Rheinisch - Kölnisch - Katholisch Beiträge zur Kirchen- und Landesgeschichte des BuchGeschichte sowie zur der Rheinlande Bibliothekswesens und Festschrift für Heinz Finger 60. Geburtstag zum Herausgegebenvon Siegfried Schmidt in Zusammenarbeitmit Konrad Groß, Harald Horst und Werner Wessel Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln 2008 Der Heilige als Helfer der Bürger Auf dem Weg zur Stadtgemeinde:Heilige und frühe Stadtsiegel von Manfred Groten I Anlässlich einer Tagung über Stadt und Heilige' habe ich vor einigen Jahren die Frage erörtert, ob es einen Punkt in der mittelalterlichen Stadtgeschichte gegeben hat, an dem die Anrufung der Heiligen für die Bürger nicht allein religiöses Bedürfnis war, sondern auch die Lösung drängender gesellschaftlicher und politischer Fragen verhieß. Zur Beantwortung dieser Frage verwende ich Ergebnisse meines '` "Vom Zeichen". Bild Forschungsprojekts zum Mein Beitrag bestehtausdrei Teilen: 1. möchteich die Problemeaufzeigen,mit denenim frühen 12. JahrhundertStadtbewohnerkonfrontiert waren, die ihr Leben besserorganisierenund mit den Anforderungeneiner immer größer und komplexer werdenden städtischenGesellschaftin Einklang bringen wollten. 2. möchteich die Grundlinien der Entstehungund Entwicklung desHeiligensiegels im Kontext desfrühmittelalterlichenSiegelwesensnachzeichnen. 3. sollen die beiden Themen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, zusammengeführt werden. Das Ergebnis ist dann eine Interpretation von Erscheinungsbild und Funktion früher Stadtsiegel. 1 Stadt und Heilige (Tagung veranstaltet vom Landschaftsverband Rheinland, Amt für rheinische Landeskunde und Fachstelle fur Regional- und Heimatgeschichte und dem Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn, Köln 22. -23. September 2003). 2 Die Ergebnisse des Forschungsprojekts "Vom Bild zum Zeichen. Entstehung und Verbreitung korporativer Vorstellungen im Hochmittelalter im Spiegel der Entwicklung des Siegelwesens" werden sukzessive an verschiedenen Stellen veröffentlicht. Vgl. demnächst Manfred Groten, Vom Bild zum Zeichen. Die Entstehung korporativer Siegel im Kontext der gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungen des Hochmittelalters, in: Siegel Bild - Gruppe. Visualisierungsstrategien korporativer Siegel im Spätmittelalter, hrsg. von Markus Späth (Tagung Giessen 13J14. Januar 2006); ders., Karlsmythos und Petrustradition. Aachener und Trierer Siegel als Zeichen eines neuen Denkens in der späten Salierzeit in einem von Tilman Struve herausgegebenen Band zur Tagung Die Salier, das Reich und der Niederrhein, Köln 28.-30. September 2006. 125 I. Man hat die Formierung bürgerlicher Gesellschaften und die Ausbildung bürgerlicher Stadtregimente im Hochmittelalter bislang vorwiegend als Emanzipationspro3 Die stadtgeschichtliche Forschung richtete ihr Augenmerk beschrieben. zess vor den Freiheit Auseinandersetzungen zwischen nach strebenden Bürgern auf allem 4 Das in den Gewalt Städten, den der Stadtherren den Inhabern öffentlichen und Beschreibungsmodell ging von einem Zustand aus, in dem der Stadtherr, d.h. der König, ein Bischof oder ein Hochadliger, alle entscheidenden Rechtstitel auf den Gebieten der Rechtsetzung, der Rechtsprechung, der Friedewahrung und der Wirtschaftsordnung in seiner Hand vereinigte. Den Bürgern gelang es nach und nach auf friedlichem Wege oder durch Gewaltaktionen dem Stadtherrn einzelne Kompetenzen zu entziehen. Im Idealfall wurde die Position des Stadtherrn völlig ausgehöhlt und auf eine dekorative Fassade reduziert. Als zentrales Anliegen der Bürger betrachtet Bürgergemeinde Dieses Paradigma will ich im die Bildung einer wird .5 folgenden keineswegs auflösen und durch ein anderes ersetzen. Mir geht es vielmehr darum, deutlich zu machen, dass das bisher entworfene Bild den Rahmen noch nicht ausfüllt. Der gesellschaftliche und politische Transformationsprozess in den hochmittelalterlichen Städten erweist sich bei näherem Zusehen als facetten6 reicher, als man gemeinhin annimmt. Noch viel zu wenig Aufmerksamkeit hat die Frage gefunden, welche Folgen Herrschaftsbildung in bürgerlicher Hand für die Bewohner einer Stadt gehabt hat. Es wäre naiv zu glauben, die Entmachtung des Stadtherrn habe die Bürger in die Freiheit entlassen. Für die Masse der Stadtbevölkerung erwies sich der Emanzipationsprozess, den man hin und wieder sogar in die Vorgeschichte der modernen Demokratie eingeordnet hat, schlicht als ein Herrenwechsel. Ob der Stadtherr oder der Stadtrat Steuern eintrieb, Dienste forderte oder Verbote erließ, konnte dem Mann 3 Hier sei nur verwiesen auf Knut Schulz, "Denn sie lieben die Freiheit so sehr [... ]. " Kommunale Aufstände und Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt 1992. 4 Vgl. neuerdings den Sammelband Bischof und Bürger. Herrschaftsbeziehungen in den Kathedralstädten des Hoch- und Spätmittelalters (Veröffenilichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Studien zur Germania Sacra 26), hrsg. von Uwe Grieme, Nathalie Kruppa und Stefan Pätzold, Göttingen 2004. 5 Der Gemeindebegriff wird in vielen stadtgeschichtlichen Publikationen nicht definiert des Begriffs ist dringend erforderlich. Zum Thediffus Eine Klärung verwendet. recht und Stehkämper, Hugo beispielhaft Gemeinde in Köln im Mittelalter, in: verwiesen auf sei ma Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen 2, hrsg. von Johannes Helmrath und Heribert Müller, München 1994, S. 1025-1100. 6 Vgl. z.B. für Köln Manfred Groten, Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel 21998. Verfassungsentwicklung, Köln-Weimar-Wien und 126 i auf der Straßerelativ gleichgültig sein. Das ist den Betroffenen zweifellos immer klar gewesen. Bezieht man diesen Aspekt in die Überlegungen mit ein, wird das Dilemma derjenigen, die ein bürgerliches Stadtregiment anstrebten, um einiges deutlicher. Sie mussten ihre Ansprüche nicht nur gegenüber dem Stadtherrn durchsetzen, sondern auch gegenüber ihren Mitbürgern. Die Initiative zur Durchsetzung von Verfassungsänderungen ging stets von Einzelnen oder kleinen Gruppen aus, die sich aus den angesehensten und wirtschaftlich hat Stadt Familien Für diese Familien sich der Begriff rekrutierten. stärksten einer Meliorat eingebürgert, abgeleitet aus der Eigenbezeichnung meliores (die Besten), 7 in den Varianten Quellen die mit vielerlei zeitgenössischen auftritt. I i Die Stadtbewohner bildeten um 1100 nur ideell eine Einheit, die man mit Begriffen wie Colonienses, Ti everenses bezeichnen konnte. Es handelte sich dabei nicht um rechtsfähige Größen oder handlungsfähige Verbände. Die Stadtbevölkerungen setzten sich vielmehr aus verschiedenen Gruppen zusammen, die durch ständische Schranken, kirchliche und weltliche Abhängigkeitsverhältnisse und unterschiedliche Wirtschaftsweisen voneinander geschieden wurden. Man denke nur an die Gruppen der freien Kaufleute, der freien und abhängigen Handwerker, der Ministerialen, der Zensualen verschiedener Kirchen und Herrschaften, der Geistlichen und der Juden, die in jeder größeren Stadt anzutreffen waren. Erkennbar wurde die Gruppenzugehörigkeit vor allem anhand des Gerichtsstandes. Die Geschlossenheit dieser Gruppen war recht unterschiedlich, ihr gemeinsamer Nenner war die unausweichliche Notwendigkeit, die Spielregeln des städtischen Zusammenlebens einzuhalten. Die reichten in allen Epochen urbaner Siedlungsweise von nachbarschaftlicher Rücksichtnahme (wo gehört der Mist hin? ) bis zu Fragen von Leben und Tod (was tun, wenn es brennt oder wenn ein Feind anrückt?). Die Männer, die im 11. Jahrhundert für sich und ihresgleichen die Benennung "Stadtbewohner", in ihrer Sprache burgaere von burg = Stadt, in Anspruch