58 Editorial Baustelle Diabetes Eigentlich ist die Lebensbedrohung, die die Krankheit Diabetes für den Patienten bedeutet, bekannt. Aber nur eigentlich. Im Rahmen der Veranstaltung „Diabetes2030“ in Berlin1 brachte es Prof. Diethelm Tschöpe, Bad Oeynhausen, auf den Punkt: Dr. Peter Henning „Diabetes ist eine schwere, mitunter tödliche, chronische Erkrankung mit dramatischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Trotzdem neigen wir immer noch dazu, sie zu trivialisieren.“ Diabetes tötet Dr. Wolfgang Rathmann, stv. Direktor des Instituts für Biometrie und Epidemiologie am Deutschen Diabetes Zentrum Düsseldorf, hat jetzt erstmals im Rahmen der „Diabetes2030“ seine Berechnungen der diabetesbedingten Mortalität vorgestellt, Tab. 1 die auf dem gesamten Datensatz der 64,9 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen basiert: 137 950 Todesfälle in Deutschland lassen sich auf Typ 2 Diabetes zurückführen. Das ist eine 6-fach höher Zahl als sie in der offiziellen Todesstatistik für Deutschland (23 131 Todesfälle) für Diabetes ausgewiesen wird. Nach den Berechnungen Rathmanns sind somit 16 % aller Todesfälle in Deutschland durch Diabetes bedingt. Seit der St. Vincent-Deklaration von 1989 sind mittlerweile fast 30 Jahre vergangen und viele weitere Pläne sind zu Papier gebracht worden (▶ Tab. 1). Für MdB Sabine Dittmar (SPD) ist das Präventionsgesetz (▶ Tab. 1) ein erster Schritt, der jedoch ausbaufähig sei. Was fehlt, ist die Umsetzung dieser Strategiepapiere aus fast 30 Jahren. Verglichen mit der „Baustelle Diabetes“ ist die „Dauerbaustelle Flughafen Berlin-Brandenburg“ (BER) geradezu harmlos: Bei einer vergleichenden Kosten-Rechnung notwendiger Diabetes auf dem Papier Jahr Resolutionen und Gesetzesinitiativen 1989 St. Vincent Deklaration: Aufforderung an alle unterzeichnenden Länder, die Ziele von St. Vincent umzusetzen und dafür nationale Diabetespläne zu erarbeiten. 2002 „Call for Action Statement“ der WHO und der Internatonal Diabetes Foundation, IDF: Forderung an die Regierungen, nationale Programme zur Primärprävention Diabetes zu entwickeln 2006 UN-Resolution 61/225 „unite for diabetes“ 2007 EU-Resolution P6_TA(2006)0185 “Declaration of Diabetes”: Forderung an die EU-Mitgliedsländer, nationale Diabetespläne zu entwickeln 2011 UN-Gipfel „Nicht übertragbare Erkrankungen“http://www.un.org/ga/search/view_doc. asp?symbol=A/66/L.1 2012 Basispapier der deutschen Diabetesorganisationen, dem Bundesgesundheitsministerium in Deutschland vorgestellt 2012 Diabetes-Resolution des Euopäischen Parlaments http://www.europarl.europa.eu/sides/ getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+MOTION+P7-RC-2012–0145+0+DOC+XML+V0//EN 2012 OECD: Copenhagen Roadmap Outcomes of the European Diabetes Leadership Forum 2012 http://www.oecd.org/els/health-systems/europeandiabetesleadershipforumedlfco penhagen25–26april2012.htm 2013 WHO Follow-up to the Political Declaration of the High-level Meeting of the General Assembly on the Prevention and Control of Non-communicable Diseases http://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA66/A66_R10-en.pdf 2015 Präventionsgesetz nennt Vorbeugung, Früherkennung und frühe Behandlung von T2D als erstes Nationales Gesundheitsziel © Schattauer 2017 Med Welt 2/2017 Downloaded from www.die-medizinische-welt.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 59 Editorial Diabetes-Aufwendungen vs. der Kosten für BER wird das sehr deutlich: • Kosten BER: Stand 24. März 2017: gesamt gut 5 Mrd. Euro (1), • Diabetes Stand 2006 laut KoDiM-Studie (2): durchschnittliche direkte Gesamtkosten pro Patient und Jahr ohne indirekte Kosten für Frühberentung und Arbeitsunfähigkeit: 4457 Euro. Bei einer Prävalenz für Diabetes von 10 % (▶ Tab. 2) sind das bei 8,06 Millionen anzunehmenden Diabetes-Patienten in Deutschland jährliche Kosten in Höhe von knapp 360 Mrd. Euro! Und die Auswirkungen an der Ursachenfront verschärfen sich immer weiter: Pro Jahr konsumiert ein 14– bis 17-Jähriger allein über zuckerhaltige Softdrinks 30 kg Zucker (3). Das ergibt in 10 Jahren (rund ein Drittel der Zeit, über die nun schon über Diabetes-Prävention geschrieben wird seit St. Vincent) eine stattliche Palette von 300 kg. Da hat die Zuckerindustrie erfolgreiche Arbeit geleistet vor dem Hintergrund des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Typ 