__________________________________________________ Jochen Rau Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karls,ruhe - Plädoyer für eine hierarchische Ordnung Abstract Schon längst ist europäischer Grundrechtsschutz kein Solo der nationalen Gerichte mehr und doch ist im Trio von EuGH, EGMR und BVerfG noch immer unklar, wer den Ton angibt. Im Verhältnis zur Straßburger Konventionsgerichtsbarkeit zeigt sich, dass das BVcrfG bisher noch nicht bereit ist, das Zepter aus der Hand zu geben. Und so stehen in wichtigen Fragen die divergierenden Antworten aus Karlsruhe und Straßburg noch unkocrdiniert nebeneinander: Welche Bedeutung kommt der EMRK im deutschen Recht zu? Wie verbindlich sind EGMR-Uncile in Deutschland und für wen? Kurz: Wer hat das letzte Wort- GG oder EMRK, Karlsruhe oder Straßburg? Der Beitrag beleuchtet die deutsche Antwort auf diese Fragen anhand des Görgülü- U rtcils des BVcrfG, identifiziert im Wesentlichen zwei Folgeprobleme- konfligiercnde Bindungswirkungen der Urteile von BVcrfG und EGMR und die Gefahr eines zirkulären Rechtswegs ohne Letzentscheidungsbefugnis- und plädiert für eine Hierarchisicrung des Verhältnisses zwischen Konventions- und Vcrfassungsgcrichtsbarkcit. '" Der Alltor studiert Rechtswissenschaft und Philosophie an der Universität Tübingcn und ist studentische Hilfskraft am Lehrstuhl von Prof. J)r.]oachim Vogel. Der Beitrag ist eine deutlich gekürzte Version einer Seminararbeit, die im Rahmen eines Seminars zur EMRK bei Prof. Dr. Marth1 Nr:llcsbcim und Prof. Dr. Herbcrt Petzold erstellt wurde. 443 444 StudZR I. 3/2008 Einleitung "Man kann nicht einfach sagen: der eine oder der andere hat dns letzte Wort." 1 Diese Worte des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, !-!ans-}iirgen PafJicr, sind bezeichnend für die Unsicherheiten,. die das Verhältnis vo11 EGM R und BVerfG noch immer prägen. Mehr als 50 Jahre nach Ratifikation der EM RK und beinahe zehn Jahrenachdem der ständige EGMR 2 seine Arbeit aufgenommen hat, birgt vor allem der innerstaatliche Umgang mit Judikaten aus Straßhurg noch immer KonfliktpotentiaP Mit den unter großer medialer Aufmerksamkeit gegen Deutschland ergangenen Entscheidungen des EGMR in den Fällen von Hannover und (;ijrgülü ist die Debatte über die Wirkungsweise der EMRK und der Urteile des EGMR in der deutschen Rechtsordnung erneut in Bewegung geraten. Die deutsche Replik und den zugleich bislang wohl bedeutendsten Versuch das Spannungsverhältnis zwischen Konventionsgericht und nationaler Rechtsprechung einer Li)sung zuzuführen, unternahm 1 der Zweite Senat des BVerfG mit seiner Entscheidung im Fall Gih-gülii: In den Medien vielfach als Befreiungsschlag gegen die vermeintliche Bedrohung aus Straßburg rezipiert, 5 wurde dem Urteil von der Fachwelt zumeist ein überkommenes Souveränitätsverständnis zum Vorwurf gemacht/' der die Rezensionen eher kritisch ausfallen ließ. 7 Dennoch bleibt das Görgülü-Uncil der deutsche leading case zu den Effekten von Konvention und EGMR Urteilen im deutschen Recht und die Aussagen der Karlsruher Juroren bis heute die umfass·cndstc höchstrichterliche Darstellung des status quo. 2 Papier,. in: Die Zeit Nr. 25/2005, S. 9. Erst im 11. Zusatzprotokoll vom 11.5.1994 mit Wirkung vom J.ll.l 'JIJX wunle dicser <1ls diges Gericht etabliert. Vgl. BGBI. II, 1998, 57H. 3 Darüber hinaus ist auch das Verhältnis .-:um EuGH nicht unproblematisch; vgl. F.GMR, N§W 2006,. 197 (Bosphorus-Urteil) mit Bespr. Heer-Reißmarm, oder Luxemburg?- Der EGMR zum Grundrechtsschutz bei Verordnungen der EG in der Rechtssache Bosphorus, NJW 2006,. 192. Die Literatur bemüht daher das Bild des "Bermudadrciccks'' zwischen Karlsruhe, Straßburg und Luxemburg, vgl. Lenx, Anmerkung zur Gibraltar Entscheidung d·es EGMR, EuZW 1999, 311. 4 BVerfGE 111, 307 = BVerfG, DVBI.2004, 1480 = EuGRZ 2004, 741 = brnRZ 2004, 1857 = NJW 2004, 3407 - Görgülü. 5 In diese Richtung FAZ vom 20.10.2004, S. 1: "Karlsruhr: Viilkcrwrhtsfreundlichkcit hat Grenzen" und Neue Zürcher Zeitung vom 20.10.2004, S. 1: "Karlsruhcr Urteil gegen Straßburg". 6 Sou. a. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGM R-Urtcilcn, EuCHZ 2004, 6H3 (6H3); Wildhaber, Bemerkungen zum Vortrag von BVcrfG-Präsidcnt Prof. J)r. H.-J. Papier auf dem Europäischen Juristentag 2005 in Genf, EuGRZ 2005, 743 (744); iihnlich lkrgmamz, Das Bundesverfassungsgericht in Europa, EuGRZ 2004, 620 (620). 7 Bergmann (Fn. 6), S. 620; Buschle, Ein ncucs "Solange"?- Die Rcchtsprcchllng aus Karlsruhe und Straßburg im Konflikt, VBIBW 2005, 293; Cremer (Fn. (>), S. 6R3; Klein, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004,JZ 2004,. 1176; Pernice, BVcrfG, EGMR und die Rechtsgemeinschaft, EuZW 2004, 705; Purps, Bundesverfassungsgericht auf Abwq,;cn, ZnV 2004, 278. Raub er Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhc Der vorliegende Beitrag greift die Problematik der Wirkung von EMRK und EGMR-Urteilen im deutschen Recht auf und nimmt dabei den Fall Görgülü in seiner Behandlung durch das BVerfG zum Ausgangspunkt. Nach einem kurzen Überblick über die vorangegangene höchstrichterliche Rechtsprechung (II.), sollen insbesondere die vom BVerfG getroffenen Aussagen zur Stellung der EMRK im nationalen Recht (III. 1.), zur innerstaatlichen Wirkung von EGMR-Urteilen (III. 2.) und die Ausführungen zur Rügemöglichkeit der Nichtbeachtung von Straßburgcr Urteilen durch deutsche Gerichte (Ill. 3.) dargestellt und kritisch analysiert werden, um abschließend Probleme und Lösungsvorschläge (IV.) festzuhalten. 11. Vorangegangene Rechtsprechung- der status quo ante Die Reibungs- und Berührungspunkte zwischen nationalem Grundrechtsschutz und den Konventionsgarantien wurden in verschiedenen Judikaten der höchsten Verfassungs- und Verwaltungsrechtsprechung schon früh erkannt. Das BVerfG betrat mit dem Görgülü-Beschluss so keinesfalls "terra incognita et inexplorata".H In einem Fall, der die Verfassungskonformität der Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität zum Gegenstand hatte, führte das BVerfG bereits 1957 aus: "Die Frage, ob §§ 175 f. StGB mit den Vorschriften dieser Konvention (Anm. d. Verf.: der EMRK) vereinbar sind, muß [ ... ] von Amts wegen geprüft werden [ ... ]. " 9 Das BVerfG erhebt demnach die Vorschriften der EMRK zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab. Dieses Ergebnis lässt staunen, denn in§ 90 BVerfGG, der in Abs. 1 die mit einer Verfassungsbeschwerde als verletzt rügbaren Rechte normiert, ist die EMRK gerade nicht aufgeführt. Ganz in diesem Sinne erfolgte die Kurs- Korrektur: Im zehnten Band der amtlichen Sammlung stellte der Zweite Senat mit Verweis auf § 90 BVerfGG in klaren Worten fest: "Auf die Menschenrechtskonvention kann eine Verfassungsbeschwerde nicht gestützt werden." 10 Diese Linie setzte das Gcricht 11 in 12 der Folge unter Zustimmung des Schrifttums fort. Da die Konventionsgerichtsbarkeit im Rahmen der Individualbeschwerde gern. Art. 34 EMRK erst in den IetztenJahren stark an Bedeutung zu gewinnen begann, 13 stand und steht auch der Umgang mit EGMR-Urtcilen noch auf wackeligen Beinen. Bereits 1985 im Pakelli- Verfahren jedoch mussten sich ein Vorprüfungsausschuss des Zweiten Senats und zwei Jahre später der Senat selbst mit der Frage auseinandersetzen, wie Straßburgcr Urteile in Deutschland wirken. Der Vorprüfungsausschuss stellte in seinem Beschluss fest, die Ansicht des OLG Stuttgart, "dass der Entscheidung des Gerichtshofs (Anm. d. Vcrf.: des EGMR) eine 8 9 1o 11 12 13 Cremer (Fn. 6), S. 685. BVcrfGE 6, 389 (440); ähnl. BVerfGE 4, 110 (111 f., 113). BVcrfGE 10, 271 (274 ). BVcrfGE 34,384 {395); 41, 126 (149); 64, 135 (157). Schlaich!Korioth, Das BVcrfG, 6.Aufl (2004) Rn.218. Meyer-Ladcwig, EMRK Handkomrncntar, 2. Auflage (2006), Art. 34 Rn.l. 445 446 StudZR 3/2008 die innerstaatliche Rechtslage unmittelbar gestalltende Rechtskraft nicht zukommt", sei aus verfassungsgerichtlicher Sicht nicht zu beanstanden.'" Weiter verpflichte auch das GG nicht dazu EGMR-Urtcilcn eine die Rechtskraft inncnlcutschcr Urteile beseitigende Wirkung bcizumesscn. 15 Schließlich, so der Dreierausschuss seien "alle deutschen Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland gehalten, [ ... ]die materielle Rechtskraft der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten'' 16; dies gelte jedenfalls "in den jeweiligen personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes" . 17 Der Senat selbst knüpfte mit seinem Beschluss ;m diese Feststellungen an und griff zur Definition der Unschuldsvermutung auf den Schutzhereich des Konventionsrechts, namendich Art. 611 EMRK,. zurück. 1k Der EMRK komme im deutschen Normengefüge zwar nur der Rang eines einfachen zu,. doch seien "[b]ei der Auslegung des Gn.mdgcsctzes [ ... ] auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen" . 