Landesgeschichte Temmen.indd

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Niedersachsen
VERÖFFENTLICHUNGEN
DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR NIEDERSACHSEN
UND BREMEN
Sonderband
2013
Edition Temmen
NIEDERSACHSEN –
Pferde, Stärken und Meer.
Das Land und seine Geschichte
Text: Ekkehard Böhm
Für die Historische Kommission
für Niedersachsen und Bremen
herausgegeben von
Bernd Kappelhoff - Thomas Schwark - Thomas Vogtherr
4
Inhalt
Zum Geleit 7
Danksagung 9
1
Orte und
Regionen 11
Die Gründung des Landes Niedersachsen
12
Hannover: Im Clinch mit Preußen
14
Braunschweig: Selbstbewusster Zweiter im Land
17
Oldenburg: vielgestaltig, selbstbewusst – und traditionsreich
20
Schaumburg-Lippe: Klein, aber fein
22
Wilhelmshaven: Von der Kriegsmarine zum JadeWeserPort
24
Stedingen und andere Marschregionen: Von „Bauernrepubliken“
und früher Selbstverwaltung
26
Das Emsland: Von Moorlandschaften und schwebenden Schiffen
28
Ostfriesland: Vom Bügeleisen geplättetes Land und die Friesische
Freiheit
30
Stade: Städtisches Kleinod mit schwedischer Vergangenheit
33
Celle: Schloss, Fachwerk und Frauen mit Format
35
Lüneburg und die Heide: Weißes Gold und Naturidylle
37
Die Künstlerkolonien Worpswede und Dangast
40
Kurkultur in Bad Pyrmont, auf Norderney und in Bad Harzburg:
Von Fürstenbädern zu Wellness-Oasen
42
Hildesheim: Weltkulturerbe und tausendjähriger Rosenstock
44
Der Harz: Kaiserpfalz, Bergbau und Tourismusmagnet
46
Das Eichsfeld: Katholizismus zu beiden Seiten der Zonengrenze
49
Einbeck: Fachwerk und Bier
51
Sedemünder: Wüstungen als Beispiel veränderter Siedlungsstrukturen
53
Das Wendland: Rundlinge und das Ringen um die
Atommüll-Endlagerung
55
2
on den Schöninger Speeren bis Napoleon – V
Geschichte bis 1815
57
Eckpfeiler einer spannenden Geschichte: Die Niedersachsen
sind die Sachsen 58
Das Niedersachsenlied: Von angeblich sturmfesten und
erdverwachsenen Niedersachsen
61
Vor- und Frühgeschichte in Niedersachsen: Speere als Sensation
63
Die Römer in Niedersachsen: Von der Standfestigkeit der Germanen 66
Arminius, ein deutscher Held? – Aus historischer Folklore wird
eine touristische Attraktion
69
Die Sachsenkriege und die sächsischen Kaiser: Von Franken,
Sachsen und Ottonen – eine EU des Mittelalters?
71
Karl, der Sachsenschlächter? – Oder: Wer kratzt an Widukinds
Mythos?