nahmen, hatten, als sie sich die Aufgabe stellten, möglichst viele ihrer Nachbarn für ihre Ziele zu gewinnen, nur wenige und letztlich unzureichende Instrumentarien zur Organisation größerer Verbände zur Verfügung. Von der Bildung einer Gemeinde konnten sie nicht einmal träumen, denn die Vorstellung von einer korporativen Rechtspersönlichkeit, einer juristischen Person, die ihren Bestrebungen eine 7 Hans Planitz, Zur Geschichte des städtischen Meliorats, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 67 (1950) S. 141-175; Manfred Groten, In tanto tumultu rerum. Die Bürger von Brügge in Galberts Bericht über die Ermordung Graf Karls von Flandern 1127, in: Vielfalt der Geschichte. Lernen, Lehren und Erforschen vergangener Zeiten. Festschrift für Ingrid Heidrich zum 65. Geburtstag, hrsg. von Sabine Happ und Ulrich Nonn, Berlin 2004, S. 126-140, hier S. 132f. 127 feste Basis gegeben hätte, wurde erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen vor allem in den Städten in den 8 Schulen entwickelt. scholastischen Die Volksrechte kannten als Rechtspersönlichkeit nur das Individuum, im vollen Sinne den freien Mann, der aus eigener Kraft in der Lage war, für sein Recht einzutreten. Solche Rechtspersönlichkeiten waren selbstverständlich keine autonomen Individuen modernen Zuschnitts, sondern Personen, die in dichte soziale Beziehungen eingebunden waren. Rechtlich handlungsfähige Individuen hatten natürlich die Möglichkeit, sich zu gemeinsamer Aktion zu verbinden, aber ein solcher Ver9 die Summe Mitglieder. Er war nicht fähig, bund konnte nie mehr sein als seiner Organe hervorzubringen oder sich vollgültig vertreten lassen. Er bestand nur aus den anwesenden Mitgliedern und nur solange, wie diese beisammen blieben. Solche Verbünde, man bezeichnet sie meistens als Genossenschaften, werden vor dem 12. Jahrhundert deshalb - von Reminiszenzen antiker Terminologie vor allem in der Sprache der Kirche abgesehen - nur mit Pluralbegriffen angesprochen. So ist nicht von Stiftskapiteln oder Mönchkonventen'Ö die Rede, sondern von fratres, 11, der Tiel, Tielenses Kaufmannsgilde sondern von mercatores nicht von von nicht von der Bürgerschaft einer Stadt, sondern von cives usw. Eine Festigungvon Verbündenkonnte im Wesentlichenin zwei Formen erfolgen, 12 13 Schwurverband (coniuratio) Bruderschaft (fraternitas). als oder als Die coniuratio war die offenere Form. Die Möglichkeit, sich durch einen promissorischen Eid, ein beeidetes Versprechen, zur Durchführung eines gemeinsamen Beschlusses zu verpflichten, stand allen Menschen frei. In den früh- und hochmit8 Pierre Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dann le moyen-age latin (L'eglise et 1'etat au moyen age 13), Paris 1970. 9 Das ist festzuhalten im Gegensatz zum Genossenschaftskonzept von Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868-1913. 10Die Benediktregel verwendet nur einmal den Begriff conventus im Sinne von "Zusammenkunft zum Gebet" (Kap. 20,4), ansonsten häufiger congregatio. 11Dieser Befund wird verharmlost bei Otto Gerhard Oexle, Die Kaufmannsgilde von Tiel, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittelund Nordeuropa 6 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen Phil. hist. Klasse, Dritte Folge 183), hrsg. von Herbert Jankuhn und Else Ebel, Göttingen 1989, S. 173-196. 12Otto Gerhard Oexle, Friede durch Verschwörung, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43), hrsg. von JohanS. 1996, 115-150. Sigmaringen Fried, nes 13Manfred Groten, Von der wunderbaren Größe Kölns oder: Was war das Besondere an der Kölner Stadtverfassung des 12. Jahrhunderts?, in: Mitteleuropäisches Städtewesen in Mittelalter und Frühneuzeit. Edith Ennen gewidmet, hrsg. von Wilhelm Janssen und Marhier 41-62, S. S. 51. 1999, Köln-Weimar-Wien Wensky, gret 128 telalterlichen Quellen begegnen uns Schwurverbände auf Schritt und Tritt. Die Teilnehmer können Geistliche und Laien, Adlige und Nichtadlige sein, je nach der Zielsetzung der coniuratio. Die Schwurverbände sind durch zwei Merkmale charakterisiert, durch eine konkrete Zielsetzung und durch eine explizite oder implizite zeitliche Befristung. War das Ziel erreicht, löste sich die coniuratio auf. Die Stadtgeschichtsforschung hat den Schwurverbänden in besonderem Maße Aufinerksamkeit geschenkt, dabei aber oft zu wenig beachtet, dass die coniuratio kein spezifisch städtisches Organisationskonzept war. Die Probleme sind bei den Diskussionen um die Deutung der ominösen Kölner coniuratio von 1112 deutlich hervorge14 treten. Dabei soll nicht verkannt werden, dass das Instrument des Schwurverbandes für aufstrebende Bürgergruppen gute Dienste leisten konnte. Entsprechend häufig wurde es angewendet. Ein entscheidender Nachteil war allerdings, dass die cozziuratio in der Regel ein rasches Verfallsdatum hatte. Die Begründung einer Kette von Schwurverbänden, einer coniuratio iterata, die die Einung zu einem Dauerzustand gemacht hätte, ist vermutlich den modernen Stadthistorikern häufi15 den Akteuren. Erst in der Phase, in der sich der egalitäre Eid der ger gelungen als Eidgenossen zum Untertaneneid gewandelt hatte, der dem Stadtrat oder einem anderen Gremium geschworen wurde, lässt sich der viel gerühmte Bürgereid als Grundlage des städtischen Zusammenhalts sicher nachweisen. 16 Die mittelalterliche Bruderschaftwar von christlichen Gesellschaftsvorstellungen 17 geprägt. Sie wurde verstandenals ein normalerweiselebenslangerZusammenschlussvon Gleichen.Nur in religiösen Bruderschaftenkonnten deswegenMänner und FrauenverschiedenerStändezusammenfinden.Bruderschaftendie weltlichen 14Zu coniurationes zuletzt Rudolf Holbach, "[... ] gravissima coniuratione introducta". Bemerkungen zu den Schw;ureinungen in Bischofsstädten im Westen des Reiches während des Hochmittelalters, in: Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Georg Droege zum Gedenken, hrsg. von Marlene Nikolay-Panter, Wilhelm Janssen und Wolfgang Herborn, Köln-Weimar-Wien 1994, S. 159-184; ausführlich zu Köln Joachim Deeters, Die Kölner Coniuratio von 1112, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 60 (1971), S. 125-148. 15Vgl. etwa Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 7), Aalen 1967, S. 142f1:; ders., Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln-Weimar-Wien 1996, S. 79,322 und häufiger in anderen Veröffentlichungen; vorsichtiger Hagen Keller, Mailand im 11. Jahrhundert. Das Exemplarische an einem Sonderfall, in: Die Frühgeschichte der europäischen Stadt im 11. Jahrhundert (Städteforschung A 43), hrsg. von Jörg Jarnut und Peter Johanek, Köln-Weimar-Wien 1998, S. 81-104, hier S. 95ff. 16Vgl. die klassischeStudie von Wilhelm Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrundund GestaltungsprinzipdesdeutschenmittelalterlichenStadtrechts,Weimar 1958. 