4 Sonntagsblatt TITELTHEMA Nr. 17 • 30. April 2017 Wächterin an der Höllenpforte Die Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau wird 50 Jahre Von Susanne Schröder Sie war ein Stein des Anstoßes, und sie ist bis heute ein Ort des Dialogs, der Erinnerung und der Versöhnung: Am 30. April 1967 weihte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Versöhnungskirche Dachau ein. Sie ist das einzige evangelische Gotteshaus in einer KZGedenkstätte. Ihre Ausstrahlung verdankt sie neben der klugen Architektur vor allem den Menschen, die in den letzten 50 Jahren hier ihren Dienst taten. abei hätten sich die Protestanten selbst 20 Jahre nach Kriegsende gar nicht getraut, eine Kirche auf der Gedenkstätte zu bauen. Zu groß war die Scham über das weitgehende Versagen der Amtskirche im Nationalsozialismus. Die bayerische Landeskirche dachte Anfang der 1960er-Jahre, als die Gedenkstätte in Planung war, zunächst nur an ein schlichtes Sühnekreuz als Ort des Innehaltens. Dass daraus ein Gotteshaus mit Kirche und Gesprächsraum wurde, war selbst schon ein Akt der Versöhnung. Eine Gruppe niederländischer Dachau-Überlebender um den Widerstandskämpfer Dirk de Loos ging auf die EKD zu. Ihr Wunsch: Ein Ort der Besinnung, geschützt vor Regen und Kälte, an dem Begegnung möglich war. Also schrieb die EKD 1964 einen Architekten-Wettbewerb für eine Sühnekirche aus, den der junge Mannheimer Architekt Helmut Striffler mit seinem spektakulären Entwurf für sich entschied (s. Kasten S. 5). Am 30. April 1967 übergab der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende Kurt Scharf die Schlüssel an den damaligen bayerischen Landesbischof Hermann Dietzfelbinger. Mit dem Bau wolle man »Verbundenheit mit allen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeugen«, so Scharf. Die erste Predigt hielt der DachauÜberlebende Martin Niemöller. Glück hatte die Versöhnungskirche nicht nur mit ihrem Architekten Helmut Striffler, der ihr eine zeitlos wirksame Gestalt gab, sondern auch mit ihren Pfarrern und Diakonen. Herbert Römpp machte 1967 als erster fester Mitarbeiter den schwierigen Anfang. Der junge Diakon knüpfte Kontakte zu den KZ-Überlebenden, die im Museum der Gedenkstätte arbeiteten, und bot Führungen für Schulklassen an – bis heute ein Kernstück der evangelischen Arbeit in Dachau. Doch Römpp arbeitete nicht nur in der Versöhnungskirche, er wohnte auch dort, in den heutigen Büroräumen. »Ich habe das damals D Halb in den Boden gegrabener Zufluchtsort: die Versöhnungskirche Dachau (oben). Links unten: Der KZ-Überlebende Martin Niemöller hielt die Predigt zur Einweihung am 30. April 1967. Rechts unten: Beim Hungerstreik der Sinti gewährte die Versöhnungskirche den Demonstranten Asyl (Mitte: Sinti-Sprecher Romani Rose). Fotos: Schröder, Archiv Versöhnungskirche, Winter nicht als emotionale Belastung empfunden«, erinnert sich der heute 77-Jährige. Als idealistischer junger Mann habe er einen sinnvollen Beitrag zum Frieden leisten wollen. Ihm sei klar gewesen, dass er mit der Versöhnungsarbeit in Dachau in seinen zwei Dienstjahren nicht fertig werden würde. »Ich habe halt damit angefangen«, sagt er lakonisch. Es war wohl diese Unbefangenheit eines damals 27-Jährigen, der selbst von Kriegserlebnissen verschont geblieben war, die die Quadratur des Kreises möglich machte: Das Leid von Hinterbliebenen, die Horrorgeschichten von Überlebenden prallten in Dachau unge- bremst auf den Verdrängungsreflex der Gesellschaft und die Holocaust-Leugnungen von Altnazis und Mitläufern. »Ich war konfrontiert mit dem Leben nach dem Holocaust mit all der Traurigkeit, dem Mitleid, der Hoffnung und Ignoranz, derer Menschen fähig sind«, fasst Römpp seine Zeit in Dachau zusammen. Mit den Pfarrern Christian Reger und Hans Ludwig Wagner folgten bis 