73
Theophanu, Adelheid, Roswitha – Drei starke Frauen in einer von
Männern dominierten Welt
75
Heinrich der Löwe und Otto IV. – Herausragende Figuren des
Welfengeschlechts
77
Heinrich, der Ostkolonisator? – Machtpolitik im Mittelalter
80
Das Evangeliar Heinrichs des Löwen: Lange das teuerste Buch
der Welt
82
Territorialisierung in Niedersachsen: Lehen, Stände, Partizipation
84
Die Münchhausens: Der Mythos des unnachahmlichen Fabulierens 87
Die Reformation in Niedersachsen: Bugenhagen und Elisabeth
von Calenberg
89
Die Weserrenaissance: Zeugnis des wirtschaftlichen Aufschwungs
einer Region
92
Die Heideklöster: Großartige Kleinode fernab der Städte
94
Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen: Die Karten werden
neu gemischt
98
Gottfried Wilhelm Leibniz: Ideen ohne Ende – das Universalgenie
schlechthin
101
Die neunte Kur: Rangerhöhung Hannovers durch einen teuren Hut 103
Die Königsmarck-Affäre: Das tragische Ende einer unglücklichen
Liebe
105
Die englische Thronfolge: Der Sprung der Welfen in die Weltpolitik 107
Hannover zur Zeit der Personalunion: Vor- und Nachteile im Geflecht
europäischer Machtinteressen
109
Charlotte Kestner, geb. Buff – Goethes Lotte: Literarisches Vorbild
unerfüllter Liebe
112
Herzöge mit Kultur: Kleinode in der Provinz
113
Die Universität Göttingen: Zeitweise Welthauptstadt der Physik
116
Carl Friedrich Gauß: Genialer Mathematiker und Physiker
119
Die napoleonische Zeit / Der Wiener Kongress: Norddeutschlands
neue Landkarte
121
Inhalt
3
on den Göttinger Sieben bis zur Revolution V
von 1918 - Geschichte im 19. Jahrhundert
Die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge: Eine Erfolgsgeschichte
125
Sozialer und wirtschaftlicher Wandel im 19. Jahrhundert:
gelungener Integration
184
Die Zonengrenze: Die gigantische Schikane
187
Unternehmer in Niedersachsen: Prägende Figuren
190
Bürgerliche Welt und Industrialisierung
126
Die Hannover-Messe und die CeBIT: Hannover als Gastgeber
Albrecht Daniel Thaer: Die personifizierte Agrarreform
129
der Welt
Wilhelm Raabe: Humor und Resignation
195
131
Wirtschaftlicher und sozialer Wandel seit den sechziger Jahren:
Die Göttinger Sieben: Ein Symbol für Zivilcourage des liberalen
Wirtschaftswunder made in Niedersachsen
197
Bürgertums
133
Walter Kempowski: Zeitgeschichte im literarischen Brennglas
199
Bernhard Sprengel und Henri Nannen: Moderne Kunst vom Feinsten201
Verfassungsfragen um die Revolution von 1848: Restauration
Die Expo 2000 in Hannover: Von der Weltausstellung zum
und Fortschritt
135
Rudolf von Bennigsen: Ein Nationalliberaler in der Ära Bismarck
138
Mittelpunkt der Welt
203
140
Die Scorpions: Die Hymne vom Wind des Wandels
205
August Kestner und Wilhelm Pelizaeus: Begnadete Sammler
Das Göttinger Nobelpreiswunder: Die Strahlkraft einer großen
1866: Der Untergang des Königreichs Hannover: Preußen gewinnt
die Oberhand
142
Universität
206
Ludwig Harms: Konsequente Missionsarbeit
145
Die neuen Universitäten: Die Wissenschaft geht in die Fläche
208
Schlösser bauen heute: Braunschweig und Hannover-Herrenhausen,
Hineinwachsen in Preußen-Deutschland: Modernisierungsschub
und sozialer Wandel
147
Neubauten im historischen Gewand Ludwig Windthorst: Ein kleiner Mann als großer Gegner Bismarcks 150
ForschungRegion Braunschweig: Ein neues Forschungszentrum
Wilhelm Busch: Mehr Menschenversteher als Spaßmacher
152
entsteht
Der Mittellandkanal: Eine ungewöhnliche Verkehrsader
154
Hermann Löns: Mehr als ein Heidedichter
156
Das Jahr 1918 und die Folgen: Meutereien – Räte – Parlamente
158
4
Von der Weimarer Republik bis zur EXPO - Geschichte im 20. Jahrhundert
