Reboot - Die Krise nutzen

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www.rebook.ch
Ein inhaltsoffenes Buch. Mitautorinnen/en können sich auf der Website
registrieren. Alle Textteile mit Ausnahme des Titels, der Cartoons und dem
Klappentextes sind veränderbar. Zitate und Hinweise bitte mit der URL der
Website versehen. Alle Autorinnen/en werden im Autorenverzeichnis
aufgeführt.
© 2007 www.rebook.ch
Markus Hartmeier, Promenadenstr. 86,
9400 Rorschach, Schweiz, [email protected]
Permission is granted to copy, distribute and / or modify this document under
the terms of the GNU Free Documentation License Version 1.2 or any later
version published by the Free Software Foundation
ISBN 978-3-033-01189-2
Book on Demand Digitaldruck AWZ St.Gallen, Switzerland. www.awz-sg.ch
Die Karikaturen stammen von Gregor Müller, St.Gallen,
das Titelbild „Mein Freund“ von Gottfried Helnwein, Tipperary.
Die Veröffentlichung erfolgt mit Bewilligung der Künstler.
Das vorliegende Buch ist ein Teil des gemeinnützigen
Gesamtprojektes Reboot. Es besteht aus weltweitem Diskurs
(lernendes
Buch),
kulturellen
Inzentives,
gesellschaftlichen
Veränderungen, Referaten, Zukunftswerkstätten und soll in die
Gründung vernetzter ThinkTanks münden, welche diesen Ideen zum
Durchbruch verhelfen. Dazu ist aber Geld und Engagement vieler
nötig. Werden Sie selbst Botschafter dieser Ideen.
2
Markus Hartmeier (Hg.)
Reboot !
Die Krise nutzen
Ein lernendes, inhaltsoffenes Buch
Mach mit – Bekomm 1 – Verschenk 2!
Die Sterne vom Himmel lügen:
3
weniger am Firmament,
dafür einige mehr, die auf der Erde leuchten1.
An Utopien glaubt man nicht. Utopien sind Vorstellungen von einer
anderen Zukunft. Wenn ich also sage, wir brauchen mehr
Solidarität in der Gesellschaft, dann ist das eine Utopie. Und dann
muss man dafür sorgen, dass solche Utopien auch realisiert
werden.2
1
Selbstverständlich ohne jede Gewähr!
Übrigens, da dieses Buch für eine bunt gemischte Population von animi und
animae geschrieben ist, wird auch relativ bunt – also ohne einheitliche
Regelung – mit weiblichen und männlichen Formen umgegangen. Entgegen
der Rechtschreibung wird „jedermann“ mit einem „n“ geschrieben.
Ebenso spielerisch werden Formen, wie „Sie“, „du“, „ihr“ „euch“, „wir“, „ich“ und
zuweilen „man“ verwendet, wie es sich für eine anständige Plauderei
geziehmt.
Nicht gelogen ist, dass dieses Buch nur dank der Hilfe, Unterstützung und der
Rücksichtnahme sowie dem Wohlwollen einiger wichtiger Personen zustande
kam. Insbesondere Dank verdient hat Esther Flury, welche mit Akribie sich um
die Tücken des richtigen und lesbaren, fehlerfreien Ausdruckes bemüht hat,
besser als ich es könnte. Die Aphorismen auf S. 23, 40, 76, 116, 144, 146,
148, 150, 168, 179, 191, und 214 entnahm ich: Schmidt, A. P.: Turi’s Turing
Test. Blue Planet Team Network, www.wissensnavigator.com, 2005
2 Elmar Altvater in einem Interview in der taz, 16.1.2006, Seite 28. Siehe auch:
Altvater, E.: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Westfälisches
Dampfboot, Münster, 2006
4
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ..................................................................................... 7
Lügen mit Hand und Fuss .......... Error! Bookmark not defined.
Ethik der wahr-haften Lüge ..................................................... 37
Bilder machen Leute – Leute machen Bilder ........................... 48
Handlungstheorie und die Droge Entropamin .......................... 57
(K)ein Staat zu machen ........................................................... 71
Krieg „funzt“ nicht mehr ........................................................... 78
Bei Flut steigen alle Schiffe – auch Hänschens! .................... 102
Bombiges Pyramidenspiel Geld ............................................ 139
Demokratur: Herrschaft des Volkes über das Volk ................ 153
Wertschöpfung: Wirtschaft für Werte und Arbeit .................... 183
Soziale Buchhaltung: Hilfe oder Fürsorge? ........................... 203
Wissenschaft: Empirie genügt nicht! ..................................... 217
Gesundheit: Lebenseinstellung statt Versorgung .................. 231
Eine Religion: Sinn, Einheit und Zuversicht stiften ................ 252
Ökologie: Macht Unbekümmertheit wieder möglich ............... 265
Ethik: Der Seiltanz mit dem Guten und Bösen....................... 273
Schlusswort........................................................................... 282
Literaturverzeichnis ............................................................... 292
Die 32 eingestreuten Cartoons zur Weisheit der Dakota Indianer
und unserem Umgang damit bis zum Schlussfazit sowie die
Aphorismen sollen ebenso Anstoss geben wie der Lauftext.
5
6
Vorwort
Probleme kann man niemals mit derselben
Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
(Albert Einstein)
Unsere Welt, unser Weltbild, unsere Weltgesellschaft ist in der
Krise. Angst und Unsicherheit macht sich breit. Die Folgen
daraus sind unterschiedlich. Während die einen dazu neigen,
dies auszublenden und zum Rückzug ins Private blasen und
das persönliche Wohlergehen über das Aller stellen, reagieren
andere mit Hoffnungslosigkeit und Lähmung, wieder andere mit
übertriebener Beschönigung der dramatischen Zustände.
Wieder andere stürzen sich in übertriebenen Aktivismus und
wähnen, dass dogmatische Kritik am System den Ausweg
darstellt und das Festhalten an überholten Wahrheiten.
Während die einen immer stärker leiden, profitieren die andern
umso mehr.
Während die einen verzweifelt um ihre Pfründen kämpfen,
kämpfen die anderen ums nackte Überleben. Die einen huldigen
dem Optimismus, die andern verkünden vollmundig den
Opportunismus, die dritten suchen ihr Glück im Pessimismus
und weitere gar im verzweifelten Festhalten. Die einen suchen
sich an alten oder neuen Wahrheiten zu orientieren, die andern
suchen neue Utopien. Während die einen akribisch die
Mikroebene besser zu ergründen versuchen und sie in immer
mehr Einzelteile zerlegen, versuchen die andern von einer
Gesamtschau her zu erfassen was wichtig ist und wie es
zusammenhängt. Schliesslich verschränken sich diese
Bewegungen alle: Diese vermeintlich unterschiedlichen
Grundstimmungen sind Auswirkungen desselben: Wir wollen
alle retten und verbessern und das mit voller Kraft. Deshalb
stören solche, die andere Veränderungsvorschläge machen,
ausserordentlich. Es ist das Phänomen „des Hyperns“, das uns
erfasst:
Überkontrolle,
Überanpassung,
Hyperreflexion,
Hyperintention, Überbesorgtheit, Überverantwortlichkeit3. Selbst
3
Dass solche Reaktionen diejenigen Effekte verstärken, welche man versucht
zu überwinden, stellte schon Viktor Frankl fest. Frankl, V. E.: The Doctor and
7
die Erschöpfung und Verzweiflung kann als Folge des Hyperns
betrachtet werden. Grosses Engagement, das enttäuscht wird
weil es nicht fruchtet, führt in die Agonie, oder zu Wut oder...
Lemminge: Es hilft nicht, jeden einzelnen vor der Klippe
zu retten, wenn der Strom die Richtung beibehält4.
Wir sind „versklavt“ von
Wirklichkeitskonstruktionen:




folgenden
widersprüchlichen
Sisyphos: Kaum ist die Arbeit getan, so tue wiederum
dasselbe! Die Geschichte des Sisyphos belegt unsere
Erfahrung der Wirkungslosigkeit und Nutzlosigkeit. Auf die
andere Seite lehnen wir uns gegen diese Deutung auf.
Deshalb tun wir weiterhin dasselbe.
Hydra: Beseitige die Ursache mit dem Effekt, dass die
Ursachen sich hämisch und gefährlich vermehren. Diese
Deutung ist der ersten insofern verwandt, als sie die
Erfahrung der Wirkungslosigkeit „zementiert“.
Sirenen: Lass dich vom Wehklagen oder Wohlgesang
verleiten und anlocken und siehe, du wirst verschlungen.
Die Sirenen sind ein Beispiel für die Verlockungen, denen
wir beim Analysieren der Probleme und auf der Suche nach
Lösungen begegnen. Die Sirenen locken damit, dass sich
einfach alles in Wohlgefallen auflöst. Wer würde diesem Ruf
widerstehen?
Damokles: Das Schwert des Damokles dräut vermeintlich
so unausweichlich über dir, dass du gar nicht erst
versuchst, ihm zu entrinnen. Das Schicksal ereilt dich so
oder so.
the Soul: From Psychotherapy to Logotherapy, Random House, London, 1986.
Dt. erschienen: Frankl E.V.: Ärztliche Seelsorge, Zsolnay, Wien, 2005. Zudem
kommt neuerdings noch die Einsicht der „Hypokognition“ dazu. Wir agieren
häufig ohne Vision und Verständnis der Zusammenhänge, und dies tendenziell
überschiessend und adhoc statt strategisch.
4 Oder wie es J. Beck formuliert: Es geht nicht um die Rettung Schiffbrüchiger,
sondern um die Rettung brüchiger Schiffe. Beck, J.: Der Bildungswahn,
Rowohlt, Reinbek, 1994. S. 51
8

Zauberlehrling: Die Geister, die wir riefen, werden wir nun
nicht mehr los.
Es gibt allerdings auch hellere Lösungsbilder, die vielleicht
treffender sind wie zum Beispiel: Die Macht der Schwäche
(David und Goliath); Orientierung nicht verlieren (Ariadnefaden);
Die Lösung ist bereits im Gange (Es braucht nur einen
bestimmten Schwellenwert bis zur Eigendynamik5) oder
Münchhausens Zopf (Warum sollte eine Befreiung aus eigenem
Antrieb nicht möglich sein? Und wer sollte uns denn dabei
behilflich sein, wenn nicht wir selbst? – Etwa die
Ausserirdischen?6)
Unsere Glaubenssätze formen die Zukunft7.
Dieses Buch möchte beliebt machen, die zunehmende
Verunsicherung und die scheinbare Ausweglosigkeit als Zeichen
dafür zu betrachten, dass wir kurz vor einem Phasenübergang8
stehen und nicht etwa vor der Apokalypse oder Armageddon.
Was wir jetzt an uns selbst, an andern und an gesellschaftlichen
Prozessen wahrnehmen, sind die unvermeidlichen, aber
schmerzlich empfundenen Vorboten.
„Wenn hingegen genug Menschen fest daran glauben, dass die Zukunft
zumindest teilweise in ihrer Hand liegt, verbessern sich die Aussichten auf
unser Überleben ungeheuer, denn dann wird es weitaus wahrscheinlicher,
dass die Menschen geeignete Gegenmassnahmen ergreifen, um die
erdgeschichtliche Katastrophe zu verhindern.“ Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn
des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta, Stuttgart, 2005, S. 32
6 „Heute leiden wir an einem fast panikartigen Vertrauensverlust im Hinblick
auf das Gute im Menschen und auf seine Fähigkeit, sich selbst zu helfen.“
Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta,
Stuttgart, 2005, S. 34
7 O’Connor, J.; McDermott, I.: Systemisches Denken verstehen & nutzen. Die
Lösung lauert überall. VAK, Kirchzarten 2006. S. 68. Resultat sog.
Vorwärtskopplung
8 „Diese ‚beinahe chaotischen’ Perioden treten dem Nobelpreisträger Ilya
Prigogine zufolge dann auf, wenn Systeme sich auf der nächsten
Komplexitätsebene regenerieren und restrukturieren.“ Zit. nach: Lietaer, B. A.:
Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002
5
9
Ohne Vision geht ein Volk zugrunde!9
Dieses Buch wurde für jene Leserinnen und Leser geschrieben,
die nicht daran glauben wollen, dass die Zukunft nur die lineare
Verlängerung der Gegenwart darstellt, nur aus Überdauern von
Wahrheiten besteht, die ihren Zenit schon überschritten haben
oder nur Schicksal, nur Fortsetzung von Sachzwang sein soll.
Dieses Buch wurde für Freiheitsliebende, Selbstverantwortliche
geschrieben, die sich nicht vorstellen wollen, dass es
ausserhalb des herrschenden Denkens keine weiteren lebensund bedenkenswerten Möglichkeiten mehr geben soll.
Dabei ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass wir die
Probleme nicht mit dem gleichen Denken lösen können, mit
welchem wir sie erzeugt haben. Manchmal ist es nützlicher, statt
die Dinge ändern zu wollen, unsere Sicht der Dinge zu ändern.
Siehe da: Wenn wir die Dinge verändert betrachten, verändern
sie sich. Verabschieden wir uns vom Teufelskreis und vom
irreführenden Sachzwang und nehmen an, dass die meisten
Prozesse in Kreisen und Schlaufen und Spiralen stattfinden. Ja
akzeptieren wir sogar, dass Ordnungsprozessen chaotische
Zustände vorausgehen.
Im Teufelskreis kann man
nicht gegen die Wand fahren.
Befreien wir uns aus der Problemtrance! Trauen wir uns den
Phasenübergang zu einem lernenden System zu10!
9
Die Bibel, Altes Testament, Sprüche, 29,18 Ausspruch König Salomos
Damit auch dieses Buch selbst zu einem lernenden System wird, wird unter
www.rebook.ch ein eine Art Feedback Book eröffnet. So wäre dieses Buch das
einzige lernende Buch auf dem Markt. Sie können es zusammen mit andern
Engagierten verbessern und anpassen. Jederzeit und gratis erhalten Sie im
Internet ein aktuelles Update bzw. Upgrade. Zudem können Sie die aktuellste
und die ursprüngliche Fassung als Paperback direkt beziehen. Wikibooks.org
funktioniert ähnlich, nur, dass es diese Bücher normalerweise nicht gedruckt,
sondern nur im Internet gibt. Arbeiten Sie mit an einer Verstärkung und
Verbesserung. Das Thema kann dadurch nur gewinnen und Sie auch.
10
10
Um internationalen Frieden zu erreichen, müssen wir uns um
die Organisation der Macht kümmern. Um allen ein
menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, müssen wir uns der
Produktion und Verteilung der Güter annehmen. Um allen das
nötige Steuerungswissen zu vermitteln, haben wir uns mit der
Organisation des Wissens und der Bildung zu befassen. Um
zukünftigen Generationen eine Erde zu hinterlassen, die
weiterhin Lebensgrundlagen zur Verfügung stellt, haben wir uns
mit dem Kreislauf der Ressourcen auseinander zu setzen. Und
schliesslich, damit die Ideenwelt nicht kurzsichtig wird, haben
wir uns mit Ethik und Religion zu beschäftigen11.
Wir leben in einer Zeit, in welcher immer mehr Menschen zu
Recht ihr Wohlergehen einfordern. Immer mehr Menschen
werden jedoch gleichzeitig krank, verarmen, werden einsam
oder verhungern. Der individualisierende Ansatz von Helfen und
Heilen greift hier zu kurz. Während die individuelle
Anspruchshaltung steigt, sinkt das prosoziale Engagement und
die Eigenverantwortlichkeit. Grundsätzliche Veränderung ist
notwendig.
Der einzelne Mensch kann nicht geheilt werden, ebenso wenig
wie das System, in welchem er lebt12. Jedoch das
unermessliche Leiden von immer mehr Menschen weist ja
gerade aufdringlich darauf hin, was Probleme auslöst und
11
Dass es anwachsende Gruppe von Menschen gibt, die die Dinge als
Ganzes und veränderbar betrachten, zeigt die Forschungsarbeit des
Soziologen Paul Ray. Er nennt diese Gruppen von Menschen, die zur Zeit
etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen die „Kulturell Kreativen“.
Ray, P., Anderson, S. R.: The Cultural Creatives, Harmony Books 2000
12 Auf die Problematik des Begriff der Krankheit und Heilung im
Zusammenhang mit lebenden und sozialen Systemen weis Klaus Mücke hin.
Im psychosozialen Kontext gibt es weder Krankheiten nach Heilungen,
sondern ausschliesslich Probleme und Lösungen. Mücke, K.: Probleme sind
Lösungen. Klaus Mücke Ökosysteme Verlag, Potsdam, 2003. Zudem muss
heute gefragt werden, ob individualisierende Konzepte, wie der pandemisch
verwendete Begriff „Krankheit“ es darstellt, zum Teil sinnlos sind oder gar
kontraproduktiv wirken können. Mangelernährung und Arbeitslosigkeit ist mit
diesem Konzept nicht beizukommen. Deren Folgen werden jedoch
individualisierend behandelt, als ob es sich doch um „Krankheit“ handelte.
11
Schwierigkeiten bereitet. Wie wäre es, wenn dort Remedur
geschaffen wird?
Martin Seligman13 hat festgestellt, dass es sehr darauf
ankommt, wie wir unsere Befindlichkeit deuten, wie wir unsere
Möglichkeiten betrachten und wie wir unseren Einfluss
bewerten. Je nachdem leiten wir daraus befreiende Handlung
oder depressives Verharren ab.
No one knows enough to be a pessimist.
(Wayne Dyer14)
Ich bin Skeptiker, also kann ich kein Pessimist sein.
(Milan Kundera15)
Es ist davon auszugehen, dass Systeme den Menschen in
seiner Lebensgestaltung prägen, dauernd beeinflussen und
sozialisieren (daraus würde folgen: Der Mensch ist das Produkt
seiner Umwelt!). Es ist zudem davon auszugehen, dass der
Mensch auf die Funktion der biochemischen Prozesse und der
genetischen Grundlagen angewiesen ist (daraus würde folgen:
Der Mensch ist das Produkt eines technischen Bauplans und
linearer Prozesse). Scheinbar, so wird postuliert, bleibt nach
Abzug der erdrückend starken Einflüsse und Prägungen seitens
der Umwelt, der Biochemie, der Genetik und gar des Schicksals.
(daraus würde folgen: Der Mensch ist das Produkt von Zufall
oder allenfalls eines Plans einer höheren Macht). Es bleibt kaum
noch Platz für ein Selbst, eine individuelle Gestaltungskraft, für
eine persönliche und überindividuelle Verantwortung sowie
Handlungs- und Entscheidungsfreiheit übrig. Die einen feiern
dies, als ob es eine Befreiung von Schuld wäre: „Wir können
nicht anders. Wir können nichts dafür. Es musste so kommen“,
13
Seligman, M.: Learned Optimism, Vintage, New York, 2006. Gemäss Seligman, M.E.: The Optimistic Child, Harper, New York, 1996, S. 38 beträgt die
lifetime Prävalenzrate für Depression in Amerika 60 %. Und bei uns?
14 Wayne Dyer ist Erfolgsautor im Bereich Lebensratgeber und Selbsthilfe. z.B.
Dyer, W.: Der wunde Punkt. Die Kunst nicht unglücklich zu sein. Rowohlt,
Reinbek, 2004
15 Milan Kundera ist unter andere bekannt geworden durch: Kundera, M.: Die
unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Fischer, Frankfurt, 1987
12
rufen sie lauthals aus, als ob sie eine Frohbotschaft
verkündeten16.
Ich
meine
hingegen,
dass
selbst
Umwelteinflüsse, Genetik und Chemie nicht davon befreien
können, dass wir für unsere Handlungen, Entscheidungen
persönlich voll und ganz die Verantwortung tragen. Sicher: Dies
macht uns auch schuldfähig und Schuld drückt. Aber es gibt uns
auch die Möglichkeit und Freiheit zur Gestaltung, zur
Veränderung17. Denn die vierte dieser möglichen Weltenformeln
ist: Der Mensch ist ein Lebewesen, das ebenso sehr abhängig
ist, wie er selbst Einfluss ausübt. (Daraus folgt: Der Mensch ist
aufgefordert 100 % Selbstverantwortung zu tragen, dafür was er
und die Menschheit bewirkt. Umgekehrt ist er ebenso in der
Lage seiner Abhängigkeit bewusst zu sein und dafür
Dankbarkeit und Demut zu empfinden.)
Wir müssen uns also damit beschäftigen

inwieweit jedeR in der Lage ist oder in die Lage versetzt
werden kann, für sich selbst und das Ganze18 verantwortlich
zu handeln
16
Zudem dünkt es mich etwas gar einfach, alle Fehlleistungen, die uns bisher
in der Zivilisation und „Zuvielisation“ unterlaufen sind, auf etwas
zurückzuführen, was ausserhalb von unserer Beeinflussbarkeit liegt; alles
jedoch, was uns gelungen ist, stolz als Produkt unserer Leistung und Fähigkeit
zu verkünden. Dieser selbstreferentielle Erklärungskreislauf würde uns
versklaven, sodass wir selbst dann noch in der gleichen Richtung weiter
marschieren würden, wenn wir erkannt hätten, dass wir auf den Abgrund hin
steuern. Im Teufelskreis kann man nicht an die Wand fahren.
17 „Die Idee des freien Willens ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Wer daran glaubt, befreit sich von dem absoluten Determinismus äusserer
Einflüsse. … Diese Überzeugung ist in sich selbst eine ‚Ursache’“
Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta,
Stuttgart, 2005, S. 33
18 Das Ganze meint ein komplexes Wirkungsgefüge, eben ein System.
Systeme haben Eigendynamiken, verhalten sich eigenwillig. Dies ist zu
beachten. Strukturen beeinflussen Verhalten. Häufig werden wir von solchen
Charakterzügen gefangen. Wir werden Opfer des eigenen Erfolgs (Limits to
Growth; Escalation; Tragedy of the Commons, Growth and Underinvestment);
wir werden wie im Zauberlehrling überflutet (siehe a. S. 53, Shifting the
Burden; Fixes that Fail); wir übersehen, dass Kooperation erfolgreicher ist als
Kampf (Accidental Adversaries); wir werden von Suchteffekten ergriffen wie
dem Mark Twain-Effekt (In dessen Buch „Leben auf dem Mississippi“ soll der
Satz stehen: „Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatte, verdoppelten sie
13



inwieweit die Gesellschaft (i. e. S. der Staat) Verantwortung
zu übernehmen hat für Einzelne und für das Ganze
und was mit psychologischen oder medizinisch-technischen
Mitteln zu beeinflussen ist
sowie – und dies ist bedeutungsvoll – was nicht verändert
werden kann oder sollte, d. h. womit wir leben müssen,
können und uns damit zu arrangieren haben
Ein hilfreicher Deutungsraster für die Probleme der heutigen Zeit
könnte auf folgenden Gedanken basieren:










Die Probleme von heute beruhen auf den Lösungen von
gestern.
Je stärker du drückst, desto stärker schlägt das System
zurück.
Das Systemverhalten wird besser, bevor es schlechter wird
(auch: Es wird schlechter, bevor es besser wird. Selbst
Rückfälle sind notwendige Zeichen einer anhaltenden
Besserung. Klammerbemerkung erg. d. Verf.).
Der leichte Ausweg führt gewöhnlich zurück ins Problem.
Die Therapie kann schlimmer sein als die Krankheit.
Langsamer ist schneller.
Ursache und Wirkung sind raumzeitlich nicht eng verknüpft.
Kleine Änderungen können grosse Wirkungen erzielen –
aber die sensiblen Druckpunkte des Systems sind am
schwersten zu erkennen.
Man kann den Kuchen haben und ihn essen – nur nicht
gleichzeitig.
Wer einen Elefanten in zwei Hälften teilt, bekommt nicht
zwei kleine Elefanten.
die Anstrengungen.“ Eroding Goals); oder wir setzen “unschuldig” eine
Kettenreaktion im Sinne des Matthäus Prinzip in Gang (siehe S. 216; Success
to the Successful); zu Guter Letzt können wir auch ungeduldig werden und
schliesslich in Panik geraten (Balancing process with delay). Diese
Phänomene wie wir von Systemen verführt, in die Enge getrieben, geschlagen
und verwirrt werden, nennt Peter Senge “Archetypen”. Senge, P.M.: Die fünfte
Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Klett-Cotta, Stuttgart,
2003; Twain, M.: Leben auf dem Mississippi, Aufbau, Berlin 2001 (engl. 1884,
dt. erstmals 1890)
14