1984 zwei Männer, die selbst Opfer der Nazis geworden waren und den schwierigen Anfängen der Erinnerungsarbeit eine natürliche Autorität verliehen: Reger erlitt als Häftling Nummer 26661 im »Pfaffenblock« von Dachau vier Jahre lang Nr. 17 • TITELTHEMA 30. April 2017 den Terror des Konzentrationslagers; Wagner floh, als »Volljude« eingestuft, 1938 nach Kanada. Christian Reger wohnte während der Sommermonate ebenfalls in der Kirche und legte den Grundstein für das noch heute vertrauensvolle Verhältnis zum Kloster Karmel: Jeden Tag nahm er an den Gebets- und Mahlzeiten der Schwestern teil. Wagner wiederum etablierte 1982 den regelmäßigen Sonntagsgottesdienst und rückte die vergessenen NSVerfolgten in den Blick: Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten. Von 1985 bis 2003 bekam die Versöhnungskirche Vollblut-Seelsorger: Waldemar Pisarski, Heinrich Bauer und Peter Klentzan begleiteten die wachsende Zahl an Besuchern, scheuten keine politische Auseinandersetzung und ermutigten Zeitzeugen wie Max Mannheimer und Walter Joelsen, ihr Schicksal zu erzählen. Pisarski trat 1985 die nun regulär von der bayerischen Landeskirche eingerichtete Pfarrstelle in der Versöhnungskirche an – die ELKB trägt die Personalkosten, während die EKD Bau- und Sachkosten übernimmt. Pisarskis Zeit war geprägt von Auseinandersetzungen mit der Stadtspitze von Dachau, die die Gedenkstättenarbeit ablehnte. Auch die Staatsregierung wollte von Dachau nichts wissen: Diakon Herbert Römpp (Mitte) leistete von 196769 Pionierarbeit in der Versöhnungskirche. Foto: pr »Unter Strauß durfte kein Kabinettsmitglied in die Gedenkstätte kommen«, erinnert sich Pisarski. Dennoch gelang es ihm, den damali- Sonntagsblatt gen Kultusminister Hans Maier für einen Besuch der Versöhnungskirche zu gewinnen: als Organist in einem Orgelkonzert. Und noch jemand folgte dem Bitten des evangelischen Seelsorgers: Max Mannheimer, dessen Name untrennbar mit der Erinnerungsarbeit verbunden ist, ließ sich von Waldemar Pisarski zu seinem ersten Zeitzeugengespräch überreden. »Er hatte zwei Tabletten Valium genommen, um überhaupt sprechen zu können, und mir seine Erinnerungen schriftlich gegeben, falls er den Raum verlassen musste«, erinnert sich der Pfarrer. Noch heute ist Pisarski »ewig dankbar« für das ungeheure Privileg, so viele Holocaust- und KZ-Überlebende kennenlernen zu dürfen. Zugleich machten dem erfahrenen Krankenhaus-Seelsorger die täglichen Geschichten von Leid und Qual zu schaffen. »Ich konnte nicht viel mehr tun, als meine Seele hinhalten«, beschreibt er die Herausforderung. Nach sechs Jahren bat Pisarski darum, die Stelle wechseln zu dürfen. Ein Markenzeichen der Versöhnungskirche war und ist es, unbequem zu sein. Beim Hungerstreik der Sinti 1980 gewährte sie den zwölf protestierenden Männern Asyl. Auch der »Rosa Winkel«, das damals auf der Gedenkstätte unerwünschte Mahnmal für die Stumpfe Winkel und ein Fluchtweg Helmut Striffler plante die Versöhnungskirche als Raum, der ohne Gebrauchsanweisung wirkt Der Mannheimer Architekt war erst 36 Jahre alt, als ihm mit der Versöhnungskirche bereits sein Meisterwerk gelang. Bis zu seinem Tod 2015 blieb er diesem »Zufluchtsort« treu. ls Helmut Striffler 1964 mit dem Entwurf der Versöhnungskirche betraut wurde, stellte sich ihm die schier unlösbare Frage: Wie kann man an solch gottlosem Ort eine Kirche bauen? Der rechtwinklige Grundriss des KZ wurde zum Schlüssel für das Problem. »Gewehrkugeln fliegen geradeaus«, so brachte Helmut Striffler die grausame Logik der Nazi-Architektur bei einem Vortrag in Dachau einmal auf einen Nenner. Alle Gebäude und Wege des KZ waren rechtwinklig angeordnet, jede Abweichung von dieser Norm fehlte – nur so war es möglich, Tausende Menschen mit einer Handvoll SS-Leuten in Schach zu