5
161
olitik P
im Bundesland
Niedersachsen – Land der Regionen: Vielfalt als Programm
210
213
215
216
Das niedersächsische Parteienwesen: Ein Sonderweg und
Die Heimatbewegung: Das gelegentlich schwierige Verhältnis
sein Ende
218
zur Heimat
Hinrich Wilhelm Kopf: Landesvater mit Charakterkopf
220
162
Die Landesregierungen von Hinrich Wilhelm Kopf bis Stephan Weil 222
Bildende Kunst im Hannover der Zwanziger Jahre: Schwitters,
Dorner und andere 165
Von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus: Vom zarten
Pflänzchen der Demokratie in die Katastrophe
167
Erich Maria Remarque und Felix Nussbaum: Zwei Osnabrücker
Lebensläufe
Anhang 226
171
Der Zweite Weltkrieg und die zerstörten Städte: „Auferstanden
Bildnachweis 226
aus Ruinen“
Literaturliste
228
Impressum 230
173
Politische Verfolgung im NS-Staat: Esterwegen – Dokumente
der Unmenschlichkeit
176
Das Lied der Moorsoldaten: Eine antifaschistische Hymne geht
um die Welt
178
Nationalsozialistische Judenverfolgung: Bergen-Belsen – Für immer
ein Ort des Grauens 179
Volkswagen und die VolkswagenStiftung: Käfer, Golf und
Wissenschaftsförderung
181
5
Geleitwort
des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil
Dieses Buch hat es in sich. Denn: Es ist kein Geschichtsbuch im herkömmlichen Sinn,
und dennoch verbirgt sich zwischen diesen zwei Buchdeckeln ein gutes Stück deutscher
und europäischer, vor allem aber niedersächsischer Geschichte. Es beginnt mit der steinigen Gründung Niedersachsens nach dem Zweiten Weltkrieg, und es enthält Porträts niedersächsischer Persönlichkeiten, wie sie unterschiedlicher kaum sein können, von Leibniz
bis Wilhelm Busch, von Kempowski bis zu den Scorpions. Es blickt weit zurück zu den hier
aufgefundenen ältesten Jagdwaffen der Menschheit, und es behandelt fundamentale städtebauliche Veränderungen in den zurückliegenden Dekaden. Dazwischen: zwei Jahrtausende
niedersächsische Geschichte, die vor allem drei Dinge deutlich machen: Niedersachsen mit
seiner landschaftlichen und kulturellen Vielfalt war stets auch ein Land der Regionen. Niedersachsen war immer in Bewegung, landschaftlich wie gesellschaftlich. Und Niedersachsen war und ist eng verbunden mit unseren europäischen Nachbarn.
Da kommt gegen Ende des ersten Jahrtausends eine junge Prinzessin aus dem fernen
oströmischen Reich nach Sachsen und ermöglicht wegweisende byzantinische Einflüsse auf
die Kunst und Kultur der Ottonenzeit. Einige Jahrhunderte später exportiert Lüneburg sein
wertvollstes Gut, das unter der Stadt in einem Salzstock lagert, bis weit in den Ostseeraum
und befördert damit den gesamten hansischen Fernhandel. Vor dreihundert Jahren beginnt
die Personalunion mit England, eine Epoche, die den wissenschaftlichen Austausch beflügelt und an die nicht nur die jüngst rekonstruierte königliche Sommerresidenz in Herrenhausen erinnert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet ein Hildesheimer Geschäftsmann
das nach ihm benannte Pelizaeus-Museum mit einer Altägyptensammlung, die heute zu den
weltweit führenden ihrer Art zählt. Und zur Expo2000 war gleich die ganze Welt hier zu Gast.
Die Schlagwörter Regionalität und Europa sind keine bloße politische Rhetorik. Beide
durchziehen unsere niedersächsische Geschichte und kennzeichnen zugleich die Herausforderungen, vor denen das Land und seine Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten
stehen werden. Ich wünsche diesem Buch, das die wesentlichen Entwicklungslinien unserer
Landesgeschichte unterhaltsam und abwechslungsreich darstellt, viele Leser!