Schuldzuweisungen bringen nichts.19
Dieses Buch geht von einer ökosystemisch-konstruktivistischen
Grundhaltung aus. Dies bedeutet, dass einerseits die Dinge
nicht voneinander unabhängig sind und andererseits eine fixe
Realität nicht existiert. Wir alle sind Beobachter. Wir erfinden
gemeinsame und unterschiedliche Wirklichkeiten. Warum sollte
es also nicht möglich sein, auch andere wünschbare
Wirklichkeiten und Zusammenhänge zu erfinden? Die Vorsilbe
öko- (in öko-systemisch) ergänzt, dass man die Dinge immer
vom ganzen Wirkgefüge20 her und nicht nur vom Mikrokosmos
betrachten sollte.
Aus der konstruktivistischen Sichtweise, die diesem Buch
zugrunde liegt, soll nicht erneut eine scheinbar wirkliche
Wirklichkeit gefolgert werden können. Es soll nicht möglich sein,
die hier dargelegten Gedanken in apodiktisch-dogmatischer Art
zu vertreten. Es soll auch nicht einem Idealismus gehuldigt
werden, der dazu verführt, darin Schutz zu suchen, statt zu
ergründen und zu handeln. Es soll also damit nicht „Mehr
Desselben“ hergestellt werden.
Es ist gar nicht so einfach, alternative Ideen als nicht erhabener,
besser, gescheiter darzustellen. Damit würden sie aber den
anregenden Charakter verlieren – und führten damit die
konstruktivistische Grundhaltung ad absurdum. Deshalb habe
ich die folgenden Kapitel dem bekannten Lügenbaron
Münchhausen21 in Auftrag gegeben, womit wir beim Lügen
wären: Die Mutter der Utopie. Die Lüge ist etwas, das nicht dem
Faktischen folgt, sondern sich wagt, daneben zu liegen und das
19
Willke, H.: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Fischer, Stuttgart, 1999, S.
182, vgl. dazu auch: Senge, P.M.: Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der
lernenden Organisation, Klett-Cotta, Stuttgart, 2003, S. 72ff
20 Der Physiker Hermann Haken begründete die Lehre des Zusammenwirkens
und nennt sie Synergetik. Diese neue holistische Auffassung findet nun auch
in den Sozialwissenschaften und der Psychologie Anwendung. Haken, H.:
Synergetik, Springer, Berlin, 1982; Hansch, D. Psychosynergetik,
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1997
21 Sie mögen dem Baron nachsehen, wenn er sich besonders anfänglich mit
den heutigen Sprachgepflogenheiten etwas schwer tut. Er verwendet teilweise
Ausdrücke, die der Duden lakonisch als „veraltet“ bezeichnet.
15
Unwirkliche ebenso zu postulieren, als ob es wahr wäre.
Fürbass: Was ist Wahrheit? Was ist Lüge? Was ist Wirklichkeit?
Was ist Utopie?
Es ist der Unterschied, der den Unterschied macht.22
(Gregory Bateson)
Nun bin ich Ihnen aber noch die Auflösung des Buchtitels
schuldig. Reboot! Sie kennen dieses Wort aus dem
Computerjargon. Wenn der PC nicht mehr richtig läuft, rebooten
Sie. Rebooten bedeutet ja, dass die bereits vorhandenen
Elemente wieder so konfiguriert werden, dass sie wieder
funktionstüchtig sind. Haben Sie sich schon Gedanken darüber
gemacht, woher dieses Wort kommt? Das, was das
Erfolgsrezept Münchhausens war, sich am eigenen Schopf zum
Dreck herausziehen, nennt sich im Englischen „bootstrapping“.
„Bootstraps“ sind Schnürsenkel. Im Englischen zieht man sich
an den Schnürsenkeln aus der unmöglichen Situation, so wie
dies im Deutschen „am eigenen Schopf“ gemacht wird. Daraus
entstand der Begriff „booten“ für den Computer. Eine schöne
und verblüffende Analogie, so finde ich. Also, zum „booten“
brauchen wir nicht zuerst in ein neues Paar Schuhe (boots) zu
schlüpfen. Es reicht, wenn wir uns eine neue Sichtweise der
Dinge zulegen und gegen jede Realität danach handeln. Wir
sind in der Lage, selbst unsere grössten Probleme zu lösen, die
scheinbar unmöglichen Herausforderungen zu bewältigen.
Wenn nicht wir, wer denn sonst?
22
Bateson, G.: Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt, 1981. S. 582.
Siehe auch: Simon, F. B.: Unterschiede, die Unterschiede machen. Suhrkamp,
Frankfurt, 1999
16
Phantasie ist wichtiger als Wissen.
(Albert Einstein)23
Diese Analogie wird zusätzlich illustriert mit Cartoons, die über
den ganzen Text verteilt sind. Die Serie startet mit der Weisheit,
dass man absteigen sollte, wenn man ein totes Pferd reitet. Die
restliche Bilderserie zeigt jedoch mit bissigem Humor auf, was
wir stattdessen tun...
Die vielen eingestreuten Sinnsprüche und die vielen Fussnoten
sollen den dahinplätschernden Lesefluss unterbrechen und zu
eigenem Nachspüren, zur eigenen Reflexion anregen. Der
Fliesstext kommt mehr dem Kopfleser zugute, während die
Sinnsprüche der Bauchleserin entgegen kommen.
Und schliesslich: „Die Krise24 nutzen“ heisst, dass es weder
sinnvoll ist in der Problemtrance zu verharren, noch die Krise
zum eigenen Vorteil auszunutzen, noch sie als unvermeidliche
Vorboten für noch Schlimmeres, sondern sie als Kairos25 zu
betrachten, der Möglichkeiten und Kräfte im Sinne einer neuen
„Emergenz26“ offen legen kann. Eine Möglichkeit, die Kraft der
Self-Fulfilling-Prophecy27 in der umgekehrten Richtung zu
23
Albert Einstein löste unter anderem mit seiner revolutionären Formel E=mc 2
auch den Gegensatz von Materie und Energie auf. In der Synergetik geht man
davon aus, dass es sich auch beim Leib-Seele, Körper-Geist-Problem um
einen künstlichen Gegensatz handelt. Beides sind möglicherweise
verschiedene Erscheinungsformen desselben und bedingen, ja erschaffen sich
gegenseitig. Vielleicht sind sogar Form, Struktur und Inhalt in dem Sinn „nur“
als Elemente einer Gleichung, statt als disparate Dinge zu betrachten. Nach:
Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S.
261
24 Wem die Prämisse: „Wir sind in einer Krise“ nicht glaubwürdig oder
augenfällig erscheint, liest am besten Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp,
Frankfurt, 1986.
25 Kairos: griech. für der günstige Zeitpunkt, die Gelegenheit beim Schopf zu
packen.
26
Emergenz: Begriff aus der Systemtheorie und der Synergetik.
Unberechenbare Phänomene, die mehr als das „Erwartete“ oder „Erklärbare“
hervorbringen.
27 Dieses Phänomen wurde erstmals erforscht vom Psychologen Robert
Merton. Merton, R. K.: Self-Fulfilling Prophecy, in: Merton, R. K.: Social Theory
and Social Structure, Free Press, New York, 1968. Siehe auch S. 173
17
nutzen. Leider ist es nicht einfach, wenn man sich im
Teufelskreis28 bewegt, dessen Dynamik zu begreifen und sie zu
überwinden, da man sich an Sachzwänge gewöhnt: Was unsere
Vorstellung übersteigt, ist nicht vorstellbar – trotzdem aber bleibt
es möglich. Und was möglich ist, bleibt nicht ausgeschlossen.
All diese (V)ermut(ig)ungen sind beseelt von einer weltanschaulichen Haltung, die weder Teil noch Ganzes, noch
Ursache und Wirkung zu trennen vermag, sondern aus einem
neuen Zusammenhang schöpft29.
28
Das Gegenteil eines Teufelskreises stellt der sogenannte Tugendkreis dar.
Beides Beispiele sogenannt positiv rückgekoppelter Wirkungskreise, die
Dynamik potenzieren. Stabilisierende Wirkungskreise unterliegen der
sogenannten „negativen“ Rückkoppelung. Zudem gibt es noch die sogenannte
Vorwärtskoppelung – die eben zur Self-Fulfilling Prophecy führt.
29 Hier stellt sich nicht zuletzt auch die Frage nach dem Selbstverständnis der
Sozialwissenschaften: Handelt es sich um so genannt nomothetische oder
idiographische Wissenschaften? Anders gesagt: Können wir nur vom Einzelfall
aus deskripitv denken und nur im Einzelfall helfen, oder ist es möglich
Aussagen allgemeiner Gültigkeit zu generieren, sodass vom Ganzen und vom
Zusammenhang her gedacht werden kann. Dieses Buch folgt der
nomothetischen Wissenschaftsidee. Daraus folgt: Es ist wichtig, dass Themen
nicht ausschliesslich aus der Optik einzelner Sachverhalte gedeutet werden,
sondern nach grundlegenden Zusammenhängen und allgemeingültigen
Gesetzmässigkeiten gesucht wird, die den theoretischen Hintergrund zur
Entstehung
und
Veränderbarkeit
(Verhaltensänderung
und/oder
Verhältnisänderung) geben können. Vgl. auch: Malinowski, B. (Hg.): Probleme
und Perspektiven der Geisteswissenschaften, Vögel, München, 2006
In diesem Zusammenhang gilt es, ein neues Selbstbild der wissenschaftlichen
Psychologie vorzuschlagen. Die zentralen Aufgaben der Psychologie sind:
Erforschung,
Beschreibung, Erklärung psychischer Prozesse
und
menschlichen Verhaltens. Aufbauend darauf entwickelt die Psychologie
Instrumente um menschliche Entwicklungen zu prognostizieren, optimieren,
steuern und verändern, sowohl bezüglich Einzelner, Gruppen, Gesellschaften
und Systemen. Die Psychologie berät diesbezüglich politische, wirtschaftliche
und andere gesellschaftliche Akteure. Es gibt also eine Mikropsychologie und
eine Makropsychologie. Die Psychologie, die beides im Wechselspiel
betrachtet nennt sich Metapsychologie.
18
Man darf das, was man sieht
Nicht länger als etwas akzeptieren,
was sich nicht ändern lässt.
(João Pedro Stedile30)
30
Zit. nach: Lappé, F. M.: Was für eine Art von Demokratie? S. 283-336 In:
Girardet, H. (Hg.): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos. eva,
Hamburg, 2007., S. 308
19
20
21
Lügen mit Hand und Fuss
Zuerst ignorieren sie dich;
dann verspotten sie dich;
dann greifen sie dich an;
und dann gewinnst du.
(Mahatma Gandhi)
Hier bin ich wieder! Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von
Münchhausen31, von Unredlichen, Feiglingen verdammt zum
Lügenbaron. Ich war verschwunden, habe im Versteckten
gewirkt. Manche mögen sich nicht mehr an mich erinnern,
andere überhaupt noch nie von mir gehört haben, obwohl ich
mir dies beim besten Willen nicht wirklich vorstellen kann. Ich
tauchte unter – trotzdem blieb ich da. Allein durch
Augenzwinkern habe ich manches Mal dafür gesorgt, dass ein
Lügner dadurch augenfällig entlarvt wurde, dass seine Lügen
sogleich zu wirken begannen und plötzlich vor aller Augen
(ge)wahr wurden.
Sie möchten belogen werden? Sie möchten betrogen werden?
Sie möchten sich belustigen und amüsieren? Sie möchten
unglaubliche Geschichten vorgesetzt bekommen und sie
glaubhaft vorgetragen erhalten? Sie möchten, dass Wirklichkeit
und Fiktion verschwimmen?
Nun stehe ich wieder leibhaft zu Ihren Diensten. Hier bin ich und
werde Ihnen jeden Bären aufbinden, welchen Sie verdient
haben. Ich werde Sie Lügen strafen, dass Ihnen Hören und
Sehen aufgeht – und trotzdem Sie werden mich nicht wieder
erkennen!
31
Literatur: Bürger, G. A.: Münchhausen, Reclam, Ditzingen, 2000; Kästner,
E.: Münchhausen, Dressler, Hamburg, 1999.
Film: Die Abenteuer des Baron Münchhausen, Regisseur Terry Gilliam,
Columbia Studios, 1988; Münchhausen, Regisseur Josef von Baky, UFA
Studios, 1943.
Währenddessen der deutsche Film Münchhausen von 1943 dazu diente, von
der Wirklichkeit (2. Weltkrieg) um jeden Preis abzulenken, hat dieses Buch den
Zweck, neue Möglichkeiten denkbar zu machen und damit aufs Wesentliche
hinzuweisen.
22
Wiewohl das Gewand für meine Auftritte leicht den Zeichen der
Zeit angepasst wurde, sodass es en vogue erscheint, ist es
nicht das, was Sie irritieren wird. Es ist auch nicht, dass ich in
der Zwischenzeit gealtert wäre. Ich habe ja, wie Sie durch meine
Geschichten wissen, die Gabe der ewigen Jugend erhalten und
sie fein säuberlich aufbewahrt, sodass sie nicht runzelig oder
gar ranzig werde.
Nein – es ist mein Auftritt, ich selbst bin es, der anders
geworden ist und sich auch anders ins Lichte stellt, um nicht zu
sagen hinters Licht. Es ist nicht so, dass ich keine Bedenken
hätt’, nochmals aufzutreten und mich zu präsentieren. Denn
nicht nur ich, so nehme ich an, habe mich geändert, sondern
vielmehr haben sich mit oder ohne mich auch die Zeiten
geändert. Die Zeiten – was rede ich – Sie, mein treuer Leser
und meine Zuhörerin, Sie haben sich verändert.
Wer, wenn nicht ich, wird sich hier nicht anzupassen versuchen,
um wiederum erheiternde und erhellende Geschichtchen in
Volkes Umlauf zu bringen, um den dunklen, die sich ebenfalls
verbreiten, etwas gar Eitles entgegenzusetzen. Manche Müh’
hat es mich gekostet, mich in die Gepflogenheiten der heutigen
Zeit einzufühlen. Ich habe sie nicht gescheut und bin ihr nicht
ausgewichen. Nicht etwa der Mangel an echter Wahrheit hat
mich dabei überraschet, sondern eher gegenteilig deren
Überfluss, der zeitweilig so viel fliesset, dass man dessen
überdrüssig werden kann.
Die Strafe des Lügners ist nicht, dass ihm niemand mehr glaubt,
sondern dass er selbst niemandem mehr glauben kann
(George Bernhard Shaw)
Wahrheit war ja weiss der Teufel nie mein Geschäft, aber
ebenso weiss Gott nicht die Lüge. Da wurde ich verkannt, was
schliesslich zum Rückzug führte. Gar manchen Streich habe ich
währenddessen trotzig aus dem Versteck geführt, zu meinem
eigenen Plaisir. Ich wollte es über diese Zeit nicht verlernen.
Nun sind die Zeiten gekommen, dass ein Freiherr – ich bin so
frei – sich auf das Geschäft, das jenseits der Wahrheit wohnt,
23
zurückbesinnt und sich erdreistet, dass es in seiner ganzen
Pracht über Wahrheit und Wirklichkeit sich ergiesse.
Verkannt wurde ich, bei meiner Treu. So ist es. Denn hört, welch
unrühmliche Titel man mir gegeben, nachgerufen hat – auch
noch in der Hoffnung ich sei tot. Ein Lügenbaron. Alles
erstunken und erlogen – ein Taugenichts, ein Lebemann ohn’ all
und jede Tugend. Ein Frauenheld, obwohl die Frauen mir eher
hold waren, als ich ihr Held. Ein Trinker gar, wurde mir
nachgesagt, sei ich, nur weil ich meine Geschichten hie und da
durch einen feurigen Trinkspruch angereichert hab. Eher waren
meine Geschichten Brandreden, die die Herzen entflammten,
als dass es wahrhaft Lügen32 waren.
Gelacht haben sie alle, manche jedoch leider über den
Geschichtenerzähler, statt über die Geschichte – das hatte ich
leid.
Nun ja, warum ich nicht in der Versenkung blieb und darauf
wartete, bis in ferner Ewigkeit auch mich das Zeitliche segnen
wird, ist schnell erzählet. Höret die Geschichte!
Der Wolf, den ich davor geschützt hatte, etwas zu tun, das ihm
später leid tun würde... Der Wolf, dem ich beim Angriff die Faust
32
Für jene, welche sich unter Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, genauso
wenig zugestehen, die Ironie des Buches zu erahnen, wie die Moral, sei hier
überflüssigkeitshalber erläutert, was hier in der vollen Bedeutung unter Lüge
verstanden wird und weshalb sie hier als optimistisches Gegenkonzept zur so
genannten Wahrheit entfaltet wird: Die „Lüge“ ist etwas, was unglaublich
erscheint, aber deshalb tieferen Sinn enthält, weil sie neugierig machen soll,
sich vorzustellen, wie die Welt Möglichkeiten im Verborgenen bereit hält,
welche dann wahr werden könnten, wenn Menschen beginnen, das
Unmögliche zu wagen. Die „Lüge“ soll ermutigen Utopien zu entwickeln, um
der manchmal scheinbar mächtigeren Wirklichkeit dann zu entrinnen, wenn sie
drückend jede Hoffnung zu ersticken droht. Es geht darum, lebenswerte Ideen
für die Zukunft selbst dann für wahr zu halten, wenn sie unmöglich erscheinen.
„Lüge“ ist deshalb nur ein flunkerndes Ersatzwort für schieren Optimismus
gegen jede Realität. Warum soll es verboten sein, lockende Zukünfte aus dem
Hut der „Lüge“ zu zaubern? All das soll sagen: Je schwerer es ist, umso
leichter nimm es. Keine Lage ist schlimm genug, um ernst und hoffnungslos zu
sein. Lüge ist eine List, um mit Lust die Last los zu werden. Zur Vertiefung in
die „Welt der Lügen“ ist empfehlenswert: Hettlage, R. (Hg): Verleugnen,
Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, UVK, Konstanz, 2003
24
so weit ins Maul und seinen Schlund bohrte, dass ich ihn
packen konnte und wie einen Handschuh umkehrte… Der Wolf,
der dadurch jede Gefahr von sich weichen lassen musste… Der
Wolf, den jeder kennt und just der Wolf, der nachher zahm wie
ein Stück totes Fleisch vor mir lag, dessen zähnefletschendes
Elend nun ein rühmliches Ende nahm. Just jener Wolf, den ich
sorgsam als Beweis meiner Taten, Erlebnisse und Geschichten
in meiner Wohnung ausgestellt hatte, begann sich eines Tages
zurückzustülpen. Bei meiner Ehr – ich kann es Ihnen beim
besten Willen nicht auf den Tag genau sagen, wann er sich vor
meinen Augen das letzte Mal aus eigener Kraft bewegt hatte.
Ich muss Ihnen deshalb nicht näher erklären, dass ich
einigermassen erstaunt war, als sich sein Geweide zu bewegen
begann, langsam aber ohne Zweifel, dass das Aussen zum
Innen wurde und das Innen zum Aussen. Ich staunte auch, so
langsam dieser Vorgang vonstatten ging, dass die Beweglichkeit
der Gelenke, des Felles und des Fleisches unter dem
jahrhundertelangen angestrengten Umgestülptsein in keiner Art
gelitten hat.
Also nicht nur der Wolf hat sich gewendet, sondern auch die
Zeit, denn seit jeher haben mich die tieferen Zusammenhänge
der Dinge auf und hinter dieser Welt viel mehr interessiert, als
deren äussere Erscheinung. Das habe ich mir dabei gedacht:
Ich wollte zweierlei. Wenn schon die Zeiten sich wenden, so
wollte ich nicht als einer jener dastehen, der nur deshalb davon
fern bleibt, weil auch dies so unwahrscheinlich scheint. Ich
wollte aber auch nicht und dies schon gar nicht, den günstigen
Augenblick verpassen, um zu zeigen, was denn an meinen so
genannten Lügengeschichten dran ist. Gerade jene, welche sie
Lügen gestraft haben, wollte ich Lügen strafen.
Ich dachte, wenn die Umstülpung von alleine so gut vonstatten
ging, wie bei meinem geliebten, aufbewahrten Wolf, dann muss
das wohl ein Zeichen sein, dass dies die Zeit ist, wo man offen
wird für Dinge, die einem bisher verborgen geblieben sind.
Eine Zeit gar, welche sich uns entgegenstülpt, um zu umfassen,
dass Lüge nicht mehr gar fern von zukünftiger Wahrheit
erscheint. Deshalb beginne ich erneut mein Umwesen zu
treiben – ob es Ihnen nun passt oder nicht. Ich erzählte schon
25
früher meine Geschichten an den unpassendsten Orten, ohne
Rücksicht darauf, was andere darüber denken. Das werde ich
nun wieder tun. Ich hoffe aber, dass es Ihnen beliebt, dass die
Geschichten nun allesamt ungelogen wahr sind.
So eine Stülpung zeigt uns die Wirklichkeit auf beiden Seiten,
welche beide so erstaunlich sind, dass wir ihrer kaum je gewahr
wurden.
Denn ich bin es leid, dafür Lügenbaron genannt zu werden,
dass ich es mir erlaube, vor der Realität dann nicht zu
kapitulieren, wenn sie sich mir entgegenstellt. Ich hatte immer
Höheres im Sinn und darum war ich froh, wenn beherzte Taten
mich nicht im Stiche liessen und in der Not aus einer guten Idee
auch Gutes folgte. Wer Schlechtes lügt und nichts im Schilde
führt ausser sich selbst, wird in der Regel selbst verstrickt im
Lügennetz, das er andern auslegt. Ich lege Geschichten aus,
um nicht zu verzweifeln, wenn es aussichtslos scheint. Eine
Lüge oder Wahrheit kann mir dafür nicht zu schade sein.
Die Lügen, die ich hier verbreite, zeugen allesamt von der
unbändigsten Leidenschaft und reinsten Sehnsucht nach neuen
Perspektiven für die Zukunft, nachdem mich die Gegenwart, in
der wir uns so wohlig versuhlen und doch über sie schimpfen,
gar verstaubet dünkt und umso überholter wird, je mehr wir uns
in den alten Gedankengebäuden im Kreise drehen.
Besser gut gelogen und damit Hoffnung gemacht,
als bedrückende Wahrheiten erzählt
und Pessimismus verbreitet.
Nun muss ich aber, statt durch lange Vorreden Sie mein
geneigter Leser, meine geneigte Leserin an der Nase
herumzuführen,
zum
eigentlichen
Grund
meines
Wiedererscheinens kommen.
Statt weiter ums Feuer zu sitzen und Arrak zu trinken,
verschwand ich von der Bildfläche, da mir die Zuschreibung
„Lügenbaron“ jeden Boden unter den Füssen entzog. Ich fühlte
mich missverstanden. Meine phantastischen Geschichten waren
alles andere als Lügen – ich empfand sie gerade zu als Heils-,
Hoffnungs- und Mutgeschichten. Hätte ich weiter erzählt, so
26
wäre ich noch auf dem Schafott gelandet, der Inquisition
vorgestellt oder anderweitig entfernt worden. Das war mir echt,
wie Sie sicher nachempfinden können, der Spass nicht wert.
Nun, wie ich schon angetönt hatte: untätig geblieben bin ich in
den Jahrhunderten meines Verschwindens nicht. So manchem
Ränkeschmied – er oder sie – politisch, wirtschaftlich, sozial
oder wissenschaftlich, lehrend tätig, habe ich Worte in den
Mund gelegt, dass es ein gar schönes Plaisir war, sich von
Baumes Wipfeln oder höher, wo ich weilte, anzuseh’n, welch
prächtiges Lügengespinst sich daraus entwickeln konnte, in
welches sich ein einfaches Gemüt so schnell versponn, dass es
sich zum Gespött der Leute machte, oder gewieftere
Pappenheimer sich der Lüge, welche ich ihnen auf die Zunge
gelegt hatte, dermassen entzogen, dass sie dafür sorgten, dass
sie wahr wurde. Bei der zweiten Gattung Leute entfaltete sich
meine wahre Freude.
So wurde durch mein bescheidenes Zutun doch so manches
wahr und umgesetzt, woran noch kurz vorher niemand geglaubt
hatte. Einer, dem ich gerne noch mehrere Geschichten
eingeflösst hätte, weil er sie so spannend erzählte, war Jules
Verne33. Was mich mit etwas Wehmut erfüllte, war, dass ich
selbst ob meinen Geschichten der Lüge bezichtigt wurde, Jules
Verne jedoch ob seiner Vorstellungskraft gelobt und gefeiert
wurde. Und siehe da: So manches, was Jules Verne als
Ausgeburten seiner Phantasie erdachte, wurde später wahr
gemacht und nach-erfunden. Solcherlei unwahrer Tand wird
heute gar schicklich mit Sciencefiction bezeichnet, von welchem
ich aber nichts verstehen möchte, da fremde Welten und
Planeten mich solange nicht interessieren, als der eigene Planet
Blut schwitzt, Hunger leidet und Unterdrückung und Unrecht
sich ausbreiten, als ob es ein anstrebenswertes Gut wäre.
Also Jules Verne war ein Lügner. Alles, was er schrieb, war zum
damaligen Zeitpunkt nicht wahr, sondern nur und
33
Jules Verne schrieb über 50 phantastische Zukunftsgeschichten ab 1863.
Viele seiner Phantasien wurden später wahr. Beispiele: Verne, J.: 20'000
Meter unter dem Meer, Arena, 2000; Verne, J.: Reise um den Mond, Fischer,
Frankfurt, 1997
27
ausschliesslich die Ausgeburt seiner Phantasie. Er wurde gelobt
und genial gepriesen. Wie ging es denn zum Beispiel Till
Eulenspiegel34 in Mölln? Er wurde ausgelacht und verspottet. Er
galt als dümmlicher Trottel, obwohl er eigentlich mit seinen
Geschichten die Leute, durchaus in erzieherischer Absicht, zum
Nachdenken bringen wollte. So unterschiedlich und willkürlich
geht man mit Geschichtenerzählern um: Einmal sind sie genial,
einmal dumm, dann gefährlich... Da soll sich einer einen Reim
drauf machen, der kann. Dabei sind doch Lügen harmloser als
Fakten. Sie können belustigen oder belehren, ganz wie’s
beliebt. Wahrheiten müssen jedoch geglaubt werden, manchmal
sogar um den Preis des eigenen Kopfes.
Weniger gut gelogen fand ich jedoch die Geschichten von
George Orwell, Aldous Huxley und Co.35, welche das Gelaber
über die schöne neue Welt, die Tierfarm und den grossen
Bruder, der dich in geheimdienstlicher Pflicht über Schritt und
Tritt überwacht, verbreiteten. Sie setzen die Lügen in Gang,
dass sogar ein Schwein ein besserer Mensch sein könne. Ha,
wie Sie ein paar Jahre später hätten sehen können, waren dies
gar keine Lügen, sondern in vorauseilendem Zeitgehorsam
vorempfundene schreckliche Wahrheiten. Gar allzu schnell sind
die eiligen Diener des Bösen gekommen und haben dafür
gesorgt, dass wahr geworden ist, was zu Recht manche heute
noch als Alptraum empfinden. Man sollte aufpassen, was man
für Ideen und Hirngespinste in die Welt setzt, sie könnten wahr
werden.
Das ist die Gefahr von Lügen. Du musst schon denken, was du
sagst, bevor es zu deinem Mund raus kommt und nicht nach der
Devise leben: Wie soll ich denn wissen, was ich denke, bevor
ich gehört habe, was ich sage36.
34
Kästner, E.; Trier, W.: Till Eulenspiegel, 8 Geschichten; Dressler, Hamburg,
1991
35 Huxley, A.: Brave New World, Grafton Books, London; Orwell, G.: Animal
Farm, Penguin Books, London. Orwell, G.: 1984. Penguin, New York, 1990
(Ersterscheinung 1949)
36 …obwohl dies mit Resultaten aus neueren Hirnforschungen fast besser
übereinstimmen würde.
28
Besonders treffend formuliert fand ich auch Bismarcks
Beurteilung eines gescheiterten Diplomaten, dem ich natürlich
auch souffliert hatte: Er war ein Gesandter, aber kein
geschickter.
Was mir wirklich die letzte Wahrheit aus der Lüge nahm und
damit das Wasser zum Überlaufen brachte, war jedoch als ich
feststellte – obwohl es sich nicht schickte, wie man mir
beigebracht hatte – dass man phantastische Geschichte coram
publico zum Besten gibt, deren Wahrheitsgehalt so
offensichtlich war, dass jeder diesen selbst prüfen konnte – dass
sich andere Formen von Lügen verbreiteten, welche als
Kavaliersdelikt geduldet oder gar hoch gelobt und dekoriert
wurden:


Deprimierende Wahrheiten ohne Rücksicht zu verbreiten
(Diese Zeitungsenten tituliert man, so liess ich mich
belehren, heute neudeutsch „Bad news are good news!“).
Da kann ich nur mit orwellsch-doppelzüngigem
Augenzwinkern staunen und sagen: Brave new world?!
Lügen unter dem Deckmantel von Tatsachen zu verbreiten.
Diese Sitte hat sich so verbreitet, dass jedem heute lieber
ist, seine eigene Wahrheit so wie seinen Augapfel zu hüten,
um sie nicht zu verlieren, denn erstens gibt es so viele
Wahrheiten, dass man sich darin nicht mehr auskennen
mag und zweitens sind die meistens sowieso gelogen, dass
man selbst fürderhin lieber auf Wahrheiten zu verzichten
pflegt.
Das regte bei mir insgeheim den Stolz, quasi als Altmeister der
Kunst, den jungen Sitten und Zauberlehrlingen Paroli zu bieten.
Na gut, wenn die Lüge schon bereits zum Alltag gehört und
dabei ist, an Bedeutung zu verlieren, so wollte ich doch alles,
was in meiner Macht steht, dazu beitragen, dass Lügen wieder
als hohe Kunst ins Ansehen zurück befördert wird.
Ich wollte statt Unmutgeschichten wieder reine Lügen erzählen,
welche Mut machen; ich wollte wieder auftreten und
Erheiterndes zum Besten geben, wo Lethargie und Ohnmacht
sich breit machen. Es ist mir ein Anliegen und eine
Herausforderung zu zeigen, dass Kulturpessimismus durch
29
saubere und gute Lügen ersetzt werden kann, welche selbst in
der schlimmsten Situation noch einen Hoffnungsschimmer
erscheinen liessen, der wieder – wie der Faden der Ariadne –
aus dem Dunkel der Höhle heraus geleiten könnte.
Keine Situation ist so schlimm, dass sie nicht ins Gegenteil
umgestülpt werden kann. Kein Erlebnis so traumatisch, dass
man darin nicht wieder Würde zurückgewinnen kann. Keine
Sache so verzweifelt, dass man sich daraus nicht mit
unbändigem Glauben an die eigenen Kräfte befreien kann. Ich
wollte zeigen, dass mein Beispiel, wie man sich am eigenen
Schopfe zum Dreck rauszieht, nicht nur zur Folge hat, dass
Ross und Reiter wieder auf dem Trockenen stehen können,
sondern auch noch, wie durch Ziehen am eigenen Schopf sogar
der Sumpf selbst, die Ursache des dräuenden Untergangs,
mitkommt.
Es geht mir also um eine eigentliche Dialektik der befreienden
„Lüge“ nach dem Muster: Das wäre doch gelacht, wenn man
sich nicht durch eine gute Idee gar aus der misslichsten Lage
befreien könnte und der Lage selbst noch damit den Garaus
machen könnte. Mehrfach bereits habe ich in meinen früheren
Taten bewiesen, wie und dass das zu bewerkstelligen ist und
mit welchem Erfolg.
Sie werden mir jetzt nachsagen, dass ich als Lügenbaron schon
bereits wieder Schindluderei mit dem Begriff „Lüge“ treibe, aber
lassen Sie sich gesagt sein: Ich bin mich an Kritik gewöhnt. Ich
hatte genügend Zeit in meiner Jahrhunderte langen Klausur, mir
eine lupenreine, unbelastete Seele und eine ebenso faustdicke
Haut zuzulegen. Als ehemals verspotteter Lügenbaron von einst
werde ich doch noch in der Lage sein, selbst zu entscheiden,
was Lüge und was Nicht-Lüge genannt wird.