17 Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1562/63 1 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 71), bearb. von Klaus Militzer, Düsseldorf 1997, S. JGff. 129 Zwecken dienten, etwa Gilden oder Zünfte, waren in der Regel ständisch homogen. Das Instrument der Bruderschaften eignete sich in Städten hervorragend zur Organisation eines überschaubaren Kreises von Menschen, die gleiche gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Ziele verfolgten. Als nachteilig erwies sich allerdings die beschränkte Integrationskraft einer Bruderschaft, die nur bis zu einer bestimmten Mitgliederzahl funktionsfähig bleibt. Die ältesten bürgerlichen Organisationen, die wir in Deutschland kennen, die Köl18und die Richerzeche 19,waren Bruderschaften. Die AmtleutebruKirchspiele ner derschaften und die Richerzeche lassen die dichte Struktur solcher Verbände erkennen. An ihrer Spitze standen periodisch wechselnde Meister, Geburmeister in den Kirchspielen, Bürgermeister bei der Richerzeche, die sich mit den Konsuln der oberitalienischen Kommunen vergleichen lassen. Ein weiterer Vergleich drängt sich auf. Wie der Begriff commune zunächst Gemeineigentum, Eigentum zu gesamter Hand meinte20, besaßen auch die Kölner Bruderschaften gemeinsames Vermögen, nämlich Versammlungshäuser, die Geburhäuser in den Kirchspielen und das Bürgerhaus der Richerzeche, das spätere Rathaus. Die Kölner Bruderschaften ermöglichten eine im Rahmen der hergebrachten Rechtsordnungeffektive Organisationder in denjeweiligen Lebensbereichenführenden Männer. Die Kölner Erzbischöfehaben sich anscheinendverhältnismäßig leicht mit diesenZusammenschlüssen abgefunden,trugen sie doch zur reibungsloserenBewältigungvon Alltagsproblemenbei. Den Amtleuten der Kirchspiele und vor allem denen der Richerzeche ging es aber letztlich um mehr. Sie wollten die Stadtbewohner an sich binden, sie in ihre Botmäßigkeit bringen. An diesem Punkt kollidierten ihre Bestrebungen aber mit den Interessen der Stadtherrschaft. Deshalb kam ein herrisches Auftreten, das die Bürger in die Arme des Erzbischofs getrieben hätte, nicht in Frage. In einer solchen Situation waren Mittel der Identitätsstiftung, der Erzeugung eines bürgerlichen Wir-Gefühls bei Arm und Reich von höchster Bedeutung. Ein solches Mittel war der Appell an die Gemeinsamkeit der Bürger. In den ältesten Dokumenten bürgerlicher Provenienz in unseren Breiten, den ersten Schreinskarten von St. Laurenz und Klein St. Martin in Köln aus den 30er und 40er Jahren des 12. Jahrhunderts, wird diese Gemeinsamkeit wiederholt betont. So enden Auf18Manfred Groten, Entstehung und Frühgeschichte der Kölner Sondergemeinden, in. Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormodeme (Städteforschung A 59), hrsg. von Peter Johanek, Köln-Weimar-Wien 2004, S. 53-77. 19Manfred Groten, Die Kölner Richerzeche im 12. Jahrhundert, mit einer Bürgermeisterliste, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 34-85. 20 Vgl. Mediae Latinitatis Lexicon Minus 1, bearb. von J.F. Niermeyer und C. van de Kieft, überarb. von J.W. J. Burgers, Leiden-Darmstadt 22002, S. 288-291 s.v. communia. 130 zählungen von Zeugen mit Floskeln wie et ceteri cives communiter quorum nomina 21 Communiter ist hier das Schlüsselwort. Dieso singularfiter scribi non poterant. hervorgehobene Gemeinschaft hatte aber noch keine rechtliche Relevanz und daher legitimierende kaum Kraft. die Hier Bürger an die Grenstießen außen auch nach zen der bestehenden Rechtsordnung, die sich allerdings durch ihr Handeln sukzessive veränderte. Das, was die Bürger faktisch anstrebten, fand in dem mit neuer Bedeutung gefüllten juristischen Terminus der universitas, der Gemeinde, seine theoretische Begründung und Legitimierung. Bis dieser Begriff 1180 in Köln auftrat22, mussten aber noch Jahrzehnte eines unbehaglichen Provisoriums vergehen. In dieser Phase vor dem Wirksamwerden des Gemeindekonzepts ist das Stadtsiegel innerstädtischer Instrument Identitätsstiftung entstanden. Diese weiteres als schlichte Feststellung birgt allerdings ein gravierendes Problem, denn ein Stadtsiegel ist ein korporatives Siegel. Die Verwendung korporativer Siegel setzt ihrerseits aber die Verbreitung korporativer Vorstellungen voraus, womit sich der Teufelskreis schließt. Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, brauchen wir und brauchten die Bürger in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts einen Helfer. Hier kommen nun die Heiligen ins Spiel. Aber was haben Heilige mit Siegeln zu tun? Darum soll es nun im zweiten Teil gehen. H. Bis in die Mitte des 10. Jahrhunderts hinein waren im lateinischen Westen alle im Rahmen der Urkundenherstellung verwendeten Siegel mit Ausnahme der Papstbullen, die ich hier der Einfachheit halber ganz ausklammern will, Herrschersiegel. Die Herrschersiegel unterscheiden sich durch ihren Verwendungszweck und ihr Erscheinungsbild grundsätzlich von Siegeln, die Privatleute als Erkennungszeichen zum Verschließen von Briefen oder für andere Zwecke des Alltags benutzten. Solche Siegel, die den antik-römischen Siegelgebrauch fortsetzten23, sind im gesamten Mittelalter als eigenständige Gattung neben den "Urkundensiegeln" nachzuwei4 Die ältesten Exemplare der Gattung der Herrschersiegel sen. sind merowingische I 21Kölner Schreinsurkunden des zwölften Jahrhunderts, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 1), bearb. von Robert Hoeniger, Bonn 1884-1894, Bd. 1, S. 221 (L 1 VII 9). 22Theodor Josef Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins 1, Düsseldorf 1840, Nr. 474. 23Erich Kittel, Siegel, Braunschweig 1970, S. 81-95; Erika Zwierlein-Diehl, Siegel und Abdruck. Antike Gemmen in Bonn (Katalog Akademisches Kunstmuseum-Antikensammlung der Universität Bonn), Bonn 2002. 24Englische Beispiele in English Romanesque Art 1066-1200, hrsg. von George Zarnecki, Janet Holt und Tristram Holland, London 1984, S. 317 Nr. 368 (Godwin the Thane, ca. 131 Königssiegel25, anhand deren sich die Grundform des Typus beschreiben lässt: das Siegelbild zeigt das Abbild, die imago, des Königs, die Umschrift nennt seinen Namen und seinen Titel im Nominativ, also nahtlose Identität von Bild und Nahandelt dieselbe Botschaft. Es bei den Bild Umschrift sich enthalten und men. 26 Porträtsiegel der Terminologie Herrschersiegeln nach um gängigen Welche Funktion hatten diese Siegel? Man wird ihrer Bedeutung nicht gerecht, individuelle für Unterschrift, als behelfsmäErsatz eine wenn man sie schlicht als ßiges Beglaubigungsmittel einer nahezu schriftlosen Kultur deuten will, wie es immer noch häufig geschieht. Hagen Keller hat anhand der karolingischen und dass Herrschersiegel sie sehr viel mehr waren. Sie waren gezeigt, ottonischen wohldurchdachte Kommunikationsmittel, die erkennen lassen, in welcher Weise 27 Umwelt der König oder Kaiser sich seiner präsentieren wollte. Ich möchte zur Beschreibung der Wirkung des Herrschersiegels den Begriff des "mächtigen Bildes" einführen. Für den frühmittelalterlichen Menschen wäre die Hinzufügung des Adjektivs nicht erforderlich gewesen, denn in seinen Augen war die Ausstrahlung von Macht ein integraler Bestandteil jedes Bildes. Da wir heute Bilder völlig anders wahrnehmen, erscheint mir die Verwendung des Adjektivs hilfreich für das Verständnis der folgenden Überlegungen. mächtig" Man kann zwei verschiedeneWurzeln des frühmittelalterlichenBildverständnisses ausmachen,einerseitseine römische, die vor allem im Kaiserbild28und im Heiligenbild29weiterwirkte, andererseitseine fränkische,die nur schemenhaftin sprachlichen Befundenauszumachen ist. BeidenKulturen gemeinsamwar die Überzeugung von der engenBeziehungvon Personund Abbild. Auf der römischenSeite lässt sie 1040-42), 369 (Wulfric, 2. Hälfte 11. Jh.), 370 (Thor Longus, vor 1118, mit der Umschrift Thor me mittit amico). 25Andrea Stieldorf, Gestalt und Funktion der Siegel auf den merowingischen Königsurkunden, in: Archiv für Diplomatik 47/48 (2001/2), S. 133-166. 26Toni Diederich, Prolegomena zu einer neuen Siegel-Typologie, in Archiv für Diplomatik 29 (1983), S. 242-284, hier S. 267. 27Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und Ottonen. Urkunden als 'Hoheitszeichen' in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998) S. 400-441. 28 Helmut Kruse, Studien zur offiziellen Geltung des Kaiserbildes im römischen Reiche (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums 19,3) Paderborn 1934; Andreas Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreich, Darmstadt 1970; Thomas Pekäry, Das römische Kaiserbildnis in Staat, Kult und Gesellschaft dargestellt anhand der Schriftquellen, Berlin 1985; Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 21990; Maria R. der römischen Kaiser. Beispiele und AnaBildersprache Bild und -Alföldi, lysen (Kulturgeschichte der antiken Welt 81), Mainz 1999. 29Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 21991. 132 sich ablesen am Umgang mit den Bildern von Kaisem und Heiligen, denen eine Verehrung erwiesen wurde, die der christlichen Theologie bekanntlich zum Prob0 lem wurde. Im Fränkischen ist der Terminus für Bild in unserem Sinne gelihnessi 31 das dem für ist. Wort, Ableitung Wort Körper lih "Gleichnis", ein Auch eine von hier deutet sich eine enge Verbindung zwischen Abgebildetem und Abbild an. Vor diesem Hintergrund erscheint das Bild des Herrschers als ein mächtiges Bild, das sozusagen aufgeladen ist mit der Autorität des Königs, dessen Macht es in ähnlicher Weise ausstrahlt wie die Person selbst. Dass das frühmittelalterliche Siegel, um es überspitzt zu formulieren, geradezu als Emanation der Person des Siegelführers galt, unterscheidet es grundlegend vom antik-römischen Siegel, von dem es formal abstammt. Die römischen Siegel hatten, vom spätantiken Kaisersiegel vielleicht einmal abgesehen, schlicht die Funktion von privaten Erkennungszeichen, deren Bilder beliebig waren. Dagegen konnte vor der Mitte des 12. Jahrhunderts ein mittelalterliches Siegel außerhalb Englands32 kein anderes Bild zeigen als das Abbild des Siegelführers. An dieserGrundtatsacheändertesich nichts, als sich mit Erzbischof Brun von Köln (953-965) der Kreis der Siegelführer erstmals erweiterte.33 Wie sein Vorgänger Wichfried34und andereBischöfe35verwendeteBrun zunächstein Amtssiegel, das i i 30Hans Georg Thümmler, Bilderlehre und Bilderstreit, Würzburg 1991. 31Vgl. Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache 2, bearb. von E. G. Graff, Berlin 1836, S. 115; Rudolf Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, Tübingen 21974, S. 113; Edward H. Sehrt, Notker-Glossar, Tübingen 1962, S. 70f.; Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm 4I4, Leipzig 1949, Sp. 8184-90, v. a. 8187 (Abstraktbildung aus dem Adjektiv gleich); Lateinisch-althochdeutschneuhochdeutschesWörterbuch bearb. von Heinrich Götz, Berlin 1999, S. 316 s.v. imago. 32Vgl. Anm. 53. 33Rheinische Siegel 1. Die Siegel der Erzbischöfe von Köln (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 27), bearb. von Wilhelm Ewald, Bonn 1906, Tafel 1, 2; Toni Diederich, Die Siegel der Kölner Erzbischöfe von Bruno I. bis zu Hermann II., in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todestag der Kaiserin, hrsg. von Anton von Euw und Peter Schreiner, Köln 1991,2 Bde., Bd. 1, S. 89-108, hier S. 93 Abb. 1. 34Joachim Oepen, Der hl. Severin von Köln. Eine Schreinsöffnung und ihre Folgen, in: Rheinische Heimatpflege 41 (2004), S. 199-205, hier S. 205 mit Abb; ders., "Der heilige Severin von Köln" - Erkenntnisse eines Fachkolloquiums, in: Geschichte in Köln 51 (2004), S. 169-172, hier S. 172. Zu den Siegelspuren auf Urkunden Wichfrieds vgl. Manfred Groten, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Köln vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250 (Referate zum VIII. Internationalen Kongress für Diplomatik, Innsbruck 27. September - 3. Oktober 1993), hrsg. von Christoph Haidacher und Werner Köfler, Innsbruck 1995, S. 97-108, hier S. 98. 133 36 bischöflichen ist Diese Amtssiegel, überliefert Patroklischrein im Soester noch die in der Tradition der römischen Siegelringe stehen37,müssen von den nach dem Vorbild der Herrschersiegel geschaffenen bischöflichen "Urkundensiegel" streng 8 Seit Bruns Generation wurde auch das Siegelbild der Bischöfe getrennt werden. des Reiches als mächtiges Bild anerkannt. Den Bildern der weltlichen Fürsten kam diese Aura erst seit der Salierzeit zu. Die Reihe der fürstlichen Porträtsiegel be39 beobachten Bayern. Wir Heinrichs Herzog dem Siegel 1045 von also mit ginnt im Reich AusweiEntwicklung der schrittweise veranlasste politischen von eine tung des Siegelwesens auf einheitlicher Grundlage. Zwischen die Bischöfe und die Herzöge und Grafen müssen wir aber noch einen Zwischen 1014 1020 Siegelführer Typ und einschieben. errichtete ein von weiteren 40 Memorienstiftung Paderborn Zu diesem in der Domkirche Graf Dodico eine zu Zweck widmete er Güter dem Altar und dem Dienst der heiligen Gottesmutter Maria sowie des heiligen Märtyrers Kilian und des heiligen Bekenners Liborius. Der Stiftungsakt ist nicht weiter bemerkenswert, wohl aber die Besiegelung der Traditionsnotiz, die im Text nicht angekündigt wird. Das Bild des kleinen runden 41 Frau, die Schleier die Büste Siegels zeigt trägt Der Nimbus weist sie einer einen als Heilige aus. Während die Schulterpart der Figur in Frontalansicht wiedergegeben ist, erscheint der Kopf im Profil. Kommt in dieser Wendung wie bei den karolingischen Herrschersiegeln eine Distanzierung zum Ausdruck, so stellt das groß dargestellte linke Auge wieder den Kontakt zum Betrachter her. Das Bild vermittelt also eine Spannung zwischen Distanz und Nähe. Die Siegelumschrift lautet S(an)C(t)A D(e)I GENETRIX MARIA. Wir haben also ein Siegel vor uns, das sich in Bild und Umschrift als Siegel der hl. Maria präsentiert. nýe, So seltsam uns das auf den ersten Blick erscheinen mag, ein solches Siegel fügt sich nahtlos in die schon beschriebene mittelalterliche Siegelentwicklung ein. Das 35Ein Beispiel bei Kittel (wie Anm. 23), S. 124 Abb. 78 (Bischof Liuthard von Paderborn, 862-888). 36Hubertus Schwartz, Soest in seinen Denkmälern 2. Romanische Kirchen, Soest 1956, S. 75 Anm. 85. 37Vgl. obenAnm. 23. 38In der Frühzeit gibt es gelegentlich Überschneidungen in der Verwendung von Siegeln. So das Siegel Erzbischof Liutberts von Mainz an einem Synodalprotokoll 888 (Mainzer Urkundenbuch 1, bearb. von Manfred Stimming, Darmstadt 1932, Nr. 167), ein Siegel Bischof Notgers von Lüttich vom Typ des Urkundensiegels an einem offenen Brief 980 (Kittel [wie Anm. 23], S. 120 Abb. 74). 39Kittel (wie Anm. 23), S. 121Abb. 76. 40Codex diplomaticus historiae Westfaliae. Urkundenbuch zur Geschichte Westfalens 1, hrsg. von Heinrich August Erhard, Münster 1847, Nr. XCV zu 1018. 41Die westfälischen Siegel des Mittelalters 1, bearb. von Friedrich Philippi, Münster 1882, Tafel VI, 1. 134 Heiligenbild kann man als das mächtige Bild par excellence bezeichnen. Es strahlt die Kraft der Heiligen aus, die sich bis zur Wundertätigkeit steigern kann. Wenn sie auch, solange sie sich nicht manifestieren will, den irdischen Blicken entzogen bleibt, besitzt die heilige Maria im Verständnis des 11. Jahrhunderts die Fähigkeit, jederzeit in Gegenwart und Zukunft durch Wunder helfend oder strafend in die Geschicke der Menschen einzugreifen. 