1') Zusätzlich fungiere auch die Rechtsprechung des EGMR als "fi.ir die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rcchtssta:1tlichen Grundsätzen des Grundgesetzes" .20 Selbst (lie Auslegung vnn (ci.nfachcn) Gesetzen müsse stets mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik im Einklang stehen; dass jene später als der entsprechende vi>lkcrrechtlichc Vertrag erlassen worden seien, könne daran nichts ändern, denn es sei nicht. anzunehmen, dass der Gesetzgeber den völkerrechtlichen Verpflidltungcn der Hundesrepublik zuwider handeln wolle.Z 1 Mit einer Entscheidung zum Asyl- und Ausländerrecht verweigerte sich das BVerwG der vom BVerfG im Pakelli-Beschluss entwickelten Bcachtcnspflicht. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebung sah es .sich an die Garantien von Art. 3 EMRK in der Auslegung des EGMR nicht gebunden, denn es sei nicht die Aufgabe des EGMR "die Aufnahmefähigkeit und der Vertragsstaaten durch eine rechtsschöpferische Auslegung der Konventionsbestimmungen weiter auszudehnen und dadurch die[ ... ] Souveränität des nationalen Gesetzgebers und des Verfassungsgesetzgebers außer acht zu lassen" .22 Zwar sei die EMR K, damit sie effektiv bleibe,. als "living instrumcnt" auszulegen, daraus sich jedoch keine Ermächtigung zur "dynamischen und rechtsschiipfcrischcn Fortentwicklung des Vertragsinhahs" .23 Ein Vorbehalt, der in mancher Hinsicht an das Maastricht Urteil des BVerfG erinnert. 14 15 16 BVerfG, EuGRZ 1985,. 654 (654). 18 19 20 21 22 23 BVerfGE 74,358 (370)- Pakeili-lh:schluss. Ebd.; vgl. auch BVcrfGE 83, 119 (128). BVcrfGE 74, 358 (370)- Pake!li-ßm-hluss. Ebd. BVcrwGE 104, 265 (272); bestätigt in BVcrwGE I 05, I 87. Ebd. Ebd., S. 656. 17 Ebd. BVcrwGE 104,265 (273). Raub er Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhc Als sich das BVerwG zwei Jahre später erneut mit der Problematik auseinandersetzen musste, lehme es seine Formulierungen an diejenigen des Paketli-Beschlusses an und urteilte in entschieden völkerrechtsfreundlicherem Ton: "[D]ie Normenkontrollgerichte [haben], schon um die künftige Feststellung einer Konventionsverletzung zu vermeiden, die Rechtsprechung des Gerichtshofs [ ... ] vorrangig zu beachten". Die Pflicht zur vorrangigen Beachtung sei "keine förmliche (strikte) Rechtsbindung", doch treffe das abweichend judizierende Gericht die Pflicht, die Abweichung argu24 mentativ überzeugend zu begründen. Die bisherige Rechtsprechung von BVerfG und BVerwG präsentiert sich demnach noch immeruneinheitlich und lückenhaft. Versucht man ein thesenartiges Resümee, ergibt sich: Die EMRK ist kein unmittelbarer Prüfungsmaßstab vor dem BVerfG. Die Garantien der EMRK sind bei der Auslegung des GG vorrangig heranzuziehen. Deutsche Gerichte müssen die materielle Rechtskraft der Entscheidungen des EGMR beachten. Der Görgülü-Beschluss greift viele Elemente der obigen Entscheidungen auf, bezieht sich auf ihre Aussagen, entwickelt manche fort und bleibt hinter manchen zurück. 111. Der Beschluss des BVerfG im Fall Görgülükritische Analyse des status quo Ausgehend von einem Sorgerechtstreit, in dem das OLG Naumburg jegliche Bindung deutscher Instanzgerichte an Urteile des EGMR bestritt und dem klageführenden Vater Görgülü- entgegen der Entscheidung aus Straßburg- selbst den Umgang 25 mit seinem Sohn Christof.cr verwcigertc, ergriff das BVerfG im Oktober 2004 die Gelegenheit, die Kollisionsfragen zwischen deutschem und Konventions-Recht umfassend zu erörtern. 26 Obwohl für die Streitsache an sich allein die Wirkung von EGMR-Urtcilen ausschlaggebend war, widmet sich das BVerfG- offensichtlich um grundsätzliche Klarstellung bemüht- in großen Teilen des Urteils Stellung und Wirkung der EMRK im deutschen Recht. Nicht immer jedoch können diese Ausführungen überzeugen. t. Die EMRK im deutschen Recht a) FormeHer Rang der EMRK im deutschen Recht Als völkerrechtlicher Vertrag k.ommt der EMRK und den dazu ergangenen Zusatzprotokollen in der deutschen Normenhierarchie der Rang eines einfachen Bundesge- 24 25 26 BVcrwGE 110,203 (212). OLG Naumburg, EuGRZ 2004, 749. BVerfGE 111,307 = BVerfC,. DVBI. 2004, 1480 =EuGRZ 2004, 741 NJW 2004, 3407- Görgülü. =FamRZ 2004, 1857 = 447 448 StudZR 312.008 setzes zuY Dies ist freilich nicht Versuche jedoch, der EMRK einen förmlichen Rang oberhalb des Gesetzesrechts oder gar auf Verfassungsebene beizumessen,29 vermochten sich de lege lata nicht durchzusetzen. Das BVcrfG schließt sich dem im Görgülü-Beschluss an: "Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle [ ... ] im Range eines Bundesgesetzcs." 30 Konsequenz dieser Positionierung im Kanon der innerdeutsch relevanten Rechtsquellen ist, so der Beschluss, dass die Konvention "kcin!en] unmittclbarc[n] verfassungsrechtliche[n] Prüfungsmaßstab" 31 darstellt. Eine Vcrfassungsbcschwerde, die die Verletzung einer EMRK-Garantie rügte, würde demnach als unzulässig abgewiesen.32 Nichtsdestoweniger haben "deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden" .33 Das BVerfG schafft hiermit zunächst ein Verhältnis der Gleichordnung zwischen den EMRK-Normen und einfach-gesetzlichem Bundcsrecht. Der Verweis auf die "methodisch vertretbare Auslegung", 34 der insofern die EMRK gleichermaßen der üblichen Methodendogmatik unterwirft, mutet verwunderlich an. Denn der Kollisionsfall zeigt, welche Schwierigkeit aus dieser resultiert: Auch der lex specialis- sowie der lex posterior-Grundsatz blci.ben in Kraft; gegenüber der EMRK setzt sich ein später erlassenes oder ein spezielleres Bundesgesetz durch. Die BVerfGE 74, 358 (370)- Pakelli-Beschluss; Bcnda, Die Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR, AnwBI 2005, 602;. Dörr, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen und europäischen Vcrfassungsgcrichtcn, DVBI.2006, I OSR ( 1091 ); !:"verfing, EU, EMRK und Verfassungsstaat, EuR 2005,. 411 (416); Hilf, Der Rang der EM R K, in: Mahrenholz u. a. (Hrsg.), Entwicklung der Menschenrechte innerhalb des Europarates, 19H7, S. 19, 39; Hoffmeister, Die :EMRK als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat 40 (2001), S. 349 (361); Frowein, in: lscnsec/Kirchhof (Hrsg.), HbdSIR VII, § 180 Rn. 6; Langenfeld, Pressefreiheit vcrsus Schutz der Privatsphiire, in: FS Götz, 2005, S. 259 (277); Papier, Umsetzung und Wirkung der Entschci.dungcn des EGMR aus der Perspektive der nationalen deutschen Gerichte, EuGRZ 2006, I; Pache, Die EMRK und die deutsche Rechtsordnung, EuR 2004, 393 (398);. Quaritsch, in: lscnscc/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR V, § 120 Rn. 14, 20; Rm, Die EMRK und die Vertragsstaatcn, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz-Schranken und Wirkungen, 19H2, S. 227 (273 f.). 28 Vgl. nur Grabenwarter, EMRK, 2. Auflage (2005) S. 18 f. 29 In diese Richtung Kleeberger, Die Stellung der Rechte der EM RK in der Hechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1992, passim; ßleckmann, Verfassungsrang der EMRK?, EuGRZ 1994, ]49 ff. 30 BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408)- Görgülü; ähnl. kurz darauf: "nicht lllit dem Rang des Verfassungsrechts ausgestattet". 3 t Ebd., S. 3408 in Fortsetzung stäncligcr Rechtsprechung, vgl. nur BVcrfG E 64, 135 ( 157); 74, 102 (128); 111,307 (317); BVerfG, NVwZ 2001,67 (69); 2004,852 (853). 32 So bereits BVcrfGE 74, 102 (128). 33 BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408)- Görgülü. 34 Ebd. 35 Weber, Grundrechtsschutz in Europa-Kooperation oder Koopcra.t.ionsvcrwcigcrung?, in: FS SchäHer, 2006, S. 911 (915). 27 Rauher Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhc teilweise schon etwas staubigen Konventionsgarantien drohen daher mit fortschreitender Zeit und beständiger gcsctzgcberischcr Aktivität mehr und mehr von späteren Gesetzen überlagert und so außer Kraft gesetzt zu werden. 3 r' Um diesem Problem zu begegnen, hatte das BVcrfG bereits 1987 im Pakelli-Beschluss den gängigen Methodenkanon um eine Regel der völkerrechtsfreundlichen Auslegung erweitert. Diese müsse "selbst wenn sie (Anm. d. Vcrf.: die auszulegenden Gesetze) zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag" Anwendung finden. 37 Dies stellte im Verhältnis von einfachen Gesetzen zu völkerrechtlichen Rechtssätzen den lex-postcrior-Grundsatz. hintan. Im Görgiilü-Beschluss vermisst man zunächst ähnliche Ausführungen. Hier steht das Verhältnis zum Verfassungsrecht im Vordergrund, sodass der Senat die Uberwindung der Iex posterior-Regel nur an einer einzigen Stelle andeutet. Wenn der Senat eine Kollision mit "höherrangige[m] Recht, insbesondere Verfassungsrecht" (Hervorhebung v. Verf.) erwägt, muss man sich allerdings Fragen, ob nicht gerade dies geeignet ist,. die Diskussion um die lex posterior wiederzubclebcn. 