30
Für mich ist eine gute Lüge eine Geschichte, die ebenso gut
wahr sein könnte und eine gute Lüge ist es, etwas zu
erzählen, was noch nicht ist, aber ebenso gut werden
könnte.
Eine phantastische Lüge ist es ebenfalls, wenn jemand
sagt, er sei in der Lage etwas zu tun, bevor er weiss, dass
er dies kann und sich dann so anstrengt, dass er das Vor-

gelogene wahr macht. In diesem Sinne ist eine Lüge eine
Art vorauseilender, sich selbst erfüllender Impetus und
Selbstgehorsam.
Eine ultimative Lüge ist es, wenn jemand etwas denkt und
möglicherweise gedanklich preisgibt, das unmöglich ist,
daran aber so viel und so lang Gefallen findet, bis er es
erfindet.
Eine echte und gute Lüge ist eigentlich eine Art Vorspiegelung
falscher Tatsachen – und das im eigentlichen Wortsinn. Damit,
dass Sie es fast handgreiflich im Spiegel sehen können, ist eine
solche Lüge nicht mehr weit von der Wirklichkeit entfernt, denn
alles, was Sie denken können, ist bereits dadurch Wirklichkeit
geworden. Es ist Ihre Wirklichkeit, die Sie erschaffen haben.
(Für jene, welche jetzt Schwierigkeiten bekommen, sei
angeführt, dass es sich dabei nicht um einen entarteten
Machbarkeitswahn
handelt
oder
gar
blasphemische
Selbstgerechtigkeit, sondern lediglich um die konsequente
Anwendung der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus37.)
Sorgen Sie also – seien Sie im Lügen, erfinden, konstruieren,
und Geschichten erzählen Profi oder Amateur – dafür, dass Sie
sorgfältig mit Ihren Gedanken umgehen. Denn wie Sie es
bereits ahnen, können Gedanken ermuntern oder töten.
Die Lüge ist die kleine Schwester der Utopie.
Deren gemeinsame Mutter ist die Phantasie.
Damit Sie mich dieses Mal nicht allzu früh und einfach in einen
Käfig einsperren, aus welchem ich nur mit einer ausgebufften
Münchhausiade entweichen kann, möchte ich Ihnen nun einige
Hinweise zur Beurteilung von Lügen geben – so quasi der
Lügenbarometer vom Lügenbaron:

Unterscheiden Sie dummes Geschwätz von Ausgeburten
einer genialen Phantasie.
37
Neuere Erkenntnistheorie; weiterführende Literatur: Foerster, H. v.;
Glasersfeld, E. v.: Wie wir uns erfinden, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 1999;
Watzlawick, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit, Piper München, 1988;
Watzlawick, P.: Münchhausens Zopf, Huber, Bern 1988
31





32
Unterscheiden Sie Notlügen von echten Lügen, welche
nicht eine Not unehrlich überdecken, sondern aus ihr
herausführen.
Unterscheiden Sie Lügen von Wahrheiten (Mehrzahl!).
Lügen sind offensichtlich unwahr und unreal, also utopisch,
können aber wahr werden. Wahrheiten sind scheinbar
wahr, untergründig verbirgt sich aber oft ein Sachzwang,
eine Notlüge, eine Nicht-die-volle-Wahrheit, eine Absicht;
sie können also unwahr werden. Lügen haben also eine
bessere Zukunft vor sich als Wahrheiten. Wahrheiten sind
bedroht, sich als falsch herauszustellen, währenddessen
Lügen die schöne Angewohnheit haben, sich ab und zu als
Wahrheiten herauszustellen.
Also erzählen Sie Lügen und Sie haben vielleicht recht.
Erzählen Sie Wahrheiten und Sie haben vielleicht unrecht.
Wahrheiten scheinen es in sich zu haben, eine kurze
Halbwertzeit zu haben, denn sie werden durch neue
Wahrheiten überholt. Da lobe ich mir die Lügen mit den so
kurzen Beinen, dass sie fast durch die Realität überholt
werden müssen und somit wahr werden. Ähnlich wie bei
Satire kann der Lügner Genugtuung empfinden, wenn er
von der Realität überholt wird. Für den penibel-zwanghaft
Wahrhaftigen jedoch ist dies eher unangenehm und kann
auch entsprechende Folgen haben.
Unterscheiden Sie unterhaltsame Geschichten von
eindringlichem Bekennergetue: „Sie müssen mir dies
glauben, denn wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“ Wer
würde denn so eine Anmache mit wahrhaftem Glauben
erwidern. Was hat derjenige, der dieser irdischen Macht
Folge leistet davon, ausser Abhängigkeit. Die wahre Lüge
macht frei – ebenso wie der wahre Glaube.
Unterscheiden Sie zwischen der Lebenslüge und der
spontanen Launenlüge. Die Lebenslüge führt Sie immer
dichter in den Nebel hinein, ohne dass Sie ihm entrinnen
können. Die Lebenslüge beherrscht Sie und führt Sie in ein
unentrinnbares Labyrinth. Die spontane Laune hingegen
entbietet Ihnen in jeder Lebenslage neue und zusätzliche
Möglichkeiten an, an welche Sie nicht hätten zu denken


wagen, wenn Sie sich nicht getraut hätten, eine Lüge zu
erfinden.
Machtlügen sind die Schlimmsten. Sie werden extra
erfunden, gezimmert und geschmiert, um Menschen
Glauben zu machen. Sie werden von Präsidenten,
Direktoren, Abgeordneten – auch von Frauen und solchen,
die all dies gerne sein möchten – verwendet, um ihr Ziel zu
erreichen. Sie haben den einzigen Zweck, souveräne
Personen in Zwiespälte, Dilemmata, Sachzwänge und
Loyalitätskonflikte zu schicken und sie damit beschäftigt zu
lassen, dort wieder herauszufinden, damit der Weg für die
eigene Karriere geebnet wird. Ich finde, sie sind die
eigentlichen Lügen – die Mütter aller Falschheiten. Solche
Lügen tönen meist so: „Es gibt keinen anderen Weg!“
Glauben Sie dies und Sie werden sehen: Es gibt tatsächlich
keinen anderen Weg. Verleugnen Sie dies und Sie werden
sehen: Die Welt steht Ihnen offen. Es gibt so viele Wege,
wie Sie selbst zu gehen imstande sind.
Perfide Lügen sind jene, die Schwäche zelebrieren: „Sie
sind schuld, wenn es mir immer schlechter geht. Ich kann
nichts tun. Ich bin ohnmächtig. Sie aber können alles. Sie
sind mächtig. Helfen Sie mir. Wenn Sie nicht mein Freund
sind, dann hat das Leben keinen Wert.“ Oder: „Du hast
mich verletzt, deshalb kann ich nichts mehr tun. Ich bin
ausgespielt. Du bist der wahrhaft Schuldige.“ Wenn Sie als
einziger die Rettung sind, dann passen Sie auf! Passen Sie
auch auf, wenn Sie derjenige sind, dem so viel Macht,
Unterordnung oder Bösartigkeit zugemessen wird. Die
Rettung könnte Ihre Kräfte übersteigen. Helfen ist recht und
billig. Guter Rat aber ist meist teuer. Die Voraussetzung
dazu, erfolgreich Hilfe zu leisten zu können, sind Personen,
welche Selbstverantwortung zu tragen imstande sind. Die
Gefahr besteht sonst, dass es nicht Hilfe ist, welche Sie
leisten, sondern dass Sie die Obhut übernehmen müssen
und sich zugleich die Personen, welchen damit die
Verfügungsgewalt eingeschränkt wird, sich auch dagegen
zur Wehr setzen. Eine Patt-Situation: Hilf mir, und du wirst
scheitern! Denn du bist diejenige Person, welche den
33
Misserfolg zu verantworten hast, der daraus entsteht, dass
ich mich gegen deine Hilfe auflehnen muss.
34
35
36
Ethik der wahr-haften Lüge
„Herr Graf, wenn Sie der Meinung sind, dass mein Erscheinen
in Europa ein grosses Aufsehen erregen könnte,
so irren Sie sich doch. Ich bin jetzt gute vier Wochen in Europa
und habe die Europäer besser kennengelernt;
die sind nicht so leicht aus dem Texte zu bringen. ...“38
Viele Wahrheiten stellen sich im Nachhinein als Irrtümer dar:
„Die Erde ist eine Scheibe“ und „Die Sonne kreist um die Erde“
sind nur zwei prominente Darstellungen. Menschen, welche
Alternativen erdachten, wurden bekämpft, gefoltert, verachtet,
hingerichtet. Wozu? Wahrheiten haben ein Ablaufdatum. Von
dem Datum an, von welchem sie nicht mehr verkauft werden
sollten, bis zu dem Datum, wo sie ungeniessbar werden, wird
um sie gekämpft. Und vor allem wird gegen jene gekämpft,
welche die Wahrheiten nicht mehr konsumieren. Ich finde, wenn
Wahrheiten nicht mehr nähren, gehören sie auch nicht mehr
angeboten. Wahrheiten stehen im Dienst der Menschen, wenn
sie überhaupt eine Bedeutung, ausser einer akademischweltfremden haben.
Gibt es denn überhaupt nichts mehr, was uns heilig und damit
unantastbar ist? Nein.
Ist denn der Mensch nicht mehr fähig, Respekt vor Wahrheiten
zu haben? Doch.
Soll man denn ganz auf Wahrheiten verzichten? Vielleicht.
Wahrheiten haben keinen Selbstzweck, sie dienen. Vielleicht
war es der Sinn der Sache, zu vertreten, dass die Welt eine
Scheibe ist, dass wir, die Menschen und mithin unser Planet
nicht unbegrenzt sind. Wir sind – auch wenn jetzt seit
Jahrhunderten die Welt eine Kugel ist – weiterhin begrenzt.
So haben also Wahrheiten möglicherweise einen Sinn und
damit einen Nutzen39. Wenn die Wahrheiten also schal werden
38
Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden.
Suhrkamp, 1987, Frankfurt, S. 9
39 Der Begriff des Nutzens oder der Nützlichkeit wird hier und im Folgenden
nicht im Sinne eines ideologischen Utilitarismus, sondern im Sinne eines
37
und ungeniessbar, so sollte man sich darauf einigen, wie man
deren Sinn und den Nutzen behält, statt die Wahrheit selbst zu
verteidigen.
Gut, ich kenne mich mit Lügen besser aus. Wenn ich von einem
bösen Tier bedroht oder verfolgt werde, so lasse ich mir halt
eine Geschichte einfallen, um nicht getötet und gefressen
werden zu müssen. Hätten Sie mit Verlaub nicht auch den
Bären in die Deichsel des Leiterwagens laufen lassen. Hätten
Sie nicht auch den einen Wolf umgestülpt und den andern,
nachdem er glücklicherweise Ihr Pferd statt Ihrer selbst in voller
Fahrt verspeist hätte, ihn nicht auch gleich listig zur Weiterfahrt
eingespannt, wenn Sie es gekonnt hätten, es Ihnen im rechten
Moment eingefallen wäre?
Muss denn etwas, was unglaublich ist, gleich falsch sein?
Würden wir es doch wenigstens wagen, gegenüber
abgelaufenen Wahrheiten ähnlich kritisch zu sein, wie
gegenüber offensichtlichen Lügen?
Welches sind zum Beispiel solche Lügen, denen man besser
glauben sollte? Es sind derer viele. Sie unterscheiden sich nicht
in Wortlaut, Satzbau oder Inhalt. Es ist der Sinn, Zweck oder
Nutzen, der aus einer Lüge eine Wahrheit und aus einer
Wahrheit eine Lüge macht.
Wählen Sie, welchen Lügen Sie lieber glauben:






Gemeinsam sind wir stark.
Ich bin ohnmächtig.
Morgen wird alles besser.
Alles wird nur noch schlimmer.
Niemand tut etwas, warum soll gerade ich?
Ich kann nichts tun.
ethischen Begriffs verwendet, dessen Bedeutung sich damit befasst, dass
etwas jemandem (oder etwas) zu Gute kommen soll, wenn man es tut und
dass es wichtig ist zu bedenken, wofür man dieses tut und ob man dem Ziel
damit wirklich näher kommt. Zudem soll es ja zugunsten der Wirkung auch
überprüfbar sein. Beispiel: Wirkungslose (ohne Nutzen) Hilfe anzubieten ist
zynisch, ebenso aber auch Hilfe anzubieten, von deren Wirkung man nichts
weiss, ohne sich darum zu kümmern.
38
















Si vis pacem, para bellum40.
Wenn du Frieden willst, schaffe Frieden.
Pecunia non olet41.
Belehren ist möglich.
Das haben wir noch nie so gemacht.
Das haben wir schon immer so gemacht.
Ich liebe dich.
Ich hasse dich.
Wenn ich schon in den Sumpf geritten bin, soll ich auch
elendiglich untergehen.
Ich ziehe mich am eigenen Schopf heraus.
Diese Sätze sind erstunken und erlogen.
Diese Sätze sind wahrhaftig wahr.
Gott ist tot.
Gott lebt.
Die Menschheit wird immer dümmer.
Die Intelligenz der Menschen steigt42.
Ich hoffe, Sie sind ähnlich verwirrt wie ich. Ich finde keinen
Unterschied zwischen „Morgen wird alles besser“ und „Alles
wird nur noch schlimmer.“ Wie wollen Sie überprüfen, was wahr
ist, ausser Sie tun den ersten Schritt in die Zukunft? Es ist egal,
ob der Satz wahr ist oder gelogen.
Sie meine geneigte Leserin, Sie mein geneigter Leser sind es,
die den Satz wahr oder falsch machen. Sie sind es, die den Satz
einordnen, die ihm Sinn geben oder Nutzen daraus ziehen oder
herstellen, indem Sie etwas in die Tat umsetzen.
40
Römische Weisheit: Wenn du Frieden willst, mache Krieg. Da ich damals
nicht zugegen war, kann ich schwerlich feststellen, ob diese Weisheit schon
damals Dummheit war.
41 Geld stinkt nicht. Eine weitere römische Weisheit, deren Halbwertzeit bereits
längst überschritten ist. Heute kann Blut, Drogen und Schlimmeres an Geld
haften. Umsonst würde man Geld ja nicht waschen. Ich muss allerdings
zugeben, dass es zu Cäsars Zeiten nur Handwäsche gab.
42 Sogenannter Flynn-Effekt, benannt nach dem Politologen und Philosophen
James R. Flynn. Flynn, J. R.: Massive IQ Gains in 14 Nations: What IQ Tests
Really Measure. Psychological Bulletin 101: 171-191, 1987. Übrigens: Haben
Sie davon schon etwas gemerkt? Paradox: Die Menschen werden immer
gescheiter, die Menschheit jedoch dümmer.
39
Derjenige, welcher den Satz 1 glauben möchte, wird sich anders
verhalten, als derjenige, der den Satz 2 glaubt, denn Sie können
nicht gegen Ihren Glauben handeln.
Da lob’ ich mir doch die klare und wahrhaftige Lüge. Gerade
dann, wenn es bergab geht, wäre eine deftige Lüge angebracht,
welche heisst: Morgen wird alles besser. Dann könnte man
wenigstens den Schwung des Abwärts mit ins Aufwärts
nehmen. Und die Lüge gewinnt noch mehr, wenn Sie eine
Geschichte (ich glaube das heisst neudeutsch Szenario)
erzählen, welche erläutert, wie Sie dies zu tun gedenken, warum
und wozu es besser werden soll und wer alles etwas davon
haben soll. Wenn wir wollen, dass morgen alles besser wird, so
muss es für alle besser werden. Sonst werden jene, welche
nicht profitieren, gegen die relative Verschlechterung kämpfen
und damit ihre Lüge entlarven und wertlos machen.
Erzählen Sie die Wahrheit: Alles geht bergab. Super. Stimmt
genau. Überprüfbar. Wissenschaftlich erwiesen. Nützt aber
nichts. Tolle Wahrheit.
Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen,
sondern die Vorstellungen von den Dingen. (Epiktet)
„Gott lebt“ ist auch super. Hinten an meinem Auto! Wäre Gott
kein Fisch, sondern ein Vogel würden Sie auch einen Vogel
hinten aufs Auto kleben? Gott wird sich wundern, wie schnell er
von A nach B gelangt, aber sonst wüsste ich nichts, wovon Gott
etwas hätte, wenn er hinten flach gepresst auf einem Auto klebt.
So flach kann er auch nicht mehr so lebendig sein. Aber „Teufel
auch!“ – Gott möchte nicht umhergefahren werden. Er möchte
selbst laufen können, wohin er will – und wenn es davon ist.
In dem Sinn gratuliere ich Ihnen: Sie haben’s sicher gemerkt.
Sowohl „Gott ist tot“ als auch „Gott lebt“ ist gelogen. (Das
Problem, dass zwei Gegenteile gleichzeitig nicht wahr sein
können, klammere ich hier geflissentlich aus und verweise auf
gescheitere Leute wie Existentialphilosophen oder Logiker.)
Nun, wie Sie wissen, gefallen mir ja Lügen. Sie werden sich jetzt
schon Gedanken machen, wie ich mich aus dieser schwierigen
Häresie befreie. Aber das ist kein Problem: 1. Gebe ich ja
freimütig zu, dass alles gelogen ist, was hier geschrieben steht
40
und damit Irrglaube darstellt und 2. werde ich schon einen Weg
finden.
Gott (hat so viele Namen, dass es allein ein Buch füllen würde,
dessen Namen vollständig aufzuzählen; aber alle sind gemeint)
hat wenig davon, was wir von ihm glauben. Deshalb sind wir
auch nicht dafür zuständig, über seinen Verbleib, seinen Tod
oder sein Leben zu urteilen – auch nicht hinten auf einem Auto.
Wir Menschen jedoch würden gut daran tun, wenn wir uns
einigen würden, was gut ist, gut tut, statt uns über Gott zu
streiten. Möglicherweise würde „…..“ sich dann ab und zu
wieder auf der Welt blicken lassen.
Nach der ultimativen Naturzerstörung, Krieg, Hunger. Der letzte
Mensch schreit stolz: „Wir beide, Gott, du und ich, sind die
letzten Überlebenden.“ Super. „…..“ würde sich gewünscht
haben, nicht mehr zu leben. Auch ewig zu leben ist nicht so
einfach.
Meine einzige Begegnung mit „…..“, an welche ich mich
erinnere, ist jene, als ich einem armen Teufel, der fror, meinen
Mantel gab, obwohl ich für das herrschende Wetter auch nur
leicht
bekleidet
war.
Das
war
für
mich
eine
Selbstverständlichkeit. Doch eine Stimme rief mir zu: „Hol mich
der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergolten bleiben!“43
Ich fand das ziemlich stark, humorvoll und gewagt.
Nun aber zur eigentlichen Ethik der Lüge: Es gibt keine
Gedanken, ausser wir erfinden sie in unserem eigenen kleinen
Universum, dem Körper oder dessen Hauptsteuerzentrale, dem
Hirn. Alles, was auf dieser Welt gedacht wird, ist erfunden und
damit vorerst nicht real. Manche vertrauen eigenen Erfindungen
besser als denjenigen anderer. So werden Wirklichkeit oder
Fiktion unterschieden. Es geht also dabei nicht um eigentliche
Wahrheit, sondern um Plausibilität, Wertschätzung, Beurteilung,
Nutzen, Passung, etc.
43
Bürger, G., A.: Münchhausen, Reclam, Stuttgart, 2000, S. 9
41
Als Fiktion, Lüge oder Falschaussage wird taxiert, was in das
eigene Weltbild nicht eingeordnet werden kann, was stört, was
gefährlich ist, was schadet etc.
Ein Kind, das zum ersten Mal in der Schule hört, dass 2 + 2 = 4
gibt, wird dies zuerst als Fiktion abtun, weil es etwas Neues ist,
das nicht eingeordnet werden kann und deshalb bedeutungslos
und ohne Sinn ist. Für ein Kind, das vielleicht bisher eher gelernt
hat, seine Assoziativkraft zu benützen, als strenge Logik, könnte
eine andere Wahrheit vielleicht eher heissen: 1 + 1 = 3, 4 ,5
usw., denn was geschieht – aber auch nicht immer – wenn ein
Mann und eine Frau zusammen kommen: Sie vermehren sich.
Das mit dem Rechnen ist also eine Sache – sie kann zur
Erklärung bestimmter Phänomene nützlich sein, für andere
weniger. Wenn ich einen Ball habe und der wird mir geklaut,
wird im Rechnungsdenken dies bedeuten: 1 – 1 = 0. Klar, ich
habe keinen Ball mehr, aber habe ich deshalb gleich nichts?
Und wer ist da die Null – nicht derjenige, der geklaut hat?
Schwierig.
Wenn Sie sich vorstellen, dass 10 Leute in einem Bus sitzen
und 12 an der nächsten Haltestelle aussteigen, so müssen 2
wieder einsteigen, damit keiner drin ist. Sie glauben das nicht?
Hier die korrekte Rechnung: 10 - 12 + 2 = 0. Na? Rechnen ist
auch relativ – oder?
Oder kennen Sie den: Ali Baba hatte 4 Kinder und 39 Kamele,
welche er jenen vererben wollte. Der Älteste sollte die Hälfte
davon bekommen, der Zweitälteste einen Viertel, der Dritte
einen Achtel und die jüngste Tochter einen Zehntel. Als Ali Baba
gestorben war, standen die vier Geschwister vor der Herde und
rätselten, wie diese aufzuteilen sei. Sie wurden sich nicht rätig.
Da kam ein alter Beduine auf seinem Kamel herangeritten und
erkundigte sich nach dem Grund des Disputs. Schliesslich
stellte er sein Kamel zur Herde. Der Älteste bekam 20, der
Zweitälteste 10, der Drittälteste 5, und die Jüngste 4 Kamele.
Alle waren zufrieden. So stieg der Beduine wieder auf sein
übriggebliebenes Kamel und ritt von dannen. – Rechnen ist
Glückssache. Oder stimmt da etwas mathematisch nicht ganz?
42
Wahrheit ist Ansichtssache – einmal so, einmal so.
Gemeinsame Wahrheiten entstehen lediglich aufgrund von
Konventionen. Ob sie wirklich standhält, wird dann sichtbar,
wenn die Konvention angezweifelt wird.
Als ich das letzte Mal auftrat, war klar, dass Kaiser, Könige,
Grafen etc. das Sagen hatten, weil sie in höherem Auftrag
handelten und damit im Besitz (göttlicher) Wahrheit waren. Erst
als man begann, diese Konvention anzutasten, als die Lüge
auftauchte, dass alle gleich seien, begann die Idee der
Wahrheit, repräsentiert durch eine Person, zu wanken. Die
Folge war Revolution, Krieg, weil eben Wahrheiten nicht gerne
aufgegeben werden und schon gar nicht wegen einer noch nie
da gewesenen Anmassung, einer Frechheit, also Lüge. – Nun,
so schnell können Lügen wahr werden!?
Es ist die Konvention, die Übereinstimmung, das Commitment,
was eine Lüge von einer Wahrheit unterscheidet. Wahrheit an
sich scheint es nicht zu geben. Wie Heinz von Foerster kürzlich
darlegte: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners!44“
Es ist die Bedeutung, die einer Wahrheit zugemessen wird, die
sie bedeutungsvoll macht. Dies entzieht den so genannten alten
Wahrheitsidealen
jede
Berechtigung,
ersetzt
diese
überkommene Konstruktion aber etwa nicht durch eine a priori
bessere, sondern nur durch eine andere.
Nicht länger mehr ist Wahrheit eine Sache, die mit Macht
durchgesetzt werden kann, denn Macht wird nur so lange
akzeptiert, wie dazu Commitment besteht.
44
Foerster, H. v.; Pörksen, B.: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Carl
Auer, Heidelberg; 2003
43
Der Mensch ist ein Meister darin, die Wirklichkeit so hinzubiegen,
dass widersprüchliche Gedanken, Wünsche und Handlungen
zueinander passen45.
Dies eröffnet der Lüge neue Chancen. Lügen, Märchen,
Phantasien, Gerüchte, Mythen, Legenden strahlen einen
Charme aus, der jeder kühlen Wahrheit entbehrt. Sie tragen die
Möglichkeit in sich, wahr zu sein, für wahr gehalten zu werden,
wahr zu werden. Die Wahrheit jedoch enthält eher die
Vorstellung von Macht, denn wenn etwas als wahr verkauft wird,
muss es ja so sein – unhinterfragt. Es darf nicht sein, was nicht
sein darf.
Das Problem mit der Wahrheit ist, dass ihr Machtanspruch
Machtstrebende hinter sich vereinigt und solche die mit Macht
nichts am Hut haben wollen oder vom Zugangscode
ausgeschlossen
sind,
nicht
dazu
gehören.
Die
Ausgeschlossenen werden also die Wahrheit potentiell
torpedieren, ihr nicht Folge leisten…
Damit wird Wahrheit privatisiert. JedeR hat seine/ihre eigenen
Fixsterne, die ihn/sie leiten. Alle gehen in eine andere Richtung.
Pluralismus nennt man das heute schöngeistig. Ich triumphiere,
denn dies ist der Triumph der Lüge über die Wahrheit.
Es gibt drei Möglichkeiten:


45
Respekt46 => Verlust der gemeinsamen Wahrheit; jeder
geht seiner Wege und kümmert sich nicht um die Wege der
andern.
Krieg / Macht => Verlust von Menschenleben und
Erzeugung von Misstrauen bei jenen Ohnmächtigen, die
Die sogenannte kognitive Dissonanz wurde erforscht von: Festinger, L.:
Theorie der Kognitiven Dissonanz, Huber, Bern, 1978, Wir denken nicht, wir
fühlen nicht, wir nehmen nicht wahr, sondern wir rücken zurecht.
46 Das Wort „Respekt“ wird hier verwendet in der Bedeutung „etwas
respektieren, aber auch nicht mehr“, also ein distanziertes sich nicht
Berührenlassen – Gleichgültigkeit. Toleranz wäre bereits etwas mehr. Sich
damit auseinandersetzen noch mehr. Heute wird der Begriff „Respekt“ im
Gegensatz zum hier postulierten Gebrauch manchmal so verwendet, dass er
mehr als „nur“ Toleranz ausdrückt.
44

nicht glauben wollen; letztlich aber die Wiedereinführung
der Oligarchie (Herrschaft weniger).
Lügen, was das Zeug hält => Jene Lügen, welche am
meisten Sinn machen, werden sich verbreiten und eine
gemeinsame Basis für Zukunft und Entwicklung von Welt,
Ländern und Menschen darstellen; kreatives Potential
entfaltet sich, denn die Phantasie ist frei von
herrschaftlicher Tabuisierung; Lügengeschichten können
immer wieder frei erfunden werden ohne Rücksicht auf
verkommene Wahrheiten, welche aber geschützt werden
„müssen“.
Was sind die Kriterien für die Beurteilung, ob etwas allgemein
als Leitlinie akzeptiert ist? Nutzen!
Nun, Nutzen ist keine Ethik! Da gebe ich Ihnen recht. Ethik wird
daraus erst, wenn der Nutzen offensichtlich für alle gegeben ist.
Schauen Sie, wenn etwas wahr sein muss, muss es faktisch
sein. Etwas, was faktisch ist, beruft sich auf die Vergangenheit,
denn wie wollen Sie sonst die Fakten beweisen?
Wir aber brauchen Phantasien für die Zukunft. Die können mit
Wahrheit im faktischen Sinn nichts zu tun haben. Lügen sind die
Gegenideen zu Wahrheiten. Geben Sie sich einen Ruck,
befreien Sie sich endlich vom Rucksack, dass lügen unredlich
sei. Machen Sie sich bewusst, wie viel Menschenleben auf dem
Buckel der Wahrheit geopfert wurden und machen Sie die
Güterabwägung, was wohl redlicher sei. Also lügen Sie, was
das Zeug hält. Lügen wir uns eine bessere Zukunft vor. Wie
sonst soll sie denn kommen?
Es gibt leere Hoffnung,
Lotteriehoffnung und
tätige Hoffnung.
45
46
47
Bilder machen Leute – Leute machen Bilder
Jede politische Theorie ist in der Praxis
genau so viel wert wie ihr Menschenbild. 47
Menschenskinder, welche Bilder macht ihr euch, welches
Faszinosum überhaupt geht von Bildern aus. Das sind doch
schon bereits wieder zwanghafte Fiktionen, welche hier mit dem
Siegel „Es kann gar nicht anders sein!“ aufrechterhalten werden
und weitergebetet werden, als wären Litaneien als sinnlose
Wiederholung gedacht und würden dadurch Sinn gewinnen,
dass man sie wiederholt.
Nachdem ich die Wahrheit entlarvt habe und das Gewicht sich
zugunsten der Lüge verschoben hat, möchte ich über das
Menschenbild hinter der Lüge sprechen, sonst wollen Sie mir
erst recht, wie weiland vor hunderten Jahren, den Glauben an
meine Lügen verweigern.
Menschenbilder sind ein Teil des Graumarktes, welcher sich
hinter der Wahrheitskolonialisierung verbirgt. Es werden
verschiedene
Menschenbilder
gehandelt,
ineinander
verschachtelt und keineswegs offen gelegt. Sie stellen aber
häufig genau jene Grundlagen dar, worauf dann so genannte
Wahrheit aufgeklinkert wird. Hier eine Auswahlsendung von
Menschenbildern – echt wahr:





Der Mensch ist die Krone der Schöpfung.
Die Menschen sind vernünftig.
Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Die Menschen sind emotionsgesteuert.
Was Menschen können und tun, oder unterlassen, ist
genetisch bedingt.
Menschen sind von Grund auf animalisch (gewalttätig, roh,
unterjochend, besitzergreifend, lustbezogen, egoistisch).
Menschen sind verantwortungsbewusst.