42Ihrem Wirken in der Welt sind keine zeitlichen Grenzen gesetzt. Unter dieser Voraussetzung kann sie auch zeitlich unbefristet in einem Siegelbild wirksam werden. So geschieht es in Paderborn, wo die Gottesmutter Hauptpatronin der Domkirche ist. Die Kirche, die dem Schutz der Heiligen anvertraut ist, gilt mit ihrer gesamten materiellen Ausstattung als ihr Eigentum. Schenkungen von Gläubigen nimmt sie in Empfang, sie erwirkt den Lohn für die guten Werke. Die Geistlichen und Laien, die im Dienst ihrer Kirche stehen und ihre Güter bewirtschaften, sind in besonderer Weise ihre Schutzbefohlenen, ihre Familie. So nimmt die heilige Maria auch die Schenkung des Grafen Dodico, die ihrer Kirche zu Paderborn und den dort dienenden Kanonikern zugute kommt, im Bild entgegen. Schenker und Empfänger treten sich durch das Medium des Bildes unmittelbar gegenüber. I I Wer hat nun aber die Besiegelung der Urkunde mit dem Heiligensiegel veranlasst, wer war dazu bevollmächtigt? Zweifellos Bischof Meinwerk (1009-36), der erste Diener der Heiligen und Vorsteher ihrer familia in Paderborn. Man darf daher wohl Meinwerk als Schöpfer des Heiligensiegels in der Funktion eines bischöflichen Urkundensiegels bezeichnen. Das Paderborner Vorbild wurde bald in Münster aufgegriffen. Eine Urkunde aus der Zeit Bischof Siegfrieds (1022-32)43, des Bruders Thietmars von Merseburg, wurde mit einem Siegel versehen, das das Brustbild des Dompatrons Paulus in Seitenansicht zeigt und die Umschrift Sanctus Paulus apostolus hat 44Die wiederum objektiv formulierte Urkunde sagt ausdrücklich, dass der Bischof die Besiegelung mit dem sigillum sancti Pauli veranlasste. Was wir bei Meinwerk nur vermu-. ten konnten, wird für Siegfried von Münster also ausdrücklich bezeugt. Mit der eher ephemären Verwendung durch sächsische Bischöfe im frühen 11. Jahrhundert hatte die Geschichte der Heiligensiegel aber erst begonnen. Sie sollten sich als Katalysatoren in einem Prozess erweisen, aus dem schließlich die ältesten korporativen Siegel hervorgegangen sind. 42 Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 102-122. 43Erhard (wie Anm. 40), Nr. CIII. 44Die westfälischen Siegel 1, Tafel III, 5. 135 Am deutlichsten lässt sich diese Entwicklung in Münster verfolgen. Hier wurde das Paulussiegel nicht vernichtet, als Bischof Rodbert, der 1042 sein Amt antrat, zum 5 bischöflichen Porträtsiegeltyp überwechselte. Um 1110 taucht es vielmehr in Urkunde, der Die befestigt ist, Verwendung auf. an es wieder neuen völlig einer 46 Sie beschäftigt sich mit Angelegenheiten der Münsterakeinen Aussteller. nennt Gottschalk Mitkanonikern Kanoniker Der Domkanoniker. schenkt seinen ein ner Landgut. Die Annahme der Schenkung und die Erfüllung der daran geknüpften Bedingungen werden von "allen, die anwesend waren, insgemein (in commune) der "mit Willen Brüder" Nimmt Dekan Dietrich vollzogen. man vom und gebilligt" der den Vorgängern Handelnden in der Arenga hinzu, dass von und von den noch Vätern die Rede ist, deren Vorbild Gottschalk nacheifert, dann wird klar: Aussteller der Urkunde `sind die Domkanoniker von Münster. Eine Gruppe wie die Brüder am Dom von Münster konnte sich im 11. Jahrhundert nicht in ein Abbild von suggestiver Kraft projizieren, aber nur ein solches war im der Zeitgenossen keine hatte Verständnis Ihr Verbund eigene Qualisiegelfähig. tät, die Rechte und Pflichten hervorgebracht hätte. Er wurde noch nicht als juristische Person aufgefasst. In dieser Situation gewann das Heiligensiegel eine neue Bedeutung. Zur familia des hl. Paulus gehörten die Domkanoniker ebenso gut wie der Bischof. Folglich konnten sie sich mit gutem Recht auf den Heiligen berufen, der im höchsten Sinne ihr Schutzherr und Versorger war. Sie hatten ja nur den Nießbrauch am Eigentum des hl. Paulus als Lohn für ihre Dienste. Alles, was in den Angelegenheiten der Kirche geschah, geschah im Namen des Patrons. Deshalb war es nur folgerichtig, dass der Heilige einschlägige Urkunden mit seinem Bild sanktionierte. In seiner neuen Funktion war das Paulussiegel ein korporatives Siegel in der Gestalt eines Porträtsiegels. Sein Vorhandensein erlaubte eine zunächst durchaus unreflektierte Zweitverwendung, deren Konsequenzen erst nach und nach zutage traten. Die Kanoniker, die es aus dem Schatz ihrer Kirche übernahmen und für ihre Bedürfnisse nutzbar machten, waren noch keine Korporation, aber sie hatten, zunächst wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Entwicklung in Gang gesetzt, in deren Verlauf sie die Verwandlung in ein Kapitel durchmachten. In der Frühphase dieses Prozesses war ihnen das Heiligensiegel ein unentbehrliches Hilfsmittel. Nur der Heilige konnte einen Weg bahnen, wo der Rechtsweg ausgeschlossen ideellen KristallisationsDas Heiligensiegel materiellen einem wurde zu und war. punkt, um den herum sich die Gemeinschaft der Brüder festigen konnte. Es war der der die in ihm Kapitelsaal, Versammelten mit wie wichtig ebenso mindestens seinen Mauern umfing und zusammenschloss. 45Die westfälischen Siegel 1, Tafel I, 1. 46Erhard (wie Anm. 40), Nr. CLXXXI. 136 Im Laufe des 11. Jahrhunderts ist eine ganze Reihe von Heiligensiegeln geschaffen worden, die von vornherein von Kanonikern, nicht von Bischöfen, verwendet wurden und damit von Anfang an verkappte Korporationssiegel waren. Die ältesten Siegel finden sich in Domstiien47 und Reichsklöstem48, wo ursprünglich der Abt als Vertreter des Klosterpatrons fungierte. Seit dem späten 11. Jahrhundert wurden Heiligensiegel in allen Stifts- und Klostertypen verwendet. Allerdings gehörten sie noch keineswegs zur selbstverständlichen Ausstattung. Unverkennbar begann in dieser Zeit die Suggestivkraft des mächtigen Bildes zu verblassen. Eine große geistige Wende kündigte sich an. Im Denken der Frühscholastik wurde die Autonomie der Person und damit ihre unüberwindliche Trennung 49 Nichtpersönlichen formuliert. Deutlichkeit Eine Permit wachsender von allem son war nach einer Formulierung von Richard von St. Viktor incommunicabilis, 5° nicht mitteilbar. In dieser neuen Sichtweise wandelte sich das Siegel von einer Projektion der Person zu einem Objekt, dessen sich die Person für bestimmte Zwecke bediente. Es wurde zu einem Zeichen, das auf die Person hinwies, von ihr aber substantiell unterschieden war. Den Objekt- oder Zeichencharakter des Siegels brachte man durch eine Veränderung der Umschrift zum Ausdruck. Es hieß nicht 51 dieser Sanctus Petri In Petrus, Sigillum Lobbiensis mehr sondern ecclesie. sancti Phase wurden den Heiligennamen oft auch Ortsangaben hinzugefügt: Sancta Maria Aquensis, heilige Maria zu Aachen. 2 Solche Umschriften lassen erkennen, dass die Schöpfer der Siegel das Bild des Heiligen nicht mehr als dessen unmittelbare, an allen Orten prinzipiell identische Vergegenwärtigung verstanden, sondern als Zeichen, hinter dem schon die Konturen der jeweiligen Kirche sichtbar wurden, die dem Heiligen geweiht war. Auf englischen Siegeln des späten 11. Jahrhunderts wurde schon das Kirchengebäude selbst ins Bild gesetzt53, in Köln zeigte erst ein Jahrhundert später das älteste Siegel von St. Aposteln diesen Bildtyp. 54 Das neue i 47 Z. B. Trier Rheinische Siegel 4,1. Siegel der Stifte, Klöster und geistlichen Dignitäre (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 27), bearb. von Wilhelm Ewald, Bonn 1933-1941, Tafel 16,1 (1101). 48Z. B. Fulda (1062) Ludwig Weth, Studien zum Siegelwesen der Reichsabtei Fulda und ihres Territoriums, Diss. Würzburg 1972, S. 119f. 49Berthold Wald, "Rationalis naturae individua substantia". Aristoteles, Boethius und der Begriff der Person im Mittelalter, in: Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), hrsg. von Jan A. Aertzen und Andreas Speer, Berlin-New York 1996, S. 371-388. I f 50Wald (wie Anm. 49), S. 377f. 51ReneLaurent, Sceauxde Thudine (ville de Thuin, abbayesd'Aulne et de Lobbes) (MiscellaneaearchivisticaeXIII), Brüssel 1976,S. 22 und Abb. 34. 52Rheinische Siegel 4,1, Tafel 1,4. 53English Romanesque Art (wie Anm. 24), S. 309 Nr. 347 (Christ Church Cathedral Canterbury), S. 310 Nr. 348 (Bath Abbey), 349 (St. Albans Abbey). 54RheinischeSiegel4,1, Tafel 11,1. 