3" Denn welches Recht soll neben dem Verfassungsrecht denn noch gegenüber der EMRK Superiorität beanspruchen können - gesetzt den Fall die Iex posterior Regel wird als verdrängt angesehen? 39 Erst einige Absätze später bemüht der Senat s.ich um Klärung, bezieht das einfache Recht mit ein und lehnt sich erkenntlich an den Pakelli-Beschluss an: "Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines In-Kraft- Tretens (Hervorhebung v. Verf.) nach Möglichkeit im EinEinen Rückschritt hinter die Paketliklang mit dem Völkerrecht Rechtsprechung dürfte der Görgülii-Beschluss in diesem Punkt daher nicht darstellen. Etwas mehr Deutlichkeit durch die Positionierung dieses Hinweises im Zusammenhang mit den generellen Ausführungen zur Stellung der EMRK im deutschen Recht wäre aber wünschenswert gewesen. b) Materielle Effek[C der EMRK im deutschen Recht: Ausstrahlungswirkung Die Rezeption der ebenfalls bereits im Pal<elli- Verfahren gefundenen Überzeugung, dass die Konventionsgarantien die "Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatliehen Grundsätze des Grundgesetzes" beeinflussen, hält der Senat hingegen nicht im Verborgcncn. 41 Eben diesen Einfluss zu beachten und das GG "nach Möglichkeit so auszulegen [ ... ], dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bun42 desrepublik Deutschland nicht cntsteht" sei eine ,.,verfassungsmäßige Pflicht", die 43 sich aus Art. 1 ll GG in Verbindung mit Art. 59 II GG ergebe. Soweit dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes führe, seien daher 36 37 38 39 Cremer (Fn. 6), S. 686. BVcrfGE 74, 358 (370)- Pakcffi-Beschfuss. Kuhne, Europäische Methodenvielfalt und nationale Umsetzung von Entscheidungen europäischer Gerichte, GA 2005, 19.5 (209 Pn. ). . Esser, Die Umsetzung der Urtc1lc des 1m nationalen Recht, StV 2005, 348 (351). BVerfG, NJW 2004, 3407 (3410)- Görgülü. 41 Ebd., S. 3408. 42 Ebd. 43 Ebd., 5. 3411. 40 449 450 StudZR Auslegungshilfen für di.e "[d]er Konventionstext und die Rcdttsprcchung [... J Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rcchtsstaatlicheo Grundsätzen" heranzuziehcn. 44 Oie EMRK hat so trotzder filnnlichen Einordnung Teil.'115 auf Ebene des einfachen Bundesgesetzesrechts mittelbar am 46 Sie entfaltet eine Ausstrahlungswirkung, dient al:; "Quelle der lnspiration". Evident bleibt dieses verfassungsgerichtliche Postulat freilich nicht, denn im Ergebdie norrncnhicrarchis,ch nis führt die Ansicht des BVcrfG zu einer gesehen eine dem nicdcrrangigen Recht konforme Auslegung gcbietcl:. Mag dies vom Ergebnis her betrachtet auch politisch begrüßenswert sein, können dogmatische Zweifel nicht ausbleiben:n Dem kclsianischen Prinzip des Stufenbaus der Rechts4 ordnung, das auch vom deutschen Recht als inneres System anerkannt wird, R droht die Aushöhlung, nimmt man einerseits das Gebot einer verfasstmgslwnfonncn Auslegung, also der Kongruenz mit der höhcrrangigcn Norm, und andererseits einwenn auch nur für gewisse Teilbereiche Gülti,gkcit beanspruchendes- dem gegenläufiges Prinzip an. Legt man zudem die Entscheidung des BVedG für die strikte ZweiRechtskreisc-Theoric zu Grundc,'19 müsste die Konsequenz eigentlich eine verfassungskonforme Auslegung des Zustimmungsgesetzes und nicht eine völkerrechtskonforme des GG sein, denn Völkerrecht im eigentlichen Sinne könnte keinerlei Auswirkung auf die deutsche Rechtsordnung haben. Auch nicht im Wege der Auslegung, denn das Völkerrecht verhält sich danach "grundsätzlich indifferent zur staatlichen Rechtsordnung". 50 Das Gebot einer völkcrrcclnskonforrnen Auslegung liefe damit leer, es wäre überflüssig und ist im Zusammenhang mit den Ausführungen des Senats zum "klassischen Dualismus" inkonsequent. Dank An. 53 EMRK wirkt sich eine völkerrechtskonforme Auslegung i,m Zusammenspiel mit der EMRK lediglich erweiternd auf die grundrechtliehen Gcwährlciswngcn aus. Erst die Anwendung dieser Auslegungsregel auf einschränkende Völk.crreclnsnorrncn würde den Ernstfall darstellen, denn im Ergebnis konstituiert sie einen universellen Dcfinitionsvorbchalt, 44 45 46 47 48 49 50 Ebd. Kadelbach, Der Status der EMRK im deutschen Recht, Jura 2005, 480 (484); Vedder, Integrierter Grundrechtsschutz in Europa: Görgülü und Bosphorus, in: FS Schmidt, 2006, S. 179 (194); ähnl. Papier (Fn. 26), S. 1. Kirchhof, Verfassungsrechtlicher Schutz und internationaler Schutz der Menschenrechte: Konkurrenz oder Ergänzung?,. EuGRZ 1994, 16 (31). Hierzu allgemein Schlink, Abschied von der Dogmatik. undl Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007,. 157. Dazu Vogel, Juristische Methodik, 1998, S. 50 ff.; deutlich auch Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Auflage (2005) S. 82: ,.Keine niedcrrangigc Norm darf inhaltlid1 der höherrangigen widersprechen. Niederrangigcrc Normen sind auszulegen, dass sie den Wertungen höherrangigen Rechts soweit wie möglich entsprechen." . . So deutlich BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408) - Görgülü: "Dem Grundgesetz hegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweicr unterschiedlicher Rechtskreise handelt"· BVerfG, NJW 2004, 3407 (3409)- Görgülü; krit. zur dualistischen Auffassung der Urteilswirkungen Stöcker, Wirkungen der Urteile des EGMR in der ßRD, NJW 1982,. 19'05 (1906 ff.). Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhc Raub er 451 der sich in Anlehnung an Art. 14 I 2 GG wie folgt formulieren lässt: "Inhalt und Schranken werden durch die EMRK bestimmt". Ohnehin gilt das Gebot der völkerrechtskonformen Auslegung auch nach dem BVerfG nur "nach Möglichkeit" .51 Es drängt sich daher die Frage auf, wie in Fällen vorgegangen werden soll,. in denen deutsches Recht einer konventionskonformen Auslegung nicht zugänglich ist. Zweifellos ist in diesen Fällen der Gesetzgeber zu einem Einschreiten aufgefordert. Dies ergibt sich bereits aus Art. 1 EMRK; unabhängig davon, ob es sich bei der konventionswidrigen Norm um Verfassungsrecht oder ein einfaches Gesetze handclt. 52 Diesbezüglich spricht das BVerfG lediglich von der "Möglichkeit" 53 der Legislative die innerstaatliche Gesetzeslage den EMRK-Gewährleistungen anzupassen. Dies ist zu schwach und übersieht die aus Art.l EMRK resultierende Pflicht, die Umsetzung der EMRK-Garantien im eigenen Staat sicherzustellen. Das eigentliche Problem entsteht allerdings in der Zeit zwischen Feststellung der Konventionswidrigkeit und dem Einschreiten des Gesetzgebers: Bleibt hier die konventionswidrige Norm anwendbar? Hierauf geht der Görgülü-Beschluss trotzseines "Wille[ns] zum Grundsätzlichen" 54 bedauerlicher55 weise nicht ein. Indem das BVcrfG in seinem nun "Konventionstext und Rechtsprechung" als Auslegungshilfen heranzuziehen vorschlägt, weicht es zudem von seiner bisherigen Rechtsprechung ab. Im Pakelli-Beschluss waren es noch "Inhalt und Entwicklungsstand" der Konvention, die auf das Grundgesetz ausstrahlten. Ein Rekurs auf diese Formulierung wäre richtig gewesen, denn die beiden Begriffspaare sind nicht beliebig austauschbar. 56 Schließlich ermöglichen die Regeln über die Auslegung völkerrechtlicher Verträge eine Entwicklung des Inhalts der Konvention auch 57 ohne eine förmliche Vertragsänderung. c) Grenzen der Wirkung der EMRK- Souveranitatsvorbehalt Die Hymne auf die Völkerrcchtsfreundlichkeit, die die Karlsruher Juroren durch den Topos der völkerrechtskonformen Auslegung zu singen vorgeben, erklingt allerdings letztlich doch in Moll. Die Völkerrechtsfreundlichkeit, so das BVerfG, entfalte seine Wirkung "nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatliehen Systems des Grundgesetzes" .5R Das GG behalte das letzte Wort, denn die grundgesetzliche Öffnung für das Völkerrecht bedeute weder den Verzicht "auf die in dem Ietzen Wort der deutschen Verfassung liegenden Souveränität" noch die "jeder verfassungsgerichtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogenen Unterwerfung unter nichtdeut51 52 53 54 55 56 57 58 B VerfG, NJW 2004, 34107 (3408, 3411)- Görgülü. Meyer-Ladewig!Petzold, Die Bindung deutscher Gerichte an Urteile des EGMR, NJW 2005, 15 (17). BVerfG, NJW 2004, 3407 (3410)- Görgülü. Buschle (Fn. 7), S. 295. Vedder (Fn.43), S. 194 f. Vermittclnd]aeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, 193 (199). Cremer {Fn. 6), S. 686 f. BVerfG, NJW 2004,. 3407 (3408) - Görgülü. j 452 StudZR 3/2008 sehe Hoheitsakte" .59 Drohe ein Verstoß gegen "tragende Grundsätze der Verfassung", könne Völkerrecht unbeachtet bleiben, ohne dass dies dem .,Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit" widerspreche. Gerade mit dieser Passage befindet sich der Beschluss in der Rechtsprechung des BVerfG in guter Gesellschaft. 