Zum Thema: Psychosomatik und Alter

Werbung
1
Zum Thema
Psychosomatik und Alter
D
ie Weltgesundheitsorganisation
WHO betont in der Ottawa-Deklaration von 1986 wie bedeutsam eine
selbstständige und selbstverantwortliche sowie persönlich sinnerfüllte und
aktive Lebensgestaltung für ein gesundes Altern ist. Um dieses zu ermöglichen, sind neben individuellen Kompetenzen und Ressourcen auch die Anregungen, Hilfen, aber auch Anforderungen aus dem sozialen Umfeld von entscheidendem Einfluss. Demografische
Berichte führen uns die steigende Lebenserwartung vor Augen mit einem
zunehmenden Anteil der alten und
hochaltrigen Bevölkerung. So wird
sich der Anteil der über 65-Jährigen im
Vergleich zu 1998 bis 2010 verdoppeln.
In der Gesundheitsversorgung, speziell
auch in der psychosomatischen und
psychotherapeutischen Medizin, müssen wir uns auf die speziellen Bedürfnisse dieser Altersgruppen einstellen.
Dabei ist es wichtig, das Altern als einen Prozess zu betrachten, der sich differenziert in die biologisch-physiologische, die psychische und die soziale Dimension. Diese lassen sich neben den
biografischen Verlusten immer auch
mit erheblichem Potenzial und möglicherweise auch Gewinnen beschreiben.
Das heißt auch, wir als Behandler sollten den Blick nicht nur auf Krankheit,
Funktionseinschränkung und Pflegebedürftigkeit richten, sondern auch auf
Wohlbefinden, subjektive Lebensqualität und Ziele. Für das psychosomatisch-psychotherapeutische Arbeiten
lässt sich betonen, dass es neben der
medizinischen Behandlung wichtig ist,
über die vorliegende Erkrankung hinaus die Auswirkungen von Einschränkungen, die Möglichkeiten zur
Aufrechterhaltung bzw. Wiedergewinnung von Selbstständigkeit sowie die
Bewältigungsmöglichkeiten und das
Selbsthilfepotenzial zu berücksichtigen. Das Robert Koch-Institut macht in
seinem Themenheft 10 „Gesundheit
und Alter“ (4) deutlich, dass Veränderungspotenziale im Alter vielfach unterschätzt werden, weshalb die vorhandenen Rehabilitationspotenziale,
aber auch Präventionsmöglichkeiten,
stärker genutzt werden sollten.
Gerade in der Psychotherapie sind
die Besonderheiten älterer Patienten
zu berücksichtigen, da die individuellen Unterschiede bei Senioren sehr
viel größer sind als bei Jüngeren. Um
der Psychotherapie mit Älteren gerecht zu werden, sind viele Stolpersteine zu beachten:
● diese können in einer einseitigen
Konzentration auf die Symptomatik liegen,
● auf zu wenig Respekt bzw. Bewusstsein für die Lebensleistung
und Ressourcen der Patienten und
Patientinnen beruhen,
● ebenso mangelhaftes Wissen über
Zeitgeschichte,
● geringes Wissen über spezifische
Probleme Älterer und
● Unterschätzung des Themas Religiosität.
Das Thema Selbstbestimmung sollte
stärker einbezogen werden und das
Augenmerk sollte auch auf die körperlichen Kompetenzen oder Einschränkungen gelegt werden und damit sollten auch körperorientierte
Verfahren, wie z.B. die progressive
Muskelrelaxation oder das autogene
Training, einbezogen werden. Rabaioli-Fischer (6) beschreibt in ihrem Buch
zur ambulanten Psychotherapie mit
Älteren diese Hürden und empfiehlt,
die Beziehungsgestaltung stets zu
überprüfen. Gerade auch die Zusammenarbeit von älteren Patientinnen
und Patienten mit jungen Therapeutinnen und Therapeuten kann für beide Seiten eine Bereicherung sein, sei
es die Begegnung mit lebenserfahrenen Menschen oder auch die Freude
an der Arbeit mit jungen Therapeuten,
Ärztliche Psychotherapie 1/2009
Prof.
Mechthild
Neises,
Hannover
da in diesen Konstellationen jede vergleichende und unter Umständen
konkurrierende Denkweise entfällt.