137 Siegelverständnis, das in den Wirkungskreisen Berengars von Tours und Lanfrancs in der Frankreichs in Teilen England Bee schon zweiten Hälfte des 11. und von Jahrhunderts zur Entfaltung kam, verbreitete sich im Reich erst zaghaft in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, um erst seit etwa 1170 voll zum Durchbruch zu kommen. Man kann die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts im Reich als eine Übergangsphase bezeichnen, die noch ganz im Zeichen des Heiligensiegels alten Typs steht. Neue Entwicklungen erscheinen lokal begrenzt und finden noch wenig Resonanz. Pro55 Aachen, Köln. Trier Das in der Zentren weniger und sind vor allem gressive Verwendung von Heiligensiegeln zum Ausdruck kommende Bestreben, Handeln im Namen einer Gemeinschaft zu legitimieren, lässt in dieser Zeit auch eine neue korporative Terminologie entstehen. So bezeichnen sich die Trierer Domkanoniker 56 Die den Jahren neue Konzeption kann sich allerals capitulum. seit zwanziger dings nur langsam im Rechtsalltag durchsetzen. So bleibt auch weiterhin der Kirder der Garant Rechtsgültigkeit Verfügungen seiner unangefochtener chenpatron Schutzbefohlenen. III. Kehren wir nun in die hochmittelalterliche Stadt zurück, näherhin nach Köln, wo eine folgenschwere Weiterentwicklung des Heiligensiegels stattgefunden hat. Die Kölner Domkanoniker haben erst verhältnismäßig spät ein Heiligensiegel in Gebrauch genommen.57 Es handelt sich allerdings um einen Stempel von hoher Qualität, dessen Konzeption von den eben skizzierten Veränderungen des Siegelverständnisses nicht ganz unberührt erscheint. Im Bildfeld wird der hl. Petrus in geistlichem Ornat auf einem Faltstuhl sitzend dargestellt. Es handelt sich also um den Typ des Petrus in cathedra. Die Siegelumschrift verortet den Heiligen nach Art der jüngeren Heiligensiegel in Köln: Sanctus Petrus apostolus patronus sanctae Coloniae. Die Verwendung des Begriffs "heiliges Köln", der in der späten Karolingerzeit geprägt wurde5ß, artikuliert allerdings einen weitergehenden Anspruch als andere Heiligensiegel. Er ist zwar in seinem Bezug einigermaßen offen, meint aber in jedem Fall mehr als die Domkirche mit ihrem Zubehör. Unter dem heiligen Köln kann man sowohl die Bischofskirche mit all ihren Einrichtungen verstehen 55Vgl. dazudemnächstden in Anm. 2 zitierten Aufsatz. 56Urkundenbuch zur Geschichte der [... ] mittelrheinischen Territorien 1, hrsg. von Heinrich Beyer, Koblenz 1860, Nr. 455 (1126). 57 Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln 2, hrsg. von Anton Legner, Köln 1985, S. 42f. Nr. D 36 (Rainer Kahsnitz). 58Toni Diederich, Die alten Siegel der Stadt Köln, Köln 1980, S.27ff. 138 als auch die Bischofsstadt mit ihren Kirchen und Reliquienschätzen. Indem die Domkanoniker ihren Schutzheiligen zum Patron des heiligen Köln erklären, beanspruchen sie die Führungsposition innerhalb des Kölner Klerus. Auf der Konzeption des hier vorgestellten Heiligensiegels aufbauend ist in Köln 9 ein weiteres Petrussiegel geschaffen worden. Es zeigt den Heiligen wiederum thronend, nun allerdings im klassischen Gewand der Apostel. Die identifizierende Beischrift Sanctus Petrus begleitet die Figur innerhalb des Bildfeldes. Ein neues Bildmotiv ist ein Kranz von Mauern, Türmen und Zinnen, der die Gestalt des Heiligen umfängt. Wie Parallelen in der Buchmalerei zeigen, soll dieser Architekturrahmen eine Stadt darstellen6° Das gesamte Bildfeld bringt also in anderer Form die Botschaft des Petrussiegels der Domkanoniker zum Ausdruck. Petrus thront als Patron inmitten des heiligen Köln. Hier ist das heilige Köln zweifellos als Stadtkörper verstanden, der durch das hervorstechende Merkmal der Stadtmauer sichtbar gemacht wird. Die Umschrift des jüngeren Siegels vertieft die Vorstellung von Köln als Ort des Heils: Sancta Colonia dei gratia Romanae ecclesiae fidelis filia, Heiliges Köln durch göttliche Gnadenverfügung getreue Tochter der vom heiligen Petrus begründeten römischen Kirche. Dass die Umschrift nicht mehr den abgebildeten Siegelführer identifiziert, sondern in der Art einer Devise die Gesamtaussage des Siegels erweitert, ist eine Neuerung, deren Hintergründe hier nicht weiter verfolgt werden können. Das jüngere Petrussiegel ist erstmals 1149 an einer Urkunde überliefert, die, wenn sie auch - wie die erwähnte Urkunde der Domkanoniker von Münster - keinen Aussteller nennt, zweifellos von Kölner Bürgern veranlasst worden ist. 61In Kenntnis der Entwicklung der Heiligensiegel, die ich weiter oben vorgestellt habe; dürfte klar sein, was hier geschehen ist. Die Kölner Bürger haben sich nach dem Vorbild der Domkanoniker unter den Schutz des heiligen Petrus gestellt, der wiederum nicht nur als Herr der Domkirche verstanden wird, sondern als Patron der gesamten Stadt 62Wie den Domkanonikern verhilft der Heilige den Bürgern zu einem Identität stiftenden Bild. Der Gedanke ist innovativ, lässt sich aber zwanglos aus der 59Zum romanischen Kölner Stadtsiegel vgl. Toni Diederich, Das älteste Kölner Stadtsiegel, in: Aus kölnischer und rheinischer Geschichte. Festgabe Arnold Güttsches zum 65. Geburtstag gewidmet (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 29), hrsg. von Hans Blum, Köln 1969, S. 51-80; ders., Die alten Siegel der Stadt Köln, Köln 1980, S. 1446; ders., Rheinische Städtesiegel, Neuss 1984, S.261-265; Groten (wie Anm. 19), S. 49-53; ders., Studien zur Frühgeschichte deutscher Stadtsiegel, Trier-Köln-Mainz-Aachen-Soest, in: Archiv für Diplomatik 31 (1985), S. 443-478, hier S. 444-448 und die Arbeiten von Hermann Jakobs in Anm. 66. 6oDiederich (wie Anm. 58), S. 29f. 61Lacomblet 1, Nr. 366. 62Toni Diederich, Stadtpatrone an Rhein und Mosel, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 58 (1994), S. 25-86. 139 Tradition des Heiligensiegels herleiten. Die Wahl des heiligen Petrus als Bürgerdas des durch Siegel Domstifts vorbereitet. Ob die Petrusverehrung die war patron Frömmigkeit der führenden Familien Kölns schon früher in hervorragender Weise geprägt hatte, ist nicht mehr festzustellen. Man könnte sich vorstellen, dass die Patrone der Kölner Pfarrkirchen in den einzelnen Kirchspielen und die der städtischen Stifte und Klöster von ihren Ministerialen, Zensualen und Nachbarn besondere Verehrung erfuhren. Den Petruskult könnte man vor diesem Hintergrund als einen gemeinsamen Nenner bürgerlicher Heiligenverehrung bezeichnen. Für die erzbischöflichen Ministerialen unter den Kölner Bürgern war die Zueignung zum heiligen Petrus ohnehin nichts Neues, denn sie waren es schon gewohnt, sich als 63 bezeichnen. Petri zu ministeriales sancti Auf dem Kölner Stadtsiegel übernimmt Petrus eine Aufgabe, die nur ein Heiliger zu erfüllen imstande ist. Er tritt an die Spitze einer Gemeinschaft, die sich als solche noch gar nicht artikulieren kann. Nicht zufällig vermeidet die älteste erhaltene städtische Urkunde eine Intitulatio. Sie bezeichnet das Siegel allerdings nicht mehr als Siegel des heiligen Petrus, sondern als sigillum civium, als Siegel der Bürger. Damit werden die eigentlichen Siegelführer benannt, allerdings noch im Plural, nicht als Glieder einer Korporation. Dennoch lässt die Bezeichnung erkennen, wie stark die Kölner Bürger sich schon korporativen Vorstellungen angenähert haben. 1158 wird das Siegel sigillum sancte Coloniensis urbis, 1159 commune sigillum 64Hier ist die urbis genannt. sancta Colonia der Siegelumschrift in der Art antiker Stadtpersonifikationen zur Siegelführerin geworden. Durch den Appell an den Heiligen überspringen die Bürger die Grenzen der bestehenden Rechtsordnung. Der Heilige wird zu einer Integrationsfigur, die über die Schranken von Gruppenbildungen und Bruderschaften hinweg die Bewohner der Stadt in ihren Bann ziehen kann. Ein mit dem Bild des Heiligen sanktioniertes Dokument gebietet auch den nicht unmittelbar an der Rechtshandlung Beteiligten oder auf sie Eingeschworenen Gehorsam. Die Macht des Heiligen anzurufen kann nur der wagen, der von der Gerechtigkeit und Gottgefälligkeit seines Handelns überzeugt ist. Missbrauch könnte den Zorn des Heiligen erregen, ebenso ein Infragestellen seiner Verfügungen. Kurzum, mit dem Heiligen kann man nicht leichtfertig umgehen. Nur wenn man sich die Kraft des hochmittelalterlichen Glaubens an die Macht der Heiligen vergegenwärtigt, kann man die Wirkung der Heiligensiegel verstehen. 