60 Wic bereits im Solange-Beschluss und im MaastrichtUneil61 versteht sich das BVcrfG auch im Fall.c Görgülü als letzte Bastion gegen Bedrohungen staatlicher Souveränität - einer falsch verstandenen Souveränität, in der 2 das Gericht den Kontrapunkt zur Erfüllung völkcrn.:chtlicher Pflichten sicht.r' Souveränität in einem modernen Verständnis meint jedoch vielmehr "Völkerrcchtsunmittelbarkeit".r.3 Der Staat ist befehlsunabhängig tmd untersteht unmittelbar dem Er ist innerhalb des Rahmens des Völkerrechts daher frei in seinen Handlungen. Keinesfalls jedoch steht er über dem Völkerrecht, wie es dem vom BVerfG hier angenommenen unbedingten Vorrang des Verfassungsrechts entspräche. Vielmehr ist sein Auftreten als Partei völkerrechtlicher Verträge Ausdruck seiner eigenen Souveränität. 65 Die Bindung an Völkervertragsrecht beeinträchtigt demnach die Souveränität eines Staates nicht. 66 Kann die Geltung von Völkerrecht mithin überhaupt unter einem unbedingten Vorbehalt des Grundgesetzes stehen? Mag auch die nationale Rechtsordnung mit der Geltungsanordnung für das Völkerrecht e.ine gewisse Rolle spielen, so hilft das nicht darüber hinweg, dass das Völkerrecht gleichwohl gewissermaßen von außen normative Magstäbe an das staatliche Recht, einschließlich des Vcrfa.ssungsrcchts, heranträgt und es unter diesen Gesichtspunkten beurtcilt. 117 Um völkcrrechrlichcn Pflichten zu genügen, kann daher unter Umständen auch eine Verfassungsänderung notwendig sein.r.x Ein Verfassungsvorbehalt wie ihn das BVerfG hier postuliert, widerspräche Art. 46 EM RK und Art. 20 III GG. 69 Er ist "missverständlich und nicht nur poli.tisch 59 60 61 62 63 Ebd. Meyer-Ladewig/Petzold (Fn.49), S. 19. Diese Parallele zieht Kühne (Fn. 36), S. 208. Cremer (Fn. 6), S. 688 f. Hailbronner,. Der Staat und der Einzelne als Vi>lkc:rrcclnssubjcktc, in: Graf Vitzthum (Hrsg.),. Völkerrecht, 3. Auflage (2004) S. 149 (177). 64 65 66 67 68 Doehring, Völkerrecht, 2. Auflage (2004) Rn. 122. . Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 3. (2004) S. l (34 f.) mit VerwelS auf PC!j, Series A, No 1, 6 (Wimbledon-Fall); ]n Bezug auf den der EMRK mag an einem souveränen Handeln Deutschlands jedoch zweifeln, da der .Abschluss außcnpohtlscher Abkommen zum Zeitpunkt der Ratifikation der EM RK (5.12.1952) noch umcr Zustimmungsvorbchalt der Alliierten stand. Das Besatzungsstatut wurde erst. mit dem sog. Deutschlandvertrag vom 23.10.1954 aufgehoben, vgl. dazu GciRcr, Ge; und Völkerrecht, 3. Auflage (2002) S. 37 ff. Cremer (Fn. 6), S. 689. Ebd., S. 688. . Meyer-Ladewig/Petzold (Fn. 49),. S. 19; Ress, Wirkung und Bc:1chtung der Urteile und Ent- scheidungen der Straßburgcr Konvcntionsorgane, EuG RZ 1!J%,. 350 (351 ). 69 70 Kühne (Fn. 36), S. 209. Meyer-Ladewig/Petzold (Fn. 49), S. 19, mit dem Vorschlag: "Vorrang des Grundgcs:rzes, solange die zur Durchführung eines Straßburgcr U rtcils 1•.. J erforderliche Vcrbssungsanderung noch nicht erfolgt ist''. Raub er Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhe Im Verhältnis zum EGMR erscheint ein solcher Vorbehalt überdies unangebracht, 71 wenn nicht gar widersprüchlich, denn war es nicht das BVerfG selbst, das entschied die "demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätze" - damit wohl auch die "tragenden" im Sinne des Souveränitätsvorbehalts -des Grundgesetzes würden durch die Einbettung Deutschlands in das System der EMRK "aufgeladen"? Ausstrahlungswirkung einerseits aber Verfassungsvorbehalt, wie geht das einher? Ein Recht sich auf einen solchen Vorbehalt zu berufen, kann sich ausschließlich aus einem bei Vertragsschluss erklärten Vorbehalt ergeben. Wie die Karlsruher Richter im Wissen um das Fehlen einer solchen Erklärung dennoch ausführen konnten, es verstoße nicht gegen das "Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit", Völkerrecht unbeachtet zu lassen, gibt Rätsel auf. Denn was unter dieser teleologischen Ausrichtung in Richtung Völkerrechtsfreundlichkeit auch zu verstehen sein mag, die Nichtbeachtung von Normen des internationalen öffentlichen Rechts bleibt ein Völkerrechtsverstoß und 72 damit völkerrechtswidrig, nicht -freundlich! Schließlich dürften die Ausführungen zum verfassungsrechtlichen Souveränitätsvorbehalt auch aus historischer Perspektive vcrfehh sein. Denn angesichts der Tatsache, dass Deutschland seine Souveränität erst lange nach dem In-Kraft-Treten des GG zurückerhngte, liegt die Vermutung nahe,. dass bei der Ausarbeitung des GG die Herstellung der vom BVcrfG in Anspruch genommenen staatlichen Souveränität jedenfalls kein Primärziel des Parlamentarischen Rates war. 73 Vorherrschender Gedanke bei der Arbeit im Parlamentarischen Rat dürfte vielmehr die Wiedereingliederung Deutschlands in ein vereintes Europagewesen sein, was dem Geist des GG eine eher völkerrechtsfreundliche als souveränitätskonservative Prägung verliehc. 74 Wollte man die Ausführungen freundlicher interpretieren, könnte man dem Senat freilich zu Gute halten, dass die Voraussetzungen für den Vorbehalt eng formuliert sind. Nur bei einem Verstoß gegen "tragende Grundsätze der Verfassung" dürfe Völkerrecht unbeachtet bleiben. Der Souveränitätsvorbehalt präsentiert sich demnach 75 als verfassungsrechtliche "Notbremse''. Implizit beinhaltet dies jedoch die Befugnis 76 sich völkerrechtlichen Verpflichtungen zu widersetzcn. Dass echte Kollisionsfälle Weber (Fn. 33), S. 915 f.; Frowcin, Der europäische Grundrechtsschutz und die deutsche Rechtsprechung, NVwZ 2002, 29 (30) sieht in Vorbehalten den Grund der Schwäche des Konventionssystems. 72 Esser (Fn. 37), S. 350; ähnl. Kühne (Fn. 36), S. 210. Die Ermächtigung den Parlamentarischen Rat einzurichten, sowie eine Zielsetzung für die73 sen enthalten die sog. "Frankfurter Dokumente" vom l. Juli 1948. Diese sehen u. a. vor, dass auch unter der neu zu schaffenden Verfassung die Regelungsbefugnis für Deutschlands auswärtige Beziehungen bei den Militärgouverneuren der drei Westzonen verbleibt- nur ein Beispiel dafür, dass die Wiederherstellung deutscher So.uveränität deutlich in den Hintergrund tritt. Vgl. Dokument Nr. Il[ unter A. a), 1m Internet emsehbar unter http:// (geprüft am 10. Juli 2008). Vgl. ferner Geiger (Fn. 62), S. 35 ff. In diese Richtung Lenz, ,.An die Gewährleistungen der Konvention gebunden", in: FS Zu74 leeg, 2005, S. 234 (236 f}. , Cremer (Fn ..6), S. 689; ahn I. Bcnda (Fn. 26), S. 606. 75 Kühne (Fn. 36), S. 208 f. 76 71 453 454 StudZR 3/2008 rar sind77 und sich der Vorbehalt daher kaum restriktiv auswirken wird,?H stellt das Gericht nicht hinreichend dar und so kommt es,. dass der Beschluss eine Dramatik auf den Plan ruft, die "überzogen und jedenfalls nicht gut'' klingt. 7'1 Dass bei solch einem unkoordiniencn Affront gegen völkerrcchdichc Insrinnionen das Vertrauen in den EGMR nicht erschüttert wird, kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werdcn.80 Bei markigen Formulierungen wie denjenigen des Zweiten Senats kann es nicht verwundern, wenn der Görgülü-Bcschluss auch i.ibcr die deutschen Grenzen hinaus für Irritationen gesorgt hat'n und selbst das deutsche (Fach-)Publikum empörte.82 Hätte das Gericht diese politischen Wirkungen seiner Entscheidung berücksichtigt, wäre der Beschluss weniger missverständlich ausgefallen. 2. Die Bindungswirkung von EGMR-Urtcilcn a) Bindungswirkung von EGMR-UrtcBen nach der EMRK Den Kernpunkt der Entscheidung erreicht das Gericht mit den offensichtlich in rechtsgrundsätzlicher und wegweisender Intention verfassten Bemerkungen zu den Bindungswirkungen von Urteilen des EGMR in Deutschland. Klassischerweise werden diese in Rechtskraft- und Orientierungswirkung katcgorisiert.H" Erstere erfasst die Wirkungen der Urteile gegen Deutschland im Verhältnis zum konkreten Verfahrensgegner und Sachverhalt, letztere die Wirkungen von U rtci lcn gegen andere Staaten oder gegen Deutschland in einer anderen R.echtssachc. Diese U ntcrschcidung rezipiert auch der Görgülü-Beschluss zumindest implizit. Zunächst beschränkt sich der Zweite Senat allerdings auf einige allgemeine Ausführungen zur Bedeutung, die die Konvention EGMR-Judikatcn zumisst:K·t Eine Wirkung komme den Rechtsemscheiden des EGMR nur nach Maßgabe des Inhalts des 77 Breuer, Karlsruhc und die Gretchenfrage: Wie hast du's mit Straßhurg?, NVwZ 2005, 412 (413); Dörr (Fn. 26), S. 1097; Klein (Fn. 7), S. I 178; Mcycr-l.adcwiRiflcliwld (Fn.49),. S. 19; Papier (Fn.26), $.2. 