Besonderes Augenmerk verdienen
Genderaspekte, wie sie in der Psychotherapie generell gelten, aber speziell
bei älteren weiblichen Patienten hervorzuheben sind, da auch im Alter
Frauen häufiger Psychotherapie suchen als Männer. Zwar sind über 60%
der Älteren weiblichen Geschlechts,
aber nur in 6% der Forschungsarbeiten zur Psychotherapie kommen sie
vor. Durch die historischen Gegebenheiten in Deutschland und Europa war
keine Bevölkerungsgruppe wie die
jetzt über 60-Jährigen solch gravierenden lebenspolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt. Dazu gehören die Erfahrungen sexualisierter Gewalt in den
© Schattauer GmbH
Downloaded from www.aerztliche-psychotherapie.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
2
Zum Thema
Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit. Ältere sind auch von therapeutischer Seite in Gefahr, weniger Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Versorgung zu erhalten. Dies geht sogar so weit, dass es zu
populistischen Überlegungen kommt,
ob die medizinische Behandlung im
Alter vom Solidarsystem noch bezahlt
werden kann, verbrämt mit dem Hinweis, dass das Altern „ein normaler
Vorgang sei“. Dies erscheint wenig gerechtfertigt, da gerade die Gruppe der
jetzt älteren Menschen in ihrem aktiven Arbeitsleben eine wesentlich höhere Produktivität bei weit geringeren
Krankheitszeiten erzielt haben, Frauen entschieden mehr Doppelbelastungen in Beruf und Kindererziehung, in
der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt
und geleistet haben, wobei sie sich mit
viel geringeren Einkommen in
schlecht bezahlten Arbeitsfeldern begnügen mussten und deswegen oft
mit Renteneinkommen am oder unter
dem Existenzminimum leben müssen
(über 80% der über 80-Jährigen leben
mit dem Existenzminimum).
Zahlreiche Studien belegen, dass
das Eingebettetsein in ein gutes soziales Netz einen der hauptsächlichen
protektiven Faktoren darstellt, sowohl
für das Auftreten körperlicher und
seelischer Erkrankungen als auch für
deren Verlauf (5). Verwitwete Frauen
haben ein größeres Freundschaftsnetzwerk als Männer. Diese suchen
nach dem Tod der Frau ihrerseits häufiger eine neue Partnerschaft (8). Entsprechend hat in der Psychotherapie
die Anregung zum Aufbau eines sozialen Netzwerkes auch unterschiedlichen Stellenwert. Diese Anregung
kann auch für Frauen wichtig sein,
wenn sich diese z.B. nach langer Zeit
der Pflege ihres verstorbenen Partners
von ihrem Freundeskreis isoliert und
sozial zurückgezogen lebt und ist.
Baureithel (2) beschreibt nicht ohne
Provokation: „Apokalyptische Beschwörungen einer durch Vergreisung
dem Untergang geweihten Gesellschaft, Nation, gar der westlichen
Welt, wurden in den letzten Jahren
publiziert. Die einen beklagen das
Sinn-, die anderen das Rentenloch,
wieder andere sehen genauer hin und
daher mehr“.
Wir hoffen, Ihnen mit den folgenden Beiträgen letzteres, nämlich genauer hinzusehen und dadurch mehr
zu sehen, zu vermitteln.
Beiträge zum Schwerpunkt
Von G. Heuft wird in seinem Beitrag
mit dem Thema „Der körperliche Alternsprozess als Organisator der Entwicklung in der zweiten Hälfte des
Erwachsenenlebens – Implikationen
für die differenzielle Psychotherapieindikation“ darauf hingewiesen, dass
auch heute noch ältere Patienten hinsichtlich einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung erheblich unterversorgt sind, während
von gleichen Prävalenzzahlen psychischer Störungen im Alter im Vergleich zu Erwachsenen mittleren Alters auszugehen ist. Betrachtet man
die klassischen psychologischen
Theorien des Alters, so gehören dazu
neben dem Defizitmodell die am Lebenslauf orientierte Theorie, die
Theorie zur Gestaltung der sozialen
Umwelt und die Theorien erfolgreichen Alterns. Befragt man allerdings
Professionelle, so ist deren Perspektive auf das Alter nach wie vor an dem
Defizit oder Defektmodell orientiert.