63Z.B. Lacomblet 1, Nr. 312 (1135). 64 Guillaume Desire Franquinet, Beredeneerde Inventaris der oorkonden en bescheiden van het Kapittel von 0. L. Vrouwekerk to Maastricht 1, Maastricht 1870, S. 13 Nr. 5; Lacomblet I Nr. 399. 140 { Das Kölner Stadtsiegel, das in zahlreichen anderen Städten nachgeahmt worden ist65, lässt erkennen, welch elementare Bedeutung die Heiligen im Prozess der Ausbildung des bürgerlichen Stadtregiments im Hochmittelalter gehabt haben. Vor der praktischen Rezeption des Gemeindebegriffs in der städtischen Rechtsordnung waren sie die einzigen denkbaren Garanten bürgerlichen Gemeinwillens. I An diesem Punkt wird deutlich, dass die Existenz eines frühen Stadtsiegels keineswegs, wie das häufig behauptet worden ist, das Bestehen eines rechtsfähigen Bürgerverbandes bezeugt, dass es den Abschluss der Gemeindebildung signalisiert usw. Genau genommen ist gerade das Gegenteil der Fall. Das aus dem Heiligensiegel abgeleitete Stadtsiegel will in der Frühzeit seiner Entwicklung gerade die Unmöglichkeit einer Gemeindebildung überwinden. Ebenso wenig ist die Wahl eines Heiligen als Siegelbild Ausdruck einer spezifisch kirchlichen Gesinnung der Bürger. Zum Heiligenbild gab es in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gar keine Alternative. Ich habe bisher die Frage ausgeklammert, wann das Kölner Stadtsiegel entstanden ist. Aus den vorgetragenen Überlegungen sollte schon zur Genüge hervorgehen, dass mich die Spekulationen von Hermann Jakobs, der den Aufenthalt Papst Eugens III. in Trier seit dem 30. November 1147 als Auslöser für die Einführung von Stadtsiegeln in Trier, Köln und Mainz betrachtet, nach wie vor nicht überzeugen 66 Das Trierer Siegel, das zwar dem Heiligensiegel verpflichtet ist, aber keine imago, kein Abbild mehr darbietet, sondern eine historia, eine Bildgeschichte, stellt einen singulären Sonderfall dar, dessen Erörterung den Rahmen des vorliegenden Beitrags völlig sprengen würde. 7 Nur soviel sei gesagt, aus meiner Sicht ist das Trierer Siegel ebenso wie das Aachener Karlssiegel, das ursprünglich. wohl ein Stiftssiegel war68, erst in zweiter Verwendung zum Stadtsiegel geworden, zu einer Zeit, als der Typus schon etabliert war. Die Siegel von Köln und Mainz sind aber so tief in der einheimischen Tradition verwurzelt, dass es zu ihrer Schöpfung eines römischen Vorbildes, das wir übrigens höchstens schemenhaft erkennen können, keineswegs bedurfte. 65Diederich (wie Anm. 58), S. 35ff. 66 Hermann Jakobs, Eugen 111. und die Anfänge europäischer -Stadtsiegel nebst Anmerkungen zum Band 4 der Germania Pontificia (Studien und Vorarbeiten zur Germania Pontificia 7) Köln-Wien 1980, S. 1-34; ders., Nochmals Eugen III. und die Anfänge europäischer Stadtsiegel, in: Archiv für Diplomatik 39 (1993), S. 85-148. 67Vgl. dazu demnächst den in Anm. 2 zitierten Aufsatz. 68Wie Anm. 67. 141 Bleibe ich in dieser Hinsicht hart, möchte ich - veranlasst durch inzwischen publiziert vorliegende kunsthistorische und epigraphische Befunde69 - in der Datierungsfrage meine älteren Ansätze revidieren. Ich habe schon erwähnt, dass das Siegel des Kölner Domkapitels konzeptionell die Voraussetzungen für den Entwurf des Stadtsiegels liefert. Dieses Siegel ist zuerst belegt an einer Urkunde mit unstimmiger Datierung auf 1124/25.7° Ob das Stiftssiegel unmittelbar nach der Reinschrift auf dem Pergament angebracht wurde, kann nicht als sicher gelten, denn im Text der Urkunde werden Siegel und Bann des Kölner Erzbischofs erbeten. Das Petrussiegel ist also an die Stelle der unterbliebenen erzbischöflichen Beglaubigung getreten. Das könnte in einigem zeitlichen Abstand erfolgt sein, möglicherweise erst nach dem Tod Erzbischof Friedrichs I. am 25. Oktober 1131. Die nächsten Belege für das Stiftssiegel stammen von 1136/37.71Für eine Entstehung des Petrussiegels einige Jahre nach 1125 sprechen stilistische Befunde. Kahsnitz hat die enge Verwandtschaft mit dem Thronsiegel Erzbischof Brunos II. (1131-37) hervorgehoben.72Vieles spricht also für die Annahme, dass das Petrussiegel zwischen 1131 und 1136, auf jeden Fall nicht wesentlich früher entstanden ist. Akzeptiert man diese Datierung, muss man sich von der Frühdatierung des Stadtsiegels in die Zeit zwischen 1114 und 1119 verabschieden. Für diesen Ansatz hat Toni Diederich vor allem das Argument ins Feld geführt, das Siegel mit seiner kirchlich gestimmten Umschrift könne nur in einer Phase enger Übereinstimmung 3 Erzbischof Bürgerschaft zwischen und entstanden sein. Handfesten stilistischen Befunden zu Bild und Schrift wird diese recht abstrakte Argumentation nicht standhalten können. Eine Datierung in die Amtszeit Brunos II. oder gar Arnolds I. erscheint mir heute überzeugender. Untersucht man diesen Zeitraum näher, fällt eine Zäsur auf, die durch die einzige gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einem Erzbischof und den Kölner Bürgern in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gekennzeichnet ist. Zu 1138 berichten mehrere Chroniken über einen Konflikt zwischen dem neu gewählten Erzbi74 "In diesem Jahr den Arnold I. Kölnern. schof und entstand ein sehr schweres Zerwürfnis zwischen den Bürgern und diesem Erzbischof, das schließlich nur nach 69Harald Drös, Siegelepigraphik im Umkreis des ältesten Kölner Stadtsiegels, in: Archiv für Diplomatik 39 (1993), S. 149-199. 70Lacomblet 1, Nr. 258. 71Manfred Groten, Prioren und Domkapitel von Köln im Hohen Mittelalter (Rheinisches Archiv 109), Bonn 1980, S. 177-Anm. 48. 72Wie Anm. 57. 73Diederich (wie Anm. 58), S. 25f. 74Die Regestender Erzbischöfevon Köln im Mittelalter 2 (Publikationender Gesellschaft für RheinischeGeschichtskunde21), bearb.von RichardKnipping, Bonn 1901,Nr. 365f. 142 f c großem Tumult beschwichtigt wurde", heißt es in der Chronik von St. Pantaleon75 und die Brauweiler Annalen berichten zu 1139 sogar von einer Belagerung der Stadt durch den Erzbischof. 76 Die Beilegung des Streits hat die Stimmung unter den Bürgern und ihr Verhältnis zum Stadtherrn nachhaltig verändert. Es scheint, als habe Arnold I. den Kölnern um des lieben Friedens willen Zugeständnisse gemacht. In seiner Amtszeit werden erstmals Kölner Bürger in Urkunden des Erzbi77 Hofes Besucher Kenntnis zur schofs als seines genommen. Die Kölner Schöffen schließen sich mit Männern, die sie in ihre Reihen aufgenommen wissen wollen, so 78Sie haben Schöffenbrüdern, Bruderschaft zu einer zusammen. genannten also das Recht der Kooptation erlangt. Zugleich schmücken sie sich mit dem antiken Titel von Senatoren, der der von ihnen offenbar angestrebten Leitungsfunktion in der Stadt altes Herkommen und Würde verleiht 79In diese Phase könnte man auch das Stadtsiegel einordnen. Vielleicht wurde das Siegel schon 1144 verwendet, als der Streit zwischen dem Kölner Bürger Hermann, dem Stifter der Kirche St. Mauritius, und dem Abt von St. Pantaleon geschlichtet wurde8° Die Urkunde Arnolds I. zeigt neben dem angekündigten und auch erhaltenen Siegel des Erzbischofs unter dem Text ein zweites Loch im Pergament, durch das ein verlorenes Siegel gedrückt war, dessen Spuren durchaus den Dimensionen des Stadtsiegels entsprechen. Dass das Siegel nicht angekündigt ist, spricht nicht zwangsläufig gegen seine Anbringung, auch frühe Mitbesiegelungen erzbischöflicher Urkunden durch das Domkapitel 81 im Text werden nicht zwangsläufig erwähnt. Immerhin waren die Kölner Bürger eng in die Auseinandersetzungen um St. Mauritius involviert. Bei der Kirche wurde ein Nonnenkloster errichtet, dessen Vogtei die Kölner Schöffen wahrnahmen. Aber genug der Spekulation. Man wird im Einklang mit allen vorliegenden Befunden feststellen dürfen, dass der neue Typ des Heiligensiegels, der im Kölner Stadtsiegel seine erste Verwirkli75 Ipso anno sedicio gravissinza inter rives et ipsum episcopum oritur, et vix tandem post magnam tuna ltuacionem sedatur. Chronica regia Coloniensis (Monumenta Germaniae historica. Scriptoresrerum Germanicarumin usum scholarum 18), hrsg. von Georg Waitz, Hannover 1880,S. 75. 