78 79 Vedder (Fn. 43), S. 196. Meyer-Ladewig/Petzold (Fn.49), S. 19. Pernice (Fn. 7), S. 705. Buschle (Fn. 7), S. 29'5. Bergmann, Diener drcicr Herren? - Der lnstanzrichtcr zwischen BVcrfG, EuGH und EGMR, EuR 2006, 101 (107); von einer "Aufkündigung der Vcrtragstrcuc" sprich.r (Fn. 7), S. 705; Frowein, Die traurigen Missverständnisse. BVcrfG und ECMR, in: Ltbcr a.nucorum Delbrück, 2005, S. 279 (279) konstatiert eine "verheerende Wirkung''; im Grundsatz dem BVerfG beipflichtend hingegen Dörr (Fn. 26), S. 1092, I097; Grupp!Stelkcns, Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK bei der Auslegung demsehen Rechts, DVBI2005, 133 ff. Ress (Fn. 65), S. 350. Zu den Entscheidungsw.irkungcn siehe Ress, Thc cffccts of judgcmc111S and dccisions in domestic law, in: Macdonald u. a. (Hrsg.), Thc Europcan systcm for thc proteerinn of human rights, 1993, S. 801 ff. sowie ders., Entscheidung und Entschcidungs.wirlwng, in: Grote/ Maurahn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, S. 1704 ff. 80 81 82 83 84 Rauber Grundrechtsschurz zwischen Straßburg und Karlsruhe inkorpor]crren Vertrages und den entsprechenden Geltungsanordnungen des Grundgesetzes, hier Art. 59 II GG, zu. Rechtsentscheide des Gerichtshofs entfalteten ihre Wirkung daher unterhalb des Verfassungsrechts.R 5 Sie seien gemäß Art. 42, 44 EMRK "endgültig" und nach Maßgabe des An. 44 EMRK unanfechtbar, letztins6 tanzlieh und "erwachsen damit in formeller Rechtskraft". x Im Rahmen der "sachlichen, personellen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes" gelte dies auch in materieller Hinsicht, sodass die veruncilte Vertragspartei nicht mehr behaupten könne- auch nicht gegenüber Dritten-, konventionsgemäß gehandelt zu haben. Sie treffe nach Art. 46 EMRK die Verpflichtung, "das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen". Ein Straßburgcr Urteil könne jedoch keinen deutschen Entscheid kassieren.117 Den Urteilen des EGMR komme nicht die Wirkung zu, in die staatliche Rechtsordnung "unmittelbar" einzugreifen, denn die EMRK verhalte sich "grundsätzlich indifferent zur staatlichen Rechtsordnung" .xR Der Fortgang des U r:r:cils klingt dahingegen ernüchternd und macht unmissverständlich k]ar: Auch Völkerrechtsfreundlichkeit hat Grenzen! In teils verwirrender ArgumentationH9]öst sich die zuvor noch eindemig klargestellte Bindungswirkung Schritt für Schritt auf. Denn wolle man die Bindung an Recht und Gesetz, Art. 20 III GG, nicht unterlaufen, könne man nicht mehr als eine bloße "Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des Gerichtshofs" annehmen. Dies dann auch nur im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung. Wohl etwas polemisch, aber in der Sache treffend kommentierte Cbristian Geyer die Berücksichtigungspflicht: "Was aber heißt berücksichtigen? Berücksichtigen heißt, sich gebührend mit ihnen auseinanderzusetzen. Was aber heißt gebührend? Gebührend heißt, sie schonend in die nationale Rechtsprechung einzupassen. Was aber heißt schonend? Schonend heißt, sie als Auslegungshilfe hcranzuzieh_en. Was heißt. A usle?u ngshilfe? Auslegungshilfe heißt, die Straßburgcr Entscheidungen 10 den W1llensb!ldungsprozeß deutscher Gerichte einfließen zu lassen? lassen heißt[ ... ] sie zu nehmen. So dass 90 man sich also gebunden und nn konkreten Ergebms mcht gebunden weiß." Doch nicht nur die Bindungswirkung von EGMR-Urteilen wird terminologisch aufgelöst, auch die Verbindlichkeit der EMRK selbst scheint plötzlich in Frage gestellt,. wenn das BVerfG urteilt, Art. 20 HI GG gebiete (lediglich) clic "Berücksichtigung [Hervorhebung v. Vcrf.] der Gewährleistungen der EMRK [ ... )im Rahmen methodisch vertretbarer Auslcgung" 91 und dies sogar noch in den ersten Leitsatz der Entscheidung mit aufnimmt. 92 Konsequent zu Ende gedacht müsste dies auch für die Konvcntionsarantien selbst bedcmen, dass sie nur zur Kenntnis genommen werden müssen! An:csichts der Tatsache, dass auch diese Abschwächung der Wirkung der EMRK im 85 86 87 88 BVerfG, NJW 2004, 3407 (3409)- Görgiilii. Ebd. Ebd.; ebenso: Frawein (Fn.26), Rn. 13; Papier (Fn. 26), S. I. Krit. zu dieser dualistischen Auffassung der Urteilswirkungen Stöcker (Fn. 417), S. 1906 ff. Prowein {Fn. 79), S. 280 hält diese für "manchmal kaum nachvollziehbar". 89 Geyer, Karlsruhcr Hymnen, FAZ vom 20.10.2004, S. 33. 90 BVerfG, NJW 2004, 3407 (3410)- Görgiilü. 91 92 So zutr. Cremer {Fn. 6), S. (,93. 455 ---- 456 ---·-··----------·-··· StudZR 3/2008 deutschen Recht- wie ja alle Urteile des BVcrfG- gemäg § 31 BVcrfGG in Gesetzeskraft erwüchse, überträfe eine solche Stellungnahme des BVcdG sog;u noch die völkerrechtliche Ignoranz des OLG Naumburg. Das kann der Zweite Senat jedoch nicht ernsthaft vertreten und scheint kurz darauf zu widerrufen: "Die Europäische Menschenrechtskonvention [ ... ) muss [... ] von der rcdnsprcchcndcn Gewalt heachtet wcrdcn." 93 Bei diesen Irritationen, die man in der Kategorie "If you can't convince them, confusc them!" zu verorten geneigt ist, fällt eine Systcmatisierung schwer. Was also bleibt vom Diktum der von Urteilen des EGMR? b) Orientierungswirkung von EGMR-Urtcilcn Eher zurückhaltend konkretisiert das BVcrfG ,,Bcri.icksichtigunppflicht" und rechtliche Bindung in Sachen Oricnticrungswirkung: ,.Die Entscheidungen des Gerichtshofs in Verfahren gegen andere Vertragsparteien geben den ni.cht beteiligten Staaten lediglich Anlass, ihre nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise erforderlichen Änderung an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu oricnticren." 94 Darüber hinaus müssen die ,.,Judikate Kenntnis genommen werden" und vom entscheidenden Gericht oder der entscheidenden Behörde in den Willensbildungsprozess integriert Ist zu einem vor einem deutschen Gericht anhängigen Verfahren eine thematisch einschlägige Entscheidung des EGMR ergangen, so sind die in der Straßburger Abwägung erörterten Aspekte auch in die deutsche Verhältnismäßigkcitsprüfung einzubc7,iehcn. Jedenfalls müsse "grundsätzlich" eine Auseinandersetzung mit den Abw:igungscrgcbnissen des EGMR stattfinden. Auf welche Ausnahmen tlicscr Grundsatz- Vorbehalt hindeutet, wird jedoch vorerst nicht klar. In jedem Fall verfehlt der Senat hier noch die Deutlichkeit, die angebracht gewesen wäre. Denn EGM R-Ernscheidungen- gerade auch diejenigen, die nicht gegen Deutschland ergangen sind- dürfen keinesfalls mit reiner Kenntnisnahme abgetan werden. Vielmehr hat der deutsche Gesetzgeber, indem er der EMRK mit dem Zustimmungsgesetz innerstaatliche Wirkung verschafft hat, gleichermaßen dem EGMR eine Rolle als (auch) rechtsfonbildendes Konventionsorgan zuerkanntY6 Dies bestätigt Art. 32 I EMRK der dem EGMR das Auslegungsmonopol für alle Konventionsfragen zuspricht.'17 Die deutsche i1ffcntlichc Gewalt .ist folglich an die EMRK in ihrem aktuellen der rnnggcblich auf der Rechtsprechung des EGMR beruht, "normativ gcbundcn".'1K ]nsofcm kommt den Judikaten des EGMR eine "normative zu, die da7.u führt, dass die 93 94 95 96 97 98 99 BVerfG, NJW 2004,3407 (34110)- Görgülü. Ebd., S. 3409. Ebd., S. 341 0. Vgl. BVerfGE 75,223 (243 f.) und Goerlich, Der EGMR als ein ('ttropäischcs YcrFassungsgericht, in: Esser u. a. (Hrsg.), Die Bedeutung der EM RK für die nation:1lc Rechtsordnung, s. 101 (105). Mückl, Kooperation oder Konfrontation - Das zwischen BVcrfG und EGMR, Der Staat 44 (2005), S. 403 (416). Cremer (Fn.6), S. 694. BVerwGE 110, 203 (210). Rauher Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhc Garamien der Konvention - wie das BVerfG dann letztlich doch zutreffend feststellt"in der Auslegung durch den EGMR"(!) zur Konkretisierung verfassungsrechtlicher 100 Grundrechtsgewährleistungen zu "beachten" sind. Hi.erfür sind Urteile gegen Deutschland und solche gegen andere Vertragsstaaten gleichermaßen relevant. Um dem gerecht zu werden genügt Berücksichtigung, in der Form wie der Senat sie definiert,. allerdings nicht. c) Rechtskraftwirkung von EGMR-Urteilen 101 Hatte noch das Caroline-Urteil des EGMR in Sachen Ausstrahlungswirkung Aufsehen erregt, scheint der Görgülü-Beschluss nun in Sachen Rechtskraftwirkung mit der "kaum versteckten Anweisung an die Instanzgerichte zur Missachtung" 102 von EGMR-Judikatcn zu antworten. Denn während das BVerfG einleitend noch ausführt, den Urteilen des Gerichtshofs komme materielle Rechtskraft zu, wird nunmehr auch diese Bindung auf eine Pflicht zur Berücksichtigung reduziert. Besondere Brisanz bergen hierbei die Passagen, in denen sich der Görgülü-Beschiuss einer Konventionsverletzung durch Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte zuwendet. Sei Deutschland Partei .im konkreten Verfahren vor dem EGMR,. so treffe deutsche Gerichte die Aufgabe, sich erkennbar mit der Entscheidung aus Straßburg derzusetzen und "gegebenenfalls nachvollziehbar [zu] begründen, warum sie der 103 völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folg[t]en" . In jedem Fall aber verbiete sich eine "schematische Umsetzung" der Urteile aus zwei Gründen: Einerseits könne sich in der Zwischenzeit die Sachverhaltskonstellation verändert haben, so dass "eine geänderte Tatsachenbasis" vorliege, die unter Umständen eine Anwen104 dung der Entscheidung auf den Fall nicht crlaubc. Und zum Anderen könne ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts" 105 betroffen sein, dessen "mchrpoligc Rcchtsverhaltnisse" im Verfahren vor dem 106 EGMR nur unvollständig abgebildet worden seien. Es gelte daher ,,die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in [die] Rechtsanwendung einzubeziehen" und die Entscheidungen der Konventionsgerichtsbarkeit mittels einer "wertenden 107 Berücksichtigung" in das innerstaatliche Rechtssystem "einzupassen" . Erkennbar konzentriert sich das BVerfG darauf, die Anforderungen an ein Abweichen von Straßburgcr Vorgaben zu erläutern, ohne an den entscheidenden Stellen das erforderliche Bemühen staatlicher Stellen, dem Urteil zur Umsetzung zu verhelfen, 100 101 102 103 104 105 106 107 BVerfG, NJW 2004, 3407 (341 0)- Görgülii. EGMR, NJW 2004, 2647; dazu Hr:ldrich, Persönlichkeitsschutz und Presscfrcihcir nach der EMRK, NJW 20041, 2634. Ruschle (Fn. 7), S. 2%. BVerfG, N]W 2004, 3407 (341 0)- Görgiilii. Ebd., S. 341 L und Kont.rollfolgcn beim und europäiVgl. Hoffmann-Rien.z, schen Schutz von hclhCI!tsrcchtcn m mchrpollgcn Rcchtsvcrhaltmsscn, EuGRZ 2006, 492 ff. BVerfG, N]W 2004, 3407 (.HI 0, 341 I)- Görgülii. Ebd., S.3411L 457 458 StudZR 3/2008 in den Vordergrund zu rücken. lllH Man muss sich daher fragen, nb der Zweite Senat auf dem Weg zu einer Sperrung deutscher Gerichte gegen Straßhurger Urteile hier noch die letzten Steine aus dem Weg räumen will. Lediglich die Feststellung, dass bei veränderter 1:1tsachenbasis auch die Verbindlichkeit des EGMR-Urteils unter Umständen an Kraft verliert, leuchtet cin 109 und dürfte wohl nicht zu beanstanden sein. Voraussetzung hierfür ist lediglich, dass der Grund des Konventionsverstoßes nach Auffassung des Gerichtshofs ermittelt wird und dass 110 im Lichte dieser Festeilung beurteilt wird, ob eine Abweichung gerechtfertigt ist. Ganz anders verhält es sich mit dem Konzept der "wertenden Berücksichtigung" im FaHe mehrpoligcr Grundrcchtsverhältnisse. f..:licr stellt das BVerfG dem schon eingangs postuliencn Souveränitätsvorbehalt einen Auswirlwngsvorhehalt zur Seite, der im Ergebnis wohl nichts anderes bedeuten kann als die Befugnis des lnstanzrichters, die Wertung des EGMR durch eine eigenständige Abwägung zu crsctzcn. 111 Der Vorwurf der formalen Bipolarität des Straßburger Verfahrens und der <.brau$ vermeindich resultierenden unzureichenden Berücksichtigung der Interessen eines am innerstaatlichen Verfahren Bctc.iligtcn gibt dies als Argument, jedenfalls in dieser Pauschalität, nicht her. 112 Gestünde man nationalen Rechtsprechungsorganen ein solches Verwer113 fungsprivileg zu, liefe die Judikatur des EGMR in zahlreichen Fällen ins Lccrc. Es ist zwar zutreffend, dass in einer Zivilsache in aller Regel nur der entgegen seiner Überzeugung Verurteilte in Straßburg als Beschwerdeführer beteiligt ist Die Interessen und Argumente des ursprünglichen Verfahrensgegners fließen aber (zumeist) über die Vertreter der Regierung und die herangezogene Prozesshistorie in den Konventionsprozess ein. 114 Gerade das Görgülü-Verfahren vor dem EGMR hat gezeigt, dass 115 der Gerichtshof grundrechtliche Gemengelagen aufmerksam feststellt und abwägt. Darüber hinaus sieht Art. 36 Il EMRK die Möglichkeit vor, auch im Verfahren vor dem EGMR Dritte schriftlich zu hören oder an den Verhandlungen Teil nehmen zu 1assen. 116 Um im Falle einer möglichen des EGMR-Urteils auf einen vor nationalen Gerichten geführten Rechtsstreit Fairness zu garantieren, dürfte eine Reduzierung des von A:rt. 36 li EMRK eingeräumten richterlichen Ermessens auf Null ein gangbarer Weg scin. 117 Der im sclbcn Zusammcnh:mg vorgetragene Vor- 108 109 Cremer (Fn.6), S. 694. Frowein (Fn. 79), S. 286; Langenfeld (Fn.26), S. 27 1) sieht darin ,.eine pure Selbstverständlichkeit". 110 111 Zustimmend Buschle (Fn. 7), S. 295. Breuer (Fn. 74), S. 414. 112 113 Cremer (Fn. 6), S. 695. Kühne(Fn.36),S.211. Meyer-Ladewig/Petzold (Fn. 49), S. 17. 115 Vgl. EGMR, NJW 2004,3397 (3398, insbcs. §43 ff.). 116 Meyer-Ladewig/Petzold (Fn.49), S. 17. .. . 117 Cremer (Fn. 6), S. 696; Schaffarzik, Europäische Menschenrechte unter der Ag1de BVerfG, DÖV 2005, 860 (864); Schmalx, Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen dte 114 EMRK für die BRD, 2006, S. 31 ff. sieht EMRK verletzt. anderenfalls gar das Recht auf Gehör aus Art. 6 I Raub er Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhe schlag, eine "Fürsorgcpflicht" des Staates für die nicht (mehr) beteiligte Partei zu postulieren und so den Staat für den Vonrag von deren Interessen in die Pflicht zu nehmen, 11 H überzeugt hingegen nicht. Er übersieht, dass im Einzelfall auch Verfahrensbevollmächtigte der Regierung gute Gründe dafür haben können,. gerade diese Interessen und Argumcme nicht vorzubringen. 119 Überdies besteht aufgrund von Art. 36 II EMRK hierfür kein Bedürfnis. Schließlich disqualifiziert auch der Vergleich mit den Verfahren vor dem BVerfG und dem EuGH das Argument der Kadsruher Richter. 120 Denn gerade in Karlsruhc ist, so denn eine Grundrechtsverletzung durch ein Zivilurteil gerügt wird, die Gegenpartei nicht bete.iligt 121 und auch das Verfahren vor dem EuGH nach Art. 234 EGV ist "nicht grundsätzlich anderer Natur". 122 Legt man dies zu Grunde und erinnert erneut die Formel der wertenden Berücksichtigung, würde man in Bezug auf verfassungsgerichtliche Urteile eine Befugnis der Instanzrichter fordern müssen, ggf. die eigenen Wertungen an die Stelle derjenigen des Karlsruhcr Senats zu setzen. Ein Effekt, den § 31 II BVerfGG wohl zu Recht zu unterbinden sucht. d) Konfligierende Bindungswirkungen Auch bei einer nur begrenzten Bindungswirkung von EGMR-Urteilcn besteht allerdings ein Problem, zu dem der Görgülü-Beschluss keine Auskunft gibt, fort: Art. 35 I EMRK bestimmt, dass der Beschwerdeführer sich vor der Beschwerde in Straßburg aller Rechtsbehelfe im innerstaatlichen Recht erfolglos bedient haben muss, die ihm tatsächlich und zumurbar offen stehen um die gerügte Verletzung wirksam zu beseitigen. Auch die Verfassungsbeschwerde zählt hierzu. m In jedem Fall, in dem der EGMR eine Entscheidung gegen Deutschland fällt, steht diese daher einem verfassungsgericlnlichcn Nichtannahmebeschluss oder einem inhaltlich gegenläufigen U rrcil gegenüber. als_ die des Gerichtshofs erwächst diejenige des Karlsruher Gcnchts emschhcßbch 1hrer "tragenden Gründe" 12 " gemäß § 31li BVcrfGG in Wie_ also können .deutsche verpflichtet werden Fol?c zu !_eisten, _wenn dies stets mit emem Gcsetzesbruch verbunden 1st? - AndererseitS: Wte an die Gesetzeskraft von BVerfGEntscheidungen gebunden sein, wenn dies gegen die EMRK verstößt? Der Rechtsanwendcr steht zwischen den Stiihkn. Wohingegen zum Teil unter Berufung auf das Letztentscheidungsrecht des BVcrfG tatsächlich der Konventionsverstoß gefordert 1]8 119 120 Cremcr (Fn.6), S. 696. Ho[Jmann-Ricm (Fn. I 08), S. 497. A. A. Schmalz (Fn. 114), S. 31. Cremcr (Fn. 6), S. 696. 121 122 Buschle (Fn. 7), S. 295. neue ständige EGMR, NJW 1999, 1165 (1165); Wittinger, 123 Die Einlcgung cmcr IndJvJdualbcschwcrdc vor dem EGMR, NJW 2001, 1238 (1239). 124 125 126 BVcrfGE 1, 14 (37)- Südweststaatsurteil; diesbezüglich kritisch hingegen: Schlaich/Korioth ff: .. . . .. (Fn. 12), Rn: Dies gilt frcd1ch 111cht fur NJchtannah111cbcschlussc. Bergmann (Fn. 79), S. 111. 459 460 StudZR 3/2008 128 wird, 127 freilich die Völkerrechtswidrigkeit der Situation perpctuierre und die Funktion des EGMR erheblich eindämmte- dürfte es methodisch vorzugswürdig sein, auch§ 31 II BVerfGG dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit zu unterwerfen und ihn entsprechend zu rcduzieren. 12 '' Aktuell wurde diese Problematik jüngst in einem analog zum Carolinc-Vrteil gelagerten Fall, entschieden durch das KG Berlin. 