halten. Der junge Architekt wollte diesem tödlichen Prinzip etwas entgegensetzen. Er warf alles, was er bis dahin über Architektur gelernt hatte, über Bord und plante eine Kirche, die nahezu ohne rechten Winkel auskommt. A Strifflers erste Skizze auf dem Briefbogen des damaligen Münchner Hotels »Drei Löwen«. Foto: scs Auch persönliche Erfahrungen spielten eine Rolle. Obwohl bei Kriegsende gerade 18 Jahre alt, hatte Helmut Striffler schon eine zweijährige »Militärkarriere« als Flakhelfer hinter sich. Bei einem Fliegerangriff erlebte er, wie wichtig ein Versteck und ein Fluchtweg sein können: »Der Angriff kam, und 5 mein einziger möglicher Weg führte über ein weites, verschneites Rollfeld. Es gab keine Furche, in die ich mich hätte werfen können, ich musste um mein Leben rennen.« Aus dieser Erfahrung heraus grub Striffler die Versöhnungskirche halb in den Boden hinein und versah sie mit einem Fluchtweg. »Eine Kirche auf einem ehemaligen KZ sollte keine Sackgasse sein«, davon war der Architekturprofessor überzeugt. Was Helmut Striffler stets bedauerte, war die voneinander isolierte Stellung der katholischen, evangelischen und jüdischen Gedenkorte in der Gedenkstätte. »Es gab unter den KZ-Häftlingen eine starke innere Verbindung über die Konfessionsgrenzen hinweg – man war einig, ohne eins zu sein.« Seine Idee, die Gedenkstätten näher zusammenzurücken und zu verbinden, scheiterte aber am Widerstand der katholischen Kirche und des internationalen Dachau-Komitees. Den Besuchern bietet Strifflers Bau noch heute, was sich der Architekt gewünscht hat: einen Ort der Zuflucht vor Regen, Wind und dem Grauen des Lagers und einen Raum der Besinnung, der ohne Gebrauchsanweisung auf die Menschen wirkt. Susanne Schröder 6 Sonntagsblatt TITELTHEMA homosexuellen NS-Opfer, fand hier von 1988 bis 1995 einen Standort. 1993 gewährte die Kirche bei der »Romazuflucht« rund 400 ausreisepflichtigen Menschen aus Ex-Jugoslawien vorübergehenden Schutz. Die Erfahrungen dieses Asyls bewegten Diakon Peter Klentzan nach seiner Dachau-Zeit, die heutige Stiftung »Wings of Hope« zu gründen, die in Krisenregionen wie Bosnien, Palästina und dem Irak Trauma- und Friedensarbeit leistet. Auch die Gegenwart hat ihre Herausforderungen: Es gibt immer weniger NS-Überlebende, die Erinnerungsarbeit brauchte ein neues Konzept. Und so haben der Pfarrer und promovierte Historiker Björn Mensing und Diakon Klaus Schultz ihre Arbeit verbreitert. Sie pflegen enge Kontakte zu den verbliebenen Zeitzeugen und deren Angehörigen, fördern in Kooperation mit dem GedächtnisbuchProjekt »Namen statt Nummern« immer aufs Neue vergessene Häftlingsbiografien zu Tage Nr. 17 und führen Jahr für Jahr rund 7000 Besucher über das Gelände. Dank ihrer guten Netzwerke stemmt das selbstbewusste Kollegen-Paar jedes Jahr, unterstützt von zwei Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, ein umfangreiches Programm vom Zeitzeugengespräch über Ausstellungen bis zu Theaterprojekten und Konzertlesungen. Dass die Versöhnungskirche nicht nur Mahnmal, sondern auch Versammlungsraum ist, zahlt sich bis heute aus: Allein 2016 besuchten über 4000 Besucher 47 Veranstaltungen – die Gottesdienste und Andachten nicht mitgerechnet. Doch die Erinnerungsarbeiter strecken ihre Antennen auch weit in die Gegenwart und Zukunft. Sie sind Partner beim Runden Tisch gegen Rassismus der Stadt Dachau, kooperieren mit Stiftungen, Vereinen und Projekten, beackern tagespolitische Themen wie die NSUMorde und tragen das Gedenken mit dem • 30. April 2017 Fußball-Fanprojekt der Initiative »Nie wieder!