Hannover, im Oktober 2013
Stephan Weil,
Niedersächsischer Ministerpräsident
Danksagung
Die Geschichte Niedersachsens auf eine Weise darzustellen, dass sie nicht nur Spezialisten anspricht, ist ein Wagnis. Lange schon wurde in Öffentlichkeit und Politik eine
solche Darstellung vermisst. Die Historische Kommission, die sich dieser Herausforderung
stellte, hat einen Journalisten mit dieser Aufgabe betraut: Dr. Ekkehard Böhm, langjähriger
Mitarbeiter der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, hat sie mutig angepackt und in enger
Rückkoppelung mit einem Kreis von Beratern aus der Kommission überzeugend gelöst.
Für diese Beratung sei den Kommissionsmitgliedern Dr. Bernd Kappelhoff, Präsident
des Niedersächsischen Landesarchivs, und Prof. Dr. Thomas Schwark, Direktor des Historischen Museums am Hohen Ufer in Hannover, sowie Herrn Dr. Franz Rainer Enste, Hannover, sehr herzlich gedankt. Sie haben sich um den Inhalt und die Gestalt des Textes, um die
Auswahl und die Kommentierung der reichen Bebilderung und insgesamt um das Aussehen
des Bandes verdient gemacht. Die Agentur hgb in Hannover und der Verlag Edition Temmen
in Bremen haben unter erheblichem Zeitdruck Hervorragendes geleistet; auch ihnen sei
herzlich gedankt.
Möglich wurde die Veröffentlichung des Werkes durch eine umfassende Förderung
aus dem Programm PRO*Niedersachsen des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur.
Prof. Dr. Thomas Vogtherr
Vorsitzender der Historischen Kommission
für Niedersachsen und Bremen e.V.
O rt e und
1Regi onen
12
Orte und Regionen
Die Gründung des
Landes Niedersachsen
Das Land Niedersachsen in seiner heutigen Gestalt würde es ohne den Zweiten Weltkrieg, die britische Besatzungsmacht und den von ihr 1945 eingesetzten Oberpräsidenten
der preußischen Provinz Hannover, Hinrich Wilhelm Kopf,
nicht geben. Die Briten übernahmen eine Zone, in der die
großen Städte zerstört waren, wo die Wirtschaft am Boden
lag und die Infrastruktur zerschlagen war. Ein öffentliches
Leben gab es kaum noch, die Verwaltung funktionierte mehr
schlecht als recht. Um Chaos zu vermeiden, berief die britische Militärregierung, der die gesetzgebende und vollziehende Gewalt zukam, in Hannover, Braunschweig, Oldenburg und
Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961) war 1945/46 die treibende Kraft bei der
Zusammenlegung der vier Länder Hannover, Braunschweig, Oldenburg und
Schaumburg-Lippe zum neuen Land Niedersachsen mit seiner „Wunschhauptstadt“ Hannover.
im Mai 1946 auch in Schaumburg-Lippe Landesregierungen.
Diese führten lediglich Anweisungen durch; „indirekte Herrschaft“, das war ein den Briten seit langem vertrautes Prinzip.
Von unten her, von der kommunalen Ebene aus, wurde
aber auch bald mit dem Aufbau einer deutschen Selbstverwaltung begonnen. Das wurde
dann auch auf die alten Länder übertragen. Zuerst wurden die Ministerpräsidenten von der
Besatzungsmacht noch eingesetzt, so in Braunschweig der Sozialdemokrat Hubert Schlebusch und in Oldenburg der Liberale Theodor Tantzen. Doch die wichtigste Gestalt bei der
Herausbildung des Landes Niedersachsen wurde Hinrich Wilhelm Kopf, der auf den Zusammenschluss der vier Landesteile drang und dabei breite Unterstützung von der Wirtschaft
bis zu den Gewerkschaften fand. Als Provinzialpräsident stand er allerdings protokollarisch
unter den Ministerpräsidenten. Dem wurde am 23. August 1946 abgeholfen, als die Briten
Hannover zum Land erhoben. Staatsrechtlich war dies ein gewagter Akt, denn formell bestand Preußen noch bis 1947 fort, und große Teile seines Staatsgebiets lagen in der sowjetischen Besatzungszone. Andererseits: Nach achtzig Jahren wurde jetzt eine staatliche EigenFlagge des (nur kurzlebigen) Landes
Hannover aus dem Jahre 1946.