130 Wiederum ging es um die Veröffentlichung von Fotos in einer Zeitschrift. Abgebildet waren der Sänger Herbert Grönemeycr und eine weibliche Begleiterin, die Beschwerdcführerin. Nachdem das KG zwei Tage vor dem Caroline-Urteil des EGMR die Klage unter Verweis auf die Bindungswirkung der Carotine-Entscheidung des BVcrfG von 1999 abgewiesen hatte, musste es sich im Oktober 2004 erneut mit dem Pali auseinandersetzen. Seine FeststeHung: EGMR und BVcrfG kämen im zu emseheidenden Fall zu divergierenden Ergebnissen. Aufgrund der dem BVcrfG-Uneil zukommenden Gesetzeskraft sei es daher "nicht einfach'', das EGMR Uncii in das deutsche Recht "einzupassen". Insofern bestehe ein ".Spannungsverhältnis". Die Lösung sieht das KG in einer völkerrechtskonformen Reduktion des § 31 li BVcrfGG: "Die Bindungswirkung des Urtci]s des Bundesverfassungsgerichts[ ... ] ist insoweit im Hinblick auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der Verfassung gelockert." lll e) Adressaten der Bindungswirkung Die durch diese Wirkungen Verpflichteten lässt das BVerfG ebenfalls nicht im Dunkeln: "Innerstaatlich werden [ ... ] aJ1ic Träger der deutschen öffentlichen Gewalt[ ... ] an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden." 132 Mit erfreulicher Deutlichkeit 133 korrigiert das BVcrfG so die abweichende Auffassung des OLG Naumburg, das sich auf die richterliche Unabhängigkeit, Art. 97 GG, berief und lediglich die Bundesrepublik Deutschland als Konventionsstaat in der Pflicht sah.1.14 Auf den ersten Blick jedoch, erscheint der Irrtum des OLG Naumburg vcrständiich. Denn da der Gesetzgeber den Vertrag in seiner ursprünglichen Form ins Bundesrecht übernom127 128 129 130 131 132 133 134 Gersdorf, Caroline-Urtcil des EGMR, Afp 2005, 221 (226); Halfmcicr, Privatleben und Pressefreiheit,. AfP 2004,417 (420);. Mann, Auswirkungen der Carulinc-Entscheidung auf die forensische Praxis, NJW 2004, 3220 (.3221 ). Mückl (Fn. 94), S. 426. Cremer (Fn. 6), S. 697; Meyer-Ladcwig (Fn. 13), Art. 4(, Rn. 20; Mückl (Fn. 94), S. 429 (mit im Verhältnis zu §31 dem zusätzlichen Hinweis darauf, dass das BVerfGG auch als lex postcrior den Vorrang genieße); Weher (Fn. 33), S. 919; ablehnend hingegen: Benda (Fn. 26), S. 607 sowie Schmalz (Fn. 114), S. 37 ff. KG Berlin, EuGRZ 2005, 274 H. Ebd., S. 276. BVerfG, NJW 2004, 3407 (3409)- Görgülü. OLG Naumburg, EuGRZ 2004, 749. Bis zur Entscheidung des BVcrfG fand sich diese Ansicht im Schrifttum häufiger, vgl. etwa Bausback, Keine Wiederaufnahme nach EGMR-Urtcil, N.JW 1999,. 2483 (2484); Ehle;s, Die Europäisierung des 1999, S. 139; Kilian, Die Bindungswtr· kung der Entscheidungen des EGMR auf die nationalen Gerichte der Mitgliedstaatcn der EMRK, 1994,5.207. Rauber Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhe men hat, ordnet der Wortlaut des Zustimmungsgesetzes auch innerstaatlich nicht mehr an als Art. 46 EMRK auf völkerrechtlicher Ebene fordert: Die Befolgung der endgültigen Urteile des Gerichtshofs durch die Hohen Vertragsparteien, im Falle Görgülü durch Deutschland - scheinbar ganz im Sinne des OLG Naumburg. 135 Doch ein zweiter Blick auf die Frage, wen genau die Formulierung "die Hohen Vcrtragsparteien verpflichten sich" im Kontext von EMRK und Zustimmungsgesetz bindet, enthüllt den Fehler: Ziel und Zweck der Norm sind es, Konformität zwischen Handeln der Vertragsparteien und konventionsgerichtlichem Urteil herzustellen. Da der Staat aber nur durch seine Organe handeln kann, muss eine sinnvolle Auslegung der Norm auch eben diese Organe verpflichten. Nur so ist eine effektive Umsetzung der Urteile zugunstcn des Beschwerdeführcrs denkbar 136 und nur so kann auch im demokratischen, von einem System der Gewaltenteilung geprägten, 137 Staatsgefüge den Anfmderungen des Art. 46 EMRK genügt wcrden. Wäre es einem jeden staatlichen Organ möglich, sich hinter der Bindungswirkung "nur" für die BRD zu verstecken, verlöre die enthaltene Verpflichtung letztlich jegliche Substanz. Eine teleologische Auslegung der Formulierung im Kontext des Zustimmungsgesetzes bestätigt diese Interpretation. Telos der umgesetzten Norm ist unter anderem innerstaatlich die Erfüllung der völkerrechdichen Norm sicherzustellen, um eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands zu vermeiden. Wäre aber die kunstliehe Unterscheidung des OLG Naumburg zwischen der Verpflichtung eines Staates und derjenigen seiner Organe korrekt, so entstünde für die BRD gerade hier ein empfindliches Ungleichgewicht zwischen zurcchenbarem und eventuell völkerrechtliche Verantwortlichkeit auslösendem Organhandeln einerseits und völkerrechtlichen Verpflichtungen, die innerstaatlich die Staatsorgane verfehlten andererseits. Neben diesen teleologischen Erwägungen lässt sich schließlich auch die immer wieder betonte Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes an dieser Stelle fruchtbar machen. Da sie einen Verfassungswen darstellt, gebietet die verfassungskonforme Auslegung des Umsetzungsgesetzes eine Modifizierung des Norminhalts dergestalt, dass alle für den Staat handelnden Organe unmittelbar in die Bindungswirkung einbezogen werden. Es wird so klar, dass die Formulierung "die Hohen Vertragsparteien " sich auf alle für den Staat handelnden Organe bezieht. .. Die entsprechende KlartelJung des Senats ist daher zu begrüßen und findet im Ubrigen die Zustimmung der 139 13 :orherrschcnden Meinung in Litcratur H und Rechtsprcchung. 135 136 137 138 139 Cremer (Fn. 6), S. 692; ähnl. Polakiewicz, Die Verpflichtungen clcr Staaten aus den Urteilen des EGMR, 1993, S. 224; anders, wenn auch im Ergebnis dem BVerfG zustimmend: Mückl (fn. 94 ), S. 416; Schmalz (Fn. 114 ), S. 28. , Poiakiewicz (Fn. 133), S. 227 f.; Rtxc, Anmerkung zu EGMR, Görgülü./.Dcutschland, Urteil v. 26.2.2004, FamRZ 2004, 1460 (1462); Stöcker (Fn. 47), S. 1907. Schaffarzik 114 ), 864;. ähn_l. Cremer (Fn. 6), S. Esser (Fn. 37), S. 349; l'rouH:m (h. 79), S. 282; Heldrzch (Fn. 98), S. 2636; Meyer-Ladewigl Petzold (Fn.49), S. 17; Mückl (Fn. 94), S. 411 f.; Schaffarzik (Fn. 114), S. 864; Schmalz (fn. 114 ), S. 28; (Fn. 47), S. 1907; a. A. auch nach dem Görgü/ü-Bcschluss: Glauben, Der EGMR, DR1Z 2004, 129 (131). . . BVerfG, N]W 1986, 1425 (1427); anders, w1c OLG Naurnburg, jedoch: LG Mainz, NJW ] 999, 1271 f. 461 462 StudZR 3. Die Rüge der Nichtbeachtung von EGMR-Entschcidungcn vor d.em BVerfG Bei aller Kritik, die der Görgii/ii-Bcschluss erfahren hat, wird ein Punkt durchweg als erfreulich gewürdigt: 140 Das BVcrfG erweitert den Umfang seiner Prüfungskomp·e141 tcnz und schafft ein "Grundrecht auf Berücksichtigung eines Urteils des EGMR". Es sieht sich "im Rahmen seiner Zuständigkeit dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts[ ... ] nach Möglichkeit zu verhindern und zu hcscitigcn" und steht so ,.,miittdbar im Dienst der Durchsctzung des Völkerrechts". 1'12 ln der Folge resümiert der Senat erneut die bereits referierten Wirkungen der EM HK und der dai'.U ergangenen "Vor diesem HinterEntscheidungen, um mit einem Paukenschlag zu grund muss es jedenfalls möglich sein, gestützt atif das cinschl;igigc Grundrecht, in einem Verfahren vor dem BVcrfG zu rügen, staatliche Organe hätten eine EntscheiDahci steht das Grundrecht dung des EGMR missachtet oder nicht in einem engen Zusammenhang mit dem im verankerten Vorrang des Gesetzes, nach dem alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit an Gesetz und Recht gebunden sind." 141 Damit bleibt die EMRK nach wie vor kein unmittelbarer vcrfassungsgerichdicher Prüfungsmaßstab. 144 In Zukunft übernimmt das BVerfG allerdings eine Kontrollvon EGMR-Urtcilcn, die nach Art.46H funktion in Bezug auf die 2. Hs EMRK an sich dem Ministerkomitee übcrtra).;cll ist. Dies ist innerstaatlich begrüßenswert, da damit zumindest ein Teil der Prohlcrna.tik, die seit lanj;cm unter dem Stichwort "Verfassungsrang für die diskut.icn wird, einer Lösung zugeführt wurde, die auch dogmatisch überzeugt. Ein Rückgriff auf die weiche Verfassungsbestimmung der Menschcnwürdc 1'"' oder das allgemeine Willkürverbot aus Art. 3 I GG 147 - beides Varianten, die das BVcrfG in frLi hcrcn Entscheidungen erwogen hatte - kann so vermieden werden. Auch irn Konzert der Vertragsstaaten setzt das BVcrfG hiermit das richtige Signal. Es lenkt, nachdem andere Passagen des Urteils noch eher an "grundrcchtlichc K Iei nstaatcrei" cri n ncrn, in diesem Punkt ein- 140 141 142 143 144 145 146 147 148 So Bergmann (Fn. 79), S. 110; Brcucr (Fn. 7•l), S. 412; CremeT (Fn.(•), S. (,'JH; Klein (Fn.7),. S. 0 78; Mcyer-Ladewig!Petzold (Fn.49), S. 19. Breuer (Fn.74), S.412. BVerfG, NJW 2004, 3407 (3411)- Giirgiilü. Ebd., S. 3411. . Meyer-Ladewig!Petzold (Fn. 49), S. 19. Vgl. einerseits für einen Weg über 1\ n. 2 I GG i. V. 111. 1\n. 25 (;G 1//cckmarm (Fn. 28}, S. 149; für eine Konstruktion direkt über Art. 2 I (;G Frowciu, Das BVcrfG und di1e EMRK, in: FS Zcidler 11, 1987, S. 171l3 ( 1770) tmd andererseits fi.ir eine I lnchzonung über Art. 24 I GG Everling (Fn. 26), S. 4 16; Ress, Vcrfassungsrcdnlichc Auswirkungen der entwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: FS Zcidlcr II, 19H7, S. 1775 (1791 ff.); sow1e Vedder (Fn.43), S. 196;. Zur Übersicht Haß, Die Urteile EGMJ{- Charakter, Bindungswirkung und Durchsctzung, 2006, S. ll (, ff. BVcrfGE 15, 245 (255 ). BVcrfGE 64, 135 (157). Buschle (Fn. 7), S. 296. Raub er deutig auf den im M aastricht- U eben auch mit dem EGMR- ein. Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhe selbst postulierten Kooperationskurs 150 - jetzt Wenn das BVerfG hier ganz allgemein von Entscheidungen spricht,. so dürfte sich dies nicht nur auf diejenigen Urteile aus Straßburg beschränken, in denen die Bundesrepublik Deutschland als Partei am Verfahren beteiligt war. Wie der Fall Görgülü zeigt, wird es freilich für diese Fälle eine besondere Relevanz entwickeln. Und gerade für diese Fälle wird es dem BVcrfG nicht immer leicht fallen, ein Urteil zu fällen. Denn im Ergebnis spricht es so die Selbstverpflichtung aus, seine eigenen Urteile -alle Wege nach Straßburg führen über Karlsruhe(!)