« sogar bis in die Bundesligastadien. »Damit hebt sich die Versöhnungskirche von der Arbeit der staatlichen Gedenkstätte ab, die sich mehr auf die NS-Zeit konzentriert«, sagt Mensing. Wer wie Mensing und Schultz seit Jahren in der KZ-Gedenkstätte arbeitet, weiß, wie schmal der Grat sein kann, der das Leben von der Hölle trennt. Deshalb gehören für sie Erinnerungsarbeit und Tagespolitik untrennbar zusammen. »Indem wir an die Menschen erinnern, die damals ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurden, richten wir automatisch den Blick auf die Ausgegrenzten, Diskriminierten und Verfolgten der Gegenwart«, sagt Kirchenrat Mensing (s.u.). Das Vermächtnis des »Nie wieder!« habe sich nicht erfüllt. Der Blick auf die Völker- und Massenmorde der letzten Jahre genüge. Der Auftrag der Versöhnungskirche ist 2017 so aktuell wie 1967. »Versöhnung ereignet sich bis heute« Björn Mensing ist seit zwölf Jahren Pfarrer in Dachau – Erinnerungsarbeit ist für ihn hochaktuell Björn Mensing ist Theologe und zugleich promovierter Historiker. Sein Spezialgebiet: die Rolle der Kirche während der NSZeit. Er schrieb Bücher über »Pfarrer und Nationalsozialismus« sowie über christliche Widerstandskämpfer. 2005 kam er an die Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Welche Bedeutung hatte der Bau der Versöhnungskirche 1967? Mensing: Der Bau einer evangelischen Gedenkkirche war von Anfang an verbunden mit der Idee, an alle NS-Verfolgte zu erinnern, gleich welcher Konfession, Gruppenzugehörigkeit oder Herkunft. Das war 1967 ein Meilenstein. In den ersten Jahren nach 1945 war es üblich, dass Organisationen nur an die eigenen Opfer erinnerten. Aber ein separates Gedenken führt dazu, dass Abgrenzungen verstärkt werden. Erst wenn man im Erinnern die Grenzen überschreitet, kann man Feindbilder überwinden. Ein zweiter Punkt war, dass durch den Bau der Versöhnungskirche die Auseinandersetzung mit den kirchlichen Verstrickungen in der NS-Zeit erst begann. Diese selbstkritische Sicht war 1967 im deutschen und bayerischen Protestantismus nicht mehrheitsfähig. Die Versöhnungskirche war da ein Stachel im Fleisch. Kranke und Gefangene besuchen. Aber das ist keine abschließende Aufzählung. An Menschen zu erinnern, denen Unrecht geschah und die vergessen wurden, gehört für mich auch dazu. Auch die Versöhnungarbeit ist immer noch Aufgabe der Versöhnungskirche. Nur können wir Versöhnung nicht als festen Programmpunkt ankündigen – das wäre anmaßend. Wir können lediglich Orte und Gelegenheiten schaffen, damit sich Versöhnung ereignen kann. Und das geschieht bis heute. »Es ist unser theologischer Auftrag, an die vergessenen NS-Opfer zu erinnern«: Der Pfarrer und Historiker Björn Mensing. Foto: Jaeger Welche Aufgabe hat die Versöhnungskirche 50 Jahre nach ihrer Gründung? Mensing: Es ist immer noch unser theologischer Auftrag, an die bis heute vergessenen NS-Opfer zu erinnern. Zum Beispiel an die als sogenannte Asoziale oder Berufsverbrecher stigmatisierten Menschen, die mit dem schwarzen oder dem grünen Winkel gekennzeichnet waren. Das Matthäusevangelium nennt Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Fremde beherbergen, Wie aktuell ist Erinnerungsarbeit? Mensing: Indem wir an die Menschen erinnern, die damals ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurden, richten wir automatisch den Blick auf die Ausgegrenzten, Diskriminierten und Verfolgten der Gegenwart. Das gehört unmittelbar zusammen im Sinne des »Nie wieder!«, das uns die überlebenden Häftlinge als Vermächtnis hinterlassen haben. Der Zusammenhang ist so klar: Das Asylrecht ist ins Grundgesetz gelangt aus der historischen Erfahrung, dass Nazi-Verfolgte in anderen Ländern kein Asyl gefunden haben und nach Deutschland abgeschoben wurden. Hier kamen sie oft direkt ins Konzentrationslager – gekennzeichnet mit dem blauen Winkel für Emigranten. Deshalb hat unser Asylrecht Verfassungsrang! Dass es derzeit immer stärker eingeschränkt wird, ist bedenklich. Interview: Susanne Schröder