ständigkeit Hannovers neu begründet, und dies durch Briten – die 1837 zu Ende gegangene
Personalunion ließ grüßen.
Wenn Kopf für ein Land Niedersachsen plädierte, dann schwebte ihm natürlich Hannover
als Hauptstadt vor. Und damit löste er in Braunschweig und Oldenburg nicht gerade Begeisterung aus. Beide Länder wollten auf ihre Staatlichkeit nicht verzichten und entwickelten
gegen Kopf und Hannover gerichtete Konzepte, nachdem der in Hamburg tagende Zonenbeirat für die britische Zone aufgefordert worden war, Vorschläge für eine Neugliederung des
Orte und Regionen
Besatzungsgebiets vorzulegen. Der Braunschweiger Ministerpräsident Alfred Kubel, später von 1970 bis 1976 Niedersächsischer Ministerpräsident, wollte damals für Braunschweig
Teile Südhannovers und des Regierungsbezirks Lüneburg.
Tantzen blickte für Oldenburg auf die Bezirke Aurich und Osnabrück. Im Gegenzug plädierte das Südoldenburger Münsterland, d.h. die Kreise Vechta und Cloppenburg, aus konfessionellen Gründen für den Anschluss an Westfalen.
Kopf seinerseits hatte auch Ausdehnungswünsche und
wollte „sein“ Land auf Kosten Westfalens erweitern; die Regionen um Minden und Bielefeld, so meinte er, gehörten auch
zu Niedersachsen. Dieser Traum erfüllte sich zwar nicht, wohl
aber der vom neuen Land Niedersachsen. Am 23. November
1946 verkündeten die Briten rückwirkend zum 1. November
die Bildung des Landes mit der Hauptstadt Hannover. Auch
Schaumburg-Lippe wurde ein Teil Niedersachsens. LippeDetmold hätte ebenfalls beitreten können, entschied sich
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die britische Besatzungsmacht die alten
Länder Braunschweig, Oldenburg und wenig später auch Schaumburg-Lippe zunächst wieder her und setzte Ministerpräsidenten ein. Der aus dem
liberalen Lager stammende Oldenburger Ministerpräsident Theodor Tantzen
(1877–1947), hier (links) im Gespräch mit Ministerpräsident Reinold Maier
von Württemberg-Baden auf der Interzonenkonferenz in Bremen am 4./5.
Oktober 1946, hatte dieses Amt bereits vor 1933 ausgeübt.
aber für Nordrhein-Westfalen.
Die bisherigen Landesparlamente erloschen, am 9. November 1946 konstituierte sich ein ernannter Niedersächsischer Landtag, der am 20. April 1947 durch einen gewählten
ersetzt wurde. Kopf wurde Ministerpräsident eines Allparteienkabinetts, in dem auch die Braunschweiger und Oldenburger Verlierer im Kampf um Niedersachsen mitarbeiteten. Bis
zu seinem Tod im Dezember 1961 sollte Kopf eine führende
politische Gestalt des neuen Landes bleiben, obwohl er nicht
die ganze Zeit als Ministerpräsident amtierte. 1946 waren die
Zeiten zwar finster, aber was die Zukunft des Landes anging,
gab sich Kopf in seiner Regierungserklärung vom 9. Dezember dieses Jahres optimistisch: „Das Land ist kein künstliches
Gebilde, sondern durch die Stammesart seiner Bewohner,
Erster Schritt zur Gründung von Niedersachsen war die Schaffung eines
Landes Hannover durch die von der Besatzungsmacht angeordnete Verselbständigung der bisherigen preußischen Provinz Hannover. In dem zu diesem
Anlass stattfindenden Festakt am 23. August 1946 im Neuen Rathaus von
Hannover wurde Hinrich Wilhelm Kopf zum Ministerpräsidenten ernannt.