Wahrheiten – Lügen? Unwesentlich! So sehen die Sätze
jedenfalls aus, als ob sie Wahrheiten zu repräsentieren hätten.
47
Künzli, A.: Rettet die Freiheit vor ihren Beschützern. Z-Verlag, Basel, 1989
48
Wie machen Sie das: Sie nehmen ein zufällig geschnürtes
Paket vergangener Erfahrungen und bauen darauf die
Erkenntnis auf: So ist es. Sie gestehen keinerlei Veränderung
oder Dynamik zu. Die Rigidität der Vorstellungen erscheint im
Format: Erfahrung macht dumm48. Und sie haben vor allem eine
verheerende Zukunftsperspektive, welche lautet:




Wenn alle Menschen vernünftig sind, musst du es auch
sein, sonst bist du es nicht würdig, Mensch genannt zu
werden.
Wenn Menschen animalisch sind (und nehmen wir
genetisch noch dazu), dann muss man sich damit abfinden
und wird am besten auch selbst angriffiger, egoistischer,
sonst geht man unter.
Wenn der Mensch die Krone der Schöpfung darstellt, so ist
uns fraglos alles erlaubt und im Plan, was wir tun – wenn
wir schon die Krone tragen, müssen wir auch herrschen.
Sei gefälligst verantwortungsbewusst, bzw. verhalte dich so,
dass ich gemäss meiner Vorstellung das als
verantwortungsbewusst beurteilen kann, oder ich werde dir
Verantwortungsbewusstsein schon noch einprügeln. Ordne
dich gefälligst meiner Beurteilung unter!
Hand aufs Herz: Ist es Ihnen in diesen Zukünften wohl? Ehrlich
gesagt: Gelogen wäre es mir wohler. So nämlich, dass sich die
Ideen nicht auf vergangene Tatsachen (welche, wie wir wissen,
auch bloss auf potentiell brüchige Konventionen aufbauen)
abstützen und deren Fortsetzung zum Gesetz erheben,
sondern, dass wir echt so tun „als ob“, uns selbst damit
herausfordern, den „Beweis“ anzutreten und den Realitätstest
der Zukunft überlassen. Solche Menschenbilder sind gelogen,
48
Die sogenannten Kernrigiditäten (eingeschränktes Problemlösen,
mangelnde Implementierung und Integration, fehlendes Experimentieren,
Ausblenden externen Wissens) werden von Leonard-Barton (Leonard-Barton,
D.: Core Capabilities and Core Rigidities: A Paradox in Managing new Product
Development. In: Strategic Management Journal, Vol. 13, 1992. S. 111-125),
die Verhinderung von Lernen durch Wissen von Willke (Willke, H.:
Systemische Wissensmanagement. Carl Auer Systeme, Heidelberg, 2004), die
Herstellung von Schulversagern von Jegge (Jegge, J.: Dummheit ist lernbar,
Zytglogge, Bern, 2002) dargestellt.
49
üben jedoch eine deutlich grössere Faszination aus: Sie sind
viel vorsichtiger formuliert, tönen verborgenes Potential an und
legen Möglichkeiten offen. Die Darstellungsform als Lüge
entzieht der Vorsicht jedoch jede Betonung, verdrängt sie in den
Hintergrund, überdeckt sie durch Raum greifende Überzeugung
und lässt jene die Überhand gewinnen:






Die Menschheit kann auch anders.
Im Innersten sind die Menschen gut.
Mensch sein verpflichtet zum menschlich Sein. Das sei nur
„allzu menschlich“, ist keine Entschuldigung.
Menschliches Versagen und Fehler haben noch nie
bedeutet, dass dies so sein muss und sich ständig und
ohne Ende wiederholt.
Nur weil etwas sich noch nicht zeigt, sollte man es nicht
absprechen, sondern erst recht daran glauben, dass es da
ist. Potential lüftet man nicht, indem man sich auf Fakten
und fehlende Taten abstützt, sondern indem man positive
Erwartungshaltung weckt – gegen die vermeintliche
Realität.
„Das ist menschlich“, ist eine Auszeichnung, nicht eine
resignative Einschränkung.
Die Wahrheitsfanatiker verlängern Erfahrungen nach vorne und
setzen dadurch eine verheerende Fehlsteuerung in Gang. Es
darf nicht sein, was nicht sein kann.
Man sieht den Balken49 nicht,
wenn er im eigenen Auge steckt.
Wenn etwas nicht war und nicht ist, bedeutet dies nicht, dass es
nicht sein kann. Ein Fehlschluss von deprimierender
49
Die amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham
verdeutlichten in einem Vier-Felder-Diagramm, wie wichtig Selbst- und
Fremdwahrnehmung und deren Verknüpfung sind. Häufig machen wir uns
über uns, aber auch über andere Bilder, welche wenig zutreffend sind. Wir
haben einen „blinden Fleck“. Das Diagramm nennt sich Johari Fenster. Die
Idee ist, jenen Teil des Fensters zu vergrössern, der mir und andern bekannt
ist. Luft J.; Ingham, H.: The Johari Window, a Graphic Model for Interpersonal
Relations. Western Training Laboratory in Group Development, August 1955;
University of California at Los Angeles, Extension Office.
50
Kleingläubigkeit mit dramatischen Auswirkungen. Solche Leute
tun so, als ob es keine positive Zukunft geben kann, weil
Menschen nicht anders können. Möglicherweise reicht ihnen
dies als Lebenssinn bereits, was bedeutet: Wenn es nicht
möglich ist, muss ich auch nicht – Entlastung von
Verantwortung. Toll, wie man das einfach herstellt.
Es kann sein, dass man diese Resignation nicht aushält und
deshalb dagegen ankämpft, indem man Macht ausübt, welche
auf der Grundlage von Negativzuschreibungen basiert. Fast
jede Diktatur, viele Entwicklungen in der ehemaligen
Sowjetunion, das Dritte Reich und viele Machtsysteme in der so
genannt „freien Welt“ waren und sind geprägt davon, dass
derjenige, der am wenigsten daran glaubt, dass die Menschen
gut sein können, auf dem höchsten Thron sitzt50. Menschen
werden vom Bösen zum „Gut sein“ (will heissen angepasst und
kadavergehorsam, unterordnend) vergewaltigt, befohlen und
abgeordnet. Das kann nicht gut gehen und ist bisher auch
nirgends zu einem Erfolgsrezept geworden. Aber überlebt hat es
trotzdem und treibt immer wieder neu Blüten.
Böses lässt sich nicht ausrotten, mit keiner Macht der Welt, es
lässt sich nur wegloben, lenken und vermeiden. Lediglich eine
Anhäufung von guten Taten lässt das so genannte Böse51 in den
Hintergrund treten und an Einfluss verlieren.
Derjenige, der gezwungen wird, obwohl man es ihm nicht
zutraut, „Gutes“ zu tun, wird Widerstand leisten, wird
verhaltensauffällig, wird radikalisiert und derjenige, der auf dem
Thron sitzt, wird triumphierend ausrufen: Seht ihr, der Mensch
ist böse.
50
Das Prinzip des Machiavellismus. Machiavelli ging von einem
pessimistischen Menschenbild aus. Machiavelli, N.: Der Fürst, Insel, Frankfurt,
2001 (Erstausgabe 1532)
51 Lorenz, K.: Das sogenannte Böse, DTV München 1998; Watzlawick, P.:
Vom Schlechten des Guten, DTV München, 1997; Watzlawick, P.: Die
Möglichkeit des Andersseins, Huber, Bern 2002; Guggenbühl-Craig, A.: Vom
Guten des Bösen, IKM-Guggenbühl, Zürich 1992 und sogar: Norem, J. K.: Die
positive Kraft negativen Denkens, Scherz, Bern, 2002
51
Etwas bescheidener wäre es, darüber nachzudenken, wie
einfach es doch ist, das herzustellen, was man selbst denkt –
wie mächtig doch Leitideen sind. Etwas bescheidener wäre der
Gedanke:
Im Guten das Böse,
im Schlechten das Gute?
Ei der Daus!
Wer den Paradigmenwechsel nicht vollzieht, wird buchstäblich
vom Blut ertränkt, das sein Schwert fliessen liess oder vielleicht
auch nur vom Wasser überflutet, wie in Goethes Zauberlehrling.
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los52.
Dann gibt es noch die Gutmenschen, welche zwar nicht daran
glauben wollen, dass der Mensch im Grunde gut sein kann,
deshalb eine Bresche schlagen wollen und sich dafür aufopfern.
Diese Gutmenschen haben zwar eine Engelsgeduld, üben aber
trotzdem eine Macht aus, weil sie sich nicht sicher sind. Die
Macht heisst: „Enttäusche mich nicht! Ich habe so viel in dich
investiert. Deshalb darfst du dir keinen Fehler erlauben. Du bist
mein Versuchskaninchen, an welchem ich ein Exempel
statuieren möchte. Du musst gut sein, um meine persönliche
Hoffnung zu nähren. Wofür sollte ich sonst noch leben? Und
überhaupt womit hätte ich sonst einen Beweis meiner eigenen
Güte, wenn du es mir nicht lohnst.“ Perfide. Da würde ich mir
wünschen, vom Potentaten in offener Grausamkeit gefoltert zu
werden, statt vom Gutmenschen zum Gegenbeweis seines
eigenen Pessimismus’ missbraucht zu werden. Der Fehler ist,
dass diese ungläubigen Thomasse eben auch nur
unverbesserliche Realisten sind, welche nicht einer voraus
geworfenen, selbst erfundenen Lüge genügend trauen, um ihr
nachzulaufen und sich von ihr lenken zu lassen – ohne sich
durch nicht vorhandene Beweise abschrecken zu lassen, nicht
nach einem Schritt, nicht nach 20 und nicht nach 200. Trauen
52
Goethes Zauberlehrling; Goethe, J.W. v.; Schiller, F. v.; Eibl, K. (Hg.):
Sämtliche Balladen, Insel, Frankfurt
52
Sie Ihrer eigenen Lüge mehr als der Realität und ehe Sie sich’s
versehen, werden Überraschungen eintreten – nicht jene,
welche Sie sich vorstellen konnten, sondern solche, die noch
fantastischer sind.
Sie sehen, Sie müssen wissen, wie Sie lügen, denn lügen ist
nicht einfach; Lügengeschichten erfinden und sich von ihnen
lenken zu lassen ist vielleicht noch gefährlicher als der selbst
ernannten Wirklichkeit so zu trauen, dass man sich im Kreise
dreht, ohne es zu merken.
Wir stellen das her, was wir glauben
und noch in höherem Mass das, wovor wir uns fürchten.
Deshalb: Wenn es heute fast gang und gäbe ist, in unredlicher
Manier Lügen zu erzählen und Wahrheiten vorzugaukeln, so sei
es mir in ehrenhafter Absicht erlaubt, Wahrheiten so zu
verzaubern, dass sie wie unglaubliche Lügen erscheinen. Sie
wissen, wie viel Wert mir das Attribut Ehrenmann ist und wie
abscheulich und verletzend ich das Urteil Lebemann empfinde.
Ich kann Ihnen versichern: Wenn ich lüge, ist es mir ernst.
Der Sturm, der Sie ereilt, währenddessen Sie auf ein Ziel hin
segeln, ist ja auch kein Beweis dafür, dass Sie auf ein falsches
Ziel hinsegeln. Er stellt lediglich eine Prüfung für Ihre
Überzeugung und Ihre Ausrüstung dar. Vielleicht ist es sogar
besser Sie streichen im Sturm die Segel, um nicht
unterzugehen. Vielleicht haben Sie die Gnade bei
aufkommendem Sturm die Richtung zu ändern, um nicht an
Ihrem Ziel zu verzweifeln. Mit Prüfung meine ich nicht, dass Sie
unter vollen Segeln dem Sturm trotzen und bei Mast- und
Schotbruch dem Sturm dafür die Schuld geben, dass Sie Ihr Ziel
ändern müssen, sondern ich meine, dass Sie sich und Ihre
Möglichkeiten überprüfen. Vielleicht ist eine andere Strategie,
als hartes Trotzen nach dem Motto „jetzt erst recht“ Erfolg
versprechender. Wahrheiten muss man be- oder erkämpfen. Es
geht um Tod und Leben. Lügen sind da etwas verspielter.
53
Der Gedanke enthält die Möglichkeit
der Sachlage, die er denkt.
Was denkbar ist, ist auch möglich53.
53
Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosphicus, Suhrkamp, Frankfurt/M.,
1963
54
55
56
Handlungstheorie und die Droge Entropamin
„Das freut mich“, sagte der Baron,
„entschuldigen Sie sich nicht Ihrer langen Rede wegen:
ich werde noch länger reden.“54
Wir sollten wissen, wie Handlungen entstehen, eingeleitet,
geplant und ausgeführt werden, um nachvollziehen zu können,
wieso die Handelnden unter Drogen stehen und damit eigentlich
zumindest in ihrer Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt sind,
wenn sie handeln. Die Handelnden haben den Hang
entropiesüchtig zu sein und dies meist in Überdosis.
Sie haben noch nie etwas von Entropamin gehört? In der Tat:
Sie sind auf dem Laufenden. Bisher wurde die weitverbreitete
Droge noch nicht in Gehirnen von Menschen nachgewiesen –
aber sie ist da. Warum? Es gibt viele Botenstoffe, welche dazu
da sind, die Nervenimpulse zwischen Nervenzellen
weiterzugeben. Diese kommen immer nur in kleinsten Dosen
vor. Man hat deshalb nie nach grossen Büchsen geforscht, da
man in kleinen Dosen das gefunden hat, was man suchte. Das
ist der Nachteil von Suchprozessen. Man findet, was man sucht.
Aber auch nicht mehr. Etwas beschränkt, finden Sie nicht auch?
Einer der Süchtigsten ist Herr Murphy55 selbst. Nicht er, aber ein
Mann gleichen Namens hat Murphys Gesetz erfunden, das
besagt: Es kommt sowieso, wie es kommen muss. Und es muss
schief gehen. Darum geht es auch schief. Wer wollte daran
zweifeln? Es geht sogar dann schief, wenn es überhaupt nicht
schief gehen kann. Na, sehen Sie: Alles Süchtige! Alles
Anhänger! Alles Gläubige!
Was sagen Sie: Sie glauben an gar nichts! Super. Damit sind
Sie zum Hauptkonsumenten des Entropamins geworden.
54
Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden.
Suhrkamp, 1987, Frankfurt, S. 15
55 Bloch, A.: Murphy’s Gesetz I, Der Grund, warum alles schief geht, was
schief gehen kann; Goldmann, München, 1986
57
Entropamin ist ein Kunstwort, das aus dem Begriff Entropie und
der Endung –amin56 zusammengesetzt ist. Der Gesamtbegriff
soll bewusst Assoziationen an ein Medikament, bzw. eine
körpereigene Droge auslösen. Tatsächlich wird man diesen
Neurotransmitter chemisch nie nachweisen können, da er in den
Bereich der psychologischen Handlungsforschung gehört und
mehr mit einer Einstellung, (Be-)Wertung zu tun hat, als mit
einem nachweisbaren Stoff.
Der Begriff Entropie stammt aus der Thermodynamik57. Der
zweite und dritte Hauptsatz der so genannten grundlegenden
Wärmelehre besagt, dass alles, was physikalisch-chemischen
Naturgesetzen entspricht, zu vermehrter Unordnung tendiert.
Physikalisch definierte Ordnung im Sinne von höheren
Aggregatszuständen entsteht nur durch Zufuhr von Energie.
Die Thermodynamik kann als universelle Theorie auch
allegorisch
auf
das
Zustandekommen
menschlicher
Verhaltensweisen übertragen werden. Wenn wir eine gute, neue
Ordnung schaffen wollen, so widerstrebt uns die Welt. Dies
bedeutet, dass wir Energie investieren müssen, damit sich
etwas verändert. Sie tut dies nicht alleine. Der einzige Vorgang,
der ohne Zuschuss von Energie stattfindet, ist der Tod.
Den Wortteil „amin“ kennen wir von den Aminosäuren. Eiweiss = amin
Die Thermodynamik (auch Kalorik oder Wärmelehre) ist ein Teilgebiet der
klassischen Physik. Sie entstand im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf der
Grundlage der Arbeiten von James Prescott Joule, Nicolas Léonard Sadi
Carnot, Julius Robert von Mayer und Hermann von Helmholtz. Sie ist die
Lehre der Energie, ihrer Erscheinungsform und Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Sie
erweist sich als vielseitig anwendbar in der Chemie, Biologie und Technik. Mit
ihrer Hilfe kann man z. B. erklären, warum bestimmte chemische Reaktionen
„freiwillig“ ablaufen und andere nicht. Neben der exakten mathematischen und
physikalischen Beschreibung von Entropie sind Menschen in der Lage,
Entropie auch intuitiv zu verstehen: "Unmögliche" Verstösse gegen den
zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sind Grundlage vieler Witze,
Zaubertricks und Scherze (zit. nach: http://de.wikipedia.org/). Im ähnlichen
Sinn wie hier, wird der Begriff der Entropie und der Negentropie auch
verwendet von Mihaly Csikszentmihalyi: „… Entropie ist nicht das einzige
Gesetz, das die Welt regiert. Es gibt auch Prozesse, die sich in die
entgegengesetzte Richtung bewegen“. Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des
Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta, Stuttgart, 2005, S. 40
56
57
58
Gutes anzustreben ist nicht das Ziel,
sondern der Inhalt.
Der Begriff der Handlungstheorie wurde für das menschliche
Verhalten unter anderem von Georg A. Miller, Eugene Galanter
und Karl H. Pribram58 geprägt. Es geht darum zu verstehen, was
in einem handelnden Menschen vorgeht, was ihn dazu bringt zu
tun oder zu lassen, was er tut. Hier ein Versuch zu einer kurzen
Darstellung:
Wesentlich dabei sind neben der Selbsteinschätzung, ob man
etwas tun kann oder will, auch die Einstellung und die
Erfahrungen. Wenn man denkt, dass sowieso alles keinen Sinn
hat, dass man sowieso nichts erreichen kann, wird man trotz
oder gerade wegen der hohen Notwendigkeit den zu
erwartenden Nutzen klein halten. Es könnte sein, dass man
kleinlaut in der eigenen Handlung aber umso grossspuriger im
Bereden der Notwendigkeit ist. Man minimiert so das Risiko des
eigenen Scheiterns indem man nichts tut – was damit die
Handlung ist. Natürlich ändert sich dann nichts. Aber was will
man tun: Man sagt sich, dass die Unmöglichkeit grösser ist, als
die Möglichkeit.
Wenn man gar etwas im Sinn hat, dessen Nutzen sich nicht
ausschliesslich auf einem selbst bezieht, so wird es
Miller, G. A., Galanter, E., Pribram, K.H: Strategien des Handelns. Pläne
und Strukturen des Verhaltens, Klett-Cotta, 1974. Argyris, C., Putnam, R.,
McLain Smith, D.: Action Science., Jossey-Bass, San Francisco, 1985. Fals
Borda, O.; Rahman, M. A.: Action and Knowledge: Breaking the Monopoly of
Power with Participatory Action-Research. Intermediate Technology Publication, London, 1991. Werbik, H.: Handlungstheorien, Kohlhammer, Stuttgart,
1978
58
59
ausserordentlich wichtig sein, ob man davon ausgeht, dass die
Menschen „im Innersten gut sind“ und es sich lohnt, „Gutes zu
tun“ oder ob man es besser lässt, um sich nicht potentiell
lächerlich zu machen.
Vielleicht kennen Sie das Gefangenendilemma59: Zwei sitzen
wegen einer gemeinsam begangenen Straftat im Gefängnis. Die
Höchststrafe beträgt 5 Jahre. Beide werden separat verhört
ohne Gelegenheit zu bekommen, sich abzusprechen. Beide
wissen: Wenn einer gesteht und den andern belastet, kommt er
straffrei davon. Der andere kriegt die Höchststrafe. Wenn beide
gestehen, so kommen sie mit je 4 Jahren davon. Wenn beide
ableugnen, werden die Indizien trotzdem für eine Bestrafung in
Höhe von je 2 Jahren ausreichen. Da die Höhe der Strafe nicht
nur von der eigenen, sondern auch von der Vorgehensweise
des andern abhängt, geht es darum, ob man kooperiert, ob man
verantwortlich ist oder ob man nur auf den eigenen Vorteil
bedacht ist, und dabei aber das Risiko eingeht, vom andern
übervorteilt zu werden.
Der Mensch ist gut,
weil diese Haltung nützlich ist.
Aufgrund der Analyse solcher und ähnlicher Theoreme hat John
Forbes Nash60 bewiesen, dass Kooperation auf die Dauer
lohnenswerter ist, als die Hochrisikostrategie des Siegens.
Damit hat er mathematisch die Grundlagen eines neuen
Wirtschaftssystems gelegt, das von Kooperation statt vom
Wettbewerb profitiert und damit weniger risikoreich, dafür umso
nachhaltiger ist.
Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen eigentlich eine
tierische Abart darstellen, die nach dem Prinzip fressen und
gefressen werden funktionieren und die einzige Auszeichnung
des Menschen ist, dass er das Ende der Nahrungskette
59
Es handelt sich um ein sogenanntes spieltheoretisches Paradoxon, das von
Merrill Flood und Melvin Drescher entdeckt wurde und von Albert Tucker den
Namen bekam.
60 Mathematiker, bekam 1994 den Wirtschaftsnobelpreis für die Entdeckung
der regulierenden Dynamik, sog. Nash-Equilibrium.
60
darstellt, so wird man bezüglich altruistischer Handlungen eher
abgeneigt sein.
Ebenso gut kann man aber die Menschheit als prinzipiell des
Guten würdig und ermächtigt betrachten. Handlungen, die aus
dieser Einstellung heraus wachsen, sind qualitativ anders. Sie
setzen voraus, dass sich gutes Tun lohnt. Sie setzen aber auch
voraus, dass es für Gutes einen langen Energie-Atem braucht,
der nicht schon dadurch zum Stöhnen wird, weil man doch nur
den kurzfristigen Return of investment im Auge hatte.
Dass
Unmögliches
nicht
prinzipiell
veranschaulicht folgende Geschichte61:
unmöglich
ist,
„Sitzen Sie gerade an Ihrem Schreibtisch mit einer dampfenden
Tasse Kaffee? Dann wünsche ich Ihnen, dass Folgendes nicht
passiert: Sie stossen zufällig an die Tasse, diese fällt nach
unten und zerbricht, wobei sich der Kaffee auf dem
Teppichboden verteilt. So was ist ärgerlich, aber jederzeit
möglich. Das kann leicht passieren und vielleicht ist es Ihnen
auch schon selbst passiert.
Ist Ihnen auch Folgendes schon passiert? Der heisse Kaffee auf
dem Teppichboden kühlt sich plötzlich ab. Die dadurch frei
werdende Energie nutzt der Kaffee, um in Richtung Tasse zu
fliessen, welche sich ebenfalls abkühlt und mit dem Kaffee
zusammen wieder auf den Tisch fliegt.
Unmöglich, sagen Sie? Nun, energetisch gesehen keinesfalls.
Gehen wir davon aus, dass sich sowohl Kaffee als auch Tasse
um 70° C abkühlen, so entspricht – grob geschätzt – die dabei
frei werdende Energie dem 1’000-fachen derjenigen Energie,
die nötig wäre, um wieder auf den Schreibtisch zu "fliegen".
Möglich wäre es also.“
Das Unmögliche ist also nicht wirklich unmöglich, sondern in
diesem Beispiel nur unwahrscheinlicher. Wie unwahrscheinlich
ist dies? Die Wahrscheinlichkeit einen 6er im Lotto zu erzielen,
liegt bei 1:13'983’816. Trotzdem investieren viele Menschen viel
61
Sturm, G.: Warum die Tasse nicht nach oben fällt. Thermodynamik, Entropie
und Qantenmechanik. quanten.de Newsletter Juli/August 2003, ISSN 16183770
61
Energie darauf, auf einen 6er zu vertrauen, als auf anderes
Unwahrscheinliches oder Unmögliches.
Unser Bewertungssystem hält Verschiedenes für unmöglich. So
unmöglich, dass man es gar nicht versuchen würde. Anderes
aber hält die Menschheit für unwahrscheinlich mit der
Konsequenz, dass man es täglich versucht. Würde man das
Unmögliche mit so viel Akribie und Ausdauer versuchen, wie
das Unwahrscheinliche, so wäre es vielleicht wahr geworden.
Die Raumfahrt, die Luftfahrt, ebenso die Alchemie hat
Unmögliches erreicht. Nun gut: Man kann immer noch nur
theoretisch Gold aus irgendeinem Material herstellen, aber man
hat während man es unermüdlich versuchte, so viel interessante
Entdeckungen gemacht, dass sich die Experimente gelohnt
haben.
Weshalb machen wir nicht das Gleiche auch mit unserer
Menschheit und probieren aus, unermüdlich, bis wir sicher sind,
dass der Mensch grundlegend gut ist. Wie viele Rückschläge
hat der Alchimist, wie viele der Lottospieler weggesteckt und ist
nicht vom Ziel abgewichen – gegen jede realistische
Einschätzung?
Diese Idee aufzugeben, weil man nicht glauben will, nenne ich
die Droge Entropamin. Die Welt besteht aus süchtigen Junkies,
die behaupten, dass der Mensch eine Fehlerfindung sei, die
niemals in der Lage sein wird, mehr für andere zu denken und
zu handeln, statt für sich selbst. Es ist die Angst, bei einer
solchen Gesinnung unterzugehen und dem Andern zum Profit
zu werden. Dieser Angst sagen wir Realismus. Ich sage:
Entropaminsucht.
Schauen Sie, was habe ich in der schieren Not gemacht, als
mich der Wolf angefallen hat, während ich mit meinem
Pferdeschlitten unterwegs war. Ich habe mich in wilder
Fluchtfahrt gebückt, als er zum Sprung angesetzt hatte. Er flog
über mich hinweg und verbiss sich wütend ins Zugpferd, das er
in eilendem Galopp verzehrte, bis er schliesslich selbst im
Zuggeschirr eingespannt war. So blieb ihm nichts anderes übrig,
als meinen Schlitten zu ziehen. Was kann man daraus für
Schlüsse ziehen?
62
Das Böse lässt sich mit seiner ganzen Kraft auch für etwas
Gutes einspannen. Man muss es nicht wirklich ausrotten. Wie
denn auch? Das Böse lässt sich nicht mit Bösem ausrotten. Es
korrumpiert. Aber zähmen lässt es sich vielleicht – zu einem
guten Zweck.
Wir sind heute tatsächlich in der Lage, darauf zu schauen, was
wir mit dem Entropamin geschaffen haben, so dass es uns
beweist, dass etwas anderes ganz und gar unmöglich sei. Wir
beweisen aber damit nichts anderes, als unsere eigene
Einstellung, die zu kleinlauten Taten führt. Diese verzweifelten
Taten sehen andere. Andere sehen vor allem die Einstellung,
die dahinter steckt und sehen wiederum bewiesen, dass
niemand anders funktionieren kann als so, dass alles schief
geht, was schief gehen kann. Ist es denn wirklich der Weisheit
letzter Schluss zu behaupten, nur weil einiges wahrscheinlicher
ist als anderes, dass anderes unmöglich sei?
Warum nehmen wir die wirklich grosse Herausforderung der
heutigen Zeit nicht an? Warum lassen wir die Tassen im
Schrank nicht fliegen? Entropamin!
Nicht weil sie es verdient haben, sollte man Menschen lieben,
sondern, damit es wirkt.
An den Anfang zurück: Entropie ist Tatsache. Mit Energiezufluss
wird sie verhindert. Wohin fliessen denn unsere Energien, wenn
sie zur Verbesserung der Welt nicht mehr reichen?
Es gibt genügend Beweise dafür, dass es auch anders geht. Sie
sind in Märchen zu finden, in Lügengeschichten, in Wundern…
Kinder glauben an Märchen, staunen ob Wundern. Wir sind froh,
wenn sie eines Tages nicht mehr an das alles glauben, denn
dann – so sagen wir – sind sie erwachsen geworden. Endlich
erwachsen! – Verflucht! Entropaminsüchtig.
Es gibt eine Gegendroge: Sie heisst Zuversicht, Mut und
Gelassenheit. Wie schwierig es doch ist, von einer Sucht zu
lassen.
Ich möchte den zweiten Teil der Handlungstheorie wiederum
anhand einer Grafik einleiten.
63
Wir handeln – und in Anlehnung an Watzlawick62 gilt: wir können
uns nicht nicht verhalten – nicht nur einmal, sondern immer und
immer wieder. Handeln ist ein Regelwerk, das auch darauf
beruht zu schauen, was passiert ist, und dies die Grundlage der
neuen Handlung darstellt. So wird Handeln rekursiv und findet in
Regelkreisen – jenseits jeder Trivialität – statt.
Defaitistische Menschen interpretieren sowohl ihre eigene
Handlungskompetenz anders und nehmen ebenso eine andere
Umwelt wahr, als jene, welche mutig, zuversichtlich und
gelassen handeln aufgrund einer Annahme, dass die Welt gut
sein kann und sie einen Beitrag dazu leisten.
Währenddessen die einen bei Nichterfolg der Handlung bald
aufgeben und entweder enttäuscht über sich oder andere sind,
lassen andere das Ziel nicht aus den Augen, wenn die Handlung
nicht erfolgreich ist, weil sie daran glauben, ohne einen Beweis
dafür vorauszusetzen. Die einen scheitern vielleicht daran, dass
sie den Glauben verlieren, andererseits aber doch den Glauben
nicht aufgeben wollen, was zu einem unmöglichen Unterfangen
wird, das belastet (ich kann nicht, aber ich muss –
schöngeistiger Gutmensch). Sie geben nicht auf, handeln aber
ständig auf der Grundlage des Misserfolgs. Bei so einer
heldenhaften Winkelriediade63 kann der Heldenmut schnell
62
Watzlawick, P. et al.: Menschliche Kommunikation, Huber, Göttingen, 1990;
Watzlawick schreibt dort den Satz: Der Mensch kann nicht nicht
kommunizieren.
63 Winkelried ist ein eidgenössischer Held, der sich in die Speere der
feindlichen Armee warf, um eine Bresche zu schlagen. Sterbend sagte er:
64
einem ausgewachsenen Burnout Platz machen. Das moderne
Heldentum lebt von der Selbstdarstellung, vom Narzissmus.
Wenn der Erfolg sich nicht einstellt, beginnen Zweifel zu nagen.
Der Empirismus unseres Handelns spielt uns einen Streich.
Genau das, was eigentlich eine Grundlage des Erfolgs wäre,
nämlich, dass man Schritt für Schritt sich dem Ziel annähert,
kann dann zur Katastrophe führen, wenn man unterdessen
seinen Grundsätzen untreu wird, weil man zu zweifeln beginnt.
Man ändert die Strategie und will beherrschen, gewinnen,
bekämpfen, Recht haben, sich durchsetzen. Wer (scheinbare)
Ohnmacht und (scheinbare) Wirkungslosigkeit nicht aushält,
wird nie länger der Kooperationsstrategie Treue halten können.
Warum? Weil die Rückmeldung über die Wirkung der Handlung
uns einen Strich durch die Rechnung macht.
Wir können zu heftig, zu schwach, nicht angemessen oder
unpassend gehandelt haben. Dies kann man aber nie selbst
wissen, weil man das Feedback der Handlungsschleife zu
interpretieren gelernt hat. Das kann dazu führen, dass
 man zwar zielgerecht etwas in Bewegung gesetzt hat, dass
man aber findet,
o wenn das nur so wenig auslöst, lassen wir’s
o man muss die Stärke korrigieren
o ich bin unfähig
o der andere will nicht
o et cetera pp
 dass man meint, es sei gar nichts passiert, und
o man lässt es
o man verstärkt die Anstrengungen
o et cetera pp
Das alles geschieht auf der Grundlage tiefster Glaubenssätze.
Ein solcher kann z. B. heissen: Die Welt meint es gut mit mir –
oder eben das Gegenteil! Es ist eben gar nicht die Realität, die
an unsere Sinne klopft, sondern es ist unser Innenleben,
welches rumort.
Sorgt für Frau und Kind. Ich nehme an, dass Winkelried Entropamin noch nicht
kannte.
65
Wer zuversichtlich ist und gelassen, kann sogar die Strategie
wechseln, ohne schlechte Gefühle zu bekommen. Wer aber
unter Druck steht, wird exzessiv oder resignativ werden, statt
kreativ.
Aus solchen Prozessen kommt die verheerende Strategie des
„Mehr Desselben“. Wenn etwas nichts nützt, tun wir, um die
Ohnmacht zu kaschieren, mehr davon, statt etwas anderes.
Solche Prozesse laufen spiralig ab. Sie wiederholen sich zeitlich
gestaffelt. Man ist je nachdem in einer Glückssträhne oder in
einem Teufelskreis gelandet.
Andererseits - was würde wohl passieren, wenn einige wenige
Menschen damit beginnen würden, eine Entzugskur zu wagen?
Wie viele bräuchte es wohl, bis die kritische Masse erreicht
würde und die gegenläufige Kettenreaktion in Gang käme?
Übrigens:
Wie
viele
gibt
es
schon
davon?
Entropaminabstinenzler. Vielleicht braucht es nur noch wenige,
bis das Zünglein an der Waage sich bewegt…
Vielleicht
gibt
es
dann
immer
mehr
altruide
Endorphinproduzenten64. Das ist ein Mittel, das man aber
ebenso wenig wird auf dem Markt kaufen können, wie das
Entropamin.
64
Altruismus ist als das Gegenteil von Egoismus bekannt. Vielleicht ist es gar
nicht nötig, sich selbst aufzuopfern, um altruistisch zu sein. Dann nämlich,
wenn Altruismus das ist, was man tut, damit es allen gut geht, man also selbst
auch davon profitiert. Endorphin ist jenes Hormon, welches der Körper
herstellt, wenn man glücklich ist (oder vielleicht auch: …das das Glück
herstellt, damit man es merkt).
66
Glück ist die einzige Droge, die man nicht zu kaufen braucht
und die sich umso mehr vermehrt, je mehr man sie teilt.
Unter dem Namen Strategeme65 wurden chinesische Lebensund Überlebenslisten bekannt gemacht. Warum sie Listen
bezeichnet werden, ist mir schleierhaft, da dem Begriff List das
Odium der Verwerflichkeit anhaftet. Die chinesischen Stategeme
jedoch zeugen von einer tiefen Kenntnis der menschlichen
Psyche und einem tief empfundenen Gerechtigkeitssinn. Man
könnte sagen, dass sie nach dem Motto funktionieren: „Ich liebe
es, wenn ein Plan funktioniert!“ Da sie aus Zeiten stammen, in
welchen noch ethisch galt „Auge für Auge, Zahn für Zahn“,
tönen sie zuweilen brutal und archaisch. Aber genau das
Archaische und Grundsätzliche macht sie anpassungsfähig,
menschlich und faszinierend. Die Strategeme gehorchen dem
Grundsatz der äussersten Effizienz – also kleinster Einsatz bei
grösster Wirkung. Sie verleiten deshalb wenig dazu, sich
anstrengend überwinden zu müssen, weil es nicht funktioniert
hat und es wieder und wieder zu versuchen. Insbesondere
faszinierend sind die Geschichten, wenn sie nicht faktisch
sondern im übertragenen Sinne (als Prozesse von Gedanken,
und Gefühlen und nicht eine Abfolge von Taten) gedeutet
werden. Eine der Geschichten, welche aber nur aus der
Wiederholung die Wirkung holt und die doch leicht, amüsant und
gerade nicht verbissen und verzweifelt wirken, ist folgende:
Reichskanzler Zhuge Liang geht von der höchsten
Kriegsmaxime aus, dass es besser sei, Herzen statt Städte zu
erobern. In der Folge besiegte er König Menghuo mit seinem
Heer siebenmal, bewirtete die Verlierer festlich, machte ihnen
Geschenke und entliess die Kriegsgefangenen unbehelligt mit
der Empfehlung, auf weitere Feindseligkeiten zu verzichten.
Dies machte der König natürlich nicht, weil er es als Kriegslist
deutete, welche eine Schwäche des Reichskanzlers überdecken
soll. Zhuge Liang begegnet also den Rachegelüsten des
Menghuo mit Gelassenheit und der Stärke des ethischen
Grundsatzes. Er lässt sich nicht verleiten, davon abzuweichen –
65
Senger, H. v.: Strategeme, Scherz, Bern, 1996
67
umso weniger, als der so genannte Gegner sich scheinbar
darauf einlässt. Erst als für den Feind offensichtlich erwiesen ist,
dass Zhuge Liang keinen listigen Zwiespalt sät, sondern wirklich
Barmherzigkeit und Güte meint, liess er sich erweichen und die
beiden Völker lebten in Frieden.
Aufgepasst: Wir ernten, was wir säen.
Es braucht mehr Mut, Gutes zu säen und
dabei nicht in stumpfsinnige Naivität zu verfallen.
68
69
70
(K)ein Staat zu machen66
„Das müssen ja furchtbar lustige Zustände in Europa sein.
Ja – ja – ich hab's ja immer zu meiner Umgebung gesagt:
Aus Europa kann noch mal was Gutes werden. ...“67
Einer der ersten Theoretiker, der sich systematisch mit
Gesellschaft, also dem Zusammenleben von Menschen
beschäftigte, war der Philosoph Platon. Er schrieb ein
mehrbändiges Werk mit dem Titel „Politeia“, über den Staat68.
Auch wenn einiges nicht mehr zeitgemäss und vor allem
Grundlegendes aus heutiger Sicht geradezu grotesk anmutet,
so muss man doch davon ausgehen, dass Platon die
wesentlichen Elemente des menschlichen Zusammenlebens gut
beschreibt und vor allem den Sinn, Ziel und Zweck eines
gestalteten Zusammenlebens ins Zentrum stellt: Gerechtigkeit
und Glück. Platon ist der eigentliche Erfinder der
Spezialisierung. Für ein funktionierendes Zusammenleben
braucht es Leute, die dafür sorgen, dass das Volk materiell
versorgt wird (Bauern, Handwerker, Händler). Es braucht Leute,
die die Sicherheit gewährleisten (Wächter) und es braucht
Der Begriff „Staat“ wird hier im platonischen Sinn verwendet. Es handelt sich
nicht um den verfassten und verbeamteten Staat, sondern um jene Elemente
der Gesellschaft, welche zum Leben und Zusammenleben existentiell sind.
Wenn hier im Folgenden davon gesprochen wird, was alles zum Staat gehört,
geht es also nicht um die Diskussion „Mehr Freiheit, weniger Staat“ oder
„Verstaatlichung“. Heute wird über Staat leider meist nur noch in dem
Zusammenhang gestritten, ob er einem mehr oder weniger Geld abknöpfen
darf. Der Staat verkommt zu einem Verwaltungsgebilde. Er ist keine
Gemeinschaft mehr, die davon lebt, wie Menschen miteinander umgehen,
einander wertschätzen und Aufgaben miteinander teilen und nicht einfach an
die anonyme Verwaltung abgeben möchte. Die von Platon initiierte
Spezialisierung treibt ihre Blüten: Dafür gibt es den Staat. Ich bin dafür nicht
verantwortlich: Delegation des Vollumfangs der geistigen Kräfte und der
Verantwortung. Ansonsten steht die platonische Philosophie dem Inhalt dieses
Buchs möglicherweise diametral gegenüber. Der von Platon postulierten
eindeutigen, ewigen und erkennbaren Wahrheit wird hier das kreative und
dynamische Gegenkonzept der Lüge entgegen gestellt.
67 Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden.
Suhrkamp, 1987, Frankfurt
68 Platon: Der Staat, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1998
66
71
Menschen, die den Staat lenken (Lehrstand). Interessant ist
neben der Bedeutsamkeit, die Platon der „Wirtschaft“
(Nährstand) und dem Militär (Wehrstand) gibt, der
Zusammenhang zwischen Lehrer, Philosoph, Regierendem,
Kulturschaffendem und Priester, der sich in der Beschreibung
des Lehrstandes zeigt. Der Staat hat die Aufgabe, vom
vorhandenen „Mut“, der „Vernunft“ und der „Begierde“ (natürlich
würde man dafür heute andere Begriffe verwenden), welche
treibende Kräfte darstellen, Gebrauch zu machen und auf das
Ziel hin zu orientieren, allenfalls zu zügeln und zu lenken. Dafür
braucht es Struktur und Rollen.
Wir beschäftigen uns hier nicht weiter mit Platon. Wichtig war
mir jedoch Platons Grundgerüst, weil es darauf hinweist, was
wichtig ist: Sicherheit, Wirtschaft, Politik, Bildung. Sie dienen alle
einem Ziel: Gerechtigkeit und Glück für alle. Nicht etwa heisst
es, dass der Glückliche gerecht ist, sondern der Gerechte
glücklich. Es geht also um eine Verpflichtung gegenüber dem
Ganzen, die einzulösen ist und nicht um eine Gnade, die einigen
Ausgezeichneten zuteil wird.
Von Platon und griechischen Philosophen übernehme ich für
das weitere Vorgehen zweierlei:



72
Die Grundstruktur, worüber wir hier nachdenken, nämlich:
Krieg, Geld, Wirtschaft, Politik, Soziale Wohlfahrt, Schule,
Gesundheit, Wissenschaft, Religion, Ökologie, Ethik.
Die Idee, im Dialog zu philosophieren. Ich werde jedes der
folgenden Kapitel mit einer Unterhaltung zwischen einem
Kind und seinen Eltern einleiten, da Kinder sich noch nicht
so genau an die Konvention von Wahrheit und Lüge halten
und deshalb erfrischend ungehindert das sagen, was ihr
neugieriger Verstand als sinnvoll und wichtig erscheinen
lässt.
Die Grundidee der Dialektik, welche ebenfalls auf Platon
zurückgeht. Hier wird sie allerdings in der Form einer Denkund Kommunikationsmethode angewendet, die aus der
Exposition von scheinbaren Widersprüchen Erkenntnis in
einer neuen Art gewinnt. Jedes Kapitel besteht aus These
(Gespräch zwischen Kind und Eltern), Antithese (kritische
Beleuchtung der Zustände) und schliesslich die Synthese
(Erfindung der zukünftigen Möglichkeit). Die Synthese
entsteht dabei nicht etwa durch die Verbindung von These
und Antithese, sondern ist eine Neuschöpfung auf der
Metaebene. Dahinter steckt die Idee, dass jeder
Widerspruch nur scheinbar besteht und auf einer der
konstruierbaren Metaebenen aufgelöst werden kann, wobei
zugleich eine neue potentielle Wirklichkeit geschaffen wird.
Es besteht also kein der üblichen Logik entsprechendes
Verhältnis zwischen These – Antithese – Synthese. Die
Synthese wird erfunden, um dem Dilemma auf einer
nächsten Dimension auszuweichen und stellt damit – Sie,
geneigte Leserin, geneigter Leser werden es bereits ahnen
– eine reine Erfindung oder eben wie hier gebräuchlicher
eine Lüge dar. Ich nenne die Triade in Abänderung aber
thematisch folgerichtig: Dialog, Antilog und Metalog,
manchmal gar noch gefolgt von einem Epilog.
So, genug der Logie. Zurück zum Anfang dieses Kapitels. Mit
den heute üblichen Mitteln lassen sich die Probleme unseres
Zusammenlebens zwischen Menschen und Völkern ebenso
wenig lösen, wie jene zwischen Menschen und Natur. Ich
glaube aber, dass der Staat eine wesentliche Struktur zu
gestalten in der Lage ist, um diesen Themen eine neue
Dimension der Lösbarkeit zu geben. Genauso wie der Staat ein
grundsätzlich erfolgreiches Beispiel eines Bundes zwischen
Menschen ist, kann dies natürlich ebenso auf der höheren
Ebene der Staatenbündnisse angewendet werden. Ebenso kann
ein Bündnis geschlossen werden zwischen Menschen und der
Natur, welche ja den wahrhaftigen Nährstand darstellt.
Mit der Anwendung der neuen Form der Dialektik soll auch
darauf hingewiesen werden, dass die Zukunft nichts mit einer
empirisch-wissenschaftlichen Fortführung der Vergangenheit zu
tun hat, sondern immer eine Neuerfindung ist. Lösen wir uns
also aus den Fesseln der Empirie, der Sachzwänge und des
Opportunismus und beginnen wir zu träumen. Lügen soll wieder
gestattet sein.
Glauben Sie also nicht jenen, die unabhängig von der
Wünschbarkeit daran festhalten, dass die Zukunft eine Art
lineare Fortsetzung der Vergangenheit sein müsse. Glauben Sie
73
also nicht jenen, die behaupten, dass dies sogar genetisch
festgelegt, ethologisch bewiesen, naturgesetzlich und damit
schicksalshaft festgelegt sei – in Stein gemeisselt für immer und
ewig.
Glauben Sie also nicht jenen, die die Lösung der Probleme darin
sehen, das fortzuführen, was sich schon in der Vergangenheit
nicht bewährt hat: Verbreiterung der Strassen, Teuerung,
Wachstum,
politische
Polarisierung,
Individualisierung,
Aufrüstung, Klassengesellschaft, Staat als soziale Hängematte,
Religion als Opium für das Volk (wenn es wenigsten nur das
noch wäre), Reichtum als Gnade69 und schliesslich Ausbeutung
der Lebensgrundlage bis zur Selbstzerstörung. Dafür, um diese
Probleme lösbar zu machen, brauchen wir zweierlei:

Die Frechheit eines gemiedenen Sonderlings, der als
Lügenbaron desavouiert wurde: Er behauptete nämlich,
dass es ohne weiteres möglich sei, sich am eigenen Schopf
zum Dreck hinauszuziehen...
Halt, ich bin es. Ich stehe vor Ihnen. Ich bin der leibhaftige
Beweis, dass es möglich ist – sonst könnte ich nicht mit
Ihnen plaudern. Ich wäre elendiglich im eigenen Sumpf
ersoffen. So gerettet durch die beherzte Tat aber behaupte
ich, dass es sogar möglich ist, sich am eigenen Schopf zum
Dreck herauszuziehen, sodass der Dreck gleich mitkommt.
Probleme sind Erfindungen von Menschen,
die keine Lösungen parat haben.