76Hoc anno (1139) Coloniensis civitas ab Arnoldo archiepiscopo obsessa est. Annales Brunwilarenses (Monumenta Germaniae historica 16), hrsg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1859, S. 726. 77Regesten der Erzbischöfe von Köln 2 (wie Anm. 74), Nr. 373,383,408,411,413,418. 78 Groten (wie Anm. 6), S. 2 mit Hinweis auf den Schreinseintrag M1V1 von ca. 1138/39. 79Hugo Stehkämper, Imitatio urbis. Altrömische Ämterbezeichnungen im Hochmittelalter in deutschen Städten, besonders in Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 47 (1986), S. 205233, hier S. 220f.; vgl. Groten (wie Anm. 13), S. 59f. 80Wolfgang Peters,Die Gründung des Klosters St. Mauritius in Köln, in: Jahrbuchdes KölnischenGeschichtsvereins54 (1983), S. 135-166,hier S. 163. 81Groten (wie Anm. 71), S. 149f. zu Lacomblet 1, Nr. 422 (1166). 143 den des 12. hat, Jahren Jahrhunderts zur Verfügung vierziger gefunden seit chung stand. Die Kölner Weiterentwicklung des Heiligensiegels unter dezidiert städtischen Vorzeichen kam den Bedürfnissen-bürgerlicher Führungsgruppen in so idealer Weise entgegen, dass das Kölner Stadtsiegel tatsächlich allenthalben Nachahmung gefunden hat, zuerst in Mainz und dann in vielen anderen Städten. Auf diese Weise erlangte die Vorstellung vom Heiligen als Helfer der Bürger, als Stadtpatron weite Verbreitung. Nach Kölner Vorbild wählten die Bürger von Bischofsstädten den Kathedralpatron zu ihrem Schutzheiligen. In kleineren Städten wurde meist nur ein einziger Heiliger in herausragender Weise verehrt, manchmal ein lokaler Heiliger, dessen Körper in der Kirche des Ortes ruhte und nicht selten Ziel von Wallfahrten war. Ein solcher Heiliger war, zumal wenn er sich durch Wunder hervorgetan hatte, zum Stadtpatron prädestiniert. In Städten mittlerer Größe konnte die Wahl unterschiedlich ausfallen. Während in Neuss der Patron des örtlichen Damenstifts St. Quirinus auf dem Stadtsiegel erscheint82, wählten die Soester den Patron ihrer Pfarrkirche St. Petrus als Bürgerpatron, nicht den Titelheiligen des Patroklistifts. 83 Auch nachdem die Rezeption des Gemeindekonzepts die Hilfskonstruktion des Heiligensiegels entbehrlich gemacht hatte, wirkte die suggestive Kraft des Bündnisses mit dem Heiligen fort. Auch wo neue kollektive oder korporative Begriffe in die Umschriften eindrangen, beherrschten die Heiligen weiterhin das Bildprogramm. So zeigt das Siegel der Stadt Metz aus den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts im Bildfeld die Steinigung des Kathedralpatrons Stephanus, während die Umschrift Sigillum sancti Stephani de communitate Metensi lautet 84 Eine universitas hat kein Abbild, sie kann sich aber eines beliebigen Zeichens bedienen, um ihren Besitz zu kennzeichnen und ihren Willen kundzutun. Für eine Stadtgemeinde lag es nahe, eine Stadtdarstellung als Erkennungszeichen zu wählen. So erscheinen Stadtbilder mit Mauern, Türmen und Toren z.B. auf den Stadtsiegeln von Cambrai (um 1185)85, Utrecht86 und Koblenz (vor 1200).87In Würzburg lugt als letzter Nachhall des Heiligensiegels ein winziges Kilianshaupt aus 82Rheinische Siegel 3. Die Siegel der rheinischen Städte und Gerichte (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 27), bearb. von Wilhelm Ewald, Bonn 1931, Tafel 26,1. 83Siegfried Fuchs, Die Soester Stadtsiegel, in: Soester Zeitschrift 88 (1976), S. 47-63, S. 49 Abb. 1. 84Kittel (wie Anm. 23), S. 295 Abb. 192a.- 85Brigitte Bedos, Les sceaux des villes (Corpus des sceaux francais du moyen age 1), Paris 1980, S. 153 Nr. 166. 86 Corpus sigillorum Neerlandicorum. De nederlandsche zegels tot 1300, 's-Gravenhage 1937-40, Nr. 62687Rheinische Siegel 3 (wie Anm. 82), Tafel 37,8. 144 88 Die Zeichen der Stadtgemeinden können hervor. Stadtarchitektur mit erneiner sten oder humorvollen Anspielungen auf den Stadtnamen bereichert werden. Auf dem Siegel der Stadt Arras tummeln sich Ratten um die Mauern89, auf dem Emmericher Stadtsiegel erscheinen zwei mit einem Eimer geschmückte Wappenschilde, auf dem Weseler ein Wiesel9° Seit dem 13. Jahrhundert wurden auch die Heiligen in Konflikte hineingezogen, die den Aufbau von geistlichen Landesherrschaften begleiteten. Die Schutzheiligen der Kathedralen wurden zu Stiftspatronen. So signalisierte das Bild des heiligen Petrus Herrschaftsansprüche des Kölner Erzbischofs. Aus dieser Perspektive konnte ein Stadtsiegel mit dem Bild des Heiligen zu der Vermutung Anlass geben, die betreffende Stadt betrachte sich als Bestandteil des kölnischen Landes. Eine solche Beanspruchung bestimmter Heiliger als Symbolfiguren weltlicher Herrschaft hat in einigen Fällen die Preisgabe eines Stadtpatrons und die Wahl eines neuen Schutzheiligen herbeigeführt. Ein gutes Beispiel liefert die schon erwähnte Stadt Soest. Den Soestern war es 1261 offenbar mit dem heiligen Petrus nicht mehr ganz geheuer. Er war inzwischen zu eng mit dem Kölner Erzbischof liiert, dessen Stadtherrschaft man abzuschütteln trachtete. Folglich ließ man ein kleines Sekretsiegel stechen, das den unverfänglicheren Stiftspatron St. Patroklus zum Stadtpatron beförderte, seit 1270 ausdrücklich als patronus in Susato.91 Die Kölner sind, wie üblich, weniger radikal vorgegangen. Das 1269 verloren gegangene Stadtsiegel mit dem heiligen Petrus im Bild wurde zwar in zeitgemäßer Form erneuert92,aber den Petruskult überließ man weitgehend dem Erzbischof. An seine Stelle trat die Verehrung der heiligen drei Könige, deren Reliquien im Besitz des Kölner Domkapitels waren. 93 Drei Kronen zierten schließlich das Stadtwap94 Mit nur einem Stadtpatron war es in Köln im Spätmittelalter ohnehin nicht pen mehr getan. Der Altar der Stadtpatrone, den Stephan Lochner um 1440/45 für die Ratskapelle malte, zeigt nicht nur die Anbetung der heiligen drei Könige im Mittelfeld, sondern auf den Seitenflügeln auch die Heiligen Gereon und Ursula mit ihrem Gefolge als Helfer der Bürger. 95Nachdem das bürgerliche Gemeinwesen auf rechtlichen Fundamenten ruhte, konnte man den heiligen Petrus aus seiner Stellvertreterfunktion, die einmal von elementarer Bedeutung gewesen war, entlassen. Die 88Kittel (wie Anm. 23), S. 300 Abb. 196b. 89Zu den Siegeln der Stadt Arras vgl. Bedos (wie Anm. 85), S. 66ff. Nr. 50ff. 90Rheinische Siegel 3 (wie Anm. 82), Tafel 75,1 und 85,1. 91Fuchs(wie Anm. 83), S. 50 Abb. 5. 92Diederich (wie Anm. 58), S. 47-62. 93Hans Hofmann, Die Heiligen Drei Könige. Zur Heiligenverehrung im kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben des Mittelalters (Rheinisches Archiv 94), Bonn 1975. 94Heiko Steuer, Das Wappen der Stadt Köln, Köln 1981, S. 31ff. 95 Stefan Lochner Meister zu Köln. Herkunft-Werke-Wirkung, hrsg. von Frank Günter Zehnder, Köln 1993, S. 324f. Nr. 46. 145 Mechanismen des Gemeinwesens waren entzaubert, ja sie waren manipulierbar geworden. Aber die Heiligen schauten dennoch vom Himmel weiterhin wohlgefällig auf ihr Werk, übrigens in holder Eintracht mit Gestalten der heidnischen Antike, dem Stadtgründer Agrippa, der Koloniegründerin Agrippina und dem mythischen Helden Marsilius, wie es uns die Kölner Stadtansicht von Anton Woensam 96 1531 von enthüllt. 96Hugo Borger und Frank Zehnder,Köln. Die Stadt als Kunstwerk. Stadtansichten vom 15. bis 20. Jahrhundert,Köln 1982,S. 115-125. 146