durch seine gleichartige Struktur, Tradition und wirtschaftliche Geschlossenheit ein organisch gewachsenes zusammenhängendes Ganzes. ... Das Zusammenwachsen aller Teile unseres Landes wird reibungslos und schnell vonstatten gehen.“
Diese Äußerungen aber waren vorerst nur ein politisches Programm und von der Wirklichkeit oft recht weit entfernt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es sich bei der
vermeintlich einheitlichen niedersächsischen Stammesart um ein ideologisches Konstrukt
des 19. Jahrhunderts handelte.
13
14
Orte und Regionen
Hannover:
Im Clinch mit PreuSSen
Im neuen Land Niedersachsen stellte die ehemalige preußische Provinz Hannover den
Löwenanteil dar. Sie reichte von der Nordseeküste bis vor die Mittelgebirge im Süden, von
der niederländischen Grenze im Westen – mit dem großen Einsprengsel Oldenburg – bis zur
mittleren Elbe im Osten. Schon hier, nur in einem Teil Niedersachsens, waren recht unterschiedliche Elemente zusammengekommen, was sich im wesentlichen durch die geschichtliche Entwicklung und die Erweiterung des früheren Königreichs Hannover auf dem Wiener
Kongress 1815 erklärte.
Seit dem 12. Jahrhundert war das Fürstengeschlecht der Welfen im niedersächsischen
Raum die tonangebende Größe geworden. Einen ersten Höhepunkt seiner Macht erreichte
es in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Braunschweig mit Heinrich dem Löwen,
doch Dauer war dieser nicht beschieden. Die Anfänge des Territoriums Hannover waren
demgegenüber bescheiden. Es begann auf der Burg Calenberg zwischen Leine und Deister
mit einer von mehreren welfischen Linien. Von hier aus verlegte Herzog Georg 1636 seinen
Herrschaftssitz nach Hannover. Sein späterer Nachfolger Ernst August, der von 1679 bis
1698 regierte, setzte den welfischen Erbteilungen ein Ende und legte den Grundstein für den
Anfall des Fürstentums Celle an Hannover 1705. 1692 erreichte er für sich und seine Nachfolger die Kurfürstenwürde; seitdem durften
die Hannoveraner an der Wahl der Kaiser des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation teilnehmen. Unter Ernst Augusts Sohn Georg Ludwig, der 1714 zusätzlich die englische
Thronfolge antrat und damit die englischhannoversche Personalunion begründete, kamen die bis dahin zu Schweden gehörenden
Herzogtümer Bremen und Verden und wenige
Jahre später auch das Land Hadeln hinzu, d.h.
der gesamte Elbe-Weser-Raum.
Die hannoverschen Welfen hatten damit
eine Position errungen, die sie unter den
meisten anderen deutschen Fürsten heraushob. Ihrem alten Kernland aber sollte dieEiner Landeshauptstadt würdig: Hannovers Neues Rathaus wurde auf 6.026 Buchenpfählen
errichtet und 1913 fertig gestellt.
ses gar nicht gut bekommen. Unter den fünf
englischen Königen von Georg I. bis Wilhelm
Orte und Regionen
„Le jardin c´est ma vie“ – gemeint sind die Herrenhäuser Gärten. Das Zitat stammt von Kurfürstin Sophie
(1630–1714), die die beeindruckende barocke Gartenanlage in Hannover vollenden ließ.
Am Hohen Ufer in Hannover trifft moderne Straßenkunst auf Reste der alten Stadtmauer: Die
bunten Nanas von Niki de Saint Phalle vor dem 1357 erstmals erwähnten Beginenturm.