69
Eine Struktur, die sich bewährt hat, Ideen zu verbreiten und
sie umzusetzen: die Staaten mit ihren Grundverpflichtungen
zum Schutz, zur Freiheit, zur Gerechtigkeit, zur
Geschwisterlichkeit und zur Gleichheit.
Sie hat sich deshalb bewährt, weil sie sich als wandlungsund anpassungsfähig gezeigt hat.
Dies hat sie erreicht durch Gewaltentrennung in Bereiche
wie Legislative (Erfindung der Rahmenbedingungen),
Exekutive (Umsetzung, Verwaltung) und Judikative
...wie das scheinbar vom Calvinismus vertreten wird
74
(Beurteilung, Rechtssprechung) sowie die Bereiche des
Zusammenlebens wie Produktion – Handel, Bildung –
Wissenschaft, Religion – Kultur sowie des Sozial-, Arbeitsund
Gesundheitswesens
und
des
Naturund
Bevölkerungsschutzes. Diese dienen der materiellen und
geistigen Existenzsicherung und Entwicklung, insofern sie
so zusammenzuspielen in der Lage sind, dass dialektische
Metaebenen aufgebaut, erfunden und deren gewonnenen
Erkenntnisse verwirklicht werden können.
Unsere Gesellschaft ist ein komplexes System, das auf das
Zusammenspiel verschiedener Teilsysteme angewiesen ist, die
verschiedene gleichwertige, wichtige Funktionen wahrnehmen:
Staat, Politik (Abstimmen, Ausgleichen), Bildung, Wissenschaft
(Entwickeln), Wirtschaft (Versorgen, Ernähren), Religion, Ethik,
Recht (Ausrichten, Aufrichten), Kultur, Kunst (Anregen,
Musse)70. Dies passiert verschieden, gemäss unterschiedlicher
Tradition und Entwicklung. Die Teilsysteme stehen in regem
Austausch miteinander und zwar innerhalb und zwischen den
Ländern. Eine bildhafte Darstellung könnte so aussehen71:
70
Wenn es darum ginge, das Sozial- und Gesundheitssystem als auch die
Medien zuzuordnen, so würde ich meinen, dass diese eigentlich
Zwischensysteme darstellen oder die Teilsysteme verknüpfen. Die
Verantwortung darüber liegt nicht nur bei einem Teilsystem. Das Sozialsystem,
das die Fürsorge, die Altersversorgung und die Gesundheit umfasst, gehört
letztlich am ehesten in den Bereich Ethik; die Medien am ehesten in den
Bereich Kultur, welcher anregt. Es kann nicht darum gehen, ein unabhängiges
System aufzuziehen, welches ermöglicht, dass alle andern Teilsysteme
diesem die volle und alleinige Verantwortung anlasten. Gesundheit, Soziales
sollten weder verwaltet noch verkauft werden. Es geht um Aufmerksamkeit
und Steuerung. Die Medien funktionieren nach Gesetzen der Wirtschaft, haben
aber Elemente des ethischen und des kulturellen Teilelements in sich.
71 Die geografische Positionierung der einzelnen Elemente ist zufällig und hat
keine Bedeutung.
75
Mit der Zukunft verhält es sich wie mit einem Streichholz, das
angezündet72 wird oder unangezündet bleibt. In beiden Fällen
jedoch wissen wir, wenn wir ein Zündholz in unseren Gedanken
haben, dass es einen finalen Zweck hat, nämlich angezündet zu
werden und zu brennen, ja anderes anzuzünden, damit es
brennt. Wir reiben ein Zündholz an der Reibfläche der
Zündholzschachtel, weil wir Zukunft gestalten, weil wir wissen,
dass wir es können und das Zündholz uns dabei hilft. Wir
würden nicht an uns zweifeln, wenn wir ein Zündholz nicht durch
Reiben an der Zündholzschachtel zum Aufflammen bringen
würden und in Zukunft die Finger davon lassen, enttäuscht über
unsere eigene Unfähigkeit, sondern wir würden das Versagen
unserem Werkzeug zuschreiben – und einfach ein neues
nehmen, bis es zündet. So sehr glauben wir an unsere
zukunftsgestaltenden Kräfte, dass wir ein Zündholz reiben, weil
wir zu wissen glauben, dass es durch unsere Kräfte brennen
wird.
72
Wie ein angezündetes Streichholz die Welt verändert, hat anschaulich der
berndeutsche Liedermacher Mani Matter in seinem Lied „I han es Zündhölzli
aazündt“ (ich habe ein Streichholz angezündet.). Es kommt allerdings immer
darauf an, wozu und wofür...
76
„In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir frei, auf die
Zukunft hin zu handeln, die wir uns wünschen.
Mit anderen Worten, die Zukunft wird so sein, wie wir sie sehen
und erstreben. Dies kann nur für diejenigen ein Schock sein, die
ihr Denken von dem Prinzip leiten lassen, dass für die Zukunft
nur die Regeln gelten sollen, die in der Vergangenheit befolgt
wurden“.73
Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.
(Pierre Laplace (1749 – 1827), Mathematiker)
Nun, nach all der Vorrede, so höret, was ich erfahrener
Kriegsherr, Diplomat, Globetrotter, Geschichtenerzähler,
Staatsmann und Edler euch aus meinem gesammelten Fundus
der letzten paar hundert Jahre in meiner Versenkung für die
nächsten paar hundert Jahre zu erzählen habe. Da alle Themen
zwar nicht hoffnungslos, aber wenig humorig sind, wird für
manchen Leser das Folgende zur ernsthaften Tortur werden.
Halt eben wenig lustig. Ich persönlich finde auch, dass die Lust
nicht dem Lesen gehören soll, sondern dem Tun, dem daraus
folgenden Verwirklichen der utopischen Zukunft. Wer es fassen
kann, der fasse es.
73
Die Geschichte mit dem Streichholz und das anschliessende Zitat als Fazit
daraus, verdanke ich Heinz von Foerster. Foerster, H.v.: Zukunft der
Wahrnehmung, Wahrnehmung der Zukunft, in: Foerster, H.v.: Wissen und
Gewissen, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993
77
78
79
Krieg „funzt“ 74 nicht mehr
Ich will eine Welt ohne Kriege!75
Dialog: „Papa, warum machen Menschen Kriege?“ Papa: „Tiere
bringen sich auch um.“ Kind: „Du sagst aber immer, wir sollten
nicht tun wie die Tiere. – Papa, warum bringen die Menschen
sich um?“ Papa: „Die Menschen möchten das Böse ausrotten,
deshalb kriegen sie. Die Menschen, die im Krieg sterben, setzen
sich für eine gute Sache ein und sind Helden.“ Kind: „Aber
Papa, kann man denn das Böse ausrotten, wenn man selbst
Menschen umbringt? Du sagst doch auch immer, wenn ich will,
dass meine Schwester zu mir lieb ist, muss ich auch zu ihr lieb
sein.“ Papa: „Ja, aber deine Schwester ist nicht böse. Sie tut nur
manchmal so.“ Kind: „Wenn ich mich ärgere über sie, sehe ich
aber keinen Unterschied. Für mich ist sie dann böse. Ich könnte
sie dafür schlagen und wenn ich stärker wäre, umbringen. Aber
ich möchte das nicht tun. Sie ist meine Schwester.“ Papa: „Du
hast recht. Wir sollten uns vielmehr darüber Gedanken machen,
wie wir Kriege vermeiden.“ Kind: „Irgendwie sind doch alle wie
ich und meine Schwester, oder?“ Papa: „Dann wären Kriege
überflüssig.“
Antilog: Krieg ist eine Wahrheit, welche uns weismachen
möchte, dass mit roher Gewalt, der Gewalt zu trotzen ist, dass
siegt, wer stärker ist. – Wie war denn das mit David und
Goliath? Wer siegte wohl in der Vergangenheit? Diese Lüge,
dass der Schwächere, der weniger Ausgerüstete, nicht verloren
ist, lässt sich offensichtlich nicht ausrotten. Aber geglaubt wird
sie eigentlich nicht.
„Kanakisch“ (ursprgl. hawaiianisch bzw. polynesisch Kanake für Mensch;
heute Bezeichnung für Multikulti – Jugendslang) für „funktioniert“, etwas
despektierlich
75 Gruen, A.: "Ich will eine Welt ohne Kriege", Klett-Cotta, Stuttgart, 2006
74
80
Um Wahrheit zu erzwingen,
werden todbringende Kriege geführt.
Lügen verbreiten sich,
erobern Herzen und lassen schmunzeln.
Die Folge ist, dass, wer Bedrohung ortet, mit Krieg antworten
möchte, um die (vermeintliche) Bedrohung aus der Welt zu
schaffen. Der Krieg, der daraus entsteht, kann manchmal die
grössere Ursache des Schadens sein, als es die ursprüngliche
Bedrohung darstellte76. Krieg wird in Gang gesetzt, um „höhere
Interessen“ mächtig zu vertreten. Dabei ist es aber möglich,
dass gerade diejenigen Interessen, welche vertreten werden
sollen, aus Sicht jener, die bekriegt werden, mit Füssen getreten
werden. Ein Beispiel dafür, dass die Mittel den Zweck nicht
unbedingt heiligen müssen. Oder wie war das noch: Heiligt der
Zweck die Mittel oder die Mittel den Zweck? Die Logik: Wenn du
Frieden willst, mache Krieg, die 2000 Jahre alt ist, scheint nun
doch etwas angefault zu sein. Warum könnten wir das alternde
Paradigma nicht ersetzen durch die weisse Lüge: Wenn du
Frieden willst, mache Frieden? Eigentlich sollte der Friede heilig
sein, nicht der Krieg.
Kriegerisches Denken hat in der heutigen Zeit keine Chance
mehr. Sie wissen es vielleicht nicht, aber ich habe damals, als
die Kubakrise sich zuspitzte, den beiden mächtigsten Herren der
Welt, Chruschtschow und Kennedy, meine Gegenlügen
aufgetischt: „Sie werden diesen Krieg nicht gewinnen, genauso
wenig, wie Sie jeden Krieg gewinnen können, aber diesen erst
recht nicht.“ Ich habe sie daran erinnert, dass ich damals aus
lauter Abenteuerlust auf der Kugel über das Kriegsfeld geflogen
bin, um mir aus der Adlerperspektive Übersicht zu verschaffen.
Gott sei Dank kam mir – allerdings erst im Flug – der Gedanke,
dass ich so nicht auf dem gegnerischen Feld landen konnte. So
stellte ich mir kurz entschlossen ein Rückflugticket aus, indem
ich auf eine gegnerische Kanonenkugel hüpfte und so die
Möglichkeit hatte, meine Weitsicht unseren Leuten zum Besten
76
Pausewang, G: Die letzten Kinder von Schewenborn, Maier, Ravensburg,
1983; Birckenbach, H.-M.; Sure, Ch.: Warum haben Sie eigentlich Streit
miteinander?, Leske + Budrich, Opladen 1988
81
zu geben. Was mir bei diesem Flug klar wurde: Krieg macht nur
aus der Froschperspektive Sinn. Aus der grossen Übersicht
über Gesamtzusammenhänge und –wirkungen beginnt man zu
zweifeln.
Die Kubakrise ist aufgrund meiner Assistenz beigelegt worden.
Es braucht keinen gescheiten Mann. Die gleichen Ratschläge
hätte auch Till Eulenspiegel erteilt. Es braucht nur eine gewisse
Weitsicht, die darin besteht, dass Krieg nicht geführt werden
kann, sondern dass Krieg eine unbeherrschbare Eigendynamik
in Gang setzt, welche nicht zu zähmen ist. Deshalb ist es
leichter, Kriege zu beginnen, als sie zu beenden.
Manche bezeichnen einen andern als Schweinehund,
aber kaum einer kann den eignen überwinden.
Krieg beruht meist auf Zusammenhängen, welche auf Wut,
Enttäuschung, Missachtung, Missverständnissen aufbauen. Sie
sind es, welche das Gerechtigkeitsempfinden entarten lassen,
so, dass jeder Krieg zum gerechten Krieg wird. Möglicherweise
würde da eine kleine Portion Lautverschiebung bereits helfen zu
erkennen, dass es sich nicht um einen gerechten, sondern um
einen gerächten Krieg handelt.
Vietnam konnte nicht gewonnen werden, weil die eine Seite
einen Befreiungskrieg erklären wollte, die andere Seite aber gar
nicht befreit werden wollte. Die Sache wurde lediglich dadurch
komplizierter, dass sich eine fremde Macht in einen Bürgerkrieg
einschaltete – und damit unbeherrschbar.
Der zweite Weltkrieg war ein Versuch der Deutschen, endlich
ihrem Unmut Luft machen zu können über die Demütigung
durch die Versailler Verträge, die Hitler, welcher ganz andere
Ziele verfolgte, dazu benützte, um das Volk zu verhetzen. Den
dritten Weltkrieg gab es bisher deshalb von Deutschland aus
nicht, weil es mit dem Marshallplan gelungen war, den
Deutschen ihr Selbstbewusstsein wieder zurückzugeben und
dem deutschen Volk verziehen wurde, dass es einem
schlechten Führer Folge leistete und mit der Zeit auch kaum
mehr wusste, wie es anders konnte.
82
Der Krieg der Serben im Balkan weist ebenfalls deutliche
Zeichen eines gebrochenen Stolzes eines Volkes aus, welches
immer wieder gedemütigt wurde, das deshalb zur Macht und
zum Schwert griff, weil es glaubte ein „Führer“, ein Krieg könnte
ihnen diesen zurückerobern. Es ist schwierig, mit dieser
Geschichte aufzeigen zu können, welches Ursache und Wirkung
war. Huhn und Ei lassen grüssen. Durch Tito wurde dies mit
starker Hand während Jahren verhindert. Durch das Warten auf
Befreiung wurden aber die entarteten Machtgelüste nur noch
gesteigert.
Das Ende der Gewalt
wird nicht durch Gewalt erreicht.77
Zudem – und das ist neu, ging es früher um Machtgelüste, die
vielleicht religiös verbrämt oder aufgeladen wurden. Heute geht
es absurderweise vielmehr darum, welche Gene überlegen
sind78. Die Zusammengehörigkeit wird nicht über die Kategorie
„Mensch“ hergestellt. Dies ist insofern gefährlich, als diese
Komponente wiederum geeignet ist, abzulenken von den
wirklichen Lebensbedingungen. Die „Menschlichkeit“ zerfällt.
Geht es dem ganzen Volk schlecht, so kann daraus ein
Bürgerkrieg entstehen (z. B. Ruanda), wenn man sich als
unterschiedliche Volksgruppen definiert. Statt das Elend
gemeinsam anzugehen, will man die andere Volksgruppe
auslöschen. Unterschwellig zumindest könnten solche Motive
auch eine Rolle bei den sogenannten „Befreiungskriegen“
spielen. Genetik und Rasse eignen sicht scheinbar als
Handlungsbegründung, ohne über andere Formen von
Verantwortung und Zusammengehörigkeit nachdenken zu
müssen. Ich halte dies für hoch brisant. Gefährlich, da es
scheinbar eine sachliche Legitimation für Unterscheidungen
77
Saner, H.: Das Ende der Gewalt wird nicht durch Gewalt erreicht. In:
Burgherr, S.; Chambre, S.; Iranbomy, S.: Jugend und Gewalt, Rex, Luzern,
2001. S. 105ff.
78 Chirot, D.; Seligman, M. E. P. (Hg.): Ethnopolitical Warfare. Causes,
Consequences and Possible Solutions. American Psychological Association
(APA), Washington, 2001
83
zwischen Freund und Feind, unterlegen – überlegen, böse und
gut herstellt.
Lassen Sie mich dies sagen: Ich verabscheue Krieg zutiefst und
jedes Menschenleben, das geopfert wird, ist sinnlos geflossenes
Blut – egal wer, wo und warum den ersten Schuss abgegeben
hat, aber genau diese Interpunktion der Ereignisse79 stellt das
Problem dar. Selten sind sich die Kriegsparteien darüber einig,
sonst würde man eben andere Lösungen finden, die das
Problem nicht der Schicksalsfrage ausliefern. Es würde nicht
gelten, dass wer die bessere Tötungsmaschinerie hätte,
letztendlich Recht bekomme. Da sind wir wieder bei der
Wahrheit und beim Recht haben gelandet. Ich glaube, dass die
Wahrheit mit „Recht haben“ und „sich Recht verschaffen“ (im
gewalttätigen Sinne) nicht gefangen werden kann, ausser man
betrachtet Wahrheit als etwas, was man sich wie Schmetterlinge
mit dem Netz fangen, töten und in die Sammlung einverleiben
kann.
Wir hatten einen Krieg im Römischen Reich, der durch
erfolgreiches Hinhalten des Feldherren Fabius Maximus
Cunctator, der Zauderer, gewonnen wurde. Heute ist mehr
Zuschlagen angesagt, man muss Stärke auch noch ausspielen,
wenn man sie hat. Häufig gäbe es vor Kriegen genug
Unkenrufe, aber man fürchtet, feige genannt zu werden, wenn
man jetzt die vernichtende Maschine nicht in Gang setzt. Logik
des Krieges. Es ist ein Lemmingphänomen. Auf ins Verderben –
und erst noch mit wehenden Fahnen. Der Sieg winkt. Die
Chancen stehen 50 %. Wagen wir es! – Gibt es denn so wenig
Alternativen?
79
Das Konzept Interpunktion ist ein konstruktivistisches Konzept, das erklärt,
warum bei der Suche nach Ursachen in sozialen, psychischen und politischen
Zusammenhängen meist kein objektiver Tatbestand möglich ist, sondern nur
subjektive Betrachtungen. Aus der einen Sicht ist dies die Ursache, aus der
anderen Sicht jenes. Es kommt darauf an, wo man die Ursache setzt, bzw. wo
der neue Satz beginnt – eben nach dem Punkt des letzten. Kinder machen
dies gerne: „Du hast begonnen! – Nein, du hast damit angefangen!“ Was war
nun Aktion und was Reaktion? Eine Interpunktionsfrage. Wie bereits im
Erziehungsverhalten unkontrollierbare Eskalation vermittelt und gelernt werden
kann, zeigt das so genannte „Coercion Modell“ (Patterson, G.R.: Coercive
Family Process, Castilia, Eugene, 1982).
84
Krieg vernichtet Bruttoinlandprodukt (BIP)80 bei höchster
Betriebsamkeit und geringster Arbeitslosigkeit – notabene, das
des Angreifers und des Angegriffenen. Aber was ist, wenn man
Krieg gewinnt? Das aktuellste Beispiel81 möchte ich nicht
aufführen, nur erwähnen, dass es schon einmal einen gab, der
früher sich gewünscht hätte, er hätte verloren, bzw. gar nicht
angefangen: Es war Pyrrhus. Nach dem „Sieg“ über die Römer
um 280 v. Chr. soll er zu seinen Getreuen gesagt haben: „Noch
so ein Sieg und wir sind zerstört.“ Er schloss danach Frieden mit
den Römern, hatte aber die Lektion nicht wirklich gelernt. Er
wurde später von den Römern besiegt. Als er geschlagen in
sein Heimatland zurückging, fand er es in ruiniertem Zustand
vor, denn er hatte sich um den Krieg und nicht um sein Land
gekümmert. Man kann kaum sagen, welches die grösseren
Niederlagen waren, jene an der so genannten Heimatfront
oder…
Terrorismus gab es schon immer,
weil unsere Zivilisation ihn fördert.82
Ich hatte vorhin erläutert, dass man echte Wahrheiten nicht aus
vergangenen Fakten findet. Man muss sie schon selbst mühsam
erfinden, wenn sie etwas taugen sollten. Sollen einem wirklich
solche Geschichten glauben machen, dass der Mensch nicht
anders könne, dass das alles in seinem Konstruktionsplan sei?
Da glaube ich lieber freimütig an die Lüge, dass der Mensch
sehr wohl anders kann, dass er gar anders muss, um der
menschlichen Natur gerecht zu werden. Mir ist es gleich, wenn
Sie mich sogleich wiederum einen Fantasten und Lügenbaron
nennen. Die Geschichte lehrt uns schon, nur müssen wir
nützliche Schlüsse daraus ziehen und nicht sich dem
realpolitischen Schluss hingeben, dass Geschichte sich sowieso
immerzu wiederholt. Ich nehme an, dass es nicht deshalb immer
neue Generationen gibt, sondern, weil ihnen neue Möglichkeiten
80
Ich meine das wahre, das Wertschöpfung misst, nicht das realexistierende.
Zur Kritik des Bruttosozialproduktes u. a. auch: Rifkin, J.: Der Europäische
Traum. Campus, Frankfurt/M, 2004, S. 85ff
81 Irak
82 Gruen, A.: Der Kampf um die Demokratie, Dtv, München, 2004, S. 88
85
offen stehen würden, sonst könnte man ja fraglos auch die
Geschichte beenden, denn sie hat nichts mehr Neues und
braucht uns alle nicht. Sie kann sich auf ewig selbst
reproduzieren. Aber einen Sinn würde ich darin nicht wirklich
sehen. Da lüge ich mir lieber schönste und optimistischste
Zukunftsbilder.
Naher Osten: Soeben ist wieder eine Bombe explodiert. Krieg.
Ein Selbstmordattentäter. Zweiundzwanzig Todesopfer. Alltag.
Nächster Tag. Vergeltungsschlag auf ein Haus, in welchem
Terroristen vermutet werden. Schrecken. Bilder von
Begräbniszug und Gegenbegräbniszug. Seit Jahrzehnten.
Worum geht es: Ums Lebensrecht zweier Völker, das eine einoder heimgewandert aus dem 2000-jährigen Exil, das andere
heimisch seit mehr als 2000 Jahren, bekriegen sich nach wie
vor, obwohl mittlerweile niemand mehr, auch die Kriegsparteien
nicht, das Lebensrecht des andern Volkes im hier und jetzt in
Frage stellt. Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit wäre ohne die
ständigen Toten möglicherweise leichter zu ertragen. Vielleicht
würden sich Hass und Rache sogar legen, aber wer legt zuerst
die Waffen nieder?
Nach altem Recht hat derjenige verloren, welcher die Waffen
streckt. Noch brisanter: Das eine Volk strotzt vor Kraft, Macht,
Reichtum. Das andere Land Armut, Trockenheit, Landwirtschaft.
Nur Lebensrecht! Warum???
Glaubt mir: Hier ist eine Lüge angezeigt: Man kann diesen
Konflikt lösen, gemeinsam, indem man gestaltet, statt
Vergeltung zu üben. Verzeiht, wenn jemand noch nicht bereit ist
für den Frieden oder nicht weiss, wie damit umzugehen ist. Man
muss den Feind nicht gerade lieben – aber es vereinfacht die
Sache ungemein, wenn man ihm Respekt und Verständnis
entgegenbringt. Vor allem und gerade in einer so verfahrenen
Situation.
Ich mache euch einen Vorschlag. Ich war mal auf dem Mond. Es
ist ganz leicht. Dort gibt es Menschen, die leben den Kopf
getrennt vom Körper. Vielleicht macht’s dies leichter. Dort
könnte vielleicht noch ein Schlachtfeld übrig sein, um die letzten
Messer stumpf zu schlagen. Wölfe, wollt ihr ewig heulen?
86
Welche Lektion hat ein Volk zu lernen. Verfolgung und
Unterdrückung dauern nicht ewig. Aber wenn sie beendet
werden sollen, ist es einfacher, dass man sich daran erinnert,
wie es war, als man unterdrückt und verfolgt war. Man könnte
Rollen sehen, man könnte Reaktionen zuordnen, man könnte
Muster finden.
Klar haben wir Christen gemeint, dass Juden Feinde unseres
Gottes seien. Klar haben wir damals Kreuzzüge im Namen
Gottes gefochten. Klar gibt es eine Gruppe islamische Gläubige,
die mit Holterdipolter verkünden, dass es auch heute noch einen
heiligen Krieg gibt, aber müssen wir dieses Kriegsangebot
eingehen? Und klar macht uns westlichen Ländern das Angst.
Aber gibt es keine andern Lösungen, um Angst zu haben, als
zuzuschlagen83 oder zurückzuschlagen? Führt das nicht dazu,
dass die gleiche Radikalisierung der Religion sich auch unter
christlichen Fundamentalisten breit macht und dass wieder
gewaltig Recht geschaffen wird, wo weisse Lügen neue
Möglichkeiten bieten würden.
Liebe deine Feinde,
denn sie zeigen dir deine Fehler.
Ich habe früher im jugendlichen Übermut genug Kriegsherr
gespielt, mit dem damals üblichen Abenteuergeist. Ich muss
gestehen, ich bin reifer geworden. Die Kriegslust ist mir
vergangen. Deshalb möchte ich mich auch nicht weiter in
taktische Manöver und Manöverkritik einlassen, sondern
Alternativen zu Krieg erfinden.
Liebe deine Feinde, denn du
entziehst Wut, Hass und Hinterlist
ihre Berechtigung.
Nur eines noch dazu: Wer einen Krieg beginnen kann, kann ihn
nicht automatisch beenden. Für Krieg braucht es Generäle, für
die Friedenskonversion jedoch Friedenspfeifen. Eines jedoch
bleibt gleich: Die Antizipation der Reaktion und die Grösse zu
wissen, dass man im Krieg sät, was man anschliessend erntet.
83
Lapide, P.: Wie liebt man seine Feinde?, Grünewald, Mainz, 1984
87
Das ist das Gebot der Stärke, welche im Krieg zelebriert wird.
Wer die Reaktion dem „Gegner“ zuschreibt, hat schon verloren.
Dies gilt noch vielmehr in der Beendigung des Kriegs. Am
„einfachsten“ ist, wenn man einen Unterlegenen hat. Der muss
sich fügen, wohl oder übel. Wenn aber Krieg einfach weitergeht,
weil Unzufriedene neue Störmanöver, Anschläge und Sabotage
durchführen, muss man in der Lage sein, Ursache und Wirkung
als Kriegsmacht auf sich zu beziehen, damit man ein Ende
findet. Je mehr man nämlich die Unterlegenen bekämpft, umso
ungebrochener wirkt der Widerstand.
Es ist ziemlich traurig zu sehen, wie ungebrochen dass der
Glaube an den Krieg als endgültige Machtlösung ist – und
zugleich, wie wenig es gelingt, Kriege zu beenden. Vielleicht ist
die Zeit der Kriege beendet.
Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Waffengewalt und
Menschenmenge (Heer) ein Mittel ist, Menschen davor zu
bewahren, sich die Köpfe einzuschlagen. Dies dürfte aber nicht
in eigenem Interesse und eigenem Auftrag geschehen und vor
allem nur so, dass Waffen lediglich zur Durchsetzung dienen,
aber nicht zur Anwendung gelangen.
Die erste Lüge. Die zukünftige Welt wird ohne Krieg existieren.
Sie werden staunen, das geht. Es gibt ebenso taugliche Mittel
zur Vertretung der Interessen, zum Schutz des eigenen Guts,
der eigenen Werte und der Würde, die ohne Tötungsmaschine
gleiche Ziele erreichen. Sie sind nicht einfach. Aber Krieg zu
führen und ihn zu gewinnen ist meines Erachtens ein grösseres
Risiko. Das alles hat System. Das alles hat Hand und Fuss und
ist mehr als Gesundbeterei. Es nennt sich „soziale
Verteidigung“. Ich hab’ das nicht selbst erfunden, nur geklaut.84
Ich stelle es aber dar, als ob ich jetzt der Friedensheld wäre.
Das möge man mir verzeihen.
84
Ebert, Th; Senghaas, D.; Steinweg, R.: Soziale Verteidigung, Haag, 2000
Johan Galtung: Friede mit friedlichen Mitteln, Leske und Budrich, Opladen
1998; Alinsky, S. D.: Anleitung zum Mächtigsein, Lamuv, Bornheim 1984;
Stadtmann, U. et al.: Soziale Verteidigung, Internationaler Versöhnungsbund,
Münster, 1987
88
Ich werde liebend gerne aufzeigen, dass die Strategie der
sozialen Verteidigung ebenso tauglich ist, wie die Strategie des
Kriegs. Auch sie ist nicht ohne Risiken und Gefahren, sie sind
aber deutlich minimiert.
Einige
Prinzipien
sind
in
Kriegsstrategien
Kriegsvermeidungsstrategien gleich:





wie
in
Man muss die Bedrohung analysieren.
Man muss den „Feind“ verstehen.
Man muss in der Lage sein, die gegnerische Partei zu
Reaktionen zu veranlassen und auf diese vorbereitet sein.
Man muss selbstbewusst auftreten.
Man muss Recht und Gerechtigkeit schaffen!
Nur bei der Kriegsstrategie wird mit diesen Prinzipien völlig
anders umgegangen, als in der Friedensstrategie. Die
Friedensstrategie nimmt nicht die Unterwerfung des Feindes ins
Hauptblickfeld, sondern die Überwindung des Konflikts.
Die soziale Verteidigung muss ebenso organisiert werden, wie
eine Armee im Einsatz. Nur stellen alle Betroffenen die Armee
dar und nicht nur eine geschulte Auswahl von Zivilisten, die
durch eine Uniform nicht mehr als Zivilisten gelten.
Es wird davon ausgegangen, dass mächtige Einflussnahme
auch ohne Waffengewalt möglich ist. Da man darauf verzichtet
Menschen zu töten oder zu verletzen, ist auch anzunehmen,
dass in den eigenen Reihen das Verletztwerden und
Getötetwerden in Grenzen gehalten werden kann.
Auch in der sozialen oder zivilen Verteidigung hat man es mit
einem Aggressor oder einer Macht zu tun, welche eine Gruppe,
ein Volk oder ein Land unter die eigene Verfügungsgewalt
bringen möchte. Dem steht man aber mit Mut, mit Offenheit, mit
List, Lust und Selbstvertrauen gegenüber. Da man auf die
Anwendung von militärischer Gewalt (bewaffnete Truppen)
verzichtet, rechnet man damit, dass offene Gewalt von der
Gegenpartei entsprechend weniger ausgeübt wird.
Es
gibt
verschiedene
praktische
Widerstandsund
Verhandlungsmethoden, die man aus der Geschichte lesen
89
kann oder aus der entsprechenden Literatur, die bewährt und
erfolgreich sind.
Obwohl viele Erfahrungen bestehen, ist bis jetzt noch kein Land
dazu übergegangen, auf solche Strategien seine Verteidigung
und ein Sicherheitskonzept aufzubauen. Offensichtlich traut man
der alten Wahrheit „Si vis pacem para bellum“ aus
Traditionsgründen immer noch mehr als „Wenn du Frieden
willst, schaffe Frieden“ oder „Wenn du Recht willst, verbreite
Recht“ oder „Wer Blut sät, wird Blut ernten“. Die Idee dahinter
scheint zu sein: Nur ein toter Feind, ist ein guter Feind. Mir
scheint dies ein bisschen gar heftig angstgeprägt und wenig
selbstbewusst und veränderungsorientiert zu sein. Steckt denn
dahinter die genetische Prämisse, dass der „Mensch des
Menschen Wolf ist“ und es deshalb so sein muss und immer so
bleibt?
Mein passendes Lügenangebot wäre: Was früher richtig war,
muss in der Zukunft nicht zwingend gleich gut funktionieren –
und kann unter Umständen früher schon überholt gewesen sein.
Der Kopf ist rund, damit das Denken
seine Richtung ändern kann.
Mir geht es, wenn ich die zivilen Verteidigungs- und
Handlungsstrategien darlege, nicht in erster Linie um eine
radikale pazifistische Haltung, sondern darum aufzuzeigen, dass
die alten Muster immer weniger funktionieren.
Früher standen todesmutige Heere einander auf freiem Feld
gegenüber und metzelten so lange, bis ein Sieger und ein
Besiegter feststanden. Nur wer kämpfen wollte oder musste,
war auch vom Kampf direkt betroffen. Was auf dem Feld
erkämpft wurde, legitimierte anschliessend die Herrschaft über
das besiegte Volk. So erkämpfte man auch nach Belieben
Territorien.
Später waren es dann in erster Linie maschinelle, technische
Verfahren, die immer stärkere Feuerkraft zur Folge hatten. Dies
führte in stärkerem Masse dazu, dass nicht mehr nur Armee
gegen Armee kämpften, denn das Schlachtfeld war überall und
die Waffen reichten weit. Die zivile Bevölkerung wurde zum Teil
90
des Krieges. Kollateralschäden – wie man, so glaube ich,
euphemistisch sagt – wurden bewusst eingeplant oder
zumindest in Kauf genommen.
Dann kam die Weiterentwicklung, welche schon fast im
Zusammenhang mit der Kriegsmaschinerie vernünftig schien.
Man brauchte die immer stärker werdenden Waffen nicht mehr
in erster Linie zur Anwendung, sondern lediglich zur
Abschreckung – atomare Aufrüstung, kalter Krieg sind die
Stichworte. Das „ging gut“ solange zwei Staaten in
gegenseitiger hegemonischer Feindschaft den ungefähr
gleichen Kodex predigten, entartete aber, sobald diese
apokalyptischen Waffen von jederman zu bauen waren. Das
Gleichgewicht der Kräfte war aus dem Ruder geraten.
Zuletzt entwickelte man den Kleinkrieg, welcher bereits ein
Vorläufer des Terrorismus war. Er nennt sich Guerilla. Keine
organisierte Grossarmee, sondern kleine mobile Gruppen. Das
führte dazu, dass nicht mehr klar war, wer siegt und wer verliert.
Die Zermürbung wurde zum Prinzip. Der Krieg hat noch eine
Weiterentwicklung erfahren – den Terrorismus. Er ist zur Waffe
der Ohnmächtigen geworden. Er ist die Folge von
Ungerechtigkeit in der Welt.
Neueste Kriege nun können offensichtlich wieder mit
hochtechnisierten Mitteln gewonnen und ausgefochten werden,
sie können aber nicht mehr beendet werden, da der Krieg immer
die Zivilbevölkerung mit einbezieht, ob sie nun Opfer im
körperlichen Sinn oder im psychischen Sinn ist, macht keinen
Unterschied. Die Zivilbevölkerung will zu ihrem Recht, ihrer
Verbesserung, zu ihrer Erleichterung kommen und fordert das
auch ein – wenn nötig ebenfalls mit Waffengewalt, Sabotage
oder Anschlägen, so genannten Terrorakten. Da es aber die
einige und einheitlich gleich gesinnte Bevölkerung in der
Postmoderne nicht mehr gibt, sondern nur noch Gruppierungen,
einzelne Interessenvertretungen, hat man keinen Partner,
sondern nur noch Chaos, in welchem man selbst als
Kriegsgewinnler zu versinken droht.
91
Die Strategie Krieg funktioniert nicht mehr!85 Das sollten nicht
nur Pazifisten bejahen können, sondern auch und gerade
Armeefunktionäre langsam merken.
Lieber Lügen, für die es sich zu leben,
als Wahrheiten, für die es sich zu sterben lohnt.
Es gibt bessere Mittel, um ein bisschen mehr Recht und
Gerechtigkeit,
ein
bisschen
mehr
Souveränität
und
Unabhängigkeit, ein bisschen mehr Wohlstand und Wohlsein
herzustellen. Es braucht nur ein bisschen Mut, der darin besteht,
das Alte kritisch zu beleuchten und die zukünftige Strategien
nicht aus der Weiterführung des Alten abzuleiten. Es gibt keine
Veränderung, wenn man davon ausgeht, dass die Welt sich in
den zwei Sätzen: „das haben wir schon immer so gemacht“, und
„das haben wir noch nie so gemacht“, erschöpft. Aber es kann
auch sehr ermüdend und zermürbend sein, sich in diesen
beiden Ruhekissen versinken zu lassen.
Ich stelle mir vor, dass jedes Land nach und nach eine
Umrüstung, eine Rüstungskonversion herstellt, nicht geprägt
von Fatalismus sondern als Zeichen der Stärke. Ein Land nach
dem andern löst die Armeen auf. Stelle man sich nur vor, wie
viel produktive Arbeitskraft jedes Land gewinnt. Ein allgemeiner
Zivildienst wird eingeführt, welcher obligatorisch für jeden
Einwohner, jede Einwohnerin ist. Darunter wird ein Staatsdienst
im Milizsystem von zirka 1 bis 3 Jahren Dauer in folgenden
Bereichen
verstanden:
Naturschutz,
Sozialbetreuung,
Katastrophen- und humanitäre Hilfe und eben soziale
Verteidigung. Die Grundausbildung in sozialer Verteidigung
muss jede Person besuchen. Danach muss man sich für eine
Dienstleistung nach eigenem Gutdünken in einem der drei
Gebiete entscheiden – ohne Lohn aber für einen
existenzsichernden Sold – gemeinnützige Arbeit im In- und
Ausland zu leisten.
85
Dörner, D.: Die Logik des Misslingens, Rowohlt, Reinbek, 2003; Bloch, A.:
Murphy’s Gesetz I, Der Grund, warum alles schief geht, was schief gehen
kann; Goldmann, München, 1986
92
Bewaffnete Organisationen gibt es nur noch als Polizei oder als
friedenssichernde Truppen, welche von internationalen
Organisationen zusammengestellt und in Krisengebieten
eingesetzt werden. Diese Truppen sind aber nur mit
Handfeuerwaffen ausgerüstet und mit durch Panzerung
geschützten Fahrzeugen.
Die Umstellung hat bereits begonnen. Nur, es gibt noch kein
erstes Land, welches den Mut hat. Man will ja nicht feige
sein…!? Und wenn schon, soll lieber ein anderes Land zuerst
auf die Nase fliegen.
Nun, wie ist es mit den Lügen? Wenn man die Lüge nicht wahr
macht, so bleibt es eine Utopie – ein Ort ohne Wirklichkeit. Nur
dadurch, dass man sie umsetzt, begründet die weisse Lüge ihre
Berechtigung.
Man schiesst auf die Gefühle anderer Menschen,
trifft dabei aber irrtümlicherweise
ihre Körper.
Einer der besten Lügner war meiner Meinung nach Martin
Luther King. Kategorisch und fast imperativ formulierte er: „I
have a dream!“ (Für den geneigten Leser muss ich hier vielleicht
anfügen, dass damals das weisse Lügen noch nicht schicklich
galt, weshalb Martin Luther King wohl das Wort „Traum“
verwendete.) Die Ideen, die ihm damals einfielen, waren
schlichtweg unglaublich. Er predigte, ja forderte seinen Traum
ein, als ob es nichts Wahrhaftigeres gäbe, als die Lüge. Er tat
etwas dafür, hielt stand. Und wenn man den Traum liest und
hört, so muss man sagen, einiges ist wahr geworden.
Fairerweise muss man auch zugestehen, dass wir an einigen
winzigen Details noch feilen müssten, um ganz zufrieden sein
zu können.
Apropos weisse Lüge und schwarzer Mann: Ein Weisser sagt zu
einem Schwarzen: „Du schwarz!“ Dieser bestätigt: „Ich weiss!“
93
Ideen für eine rosige Zukunft werden rar,
wenn man glaubt man hätte keine!
Ein zweiter, der die grosse Lüge wagte, war Mahatma Gandhi.
Er setzte die Macht der Gewaltlosigkeit ein. Er gab damit den
Recht- und Machtlosen eine neue Sprache und eine neue
Handlungsperspektive.
Und übrigens: Wenn wir schon von Krieg reden. Seit dem Ende
des zweiten Weltkrieg fanden über 200 Kriege statt. Nur ein
Fünftel von diesen wurde kriegerisch beendet. Die Prozentzahl
der getöteten Zivilbevölkerung steigt stetig. Opfer: 20 Millionen
Tote und Verwundete, 20 Millionen Vertriebene, 20 Millionen
Flüchtlinge (Schätzungen86).
Es finden aber auch in so genannten Friedenszeiten alltägliche
Kriege im Verborgenen mit Todesfolge statt:



Strassenverkehr: jährlich 1,2 Millionen Tote weltweit87. Mehr
noch als durch Unfälle sterben indirekt durch die Abgase88.
Hunger: In jeder Sekunde stirbt ein Mensch an den Folgen
von Unterernährung. Bis zu 100’000 Hungertote werden
jeden Tag registriert89. Das sind täglich mehr als an einem
Kriegstag des zweiten Weltkriegs. Und paradox:
Nahrungsmittel gibt es genug.
Ganz zu schweigen davon, was menschenverachtende
Wirtschaft und Hegemonialpolitik vermögen90.
Also selbst in Friedenszeiten ist der Mensch eine
Tötungsmaschine. Soll das so bleiben? Wäre hier nicht eine
schöne Lüge angebracht, dass das alles auch anders ginge?
86
http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege_archiv.htm
http://www.pressetext.de/pte.mc?pte=040407023
88 http://www.wissenschaft.de/wissen/news/152425.html
89 http://www.jungewelt.de/2004/10-18/007.php
90 Chomsky, N.: Profit over People - War against People. Piper, München,
2006. Chomsky N.: Der gescheiterte Staat, Kunstmann, München, 2006
87
94
Nur wo eine zweiwertige Logik
angewandt wird, gibt es Konflikte91.
Das wäre doch echter Forschritt, wenn wir den schon immer so
hochloben! Man muss allerdings auch wieder einwenden, so
zynisch das ist, dass man froh sein muss, um jede
Dezimierungsursache, wenn man die Zunahme der
Weltbevölkerung anschaut. Ich nehme an, dass das mit ein
Grund ist, wieso hier sich niemand wirklich einsetzt, um etwas
zu ändern. Es passt so schön in die Rechnung, wenn der Sankt
Florian bei den andern zündelt.
Trotz allem: Wir wären fähig. Wir könnten, wenn wir wollten.
Aber eben: Ich schon und der andere auch nicht. Deprimierend.
Nie hätte ich geglaubt, dass die Zukunft
morgen besser aussieht, als sie gestern war.
Wir sollten die Grenzen des Möglichen, des positiv Vorstellbaren
erweitern, nicht primär jene des technisch Machbaren, denn die
Grenzen des Machbaren92 haben wir längst erreicht, wenn nicht
überschritten. Machbarkeit orientiert sich in erster Linie daran,
immer „Mehr Desselben“ herzustellen. Das Unmögliche, noch
nicht Dagewesene ist etwas, was zwar im Zusammenhang mit
lebenswerten Zukünften vorstellbar sein könnte, aber man
vielleicht erst sieht, wenn man bereit ist, Zukünfte anders zu
denken als in einfacher Fortführung der Vergangenheit.
Nun, warum gibt es denn heute nach wie vor Krieg, der mit
Waffengewalt gefochten wird, mit Leben bezahlt wird, kaum zu
gewinnen ist – also eine schlecht beherrschbare Strategie
darstellt, auch und gerade für Kriegsgurgeln? Weil der Krieg an
91
Simon, F. B.: Die andere Seite der Gesundheit. Carl-Auer-Systeme,
Heidelberg, 2001. S. 162
92 Dazu vergleiche auch diverse Publikationen im Zusammenhang mit dem
Club of Rome wie z. B.: Meadows, D. H.; Meadows D.L.; Randers, J.: Die
neuen Grenzen des Wachstums, Rowohlt, Reinbek, 1993 (Originalausgabe:
The Limits to Growth, 1972). Ausserdem ganz aktuell: UN-Klimabericht 2007 World Climate 2007 http://www.ipcc.ch/ oder Girardet, H. (Hg.): Zukunft ist
möglich. Wege aus dem Klima-Chaos, eva, Hamburg, 2007
95
Arbeitsplätzen hängt und für Vollbeschäftigung sorgt (Armee
und Waffenfirmen) und weil die Konzentration in der Wirtschaft
allgemein auf die Ausschüttung an die Kapitalgeber starke
Interessenvertretungen (Stakeholder) für den Krieg zur Folge
hat und weil Zerstörung Wiederaufbau, also Arbeit generiert.
Obwohl volkswirtschaftlich ganz klar Krieg nur ein Verlust sein
kann und keine Investition, die sich lohnt, gibt es offensichtlich
genug Gründe, es so weiter zu machen, wie es die Altvorderen
gemacht haben.
Es gibt zu wenig Anreize, etwas Neues zu versuchen. Man ist
gerade dort, wo in der Regierung Machtkonzentration auf eine
Person vorgesehen ist, in der Mut–Feigheit-, Schutz–Laisserfaire-Falle. Eine persönliche Überforderung für den Regenten
und für ein Land, die dazu führt, etwas Falsches oder
Gefährliches zu tun, es aber erklären und dafür sogar mächtige
Interessenten anführen zu können.
Menschen verhalten sich solange feindlich,
als man nicht von gemeinsamen Zielen, Interessen ausgeht.93
Metalog: Als Graf verkehre ich gerne in gehobeneren Kreisen.
Ich nehme an Dinners teil, an Arbeitslunchs, an tollen Events
der „haute volée“. Meist lasse ich mir gerne etwas zu meinem
Zeitvertreib einfallen. Letzthin war ich an einer privaten
Einladung eines grossen Wirtschaftskapitäns. Da konnte man
mit den Spässen deftig aus dem Vollen schöpfen. So legte ich
mich also mit folgender Geschichte mit vier international
operierenden CEO’s an: „Meine Herren, darf ich Ihnen ein
Geschäft vorschlagen. Ich bin Handlungsbevollmächtigter eines
ungenannt bleibenden Handelsunternehmens. Wir operieren
weltweit, sind sehr flexibel und können eigentlich ohne
Übertreibung sagen, dass wir mit dem Artikel, den wir
93
Dies scheint zumindest die Grundidee zu sein, auf welcher die beiden
Bücher erfolgreich aufbauen. Schlussfolgerung: Verhandeln ist meist die
bessere Alternative als Krieg. Fischer, R.; Ury, W.: Getting to Yes. Negotiation
Agreement Without Giving in, Penguin, New York, 1991. Fischer, R.;
Kopelman, E.; Kupfer Schneider, A.: Jenseits von Machiavelli, Kleines
Handbuch der Konfliktlösung, Campus, Frankfurt, 1995.
96
vertreiben, bisher nie Absatzsorgen hatten. Wir müssen
trotzdem zugeben, dass es Gegenden gibt, in welchen der
Vertrieb stockt und dies seit teilweise Jahrhunderten. In den
meisten Gegenden der Welt jedoch braucht man unser Produkt
immer wieder. Ich frage mich, ob Sie es mir abkaufen. Das
Geschäft geht so: Zuerst brauchen Sie schweres Gerät und sehr
viele Menschen. Damit erobern und zerstören Sie Dörfer,
Ländereien, Städte und bringen Menschen um. Dann, wenn Sie
gesiegt haben, dann gehört alles Ihnen und Sie können es
wieder aufbauen.“ Da fährt mir einer der Geschäftleute in die
Rede: „Sie gehen davon aus, dass wir siegen werden. Wie
gross ist das Risiko zu verlieren?“
„Nun ja, mein Herr – natürlich, ich muss zugeben, ein Restrisiko
bleibt, aber wenn Sie gut ausgerüstet sind? Sehen Sie vielmehr,
wie viel Sie gewinnen und wie viel Arbeit geschaffen wird.“ Ein
anderer Geschäftsherr erwidert: „Ja habe ich Sie richtig
verstanden. Es wird zuerst abgerissen und dann wieder
aufgebaut. Das würde ich, gelinde gesagt, als in der
Geschäftswelt unüblich betrachten. Es ist zu kostspielig.“ „Ja,
aber Sie haben dann Ländereien gewonnen und können sich
ein Volk untertan machen.“ Da lachte ein weiterer: „Dazu
brauche ich keine Zerstörungsmaschine laufen zu lassen. Ich
kann eine Fabrik bauen, Leute anwerben und sie für Lohn
arbeiten lassen. Damit stelle ich die Menschen mehr zufrieden,
als indem ich sie untertan mache.“ Ein letzter meldet sich:
„Wissen Sie, ich habe einen Riecher für gute Geschäfte, aber
das was Sie da vorschlagen, ist ein miserables Geschäft:
Erstens steckt es voller Risiken, zweitens verbraucht es zu viel
Geld, drittens ist das Gleiche kostengünstiger zu haben und
viertens bin ich mir gar nicht sicher, was die Eroberung für
Spätfolgen hat. Menschen sind unzufrieden damit, dass andere,
vielleicht geliebte sterben mussten. Das könnte sich gegen mich
richten. Sagen Sie mal, um was für ein dubioses Geschäft
handelt es sich eigentlich?“ „Das ist Krieg, meine Herren.
Eigentlich bin ich erstaunt, dass Sie nicht auf das Geschäft
eingestiegen sind. Denn wenn das so ist, wie Sie es
beschreiben, wundere ich mich, dass Kriege nicht ausgestorben
sind. Sie sind eine absolute Hochrisikostrategie. Was meinen
Sie?“ Daraus ergab sich ein sehr ernsthaftes Gespräch, das
97
damit endete, dass man sich fragte, ob es denn nicht bessere
Methoden gebe... Aber das alles zu berichten, würde Ihre
Aufmerksamkeit zu lange in Beschlag nehmen. Aber vielleicht
habe ich Sie ja zum Denken angeregt.
Ich hasse den Krieg,
ich fürchte ihn nicht.
Epilog I: „Ich möchte, dass Sie jetzt lernen, nichts zu sehen:
Schliessen Sie die Augen!“ „Ja, aber ich sehe doch etwas, ich
sehe schwarz.“ „Das Schwarze ist das Nichts!“ „Aber ich sehe
das Schwarze, also kann es nicht Nichts sein. Muss ich denn ab
jetzt immer denken, dass alles was schwarz ist, Nichts sei?
Wenn es Nichts ist, warum ist es dann schwarz und überhaupt,
warum ist es da?“ „Sie sind schwierig. Es liegt einfach daran,
dass Sie vom Gewohnten nicht loslassen können. Stellen Sie
sich einfach vor, dass Sie nichts sehen.“ „Aber was muss ich mir
denn vorstellen?“ „Nichts!“ „Das kann ich mir nicht vorstellen!?“
„Nichts ist eben zu ungewohnt für Sie!?“
Epilog II: „Das, was Sie jetzt sehen, ist Nichts.“ „Aber ich sehe
nichts!“ „Eben, das ist es ja, was ich meine.“ „Ich kann aber
nichts sehen.“ „Sie sehen das Nichts. Das haben Sie noch nie
gesehen. Deshalb ist es neu für Sie.“ „Ich sehe einfach nichts.
Das Nichts könnte ich gar nicht sehen. Ich weiss nicht mal, wie
es aussieht.“ „Das ist es ja, was Sie sehen.“ „Nichts, ist es das?
Enttäuschend. Das kann es doch nicht sein.“ „Ich möchte
überprüfen, dass Sie wirklich nichts sehen. Beschreiben Sie es
mir, damit ich es weiss, dass Sie richtig sehen.“ „Ich kann es
nicht beschreiben. Es ist einfach zu wenig dafür. Es ist quasi
nichts. Es lässt sich nicht sehen.“ „Das ist es ja, was ich meine.
Sie sehen Nichts.“ „Nichts sehen ist mir unheimlich.“ „Es ist neu.
Sie werden sich daran gewöhnen.“ „Ich möchte nicht Nichts
sehen und mir nichts vorstellen können darunter. Ich möchte
beim Gewohnten bleiben.“ „Schade, mit der Zeit könnten Sie
sich ans Ungewohnte so gewöhnen, dass es nicht mehr Nichts
wäre. Sie geben zu früh auf. Man muss die Angst überwinden.“
„Sie reden so, wie wenn Nichts nur die andere Seite von Etwas
98
wäre.“ „Es kommt auf das an, wie Sie das, was sie sehen,
gestalten.“
Epilog III: „Was ist?“ „Ach, nichts!“ „Ah, so – na dann.“ „Lass
mich in Ruhe!“ „Na gut, wenn nichts ist...“
Epilog IV: „Jetzt habe ich begriffen. Ist gar nicht schwer. Nur
anders, als bisher vorgestellt.“ „Was war denn dein Problem?“ –
„Ach, (N)nichts.“
Epilog V: Keine Macht der Welt kann sich der Kraft des zivilen
Ungehorsams auf die Dauer erwehren, wenn die angewendeten
Mittel den Zweck heiligen. Selbst wenn die Macht sanktioniert
und tötet, so wird sie nicht siegen. Das beweist die Geschichte
tausendfach. Der geheiligte Zweck ist die höchste Macht. Sie
besiegt nicht, sie bestraft nicht, sie unterjocht nicht, sie gewinnt.
Selbst dann, wenn der Widerstand lange dauert und bitter ist, so
sind die Opfer, die zum Frommen der Sache gebracht werden
müssen, immer noch bedeutend geringer, als jener Blutzoll, den
eine gewalttätige Auseinandersetzung wie Krieg fordert.
Besser gegen Windmühlen kämpfen,
als gegen Menschen94.
94
Lebensmotto meines Bruders im Geiste, Sancho Panza, welcher begriffen
hat, dass man eigentlich gegen Gedanken, Gefühle und Erfahrungen kämpft
und diese mit einem Sieg über Menschen nicht beseitigt werden können. Der
beste Beweis ist das Christentum, das eigentlich dadurch zu einer
eigenständigen Religion wurde, dass Jesus getötet wurde... Man haut den
Sack und meint den Esel, aber der Sack wird dadurch stärker. Das, was man
ausrotten möchte, weil man Angst hat und in der wohligen Gewohntheit
verbleiben möchte, wird meist stärker dadurch.
99
100
101
Bei Flut steigen alle Schiffe – auch Hänschens!
Lehrer/in heisst dieser schöne Beruf,
weil es darum geht,
die Lehren zu ziehen.
Dialog: „Mama, warum muss man in die Schule?“ Mama: „Das
ist wichtig. Damit du etwas lernst.“ – Kind: „Aber Mama, ich
lerne doch auch ohne Schule. Ich habe laufen gelernt,
sprechen, essen, sogar Fahrrad fahren. Das hat mir aber nicht
die Schule beigebracht. Muss ich wirklich in die Schule?“ Mama:
„Ja weisst du: Alle Kinder gehen in die Schule.“ Kind: „Im
Turnen und Zeichnen bin ich gut. Ich habe aber keine Lust zu
rechnen und zu schreiben. Dann gibt das schlechte Noten.“
Mama: „Man muss das aber lernen. Es geht halt nicht allen
gleich einfach.“ Kind: „Ja, aber wenn ich selbst ausprobieren
könnte, hätte ich vielmehr Freude. Ich muss aber nachmachen,
was der Lehrer sagt. Das macht keinen Spass.“ Mama: „Der
Lehrer weiss das schon richtig. Du musst ihm vertrauen und
folgen.“ Kind: „Ja, aber Kinder, die schlecht sind, müssen in
Nachhilfe. Die werden verspottet, genauso wie jene, die
besonders gut sind. Das finde ich nicht lustig. Plötzlich kann
man Freunde nicht mehr aussuchen, weil man sie gern hat. Ich
möchte nicht in Nachhilfe und auch nicht Streber sein.“ Mama:
„Ich hab dich so lieb, wie du bist. Egal ob du gute oder schlechte
Noten heimbringst.“ Kind: „In der Schule wird gelehrt. Ich
möchte aber lernen. Das geht ganz anders. Das macht Spass.
Wenn ich alleine entdecke, was zu tun ist und wie ich es kann.
Das sind ganz andere Aufgaben.“ Mama: „Woher hast du das?“
Kind: „Das hat Papa gesagt.“ Mama: „Ach Papa. Ich dachte
schon...“ Kind: „Warum wird man in der Schule bestraft, wenn
man zu etwas keine Lust hat oder etwas nicht kann?“ Mama:
„Man wird nicht bestraft. Man bekommt vielleicht eine schlechte
Note...“ Kind: „Eben.“ Mama: „Das ist, weil ihr unterschiedlich
seid...“ Kind: „Aber Mama – wir wissen, dass wir unterschiedlich
sind. Aber müssen wir jetzt auch noch in besser oder schlechter
eingeteilt werden?“ Mama: „Aber Kind – das ist doch nur ein
Anreiz für diejenigen, die Mühe haben und eine Belohnung für
jene, die es gut können.“ Kind: „Ich möchte so lernen, wie ich
kann und nicht besser oder schlechter. Ich bin ich. Ich möchte
102
so sein. Es nützt mir nichts, verglichen zu werden.“ Mama: „Ich
bin überzeugt, dass du es gut machst. Das andere ist für dich zu
schwierig. Denk nicht mehr darüber nach.“ Kind: „Ist es wahr,
dass viele berühmte Erfindungen von Menschen gemacht
wurden, welche in der Schule nicht gut waren?“ Mama: „Nein,
so geht das nicht. Du gehst in die Schule. Mir hat auch nicht
alles gepasst. Papperlapapp.“ Kind: „Aber Mama: warum sind in
der Klasse alle gleich alt? Zuhause sind wir doch auch alle
unterschiedlich. Kann man denn nicht voneinander so besser
lernen. Ich möchte mehr selbst entdecken können. Lernen ist
lustig und manchmal traurig und manchmal ist es ganz schön
anstrengend – weisst du noch, als ich Fahrrad fahren lernte und
das Gleichgewicht nicht halten konnte. Ich habe es gelernt. Du
hast mich nur gehalten. Du hast dich gefreut, wenn ich es ein
bisschen weiter konnte, als das letzte Mal. Mama, warum darf
man in der Schule keine Fehler machen? Warum werden Kinder
traurig, die schlecht sind? Mama...“ Mama: „So, jetzt ist aber
fertig. Ich weiss auch nicht alles. Aber jetzt musst du deine
Hausaufgaben machen, sonst wirst du vor dem Abendessen
nicht fertig. Lass es gut sein.“
Die Schule lehrt uns,
dass Unterricht Lernen produziere95.
Antilog: Diejenige Institution, welche professionell von unseren
Gemeinwesen mit dem Lernen beauftragt ist, ist die Schule. Die
Frage stellt sich heute mehr denn je, ob diese Institution
überhaupt in der Lage ist, das zu tun, was sie tun soll, nämlich
Kinder auf die Zukunft vorzubereiten.
Wenn die Zukunft nicht mehr klar ist, wenn im Volk nicht mehr
klar ist, worauf Kinder wohl vorzubereiten sind, wenn die Rede
davon ist, dass das Wissen, das die Kinder sich im besten Fall
in der Schule aneignen, dann schon veraltet ist, wegen dem
beschleunigten Wandel, wenn es fürs Berufsleben zur
Verfügung stehen müsste, so ist die Schule in einem
95
Illich, I.: Entschulung der Gesellschaft, C. H. Beck, München, 2003. S. 64
103
Dauerstress, da alle an ihr herumnörgeln und niemand eine
Lösung dazu weiss, wie die Schule ihre Sache besser machen
könnte.
Ein wichtiges Paradigma ist ebenso beschwerlich wie fragwürdig
geworden: Chancengleichheit. Wenn die Grundlagen des
Lernens früher gelegt werden, als die Schule Zugriff auf die
Kinder bekommt, so ist es potentiell schier unmöglich, etwas
anderes zu reproduzieren, als das, was von den Eltern
zugrunde gelegt wurde. Diese Grundlagen scheinen höchst
ungerecht verteilt, sodass sie so wirken: Höhere Bildung,
höherer Berufsstand und höhere gesellschaftliche Schicht
reproduziert sich ebenso, wie tiefere Bildung, tieferer
Berufsstand und die Zugehörigkeit zu tieferen gesellschaftlichen
Schichten. Soziale Ungleichheit kann schulisch nicht
ausgeglichen werden.
Der Einfluss der Schule scheint fast darauf beschränkt zu sein,
Bildung nach dem Muster herzustellen: Wer hat, dem wird
gegeben. Eines der wichtigsten pädagogisch-emanzipatorischen
Themen, nämlich die Chancengerechtigkeit, wird dadurch in
Frage gestellt, dass Forschungen zeigen: Es gibt durch den
Einfluss der Schule kaum Bildungschancen, die höher liegen,
als jene, welche die Eltern realisiert haben. Die alten
Bildungsideale sind nur noch Makulatur. Auch der Ersatz der
verlorenen Ideale durch postmoderne Nachbauten, wie
Chancenvielfalt, kann spätestens dann nicht mehr vollends
überzeugen, wenn die Konjunktur der Möglichkeiten gerade
Ebbe hat. So wird aus der versprochenen Vielfalt schnell etwas
Ähnliches wie Einfalt.
Dass einerseits die Schule dagegen alles zu unternehmen
versucht, andererseits aber trotzdem die Gesellschaft die
Schule als Institution immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik
nimmt, sind scheinbar unabänderliche Prozesse, welche sich als
Teufelskreis manifestieren.
Die Folge davon ist, dass die Unzufriedenheit aufgrund der
schwindenden Akzeptanz auch bei den Vertretern des Systems
Schule um sich greift. Die Ideen spriessen wie Angsttriebe. Man
muss etwas tun. Umso mehr und umso schneller, je besser,
104
sonst wird es immer nur noch schlimmer. Aber die Ideen
polarisieren auch. Es gibt sie in allen Farbschattierungen und so
verliert man sich möglicherweise in Grabenkämpfen darüber,
was richtig, besser und gut ist.
Zudem wird die Diskussion dadurch polarisiert, dass alle
Veränderungen oder Verbesserungen nichts kosten dürfen, oder
besser noch weniger. Dies stärkt selbstverständlich den andern
Pol, welcher jede Veränderung mit Gold aufwiegen möchte.
Reformen greifen um sich, meist unkoordiniert als Ansammlung
mehrerer Ideenwelten, welche zu einem opportunistischen
Sachzwangsbrei gemixt werden. Die einen bekämpfen
Reformen, weil sie Entwicklung behindern, die andern
entwickeln umso mehr Reformen, weil sie nötig sind.
Lehrpersonen werden verständlicherweise unzufrieden, weil
man ihnen die einst hohe gesellschaftliche Anerkennung
versagt. Sie gehen in die (innere) Emigration, in die
Rechtfertigung, ins Rechtmachenwollen, ins Kämpferische, ins
Drop- oder Burnout oder was alles noch an Handlungs-,
Empfindungs- und Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung steht.
Daneben entwickeln Fachleute, Forschungsinstitute und
Lehrstühle diverser Provenienz neue Theorien. Obwohl es
nichts Praktischeres gibt, als eine Theorie, ist das Schulsystem
theoriefeindlich. Gehandelt werden soll, nicht gedacht oder
gehört.
Kinder werden in Kategorien eingeteilt, so genannt beschult
nach individuellen Bedürfnissen96, indem man für bestimmte
Dass das so genannte „Entmischungsprinzip“, dem wir erst seit dem 19.
Jahrhundert
nachhängen,
auch
in
anderen
Zusammenhängen
gesundheitsschädigende Wirkung hat, zeigt Klaus Dörner in seinem Buch „Die
Gesundheitsfalle“ (Econ, München 2003). Er spricht in diesem
Zusammenhang von „Ent-sorgung“. „So entstanden flächendeckende Netze
sozialer Institutionen für Sieche, geistig Behinderte, Körperbehinderte,
psychisch Kranke und Altersverwirrte. So unsichtbar gemacht, gehörten die
Sorgebedürftigen und die Verantwortung für sie nicht mehr zu der als gesund
empfundenen normalen Lebenswelt. Das führte zu einer Entwertung der
institutionalisierten Bürger auf der einen Seite und der Instanzen der
96
105
Kategorien bestimmte Schulen oder Klassen entwickelt. Dies
führt dazu, dass Eltern selbstverständlich die gemachten
Unterschiede wahrnehmen und sich in wachsender Zahl gegen
den darin enthaltenen Privilegien- bzw. Bildungschancenentzug
wehren,
wenn
ihr
Kind
einer
so
genannten
sonderpädagogischen Einrichtung zugeführt wird. Die Schule
bietet vermeintlich Hilfe und Entlastung an, Eltern und immer
mehr Fachleute aber kritisieren das alte überlieferte System der
so genannten Separation, weil es gesellschaftspolitisch brisant
ist und bekanntlich nicht im vermeintlichen und versprochenen
Masse Erfolg erzielt.
In der Schule macht sich ein Kulturpessimismus breit, der
daraus erwächst, dass immer mehr Gewalt, immer mehr
Verhaltensauffälligkeit,
immer
mehr
und
neue
Leistungsschwächen und immer mehr Schulschwierigkeiten
überhaupt wahrgenommen werden. Es ist wirklich und
wahrhaftig nicht leicht. Nein, es ist zum Verzweifeln. Und
trotzdem – eigenartig, wie sich die Sorgen verbreiten und
wachsen, als ob es darum ginge, den Wert der Sorgen selbst zu
steigern: Hochkonjunktur der Sorgen bei deren gleichzeitiger
Inflation und rasender Verkürzung derer Halbwertzeit. Machen
Sie sich Sorgen und Sie werden sehen, sie gehen in Erfüllung.
Was will man mehr. Die Welt meint es gut mit uns. Sie schenkt
uns gleichermassen verdient das, was wir befürchten, als auch
die Früchte unserer Arbeit und unserer lustvollen Gedanken.
Man kann nicht nicht lernen.
Gerade nicht erfolgreiche oder störende Effekte
stellen meist Resultate von Lernprozessen dar.
Seit man durch die Schaffung der sonderpädagogischen
Institutionen und des damit zusammenhängenden Berufsfeldes
der Heilpädagogik der Idee nachging, dass früh erfasstes „heil“bar sei, wird die Früherfassung fast teilweise zwanghaft gefrönt.
Es werden viele Dinge in der Schule an Kindern festgemacht
und begrifflich etikettiert und damit fixiert, die man eigentlich
bisherigen Sozialgesellschaft (Familie, Nachbarschaft, Kommune) auf der
andern Seite.“ (ebda. S. 28f)
106
lieber nicht hätte. Vermeintlich sagt man dem Früherkennung
und tritt damit eine Förder-, Therapie- und sonderpädagogische
Welle los, die ihresgleichen sucht. Niemand fragt dann, wie es
dem Kind dabei geht, ob es sich in der Rolle der „zu
therapierenden Person“ wohl fühlt. Nein, in erster Linie muss
das Gewissen beruhigt werden, das damit angeheizt wurde, was
man selbst entdeckt hatte. Zweitens muss auf Teufel komm raus
das Phänomen weg. Häufig verstärkt sich aber das Phänomen
dabei, was dann erst recht auf die Mühle der Frühentdecker
geht: Siehe da, es wird stärker. Gott sei Dank haben wir es noch
rechtzeitig entdeckt. Ich würde mir unter Früherfassung und
Prävention etwas anderes vorstellen. Wie wäre es zum Beispiel,
wenn die Schule in einem solchen Fall in erster Linie nach dem
Normalisierungprinzip97 verfahren würde? Müsste man sich
dann Vorwürfe darüber machen, etwas verpasst zu haben, weil
man es mit der Normalisierungsbrille gar nicht zu sehen
trachtete? Ich glaube, nein. Denn auch die Heilpädagogik
konnte damals die frühentdeckten geistigen Behinderungen
nicht heilen und heisst darum heute mehrheitlich
Sonderpädagogik. Heilen ist in diesem Zusammenhang eine
Sirene98, eine falsche Verlockung, der man nicht erliegen sollte.
Viel geeigneter scheint mir der Gedanke der Bewältigung, des
Copings99 zu sein, ein Konzept, das sich unter anderem bei
97
Thimm, W.: Das Normalisierungsprinzip, Bundesvereinigung Lebenshilfe,
Marburg. Vgl. auch die sogenannte Salamanca Erklärung der UNESCO von
1994: „Diese Dokumente sind getragen vom Prinzip der Integration, von der
Erkenntnis, dass es notwendig ist, auf eine "Schule für alle" hinzuarbeiten –
also auf Einrichtungen, die alle aufnehmen, die Unterschiede schätzen, das
Lernen unterstützen und auf individuelle Bedürfnisse eingehen. … Das
grundlegende Prinzip der integrativen Schule ist es, dass alle Kinder