Betrachtet man Menschen unterschiedlichen Lebensalters zu ihrem
Zeiterleben und ihren Entwicklungsaufgaben, so zeigt sich im Alter, dass
die Beschäftigung mit der eigenen
Gesundheit und der geistigen Leistungsfähigkeit einen zentralen Stellenwert hat. Entsprechend hat in einem entwicklungspsychologischen
Modell, welches weiter ausgeführt
wird, der somatische Alternsprozess
als der „Organisator der Entwicklung“ in der zweiten Hälfte des Erwachsenenlebens einen zentralen
Stellenwert. Dieser Erfahrung kann
sich das Individuum nicht entziehen
Ärztliche Psychotherapie 1/2009
und aus ihr resultieren zwangsläufig
die Entwicklungsaufgaben. In dem
Beitrag werden anhand einer Typologie von jenseits des 60. Lebensjahres
auftretenden psychischen Störungen
nach sorgfältiger Diagnostik die adäquaten Behandlungsansätze vorgestellt. Dabei wird auch im Alter die
oft gute Prognose betont. Hervorzuheben ist dazu, dass von G. Heuft
bereits 1990 der Begriff der Gerontopsychosomatik geprägt wurde (3).
Von A. Maercker liegt ein interessanter Beitrag vor zum Thema „Lebensrückblicksinterventionen
als
wirksame Alterspsychotherapietechniken“. Dieses Verfahren wird vorgestellt in der Abgrenzung sowohl zur
Biografiearbeit als auch zu Erinnerungs- oder Reminiszenzgruppen. Das
Verfahren der Lebensrückblicksintervention wurde bei älteren Patienten
mit psychischen Störungen wie Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung, komplizierter Trauer
und bei schweren körperlichen Erkrankungen, wie z.B. Krebserkrankung, untersucht. In dem vorliegenden Beitrag wird das Verfahren ausgeführt anhand einer Fallgeschichte einer Patientin mit traumatischen Belastungen aus dem 2. Weltkrieg. Außerdem wird eine Übersicht zu den relevanten Studien gegeben, die insbesondere die Wirksamkeit bei depressiven Störungen zeigt im Vergleich mit anderen Psychotherapieverfahren oder dem Einsatz von einer
medikamentösen Therapie. Der Autor
kommt zu der Empfehlung, diesen
methodischen Zugang breit einzusetzen, aber insbesondere bei Störungen
aus dem depressiven Formenkreis im
Alter.
Lesenswert schließt sich der Beitrag
von K. Lieberz an zum Thema „Jenseits von Viagra – Störungen der Liebesfähigkeit im höheren Lebensalter“.
Von dem Autor werden bei diesem
wichtigen Thema seine Erfahrungen
als Psychosomatiker und Psychotherapeut eingebracht und die Auswertung von 100 Anträgen in der Richt-
© Schattauer GmbH
Downloaded from www.aerztliche-psychotherapie.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
3
Zum Thema
linienpsychotherapie im Sinne einer
Zufallsauswahl. Während sexuellen
Störungen in epidemiologischen Studien eine große Bedeutung zukommt,
so geben von 100 verheirateten Paaren, bezogen auf die zurückliegende
Lebensspanne, 63% der Frauen und
40% der Männer Erfahrungen mit sexuellen Dysfunktionen an (9). Daneben spielen im ambulanten psychotherapeutischen Bereich sexuelle Probleme im weitesten Sinne nur in 9%
eine Rolle. Im Vergleich der höheren
Altersgruppen finden diese Störungsbilder bei Männern deutlich häufiger
Erwähnung als bei Frauen. Selten jedoch findet sich die sexuelle Störung
als Hauptmotiv für eine psychotherapeutische Behandlung. So zeigt sich
auch in Studien, dass gynäkologische
Patientinnen trotz sexueller Schwierigkeiten in 38% eine globale Zufriedenheit in ihrer Beziehung in 69% angeben (7).
K. Lieberz geht den Gründen nach,
warum sexuelle Probleme von Patientenseite im Gespräch vermieden werden und inwieweit der Arzt als „Verdrängungspartner“ fungiert. Er beschreibt in seinen weiteren Ausführungen den Wechsel von der Ebene
der individuumzentrierten Sexualstörung zur Ebene der Partnerschaftsdynamik und damit der Liebesfähigkeit und führt dabei fallzentriert aus,
wie sehr dies auseinandergehen kann.
Schließlich folgt der Hinweis auf die
Verbindung von Sexualstörung und
„Komorbiditäten“. Dies wird am Fallbeispiel eines Patienten mit chronischer Schmerzsymptomatik ausgeführt. In seinem Fazit beschreibt der
Autor die große Bedeutung sowohl
des Alters als auch der Geschlechtskonstellation zwischen Arzt und Patient und deren Einfluss auf den Behandlungsverlauf. So habe der männliche Arzt die Tendenz, sich mit seinem männlichen Patienten auf die
„technischen Aspekte der Störung“ zu
beschränken, während die Ärztin
leicht mit ihrer Patientin koaliert
durch gemeinsame „Verdrängung und
Verleugnung“, d.h. die Sexualprobleme nicht zum Gegenstand des Gespräches werden. Für die Behandler wird
dieser Beitrag hilfreich sein, den eigenen Blick wieder zu weiten, falls erforderlich.
