VG München, Gerichtsbescheid v. 16.06.2015 – M 11 K 14.50687 Titel: Überstellungsfrist abgelaufen Normenketten: AsylVfG §§ 34a, 77 I 1 VwGO § 113 I 1 Schlagworte: Dublin-III-VO, Ablauf, Überstellungsfrist, Antragsablehnung, Maßgabe, Schutzes, Familie, Krankheit, Prozesskostenhilfe, Herkunftsland, Nigeria Entscheidungsgründe Bayerisches Verwaltungsgericht München M 11 K 14.50687 Im Namen des Volkes Gerichtsbescheid vom 16. Juni 2015 11. Kammer Sachgebiets-Nr. 710 Hauptpunkte: Dublin-III-VO; Ablauf der Überstellungsfrist; Überstellung nach Italien; Antragsablehnung mit Maßgabe des Schutzes der Familie; Krankheit; Prozesskostenhilfe gewährt; Herkunftsland: Nigeria Rechtsquellen: In der Verwaltungsstreitsache 1. ... 2. ... 3. ... zu 2 und 3: vertreten durch die Mutter ... zu 2 und 3 wohnhaft: ... - Kläger zu 1 bis 3 bevollmächtigt: Rechtsanwalt ... gegen ... - Beklagte beteiligt: ... wegen Vollzugs des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 11. Kammer, durch die Richterin am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichterin am 16. Juni 2015 folgenden Gerichtsbescheid: I. Der Bescheid der Beklagten vom ... Oktober 2014 wird aufgehoben. II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. IV. Den Klägern wird Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt ... beigeordnet. Tatbestand: Die Kläger sind eigenen Angaben zufolge nigerianischer Staatsangehörige; sie reisten am 9. September 2014 in das Bundesgebiet ein und beantragten am 17. September 2014 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Bei ihrer Befragung durch das Bundesamt ... (Bundesamt) am 17. September 2014 gab die Klägerin zu 1) an, Nigeria verlassen, drei Jahre in Libyen und drei Jahre und 4 Monate in Italien gelebt zu haben. Die Kläger zu 2) und zu 3) wurden 2011 und 2013 in Italien geboren. Laut Eurodac-Treffermeldungen vom 23. September 2014 liegt in Italien ein Asylantrag der Klägerin zu 1) vor. Auf die Wiederaufnahmegesuche des Bundesamts nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (DublinIII-Verordnung) an die zuständige italienische Stelle vom 1. Oktober 2014 erklärte sich Italien mit Schreiben vom 18. Oktober 2014 mit der Aufnahme der Kläger einverstanden. Mit Bescheid vom ... Oktober 2014 wurden die Asylanträge der Kläger als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und die Abschiebung nach Italien angeordnet (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Asylanträge seien gemäß § 27a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) unzulässig, da Italien aufgrund der dort bereits gestellten Asylanträge und der erteilten Aufenthaltstitel für die Behandlung der Anträge zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung auszuüben, seien nicht ersichtlich. Am 20. November 2014 stellten die Kläger einen Eilantrag (M 11 S 14. 50688) und erhoben Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Bundesamts vom ... Oktober 2014. Sie ließen beantragen, den Bescheid vom ... Oktober 2014 aufzuheben und den Klägern Prozesskostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwalt ... beizuordnen. Die Klägerin zu 1) sei verheiratet und mit ihrem Mann von Nigeria nach Libyen geflohen, wo sie 12 Jahre gelebt hätten. Sie seien 2011 nach Italien gelangt. Die Kinder seien 2011 und 2013 in Italien geboren worden. Da sie keine Heiratsurkunde vorweisen konnten, seien die Asylanträge getrennt worden. Der Kläger zu 3) leide an den Folgen der Geburt. Es sei in Italien keine ausreichende ärztliche Betreuung gewährt worden. Das Kind befinde sich in ärztlicher Betreuung. Ein Befund liege noch nicht vor. Es bestehe die Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers zu 3) nach einer Abschiebung nach Italien verschlechtere. In Italien habe die Familie keine angemessene Unterkunft gehabt. Sie seien von der Polizei bedroht und aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Die Zustellung des Bescheides sei am 13.10.2014 (gemeint wohl 13.11.2014) erfolgt. In Italien herrschten systemische Mängel. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe entschieden, dass Kinder eine ihrem Alter angemessene Betreuung erhalten und die Familie gemeinsam untergebracht werden müsse. Eine solche Garantie sei von den deutschen Behörden nicht angefordert worden. Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 25. November 2014 die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt. Mit Beschluss vom 8. Dezember 2014 lehnte das Gericht den Eilantrag mit der Maßgabe ab, dass die Beklagte eine Abschiebung der Kläger nach Italien erst durchführen darf, wenn sie eine Zusicherung der zuständigen italienischen Behörden eingeholt hat, dass die Familie zusammen untergebracht wird und die Kläger zu 2) und zu 3) eine angemessene Behandlung erfahren. Mit Beschluss vom 15. Juni 2015 wurde die Sache auf den Einzelrichter übertragen. Der Bevollmächtige der Kläger erklärte sich am 16. Juni 2015 telefonisch mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden. Die Beklagte verzichtete mit Schreiben vom 14.11.2001 auf eine Anhörung zum Erlass eines Gerichtsbescheides. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Verfahren M 11 S 14.50688 sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen Entscheidungsgründe: Über die Klage kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 VwGO). Die Klage ist zulässig und begründet, denn der Bescheid ist im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 2 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob bezüglich des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Italien oder auf den Zeitpunkt der ablehnenden Eilentscheidung, die dem Bundesamt am 10. Dezember 2014 zugestellt wurde, abzustellen ist, da die sechsmonatige Überstellungsfrist auch im letztgenannten Fall abgelaufen ist. Demnach ist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO die Zuständigkeit für das Verfahren auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Der Asylantrag ist daher nicht mehr nach § 27a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig und eine Anordnung der Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nach § 34a AsylVfG ist nicht mehr möglich (vgl. VG Regensburg U. v. 21.10.2014 - RO 9 K 14.30217 - juris Rn. 19; VG München U. v. 4.11.2014 - M 10 K 13.30627 -; VG Augsburg U. v. 11.9.2014 - Au 7 K 14.50016 - juris Rn. 31). Dass der Mitgliedstaat ausnahmsweise nach Fristablauf weiterhin zur Übernahme bereit wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der streitgegenständliche Bescheid ist damit im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht objektiv rechtswidrig. Die Kläger sind durch den streitgegenständlichen Bescheid auch in ihren Rechten verletzt. Zwar handelt es sich bei den Regelungen der Dublin III-VO um objektive Zuständigkeitsvorschriften, die den Asylbewerbern grundsätzlich keine subjektiven Rechte verleihen (vgl. Beck’scher OK AuslR/Günther, Stand 1.9.2014, § 27a Rn. 30). Wenn allerdings die Überstellungsfrist in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat abgelaufen ist und alleine die Zuständigkeit der Beklagten bleibt, kann der Asylbewerber dies als Ausfluss des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem nunmehr zuständig gewordenen Staat geltend machen (vgl. VG Regensburg U. v. 21.10.2014 - RO 9 K 14.30217 - juris Rn. 20; VG Regensburg U. v. 23.10.2014 - RN 3 K 14.30180 - juris; VG Augsburg U. v. 11.9.2014 - Au 7 K 14.50016 - juris Rn. 32; VG München U. v. 4.11.2014 - M 10 K 13.30627 -; VG Göttingen B. v. 30.6.2014 - 2 B 86/14 - juris; VG Magdeburg U. v. 28.2.2014 - 1 A 313/13 - juris; Beck’scher OK AuslR/Günther, Stand 1.9.2014, § 27a Rn. 39; a. A.: VG Düsseldorf B. v. 18.9.2014 - 13 L 1785/14.A - juris; einschränkend: VG Würzburg B. v. 30.10.2014 - W 3 E 14.50144 - juris Rn.14: subjektives Recht nur, wenn sich der andere Mitgliedstaat auf den Ablauf der Überstellungsfrist beruft). Somit war der Bescheid aufzuheben. Es ist nun Sache der Beklagten ein ordnungsgemäßes behördliches Verfahren durchzuführen. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO. Da die Kläger obsiegen wird ihnen Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt ... beigeordnet (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO). Aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den beigefügten Belegen (§ 166 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO) ergibt sich, dass die Kläger die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können. Gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 121 Abs. 2 ZPO wurde den Klägern der bereits bevollmächtigte Rechtsanwalt beigeordnet. Angesichts der inmitten stehenden schwierigen Rechtsfragen und der weit reichenden Bedeutung des Verfahrens für die Kläger erscheint die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich. Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ist gebührenfrei; Kosten werden insoweit nicht erstattet (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Rechtsmittelbelehrung: Nach §§ 84 und 124a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen diesen Gerichtsbescheid (Ziffern I bis III des Tenors) innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München schriftlich beantragen. In dem Antrag ist der angefochtene Gerichtsbescheid zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Gerichtsbescheids sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist. Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof. Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen. Anstelle der Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten mündliche Verhandlung beantragen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden. Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt. Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Beschluss (Ziffer IV.) steht der Staatskasse die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu. Die Beschwerde ist beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Sie kann nur darauf gestützt werden, dass die Partei nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Zahlungen zu leisten habe. Die Beschwerde kann nur bis zum Ablauf von drei Monaten seit der Verkündung der Entscheidung eingelegt werden. Wird die Entscheidung nicht verkündet, so tritt an die Stelle der Verkündung der Zeitpunkt, in dem die unterschriebene Entscheidung der Geschäftsstelle des Gerichts übergeben wurde. Im Übrigen ist dieser Beschluss unanfechtbar. Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.