2 Diabetes und Zuckerkonsum (4). Die öffentliche Wahrnehmung von Diabetes in der Allgemeinbevölkerung in Deutschland ist nicht die einer lebensbedrohlichen Erkrankung, sondern vielmehr geprägt von „das bisschen Zucker“: So sind in Deutschland lediglich 0,6 % der Patienten Mitglieder in Selbsthilfegruppen für Diabetes. In Dänemark sind es dagegen bereits 24 %. Gegen Diabetes wird in Deutschland auch nicht demonstriert. So entsteht kein öffentlicher Druck und Diabetes ist folglich kein „Währung“ im Sinne von Wählerstimmen für die Politik (anders als zum Beispiel Schweinegrippe, Vogelgrippe, Aids und Brustkrebs). Die Folge: Diabetes ist eine unterschätzte Krankheit, er ist „wahlkampfuntauglich“. Darüber hinaus sprechen niedergelassene Diabetologen, klinisch tätige Diabetologen und Selbsthilfegruppen nicht mit einer Stimme und treten nicht mit einer klaren Botschaft und nachdrücklichen Forderung gemeinsam gegenüber Politik und Leistungsträgern auf. Ihre Sichtweisen auf das Problemfeld Diabetes divergieren. Es ist wie beim Tauziehen: Wird an einem Seil von den Beteiligten mit viel Kraft und En- Tab. 2 Prävalenz von Diabetes in Deutschland: Wie hoch darfs denn sein? Auch im Jahr 2017 fehlen weiterhin Registerdaten, auch wenn schon ein fast 10 Jahre zurückliegender Vergleich zeigt, dass nur ein Register verlässliche Daten liefern kann. Studie Prävalenz Datenbasis Methodik Zeitraum DIAB-CORE 8,6 % N = 15 071 Alter 45–74 Metaanalyse populationsbasierter Studien 1997–2004 GEDA 8,8 % N = 21 262 Alter: 18+ Deutschlandweiter Telefonsurvey 2008/2009 AOK-Hessen 7,9 % N = 56 250 Alter: 18+ Versichertenstichprobe 2004 GEMACS 11,1 % N = 35 869 Alter 18+ Patienten allgemeinmed. Praxen 2005 Versorgungsatlas 8,9 % Deutschland 2009 9,8 % Deutschland 11,8 % Ehem. Gebiet der DDR Gesamtdeutsche vertragsärztliche Abrechnungsdaten, die für administrative Zwecke erhoben werden 9,2 % Ehem. Gebiet der alten BRD 2015 6,55 % Kreis Starnberg 2015 14,2 % Kreis Prignitz 2015 gagement in zwei verschiedene Richtungen gezerrt, so kostet das Kraft und Energie. Im Ergebnis bewegt sich nichts seit St. Vincent. Nur das Seil kann reißen: die Finanzierung im Rahmen des Gesundheitssystems. Und: Noch weiß jeder 4. Mensch mit Diabetes mellitus Typ 2 nichts von seiner Krankheit, so Tina Abild Olesen, Corporate Vice President & General Manager, Novo Nordisk Deutschland. Bei den Neuzulassungen für moderne Antidiabetika schneidet die Nutzenbewertung von Arzneimitteln in der Diabetologie vs. andere Indikationen im AMNOG-Verfahren ausgesprochen schlecht ab: So liegt die Rate der Antitiabetika, die im AMNOG-Verfahren keinen Zusatznutzen zugesprochen bekamen, mit 87,7 % fast doppelt so hoch wie die aller seit 2011 bewerteten Medikamente. Zum Vergleich: in der Onkologie gab es Krebsmittel mit 21 % mit beträchtlichem Zusatznutzen (vs. 4 % Antidiabetika); Krebsmittel 47% nicht belegter Zusatznutzen (vs. knapp 88 % für Antidiabetika). Für Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, Berlin, liegt das Ergebnis auch in der Methodik des IQWiG, welches besser auf die Onkologie abgestimmt ist, als auf chronische Erkrankungen wie den Diabetes. Seiner Meinung nach müsste die Fragestellung 2015 2015 und Methodik bei chronischen Erkrankungen anders aussehen. Zeigt sich auch hier in AMNOG-Methodik und -Ergebnis die mangelhafte Wahrnehmung der „Baustelle Diabetes“? Dr. Peter Henning, Stuttgart Literatur 1. https://www.flughafen-berlin-kosten.de/ Letzter Zugriff: 24.03.2017 2. Köster I, Hauner H, von Ferber L. Heterogenität der Kosten bei Patienten mit Diabetes mellitus: Die KoDiM-Studie. Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 804–810. 3. Gerlach S. DAG fordert Herstellerabgabe und Schulverweis für überzuckerte Getränke. Adipositas 2016: 10: 222-223. 4. Joost H.-G., Gerlach S. Zuckerkonsum, Übergewicht und Typ-2-Diabetes. Die Beweise für eine kausale Beziehung sind erdrückend. Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2017. Die Bestandsaufnahme. Deutsche Diabetes Gesellschaft, diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe (Hrsg.), S. 54–59. Kirchheim Verlag. 1 „Diabetes 2030“ 16.-17. Februar 2017, Königlich Dänische Botschaft, Berlin, Veranstalter: NovoNordisk Med Welt 2/2017 © Schattauer 2017 Downloaded from www.die-medizinische-welt.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.