6.5 Die Cauchy’schen Integralformeln* Auch die Herleitung der Cauchy’schen Integralformeln wollen wir auf die reelle Analysis stützen. Wir rekapitulieren daher den Integralsatz von Gauß in der Ebene und leiten daraus den reellen Integralsatz von Green her. Dessen komplexe Formulierung wiederum führt uns auf die Integralformeln. Theorem 6.23 (Integralsatz von Gauß in R2 ) Sei G ⊂ R2 beschränkt und offen mit stückweise glattem Rand ∂G. U sei eine offene Umgebung von G und v = (P, Q) ∈ C 1 (U ; R2 ) ein Vektorfeld. Dann gilt: Z Z v · n ds. div v(x, y) d(x, y) = ∂G G Hierbei ist divv := ∂x P + ∂y Q die sog. Divergenz des Vektorfeldes v, und n = (n1 , n2 )> ist der mit Ausnahme endlich vieler Punkte überall auf ∂G erklärte äußere Normalenvektor. Dieser Satz wurde in ähnlicher Form bereits behandelt. Wir leiten daraus nun zunächst den Integralsatz von Green her (den man nicht mit den Green’schen Formeln verwechseln sollte!). Seien dazu in der Situation des Gauß’schen satzes v = (P, Q) und w = (Q, −P ) Vektorfelder, wobei w im Vergleich zu v um den Winkel − π2 , d. h. um einen rechten Winkel im Uhrzeigersinn (mathematisch negative Richtung) gedreht ist. Damit gelten mit dem Tangentialvektor t = (t1 , t2 )> = (−n2 , n1 )> , d. h. t · n = 0 bzw. t ⊥ n: div w = ∂x Q − ∂y P, w · n = Qn1 − P n2 = P t1 + Qt2 = v · t. Fasst man nun noch v(x, y) = v(x, y, 0) := (P (x, y), Q(x, y), 0) als Vektorfeld über U × R ⊂ R3 auf, so ist (rot v)3 = ∂x Q − ∂y P = div w die z-Komponente der Rotation von v. Dies liefert: Satz 6.24 (Satz von Green) Sei G ⊂ R2 beschränkt und offen mit stückweise glattem Rand ∂G. U sei eine offene Umgebung von G und v = (P, Q) ∈ C 1 (U ; R2 ) ein Vektorfeld. Dann gilt: Z Z (rot v(x, y))3 d(x, y) = v · t ds. G ∂G Diese Fassung des Satzes von Gauß kann man auch komplex formulieren: Satz 6.25 Sei D ⊂ C offen, f ∈ C 1 (D; C) und G beschränkt, offen und glatt berandet mit G ⊂ D. Dann gilt: Z Z f (z) dz = 2i ∂z f (z) dz. ∂G Beweis: Mit Z Z b Z v(x, y) · d(x, y) + i f (z) dz := γ G a b w(x, y) · d(x, y) a gilt für v := (Ref, −Imf ) =: (P, −Q) und w := (Imf, Ref ) =: (Q, P ): (rot v)3 + i(rot w)3 = −∂x Q − ∂y P + i(∂x P − ∂y Q) 1 = 2i [(∂x P − ∂y Q) + i(∂y P + ∂x Q)] = 2i∂z f (z). 2 Wir kommen nun zur allgemeinen Cauchy’schen Integralformel, deren bekannteren Spezialfall (für holomorphe Funktionen) wir direkt im Anschluss ableiten. Theorem 6.26 (Cauchy’sche Integralformel) Sei D ⊂ C offen, f ∈ C 1 (D; C) und G beschränkt, offen und glatt berandet mit G ⊂ D. Für z ∈ G gilt dann: Z 2πif (z) = ∂G f (ξ) dξ − 2i ξ−z Z G ∂ξ f (ξ) 1 dξ. ξ−z 1 Beweis: Es gibt ε > 0 mit K ε (z) ⊂ G. Für die offene Menge Gε := G\K ε (z), die stückweise glatt berandet ist, 1 gilt ∂Gε = ∂G ∪ Sε (z). Die Funktion hz : ξ → ξ−z ist auf Gε holomorph, und mit der komplexen Fassung des Green’schen Satzes gilt für das Produkt f ·hz auf Gε (wobei α die Standardparametrisierung der Kreislinie Sε (z) bezeichnet): Z Z I Z f (ξ) f (ξ) f (ξ) 1 dξ = 2i ∂ξ f (ξ) dξ − dξ = 2i ∂ξ dξ, ξ−z ξ−z ∂G ξ − z Gε α ξ−z Gε da 1 ξ−z 1 auf Gε holomorph und daher ∂ξ ξ−z = 0. Es gilt nun Z π Z π I f (z + εeit ) it f (ξ) f (z + εeit ) dt. iεe dt = i dξ = it ξ − z εe −π −π α Für ε → 0 konvergiert dieses Integral gegen 2πif (z). Wir nehmen nun ohne Begründung zusätzlich an (dies ist aufwändiger zu zeigen, geht aber z. B. mit einer Ausdehnung der Lebesgue’schen Integrationstheorie auf C), dass für ε → 0 folgende Konvergenz vorliegt: Z Z 1 1 ∂ξ f (ξ) dξ → ∂ξ f (ξ) dξ. ξ−z ξ−z Gε G Dann gilt insgesamt: Z 2πif (z) = ∂G f (ξ) dξ − 2i ξ−z Z G ∂ξ f (ξ) 1 dξ. ξ−z Es ist klar, dass für holomorphes F , d. h. ∂ξ f (ξ) = 0, sofort folgt: f (z) = 1 2πi Z ∂G f (ξ) dξ. ξ−z (∗) In dieser Form trifft man die Cauchy’sche Integralformel zumeist in funktionentheoretischem Zusammenhang, da dort vorwiegend der Fall holomorpher Funktionen von Interesse ist. Wir sehen an dieser Formel, dass sich die Funktionswerte holomorpher Funktionen f im Inneren von G vollständig durch die Funktionswerte von f auf dem Rand ∂G charakterisieren lassen. Ferner sehen wir anhand dieser Cauchy’schen Integralformel, dass eine einmal komplex differenzierbare (also holomorphe) Funktion f sogleich unendlich oft komplex differenzierbar ist. Wir wollen das kurz begründen: Differenziert man die Formel (∗) nach z (was wegen Holomorphie möglich ist), so ergibt sich Z Z 1 f (ξ) 1 f (ξ) 0 f (z) = − · (−1) dξ = dξ. 2 2πi ∂G (ξ − z) 2πi ∂G (ξ − z)2 Nun sehen wir, dass die rechte Seite ohne Weiteres erneut nach z ableitbar ist (die Singularität z liegt nicht auf der Kurve, entlang derer wir integrieren). Also muss auch die linke Seite, f 0 (z), wieder nach z differenzierbar sein. Dieses Argument lässt sich nun beliebig oft anwenden, und es ergibt sich die Formel Z k! f (ξ) f (k) (z) = dξ. 2πi ∂G (ξ − z)k+1 Dieses Resultat steht in deutlichem Gegensatz zum reellen Fall, wo eine Funktion durchaus einmal differenzierbar sein kann, die Ableitung jedoch nicht erneut differenzierbar sein muss. Beispiel 6.27 Sei die Funktion f : R → R definiert durch x2 − für x < 0, 2 f (x) = 2 x für x ≥ 0. 2 Dann ist f einmal stetig differenzierbar (dies liefert gerade die Betragsfunktion, d. h. f 0 (x) = |x|). Da diese jedoch nicht global differenzierbar ist (an der Knickstelle im Nullpunkt existiert die Ableitung nicht), gilt zwar f ∈ C 1 (R), aber f 6∈ C 2 (R). 2 Abschließend wollen wir uns nun noch kurz mit der Entwicklung einer holomorphen Funktion in eine Potenzreihe beschäftigen, was eine schöne Anwendung der Cauchy’schen Integralformel gestattet. Satz 6.28 Sei D ⊂ C offen und f ∈ O(D). Dann hat f um den Punkt c ∈ D mit Kρ (c) ⊂ D die Potenzreihenentwicklung f (z) = ∞ X k ak (z − c) für |z − c| < ρ mit k=0 1 ak = 2πi I α f (ξ) dξ, (ξ − c)k+1 wobei α(t) = c + reit mit r < ρ wieder die Standardparametrisierung der Kreisline darstellt. Beweis: Für 0 < r < ρ, z ∈ Kr (c) und ξ ∈ Sr (c) := ∂Kr (c) gilt: ∞ X (z − c)k 1 1 1 1 = = · = . ξ−z ξ−c−z+c ξ − c 1 − z−c (ξ − c)k+1 ξ−c k=0 Diese Reihe konvergiert gleichmäßig in ξ ∈ Sr (c). Aus der Cauchy’schen Integralformel (∗) folgt also für z ∈ Kr (c): I I ∞ X 1 f (ξ) 1 (z − c)k dξ f (z) = f (ξ) · dξ = 2πi α ξ − z 2πi α (ξ − c)k+1 k=0 I ∞ ∞ X X 1 f (ξ) k = dξ · (z − c) = ak (z − c)k . 2πi α (ξ − c)k+1 k=0 k=0 3