WIRTSCHAFT SAM ST AG, 2. JUL I 20 16 17 „Auf einmal fällst du ganz tief“ Die Zahl der Älteren, die keinen Job mehr finden, explodiert. Einer von ihnen spricht darüber, was es heißt, plötzlich „unbrauchbar“ zu sein. CHRISTIAN RESCH SALZBURG, WIEN. Die 58 Jahre des Lebens von Kurt Pongruber lassen sich in zwei Abschnitte teilen. Der erste endete am 16. September 2010 mit einer Bemerkung von Pongrubers Lebensgefährtin: „Du Kurt, du redest ja auf einmal so komisch.“ Stunden später stellten die Ärzte beim damals 52-Jährigen die Diagnose: Schlaganfall in der Nähe des Sprachzentrums. Monate im Spital und in Rehabilitation folgten. „Ein Dasein mit einer reputierlichen Karriere“, so nennt der Jurist die Zeit „davor“. Jurist in der Wirt- SN-THEMA Arbeitslosigkeit schaftskammer, dann Manager in der Abfallbeseitigung. Verantwortung über 20 Mitarbeiter und hundert Millionen Schilling Umsatz im Jahr. Dann Selbstständigkeit als Unternehmensberater, nebenbei ein Mandat im Kammerparlament, „60 oder 70 Stunden Arbeit in der Woche waren ganz normal“. Das „Danach“ ist dagegen eine Geschichte, wie sie viele Langzeitarbeitslose zu erzählen haben, vor allem ältere. Denn zu einem von ihnen wurde Pongruber damals. Deren Zahl ist in den vergangenen Jahren regelrecht explodiert: Im Jahr 2011 waren gerade 2104 Menschen über 50 für mehr als ein Jahr arbeitslos. Heute sind es elf Mal so viele. Die Gesamtzahl der älteren Jobsuchenden hat sich in derselben Zeit fast verdoppelt: von knapp 54.000 vor fünf Jahren auf 101.000 aktuell (rund 90.000 ohne Teilnehmer von Schulungen). Dies, während die Arbeitslosenquote in Österreich insgesamt auf hohem Niveau stagniert (siehe Grafik). Die meisten der älteren Arbeitslosen dürften wissen, was Pongruber meint, wenn er sagt: „Auf einmal fällst du ganz tief.“ Wobei: Eigentlich gibt es keinen Absturz. Sondern langsames Absteigen, ein Immer-weiter-Zurückstecken, ein Sich-immer-mehr-Einschränken. Zuerst war Pongrubers Gefühl, „du schaffst das schon. Du kannst noch etwas beitragen.“ Er schrieb 300 Bewerbungen. Absage reihte sich an Absage – und der Gedanke drängte an die Oberfläche: „Die brauchen dich nicht mehr.“ Und dann ist da die materielle Seite. Zuerst schmelzen die Ersparnisse. Nach dem Arbeitslosengeld kommt die Notstandshilfe. Freunde borgen Geld, Verwandte helfen aus. Am Ende ist das Auto weg, der Fernseher ist geliehen, jeder Geldschein wird auf jeden Wochentag aufgeteilt. 23 Euro pro Tag sind es im Leben des Kurt Pongruber. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben: Das mag eine Floskel sein, aber für Pongruber trifft sie ins Schwarze. Das Volk hat immer recht. Wirklich immer? Britanniens Premierminister tritt die parlamentarische Demokratie mit Füßen. MARKTPLATZ Richard Wiens Wahlen bringen Qualen: Die Österreicher müssen noch einmal wählen und viele Briten würden gerne ein zweites Mal abstimmen. Über die Wiederholung der Bundespräsidenten-Stichwahl ist in diesem Blatt viel zu lesen. Vor allem, dass es sich bei der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof um einen sichtbaren Beweis handelt, dass die Demokratie funktioniert. Beim britischen Referendum über die EU-Mitgliedschaft verhält sich das etwas anders. Das Votum für den Brexit wird von vielen als Sieg der direkten Demokratie gefeiert. Man kann das auch anders sehen. Immerhin handelt es sich bei Großbritannien um das Mutterland der parlamentarischen Demokratie. Ausgerechnet deren Prinzipien wurden bei dem von Premierminister David Cameron ausgerufenen Plebiszit mit Füßen getreten. Die Abgeordneten sollen einen Volksentscheid umsetzen, der rechtlich nicht bindend ist und zu dem sie mehrheitlich anderer Meinung sind. Dass Cameron aus seinem Vabanquespiel die Konsequenzen zog und seinen Rücktritt ankündigte, war unvermeidlich. Aber um die politische Krise in Großbritannien zu beenden, sind Neuwahlen unverzichtbar. Erst wenn die Befürworter eines EU-Austritts auch in dem vom Volk gewählten Parlament – dem Marktplatz der Demokratie – eine Mehrheit haben, ist ihr Kurs bestätigt. Alles andere käme dem Aushebeln des Parlaments gleich und wäre ein höchst gefährlicher Weg. WWW.SALZBURG.COM/WIENS Kurt Pongruber war Geschäftsführer. Jetzt lebt der Jurist von tausend Euro im Monat. BILD: SN/RESCH Jetzt, immerhin, hat der Salzburger wieder Ziele: Für den Verein „Best Ager“, also „Menschen im besten Alter“, vertritt er die Interessen älterer Arbeitsloser – mittlerweile in Salzburg, Wien und Tirol. Neues Projekt: Der Talentecheck, den die Wirtschaftskammer für Lehrlinge anbietet, wird auf Arbeitssuchende über 50 Jahre ausgeweitet und dient als Basis für zukünftige Umschulungen. Wieso sind überhaupt so viele Ältere ohne Job? Man müsse präzisieren, sagt Wifo-Arbeitsmarktexperte Helmut Mahringer: „Die Gruppe der über 50-Jährigen in der Gesellschaft ist stark gewachsen. Und auch die Arbeitslosigkeit insgesamt. So gesehen, hat sich die Zahl der jobsuchenden Älteren proportional nicht übermäßig gesteigert.“ Kurt Pongruber tröstet das nur bedingt. Seine Hypothese ist, dass der höhere Kündigungsschutz für Ältere mehr Schaden als Nutzen bringt – weil Personalchefs sich davon abschrecken ließen. Experte Mahringer glaubt das nicht. „Österreich hat generell keinen strengen Kündigungsschutz, auch nicht bei Älteren.“ Entscheidend sei vielmehr, dass Arbeitgeber einen älteren Bewerber zuerst einmal „ohne viel Risiko und hohe Kosten ausprobieren“ könnten, sagt Mahringer. Also dass das AMS provisorische Anstellungen verstärkt ermögliche und auch Teile des Gehalts bezahle.