ‚Hör mal, Schatz. Zunächst mal, was für eine Arbeit könnte ich dort...’ ‚Überhaupt keine. Ach, ich weiß ja, wenn’s sein müsste, würdest du überall auf der Welt Arbeit finden, aber darum geht’s nicht. Es geht darum, daß du gar keine Arbeit brauchst, weil ich das dann übernehme. Nicht lachen – hör mal einen Moment zu. Hast du eine Ahnung, wie viel die für eine Sekretariatstätigkeit in den Behörden in Übersee bezahlen?’ (...) Sein Lachen war nicht ganz echt, ebenso wenig wie die Art und Weise, wie er ihr immer wieder die Schulter knetete, als wollte er die Sache als liebenswerte Schnapsidee abtun. Er versuchte vor ihr – wenn nicht gar vor sich selbst – zu verbergen, daß ihm der Plan von Anfang an Angst eingejagt hatte. ‚Ich meine es ernst, Frank’, sagte sie. ‚Glaubst du vielleicht, ich mach Spaß oder so?’ ‚Nein, ist mir schon klar. Ich hab bloß noch ein paar Fragen dazu. Erstens, was soll ich eigentlich tun, während du den ganzen Zaster verdienst?’ Sie lehnte sich ein Stück zurück und versuchte im trüben Licht sein Gesicht zu mustern, als könnte sie nicht glauben, daß er sie überhaupt nicht verstanden hatte. ‚Begreifst du nicht? Begreifst du nicht, daß darin die ganze Idee besteht? Du wirst tun, was du eigentlich schon vor sieben Jahren hättest tun sollen – Du wirst dich selbst finden. Du wirst lesen, studieren, lange Spaziergänge machen und nachdenken. Du wirst Zeit haben. Zum ersten Mal in deinem Leben wirst du die Zeit haben, herauszufinden, was du wirklich willst, und wenn du’s dann weißt, dann hast du die Zeit und die Freiheit, damit anzufangen.’ Und diese Auskunft, das wusste er, als er kichernd den Kopf schüttelte, war es, vor der er sich gefürchtet hatte.“2 Es ist, so möchte ich abschließend sagen, unmöglich, die gegenwärtige Gesellschaft und ihre Arbeits- und Geschlechterordnung sinnvoll zu kritisieren, wenn auch wir, wie Frank Wheeler, dieser Frage ausweichen. Wir müssen sie stellen und zu beantworten suchen als eine nicht nur private, sondern höchst politische Frage. Denn, um noch einmal einen klassischen Slogan in Erinnerung zu rufen: Das Persönliche ist politisch. Eine Gleichberechtigung der Geschlechter ist nicht durch die einseitige Verbesserung des Zugangs zu Erwerbsarbeit zu erreichen, die nichts anderes als die gesellschaftliche Entwertung von ‚weiblicher’ Arbeit darstellt. Gleichberechtigung ist nur durch die gleiche Verteilung und gleiche Anerkennung von ‚männlicher’ Erwerbsarbeit und ‚weiblicher’ Sorgearbeit möglich – durch eine Verbesserung der Lebensqualität von allen. 2 Richard Yates, Zeiten des Aufruhrs, München 2008, S. 120 8 Weiterführende Literatur: Auth, Diana / Buchholz, Eva / Janczyk, Stefanie (Hg.): Selektive Emanzipation. Analysen zur Gleichstellungs- und Familienpolitik, Opladen & Farmington Hills 2010 Franz, Matthias / Karger, André (Hg.): Neue Männer – muss das sein? Risiken und Perspektiven der heutigen Männerrolle, Göttingen 2011 Kontakt: Dr. phil. Michael Hirsch Habsburgerstr. 3 80801 München [email protected] 9