- einer Korrekcur zu unterziehen. 1:; 1 IV. Schlussbetrachtung "Man kann nicht einfach sagen: der eine oder der andere hat das letzte Wort." 152 Man konnte es nicht vor Görgülü, man kann es vielleicht noch weniger danach. Das unklare Verhältnis der einzelnen Bindungswirkungen zueinander und die Möglichkeit die Nichtbeachtung von EGMR-Urteilen einer verfassungsgerichtlichen Prüfung zu unterziehen, schaffen die Gefahr eines zirkulären Rechtswegs,. eine Letztentscheidungsbefugnis ist weder für Straßburg noch für Kadsruhe in Sicht. Denn richtet sich ein Instanzgericht im Anschluss an ein Urteil aus Straßburg nach diesem, vernachlässigt es die Bindung an das vorhergehende Judikat aus Karlsruhe und damit die Bindung an Recht und Gesetz. Dem Unterlegenen stünde daraufhin erneut der Weg zum BVcrfG offen. 153 Paradoxerweise ändert sich an dieser Tatsache auch dann nichts, wenn das Instanzgericht die Entscheidung des EGMR ignoriert oder ihm zumindest nicht folgt. Auch dann ist - und das ist neu - eine Verfassungsbeschwerde zulässig. Das BVerfG hat hierbei aber nur in einer Konstellation das letzte Wort, nämlich dann, wenn es das Urteil des EGMR bestätigt und sich somit selbst korrigiert. Da es selbst nicht durch§ 31 BVerfGG gebunden ist, wäre dies auch problemlos möglich. Die Letztentscheidungsbefugnis des BVerfG ist formell so erhalten, materiell steht sie freilich unter dem Vorbehalt einer Kongruenz mit vorhergehenden Straßburger Entscheidungen. Der Görgülü-Beschluss gibt jedoch Anlass zum Zweife] daran, dass das BVerfG in jedem Fall der Straßburger Rechtsprechung folgen wird. Gerade in den viel beschworenen "mehrpoligen Rechtsverhältnissen" innerhalb ,.,ausbalancierter Teilrechtssysteme" dürfte das BVerfG - diesen Eindruck vermittelt jedenfalls der Görgülü-Besch!uss- gerne den von den Vorgaben des EGMR abweichenden Instanzgerichten die Treue halten. Der nächste Schritt führt dann wieder nach Straßburg und der Kreis schließt sich. 149 150 151 152 153 BVcrfGE 89, 155 ff.- Maastricht. Dazu M ückl (Fn. 94 ), S. 403 ff.; Weber (Fn. 33 ), S. 911 ff.; auch Papier (Fn. 1), S. 9: Das Verhältnis zwischen BVcrfG und EGMR "sollte von gegenseitiger Rücksichtnahme und Kooperation geprägt sein". Ahnl. Dörr (Fn.26), S. 1095. Papier (Fn.l), S. 9. Ben da (Fn. 26), S. 608.. 463 464 StudZR 3/2008 Der Rechtssicherheit dient dies nicht und ein solcher Zustand dürfte mit der grundgesetzlich garantierten Rechtsweggarantie nur schwer zu vereinbaren sein. Was nützt der Zugang zu Gerichten, wenn ein U rtcil nicht zustande kommt und damit die Rechtsfrage in der Schwebe bleibt? Die Vi>lkcrrcchtsfrcundlichkeit des Grundgesetzes und das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung gebieten insofern ein klärendes Einschreiten des Gesetzgebers, der den Konflikt dann zu Gunstender Konvention zu emschäden und das nationale Recht entsprechend anzupassen har. 154 Mit der eindeutigen Stärkung der EMRK im deutschen Recht stc1lt der Görgülü-Beschluss auf diesem Weg einen ersten Schritt dar. Durch die Ausstrahlungswirkung, die das BVerfG wiederholt hervorhebt,. wirken zumindest die menschenrechtliehen Garantien der Konvemion und die Entscheidungen des Gerichtshofs, die die Konkrctisierung der Garantien besorgen, faktisch auf Vcrfassungscbcnc. Denn jeder Konventionsgarantie dürfte auf Ebene des Grundgesetzes ein auslegungsfähiges Grundrecht entsprechen. Trotz aller Souveränitätstopoi nähert das BVcrfG im Görgülü-Beschluss die Stellung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung so einer der Konventionsgarantien Vorrangstellung an. Da sich letztlich die durch den Gerichtshof gegen die Auslegung der deLrt.schen Grundrechte durch das BVerfG durchsetzt,. kommt auch den EGMR-Urtcilcn zumindest partieller Vorrang vor Karlsruhcr Urteilen zu. Das BVcrfG vollzieht diese Annäherung, ohne den entscheidenden Schriu wirklich zu gehen. 1% Gerade zu diesem hätten die Ausführungen des BVerfG ausreichend Anlass geboten. Denn nimmt man die Formulierung der "Unterwerfung unter nichtdeutsehe I-loheitsakte" ln ernst, hätte es für die Feststellung, dass die BRD insofern Hoheitsrechte irn Sinne des Art. 24 1 GG an den EuDie Folge wäre wie roparat übenragen hat, keiner großen Mühen mehr im Verhältnis zur EG der Vorrang der Konvention und der zu ihr ergangenen Entscheidungen gewesen - ein Effekt der gut zum Seihstverständnis des EGMR als 1611 Hüter des europäischen ordre oder als Europäisches Vcrfassungsgcricht gepasst hätte. Die mittlerweile schon in ständige Rechtsprechung übcq.;cgangcnc und erstaunlicherweise auch im Görgülü-Bcschluss aufgegriffene Rede davon, dass die EMRK kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab sei, bleibt zwar formell gesehen richtig, doch über die völkerrechtskonforme Auslegung der Grundrechte konstituiert sie einen Solchen zumindest mittelbar. In diesem Zusammenhang ist auch die Möglichkeit, die Nichtbeachtung von EGMR-Urtcilcn mit einer Verfas154 155 156 157 158 159 160 Papier (Fn.26), S. 1. Schaffarzik (fn.l14), S. 863. Everling (Fn.26), 5.416 BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408)- Görgülü. Vedder (Fn. 43), S. 196. Vgl. EGMR, NJW 2006,197 (Bosphorus-Urtcil) mit Bcspr. 1/ccr-Rcißmmm (Fn.3),S.192. Vgl. Goerlich (Fn. 93), S. 101; Wilclhaber:, Eine Zu Iw 11ft für den EGMR?, EuGRZ 2002, 569; Schey/i, Konstitutinncllcr Anspruch des EGMR und Umgang mit nationalen Argumenten, EuGRZ 20041, (,2H. Raub er Grundrechtsschutz zwischen Straßburg und Karlsruhe sungsbeschwcrdc vor dem BVerfG zu rügen, ein klares und begrüßenswertes Zeichen- das wohl eigentliche Verdienst des Görgülü-Urteils. Die völkerrechtskritischeren Ausführungen des BVerfG zeigen hingegen, dass das Dogma der Kooperation zwischen deutschen und internationalen Gerichten zwar gut klingt, aber eine Übergangslösung bleiben muss. Erst eine Hierarchisierung der Justizstrukturcn auf internationaler Ebene wird ein befriedigendes, Rechtssicherheit garantierendes, Ergebnis darstellen können und geeignet sein, das Spannungsverhältnis zwischen EGMR und BVerfG aufzulösen. Der Fall Görgülü in der Behandlung durch das BVcrfG zeigt zwar, dass auch das Karlsruhcr Gericht durchaus bereit und gewillt ist den Urteilen des EGMR zur Durchsetzung zu verhelfen. 161 Die diesbezüglich wünschenswerte Sicherheit besteht allerdings nicht. Eine Lösung des Problems wird wohl bis zum ersten echten Konfliktfall auf sich warten lassen. Man darf gespannt sein wie sich das BVerfG dann positioniert. Bis eine klare Hierarchie gefunden ist, darf man darauf hoffen, dass die jeweiligen Richter durch gegenseitige Rücksichtnahme und eine materiale Harmonisierung der Grundrechtsgaramien eine zuverlässige Basis für ein vorläufiges Kooperationsverhältnis fjnden. Ein Weg in diese Richtung wurde mit der Ausstrahlungswirkung der EMRK-Garantien auf das deutsche Grundgesetz bereits ausgewiesen. Letzdich jedoch kann die Lösung nur darin bestehen, dem EGMR das letzte Wort zuzugestehen. 162 Nur so kann ein europäisch einheitlicher Grundrechtsstandard gewährleistet und eine völkerrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland vermieden werden. Dem hätte das BVe:rfG im Görgülü-Beschluss durch eine weitere Solange-Formel den Weg bereiten können: Solange der EGMR und seine Verfahrensordnung die Berücksichtigung der Interessen aller am innerstaatlichen Verfahren Beteiligten durch eine Gelegenheit zur Stellungnahme generell sicherstellt, wird das BVerfG seine diesbezügliche Gerichtsbarkeit nicht ausüben und sich einer innerstaatlichen Überprüfung von Straßburger Urteilen enthalten. Dies hätte dem EGMR klar aufgezeigt, was die Karlsruher Richter erwarten, ohne die Verbindlichkeit Straßburgs ganz grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Die Emotionalität des Konflikts scheint solche Sachlichkeit noch nicht zuzulassen. Wenn daher im Zusammenhang mit dem Verhältnis von EGMR und BVerfG das Diktum G. W. F Hegels bemüht wird, "was wirklich ist, das ist vernünftig", 163 bleibt dem nur ebenfalls mit Regel zu widersprechen. WennStraßburg "A" sagt, will Karlsruhe noch immer "non A" sagen dürfen. Ein Verhältnis von Thesis und Antithesis, dessen Lösung man mit Hegel optimistisch dem Lauf der Historie überlassen kann. Die Synthesis wird folgen, die Frage ist wann. 161 162 163 Benda (Fn. 26), S. 607; Bergmann (Fn. 79), S. 114. Bergmann (Fn. 79), S. 101. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986, S. 24; herangezogen von Goerlich (Fn. 93), S. 103. 465