IV. (bis 1837), die gleichzeitig hannoversche Landesherren waren, wurde Hannover zum
mehr verwalteten denn regierten Staat. Den Glanz deutscher Residenzstädte konnte Hannover nicht erreichen, und wer England kriegerisch schaden wollte, trat ihm in Hannover
auf den Fuß. Als 1837 die Personalunion endete und Hannover einen vor Ort residierenden
König bekam, war es zu spät, um den latenten Machtkampf mit Preußen um den Vorrang in
Norddeutschland noch bestehen zu können. Das Ende des Königreichs im Krieg von 1866
kam nicht von ungefähr, und der mit der Industrialisierung verbundene wirtschaftliche Aufschwung setzte folglich erst unter preußischer Herrschaft ein.
Gleichwohl, ein reines Agrarland ist Hannover schon vorher nicht gewesen. Der Bergbau
im Harz und im Deister war zwar weitgehend zum Erliegen gekommen, dafür florierte aber
die Holzwirtschaft. In die Zukunft blickte das Land mit der Gründung der Höheren Gewerbeschule in der Stadt Hannover 1831, aus der sich schließlich auf dem Weg über die Technische Hochschule die heutige Universität entwickelte. Hier wie auch bei der einsetzenden
Industrialisierung war immer die Hand des Staates zu spüren. Es wurden auch die Straßen
ausgebaut, und obwohl König Ernst August kein Freund der Eisenbahn war, legte er der Einbindung Hannovers in ein allmählich entstehendes norddeutsches Bahnnetz keine Steine in
den Weg. Mit der Bahn kam dann an ihren Knotenpunkten die Großindustrie. Die Verwandlung des Dorfes Linden vor den Toren Hannovers bietet dafür ein Beispiel. Aufbauend auf der
Vorarbeit von Johann Egestorff schuf sein Sohn Georg dort eine Fabrik für Maschinen- und
Lokomotivenbau. Daraus entwickelte sich die Hanomag.
Georg Egestorff (1802–1868) stieg
in das Unternehmen seines Vaters
ein und legte ein Jahr nach dessen
Tod mit der „Eisen-Giesserey und
Maschinenfabrik Georg Egestorff“ den
Grundstein für die spätere Hanomag.
Daguerreotypie von Karl F. Wunder,
um 1855.
15
16
Orte und Regionen
Einer der Industriepioniere, Johann Egestorff (1772–1834), übernahm 1803 die Kalkbrennerei in Linden vor den Toren Hannovers. Das Unternehmen
expandierte schnell. Rauchende Schornsteine galten damals noch nicht als Problem des Umweltschutzes, sondern als Zeichen wirtschaftlichen Erfolgs, auf
den auch die auf diesem Bild dargestellten Sonntagsausflügler ersichtlich stolz waren. Holzstich nachkoloriert, um 1870 von H. Lüders.
Mit der nach 1866 schnell fortschreitenden Industrialisierung stieg die Einwohnerzahl
Hannovers steil an: von 50.000 im Jahre 1850 auf 236.000 fünfzig Jahre später. Die Stadt
wurde zum industriellen Zentrum der Provinz, mit der Hanomag und den 1871 gegründeten
später so genannten Continental-Gummi-Werken. Viele weitere Zweige traten hinzu: Druckfarbenindustrie, Schokoladenfabrikation, Bauindustrie, Nahrungsmittelproduktion, Elektrotechnik. Hannover wurde auch zu einem vielseitigen Handelszentrum. Der Mittellandkanal
und später die Autobahn förderten den Aufschwung noch. Hannovers Stärke lag dabei in der
breiten Streuung des wirtschaftlichen Angebots.
Von all dem lag im Jahre 1946 noch viel in Trümmern. Aber die Infrastruktur war noch da
und wartete nur auf Kapital, um in modernisierter Form neu zu erstehen.
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