Der 4. Übersichtsbeitrag ist von G.
S. Barolin zum Thema „Die Alt-jungBeziehung und die integrierte Psychotherapie“. Darin betont der Autor die
Beziehung zwischen den Generationen als wichtigen Entwicklungsbaustein für das individuelle Leben, aber
auch für die Gesellschaft. Diese generationenübergreifenden Beziehungen
bringen dem Einzelnen positive Potenziale wie Geborgenheit bis hin zu
materieller Unterstützung, daneben
liegen aber auch negative Potenziale
darin, sei es von Verwöhnung bis hin
zu Vernachlässigung. In dieser Konstellation schreibt G. S. Barolin dem
Psychotherapeuten die Aufgabe zu,
diese Potenziale zu erkennen und ihnen positiv, wenn erforderlich, gegenzusteuern. Dies wird vom Autor beschrieben in seinem therapeutischen
Konzept der integrierten Psychotherapie unter spezieller Beleuchtung der
psychotherapeutischen Ansätze als
auch der verschiedenen Beziehungskonstellationen von Eltern zu Kindern, von Enkeln zu Großeltern und in
der Alt-Jung-Beziehung allgemein.
Dabei lässt sich sicher Vieles noch
vertiefen in dem von G. S. Barolin
vorgelegten Buch zur integrierten
Psychotherapie (1).
R. Vandieken und Mitarbeiter stellen in ihrem Beitrag ihr stationäres
Behandlungsangebot in der Erfahrung
mit älteren, über 60-jährigen Patienten in einer allgemein-psychosomatischen Abteilung mit dem Schwerpunkt „Störungen im Alterungsprozess“ in der Rhein-Klinik Bad Honnef
vor. Das Spektrum der Störungen wie
auch die schwellen- oder alterstypischen Auslösesituationen werden beschrieben. Die spezifischen Behandlungsangebote werden vorgestellt,
wie auch die Behandlungsaufgaben.
Dazu beschreiben die Autoren die He-
Ärztliche Psychotherapie 1/2009
rausforderung in der Arzt-Patient-Beziehung. Die Behandler können eine
gute Kooperation dieser Altersgruppe
erwarten, bei Berücksichtigung der
spezifischen Aspekte der Alterspsychotherapie. Sie sind aber immer wieder aufgefordert, ihre Gegenübertragung zu reflektieren, wenn z.B. die
Sorge um die Belastbarkeit der Patienten die eigenen Berührungsängste widerspiegelt.
Darüber hinaus finden Sie viele interessante Artikel in den Rubriken zu
Praxiskonzepten, Abrechnungs- und
Honorarfragen, Gutachterverfahren
und, last not least, den Berichten aus
den Fachgesellschaften.
Lust auf Lesen?
M. Neises
1. stellvertr. Vorsitzende der DGPM
Literatur
1. Barolin GS. Integrierte Psychotherapie. Anwendung in der Gesamtmedizin und benachbarten Sozialberufen. Wien: Springer
2006.
2. Baureithel U. Zukunftskatastrophe Alter?
Demografische Mobilmachung und kluge
Stimmen. Forum Wissenschaft 2005; 22:
6–8.
3. Heuft G. Zukünftige Forschungsperspektiven einer psychoanalytischen Gerontopsychosomatik – Persönlichkeit und Alternsprozess. Z Gerontol 1990; 23: 262–266.
4. Kruse A, Gabet E, Heuft G, Oster P, Re S,
Schulz-Nieswandt F. Gesundheit im Alter.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes,
Heft 10, Robert Koch-Institut 2005.
5. Lehr U. Psychologie des Alterns. Wiebelsheim: Quelle und Meier 2003.
6. Rabaioli-Fischer B. Ambulante Psychotherapie mit Älteren. Lengerich: Pabst Science
Publishers 2008.
7. Rosen RC et al. Prevalence of sexual dysfunction in women: results of a survey study of 329 women in an outpatient gynecological clinic. J Sex Martial Ther 1993; 19:
171–188.
8. Schmidt-Denter U. Soziale Beziehungen im
Lebenslauf. Basel: Belz 2005.
9. Vermillion ST, Holmes M. Sexual Dysfunction in women. Prim Care Update Ob/
Gyns 1997; 4: 234–240.
© Schattauer GmbH
Downloaded from www.aerztliche-psychotherapie.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242
For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.
Herunterladen