miteinander lernen, wo immer möglich, egal welche Schwierigkeiten oder
Unterschiede sie haben. … Integrativer Unterricht ist das wirksamste Mittel,
um Solidarität zwischen Kindern mit besonderen Bedürfnissen und ihren
Mitschülern und Mitschülerinnen aufzubauen.“ (www.unesco.ch/bibliod/salamanca.htm)
98 Der Begriff der Sirene wird hier im ursprgl. Sinne von Homers Odyssee
verwendet: Ein holder Klang, der so verlockend ist, dass man ihm kaum
widerstehen kann. Angelockt, wird man aber verschlungen, getötet, etc.
99 Unter “coping” versteht man, dass man mit einer Herausforderung zurecht
kommt, eine Belastung meistern kann oder einer Aufgabe gewachsen ist, sie
bewältigen kann, sie als lösbar betrachtet, obwohl sie stresst. Lazarus, R. S.:
107
chronisch Kranken sehr bewährt. Die Frage ist: Traue ich dem
Betroffenen zu, dass er damit selbst fertig werden oder damit
umgehen lernen kann oder muss ich, um vornehmlich mein
Gewissen zu beruhigen, in erster Linie etwas unternehmen und
ist es darum auch nicht so wichtig, ob es nützt oder nichts nützt?
Soweit die Standortbestimmung. Wir sind im Schoss des
Sumpfes angelangt, der uns zu verschlingen droht. Muss das
sein oder könnten wir es wagen, an unserem Schopf zu zupfen.
Könnten wir es wagen, die Chancen, welche sich in dieser Krise
offenbaren, zu ergreifen und sie ans Land zu ziehen? Oder ist
das alles nur Illusion.
Stellen Sie sich vor, in einer Klasse
haben zwei die Note 2. Das bedeutet Repetition.
Danach steigt die Durchschnittsnote der verbleibenden
Kameraden natürlich an. Falls es jedoch gelingt,
die beiden Klassenletzten von 2 auf 4 zu steigern,
sinkt dadurch das Niveau der Klasse ab100.
Sie wissen es bereits. Selbstverständlich versuchen wir es mit
der Lüge. Wir tun so, als ob es anders wäre, wir erschaffen uns
die Realität, die wir uns wünschen, jenseits jeder belastenden
Realität. Wir lügen uns das Gute vor, dass uns die Schuppen
von den Haaren fallen, sich die Balken biegen, die Herzen
wehen und die Zukunft sich uns freundlich zuneigt. Lassen wir
es also krachen! Lassen wir es zusammenkrachen, das
belastende Gebilde der Schule, die immer mehr und immer
Psychological Stress and the Coping Process, McGraw-Hill, New York, 1966;
Bandura, A.: Self-Efficacy: The Exercise of Control, Freeman, New York, 1997;
Jerusalem, M., Mittag, W.: Selbstwirksamkeit, Bezugsnormorientierung, Leistung und Wohlbefinden in der Schule. In: M. Jerusalem & R. Pekrun (Hrsg.),
Emotion, Motivation und Leistung (S. 223-245). Göttingen, Hogrefe, 1999;
Miller, J.F.: Coping fördern, Machtlosigkeit überwinden, Huber, Bern, 2003;
Flammer, A.: Erfahrung der eigenen Wirksamkeit, Huber, Bern, 1990.
100 Noch wesentlich verrückter aber wird es, wenn wir zusätzlich noch davon
ausgehen, dass die Note 4.5 als Klassenschnitt gilt. Dann nämlich werden alle
Noten der besseren Schüler schlechter und zwar sowohl, wenn die zwei
Schüler aus der Klasse ausscheiden, als auch, wenn sie sich steigern. Die
Idee entnahm ich: Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S.
Fischer, Frankfurt, 1989. S. 22f
108
schneller im Kreise der Interessen zu drehen hat, bis einem
speiübel wird.
Aber seien wir vorsichtig. Schon so viel Wahrheit ist in die
Schule gesungen worden, dass wir sogar mit der Lüge scheitern
könnten. Schule hat sich noch nie in den unheimlichen Untiefen
der Theoriemeere, der Utopien, der Heilsversprechen wohl
gefühlt. Schule ist kritisch. Gegenüber Prophetien erst recht und
zu Recht natürlich. Ist da eine Lüge wirklich angebracht?
Aber erst in jüngerer Zeit hat die Schule diese Vorsicht gelernt,
gegen jede Art von Unkenrufen auf der Hut zu sein. Früher
waren es gerade grosse Pädagogen, die die Vorstellungen von
Wirkung, besserer Zukunft und weiterem Nutzen prophetisch
begeistert und ausgestattet mit Kopf, Herz und Hand in die
Lande geblasen haben.
Seit es in der Schule frostig geworden ist, sind diese lauten,
selbstsicheren und wohlklingenden Töne verstummt. Schule gibt
sich kleinlaut oder rigide. Lassen wir doch das verstummte
Horn, seine Betriebstemperatur wieder auf dem Ofen erreichen,
sodass die früher geblasenen hohen Töne auf die Kunst der
Pädagogik wieder freudig erschallen, so wie weiland die
verfrorenen Töne meines Kutschers beim Abendessen in der
wohlig warmen Gaststätte plötzlich fröhlich zur Mahlzeit
erklungen sind und gar nett und klangvoll unterhalten haben.
Wohlan denn! Gestützt darauf, dass in der Schule
gesellschaftsverändernde Kraft steckt und dass die Schule nicht
am Ende steht, sondern am Anfang einer neuen Entwicklung
und im Vertrauen darauf, dass uns die Altväter der Pädagogik
Comenius, Pestalozzi, Rousseau, Schleiermacher und wie sie
alle heissen, mit ihren visionären Ideen beistehen mögen,
machen wir den Schritt in die Zukunft, als ob dabei nichts zu
verlieren, aber viel zu gewinnen wäre und noch mehr einem
geschenkt würde.
Die Schule der Zukunft stelle ich mir so vor, dass sie mehr ein
Angebot darstellt, das innerhalb gewisser Möglichkeiten
individuell passend gemacht werden kann, als dass sie in erster
Linie ein einforderbares Recht darstellt. Das Angebot Bildung
soll jeder Person, die sich im Land aufhält und steuerpflichtig ist,
109
als
unbezahlbares
Privileg
zur
Verfügung
stehen.
Selbstverständlich kann sich ein Angebot nur zur vollen Wirkung
entfalten, wenn die Voraussetzungen zum Schulerfolg, welcher
den Möglichkeiten eines Kindes möglichst nahe kommt, auch
vom Kind selbst nach bestem Wissen und Gewissen angestrebt
wird und seinen Teil dazu leistet. Ebenso wichtig ist, dass die
Erziehungsverantwortung durch die Eltern im höchstmöglichen
Interesse der Entfaltung des Kindes wahrgenommen wird.
Eltern und Kinder sind als „Kunden“ (vielleicht ist dieser
Ausdruck vorerst scheinbar problematisch) zu betrachten. Sie
stellen Erwartungen an die Schule und es wird ausgehandelt,
wie und ob die Erwartungen zu erfüllen sind und wer dabei
welche Aufgabe und Verantwortung übernimmt und zu
übernehmen hat, um die Wahrscheinlichkeit auf Zielerreichung
zu optimieren. Dies ist in diesem Rahmen als Bildungsvertrag zu
verstehen, der abgeschlossen wird, der als „Geschäft“ (deshalb
Kunde) aus Leistung und Gegenleistung besteht und auf beides
angewiesen ist.
Bescheidwissenschaft101
Diese Betrachtungsweise gibt der Schule die Möglichkeit, sich
selbst immer mehr zu optimieren und aus Erfahrungen
pädagogisch richtige und eventuell neue Schlüsse zu ziehen
und neue Richtungen einzuschlagen, ohne in die Gefahr zu
kommen, von Verantwortung überlastet zu werden.
Elternvereinigungen sind diesbezüglich unbedingt wichtig,
einerseits um in der Bevölkerung als Interessenvertretung von
Eltern die Unabdingbarkeit des Elternengagements klar zu
machen und Hinweise für deren erfolgreiches Umsetzen zu
verbreiten, andererseits dafür, dass Elternerfahrungen im
Zusammenhang mit der Schule nicht nur im Einzelkontakt und
damit potentiell konfliktträchtig eingebracht werden müssen. So
wird Lobbyarbeit der Eltern für die Schule selbstverständlich. So
wird für beide Parteien des Geschäfts klar, dass voller Erfolg
und volle Passung nur in gemeinsamem und gegenseitigem
101
Beck, J.: Der Bildungswahn, Rowohlt, Reinbek, 1994. S. 148
110
Bemühen, in gegenseitigem Vertrauen und in gegenseitiger
Zusammenarbeit möglich wird.
Viele überkommene Ideologien, wenn nicht Irrtümer102, der
Schule müssen neu beleuchtet, aufgeweicht und verändert
werden, denn Flexibilität ist neben Stabilität eine äusserst
wichtige Komponente. Es muss darüber nachgedacht werden,
ob die Separation und damit Zuteilung oder Entzug von
Bildungschancen nicht in erster Linie gesellschaftspolitisches
Problempotential beinhaltet, welches dazu führt, dass gerade
die emanzipatorische Funktion der Schule nicht mehr
wahrgenommen werden kann.
„Individualisierung sozialer Ungleichheit“103
Separation führt zu frühem Entzug oder Gewährung von
Bildungschancen, da wissenschaftlich mehr oder weniger
erwiesen ist, dass Kinder, welche in Sondereinrichtungen
geschult werden, nicht grundsätzlich etwa mehr und besser
lernen, auch mit hohem Anteil von Zusatzförderung verbunden
nicht zwingend, als Kinder, welche zum Teil mit der eher
negativen Vorstellung in Regelklassen „mitgeschleift“ werden104.
Diese überraschende Tatsache ist noch nicht wirklich erklärbar
und bleibt deshalb umkämpft. Es gibt aber durchaus
Erklärungsmöglichkeiten, welche diese Feststellung aus dem
Nimbus der falschen Tatsachenzuschreibung entlassen können.
102
Hartmeier, M.: Populäre Irrtümer der Schule, System Schule, 4/2004;
Borgmann, Dortmund, S. 115f
103 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. S. 130
104 Bless, G.: Zur Wirksamkeit von Integration, Haupt, Bern, 1995; Kronig, W.;
Haeberlin, U.; Eckhart, M.: Immigrantenkinder und schulische Separation;
Haupt, Bern, 2000; Lanfranchi, A.: Schulerfolg von Migrationskindern, Leske
und Budrich, Leverkusen, 2002
111
Es ist an der Zeit, ein Lob der Dummheit auszusprechen:
Die „Dummen“ hätten es nie fertig gebracht,
die Welt so zuschanden zu richten, wie die „Intelligenten“.
Sind die „Intelligenten“ beschränkt?
Die andern sind gar nicht in der Lage dazu.
Eine der zentralsten Vorstellungen ist, dass das Kind seine
Entwicklung in viel höherem Masse, als bisher angenommen,
selbst steuert, dass dabei aber psychische Prozesse viel
höheren Einfluss haben, als man pragmatisch immer wieder
zulassen möchte. Kinder sind selten so unabhängig im Denken
und Erleben, dass sie im Vorschulalter oder im Schulalter ihren
eigenen gelegten Weg zu gehen imstande sind – und sich
deshalb selbst verwirklichen. Kinder reagieren in erster Linie
direkt und emotional – wie übrigens die meisten Erwachsenen
auch. Emotion ist offensichtlich sogar überhaupt als die
wesentliche Grundlage des Denkens anzusehen, wie neuere
Hirnforschungen105 zeigen.
105
Spitzer, M.: Selbstbestimmen, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg,
2004; Roth, G.: Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp, 2003; Herrschkowitz, N.;
Herschkowitz-Chapman, E.: Klug, neugierig und fit für die Welt, Herder,
Freiburg, 2004; Spitzer, D.R.: Motivation: The Neglected Factor in Instructional
Design. Educational Technology, 5-6, 1996, S. 45-49. „Emotion ist kein
Begleiteffekt der Menschheit, sie ist vielmehr das Wesen der Menschheit.“ GDI
Impuls Sommer 2006, Healthstyle, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon, S.
42. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer
fraktalen Affektlogik, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1999
112
The brain runs on fun106
Unser Gehirn arbeitet nicht, wie wir denken107.
Wenn nun eine Absonderung von den Eltern, der Gesellschaft,
Kameraden oder der Schule selbst einen Zusammenhang mit
Unvermögen, Schande, Entzug von Wertschätzung oder gar
Strafe herstellt, ist dies eine Unsicherheit, die dem Kind eine
wesentliche Komponente in der Wirklichkeitsdefinition darstellt.
Neben der Unsicherheit, welche emotionsgeladen ist, werden
Vorstellungen von Ungerechtigkeit wach, Sich-Wehren-Müssen,
sich dem Schicksal ergeben, Gegenbeweis antreten,
rechtfertigen, verteidigen und vielleicht weiteren Prozessen.
Wenn ein Kind von keinem der äusseren Umstände in
Zwiespälte gebracht wird, so wird es diese auch kaum erleben
und damit ohne Bruch im Selbstvertrauen oder mit Änderung
der emotionalen Grundlagen des Lernens reagieren. Die
Veränderung führt nicht zur In-Fragestellung, sondern wird
interpretiert wie eine Fortführung. Nur schon daraus folgt, dass
das Verhalten, das aus den psychischen Prozessen heraus
ermöglicht wird oder als untauglich und deshalb unmöglich
betrachtet wird, Lernprozesse schon genügend beeinflusst,
ohne dass weitere Einflüsse gewertet werden, dass der
wissenschaftliche Streit mit rein quantitativen Studien nicht aus
dem Weg zu schaffen sein wird.
Geflügeltes Wort unter Hirnforschern; besser noch „….on emotions“.
Lernen ist Emotionsmanagement, deshalb ist – altmodisch ausgedrückt – die
Gemütsschulung nach wie vor zentral. Für die Verknüpfung von
sinnorientierter Intelligenz mit so genannter emotionaler Intelligenz (Golemann,
D.: Emotionale Intelligenz, Dtv, 1997) verwende ich gerne den Begriff der
„Vernunft“. Zum Begriff der Vernunft im Zusammenhang mit dem „Guten“ und
der Gerechtigkeit siehe auch Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit,
Suhrkamp, Frankfurt/M. 2003. Relativ ähnlich den Begriff der „Vernunft“ ist
auch das Konzept der „mindfulness“ Langer, E. J.: Mindfulness, Addison Wesley Publishing, San Francisco, 1990.
107 In Anlehnung an: Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, Unser
Kopf arbeitet anders, als wir denken, DVA, München, 1997
106
113
Wenn der Mensch soviel Vernunft hätte,
wie Verstand, wäre alles viel einfacher. (Linus Carl Pauling)
Klar ist, nach dem so genannten Yerkes-Dodson-Gesetz108,
dass es eine optimale Grundlage für die Lernentfaltung im
mittleren Erregungsbereich gibt und dass somit etwa das als
optimal betrachtet werden muss, was im heutigen
Sprachgebrauch als „Herausforderung“ (soviel, dass der Stress,
den die Aufgabe auslöst, als lustvoll interpretiert wird)
bezeichnet wird. Suboptimal oder gefährlich oder gefährdend ist
jedoch die Überflutung, emotionale Überforderung ebenso, wie
die Lethargie und Ohnmacht, welche aus Langeweile und
ähnlichen Situationsinterpretationen resultiert.
Nur, nun ist es so, dass es keine objektive Vergleichsgrösse
oder Norm gibt, welche förderdiagnostisch festlegen liesse,
wann das eine oder andere gerechtfertigt ist. Je nachdem
lassen wir uns in emotionale Zustände oder Zuschreibungen
ein, welche hilfreich sind oder behindernd.
Ich hatte im Rahmen einer Tafelrunde diesbezüglich eine
prägende Erfahrung. Uns wurde eine Aufgabe gegeben, deren
Anmutung es war, dass sie als unlösbar betrachtet wurde. So
geschah es auch allen – ausser mir. Ich hatte die fixe Idee, dass
letzthin mein Hofnarr mir genau die Lösung dieser Aufgabe
erläutert hatte und sie deshalb lösbar sei, obwohl ich mich nicht
wirklich an die Lösung erinnerte. Siehe da – ich fand die
Lösung. Später allerdings fragte ich meinen Hofnarr, ob meine
nicht wirklich vorhandene Erinnerung korrekt sei und die
gefundene Lösung mit seiner berichteten übereinstimmte. Zu
meiner Konsternation berichtete er überzeugend, dass das von
mir eingebildete Gespräch zwischen uns gar nie stattgefunden
habe.
108
Yerkes, R. M.; Dodson, J. D.: The Relation of Strength of Stimulus to Rapidity of Habit-Formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology,
18, 459-482, 1908.
114
You can’t push a rope,
you have to pull it.
Also lediglich meine Einbildung, dass das Problem lösbar sei,
und nicht mal die Tatsache, dass ich gewusst haben könnte, wie
es geht, hatte dazu geführt, dass ich die Aufgabe lösen konnte.
Mir scheint dieser Effekt, der meines Erachtens genauso
funktioniert in umgekehrter Richtung, möglicherweise der
stärkste Effekt ist, welcher das Lernen ermöglicht und in Gang
setzt oder für unmöglich erklärt.
Aus meiner Sicht würde ich die ebenso wichtigen Ideen von
Funktionsstörungen, Teilleistungsschwächen, Entwicklungsrückständen oder anderen Schwächen dem Effekt in ihrer
Bedeutung unterordnen.
Gerne erzähle ich meinem Gefolge folgende Geschichte:
„Wisst ihr, wie Kinder laufen lernen?“ frage ich. Meist kommt
ungläubiges Staunen über die Frage, gemischt mit Irritation und
weil ich die Frage nicht als Prüfung, sondern eher humorvoll
präsentiere, auch gemischt mit Erwartungslust, etwas Wichtiges
zu erfahren. Wenige helfen sich vermeintlich über die Irritation
hinaus, indem sie spontan antworten: „Sie stehen auf und laufen
weg.“ Ich verneine: „Gerade eben nicht.! Soll ich es euch
erklären?“ „Ja gerne!“ „So höret mir zu, wie ein Kind laufen lernt:
Zuerst kriecht das Kind und bewegt sich so fort. Später versucht
es sich aufzurichten. Dazu zieht es sich hoch und versucht zu
stehen. Schon dabei fällt es oft um. Danach versucht das Kind,
loszulassen und frei zu stehen. Dabei fällt es noch mehr um.
Meist weint es heftig. Entweder, weil es sich wirklich dabei weh
tut oder weil es so erzürnt ist, dass nicht gelingen will, was es
beabsichtigt und versucht. Trotz der Schmerzen und der
Enttäuschung, trotz des Weinens und des Misserfolgs gibt es
aber kein Kind, ausser es sei aus andern Gründen dazu nicht in
der Lage, das aufgibt. Es gibt kein Kind, das sich selbst sagt: Ich
habe es so viel mal versucht. Ich habe mir soviel Mal den Kopf
angeschlagen. Es tat mir so fest weh… Ich lasse es besser
bleiben. Das, was ich erlebe, ist ja geradezu der Beweis, dass
ich nicht in der Lage bin, es zu können, zu lernen, es zu tun. Es
gibt kein Kind, das nicht laufen lernt. Ist das nicht erstaunlich?“
115
Der Hofstaat beginnt meist zu lächeln. Das Fragezeichen auf
ihren Gesichtern weicht. Ich fahre weiter „Jetzt schaut mal, wie
viel anders öfters Lernen in unseren verstaubten Schulstuben
stattfindet. Nachdem man es zwei-, dreimal versucht hat, lässt
man sich bereits entmutigen oder entmutigt sich selbst. Man gibt
auf, verzweifelt, fühlt sich wie der „Esel am Berg“. Versagen
beginnt zu nagen. Vergleiche! Ein Kind, das laufen lernt und in
der Lage wäre, solche Gedanken oder Gefühle zu entwickeln,
würde nie laufen lernen. Schmerzen, Versagen, Irrtümer haben
nichts damit zu tun, ob man etwas kann oder nicht kann. Sie
gehören (leider) zum Lernen, zur Entwicklung und zum
Fortschritt.“
Die Schule nimmt Kindern und Eltern die Verantwortung
über das Wachsen ab und wundert sich anschliessend,
wenn sie sich auch so benehmen.
Meist haben die Zuhörer begriffen. Es herrscht meist so eine
zuversichtliche, optimistischere Atmosphäre. Die Geschichte hat
ihren Zweck erreicht. Die Frage bleibt, warum schulisches
Lernen nicht gleich funktioniert, wie natürliches frühkindliches
Lernen, das offensichtlich viel erfolgreicheren Strategien folgt.
Vermutlich sogar deshalb, weil Kleinkinder noch nicht in der
Lage sind, zu zweifeln und sich mit der Bedeutung von
Versagen auseinander zu setzen, aber auch, weil niemand da
ist, der den Vorgang dem Kind nicht zutraut und deshalb dem
Weinen Trost und nicht Vorwurf folgen lässt. Deshalb, weil der
Vorgang des Laufenlernens selbstverständlich immer zum
Erfolg führt, besteht in der Wirklichkeit gar keine Möglichkeit,
daran zu zweifeln. Deshalb spielt es auch gar keine Rolle, wie
lange der Vorgang dauert, sondern lediglich das sicher
stehende Ziel verleiht im Sturm des Nicht-Könnens oder NochNicht-Könnens den notwendigen Halt für die Begleit- und
Bezugspersonen.
Wie wäre es, wenn die Schule und Lernen überhaupt von dieser
Gewähr, die zugleich den Unterschied ermöglicht, ohne ihn zu
problematisieren, geleitet würde; wenn Sicherheit im Lernen
vermitteln wichtiger wäre, als die Erwartung und der Anspruch?
116
Ich höre sie schon, gewisse Miesepeter, die brüllen: „Wenn
Schule keine Leistungsziele hat…“ O.K. Wer hat denn solche in
Frage gestellt? Ich finde es nur nicht sinnvoll, wenn die Schule
ihre Wirksamkeit selbst in Frage stellt, indem sie unter dem
Druck der Leistungsziele, welche nicht von allen Kindern
gleichzeitig erreicht werden können, Druck dorthin weitergibt, wo
er dazu führt, dass Leistungsziele als nicht erreichbar und damit
unmöglich betrachtet werden müssen. Sicherheit schwindet.
Leistungsziel kommt aus den Augen. Kind gibt auf. Lehrperson
stellt Leistungsschwäche fest. Schulpsychologe stellt nolens
volens Antrag auf Versetzung in Kleinklasse. Die Schlange hat
den vollkommenen Kreis erreicht, indem sie sich in den
Schwanz gebissen hat. Quod erat demonstrandum.
Aber apropos Lernen. Die Schule vertritt heute eine – hoffentlich
mehr gesellschaftspolitisch begründete – als pädagogische
Position, dass ein Kind grundsätzlich von sich selbst aus nichts
lernt und dass deshalb struktureller oder pädagogischer Zwang
angesagt seien, um das Kind von seinen anderen Verlockungen
abzuhalten und auf die Pflicht des Lernen zurückzuführen.
Drohender Zeigefinger: „Wenn du nichts lernst, dann weiss ich
schon, was ich mit dir mache…“ oder so ähnlich. Lernen als
passiver Prozess nach dem Muster des Nürnberger Trichters.
Die Lehrperson muss die mühsame Arbeit von Belehrung
vornehmen, während dem die (meisten) Kinder die fröhliche
Aufgabe der Ablenkung frönen können, wenn man sie nicht
disziplinieren würde.
Da stimmt doch etwas nicht. So kann die Bürde nicht sinnvoll
verteilt werden. So muss es doch geradezu schief gehen.
Ausgehend vom Konstruktivismus109, lassen sich jedoch andere
Hypothesen zum Lernen bilden. Der Mensch kann gar nichts
anderes oder in Abwandlung des fast schon geflügelten Wortes
von Watzlawick110: Kein Kind kann nicht lernen. Die Aussage
einem selbstverständlichen - weil anders unmöglich - Lerner
109
Neuere Erkenntnistheorie; Literaturangaben siehe S. 32
Watzlawick, P. et al.: Menschliche Kommunikation, Huber, Göttingen, 1990;
Watzlawick schreibt dort den Satz: Der Mensch kann nicht nicht
kommunizieren.
110
117
gegenüber geäussert: „Du lernst nicht.“ oder auch nur schon
„Lerne!“ oder „Lerne besser!“ stürzt diesen in Zwiespälte und
Abgründe, welche mit dem Phänomen des „Double bind’s111“
zumindest verwandt sind.
Dummerweise nun kann die Schule das Lernen eines Kindes
nicht oder nur in geringem Masse direkt beeinflussen (obwohl
das Gegenteil als Schutzbehauptung nach wie vor aufrecht
erhalten wird). Gemäss konstruktivistischen Vorstellungen ist
Lernen in erster Linie ein autonomer, selbstgesteuerter Prozess.
Radikale Konstruktivisten – und die meisten sind radikal –
behaupten gar, dass Lehren gänzlich eine Illusion ist, dass im
besten
Fall
irritieren,
also
das
Auslösen
einer
Orientierungsreaktion möglich ist, aber nicht das Hineinpauken
eines Gedankens oder gar stofflichen Ablaufs, wie bei einer
Gans, die für Gänseleber gemästet wird.
Die kausalattribuierende Idee,
dass eine oberflächliche Störung durch eine tiefere
bedingt sei ist trivialisierend. Sie ist meist
das Denkmodell,. das zur Zuschreibung von
Hilfsbedürftigkeit und Hilfe führt.
Was nützt uns das? Wir haben eine gleichermassen geeignete
Erklärung dafür, dass es Kinder gibt, die nach den Gesetzen,
Vorgaben und Reglementen und der pädagogischen Idee
funktionieren, als auch für diejenige Sorte von Kindern, die der
Schule Probleme bereiten oder in und mit der Schule Probleme
bekommen. Sie tun nichts anderes, als das Geforderte oder das
Erwartete: Sie lernen. Sie versuchen zu erforschen und zu
begreifen, wie die Umwelt funktioniert. Nur, die Welt hat noch
einen geheimen Lehrplan. Häufig wird auf der einen Ebene das
111
Bateson, G. und Kollegen entdeckten das Phänomen des Double binds
(Bateson, G., Jackson, D. D., Haley, J. & Weakland, J.: Toward a Theory of
Schizophrenia. In: Behavioral Science, Vol.1, 1956, S. 251-264), das eine
Situation beschreibt, welche so widersprüchlich ist, dass eine Person, welcher
zum Beispiel gesagt wird: „Tu das, aber du kannst es nicht“, in Konflikte
geraten kann, die sein Verhalten unvorhersagbar machen. Vergleichbar ist
dies vielleicht mit einem Computer, der mit einer irrtümlichen
Programmierschlaufe lahm gelegt wird, obwohl er wie verrückt arbeitet.
118
gesagt, aber auf der andern Ebene kommt etwas ganz anderes
herüber. Es gibt sie also nicht die Kinder, die dadurch
grundlegend verschieden sind, dass die einen lernen und die
andern das nicht können, sich dagegen wehren oder denen das
verwehrt ist. Nur: Sie tun das anders, manchmal so anders,
dass es mit gängigen Vorstellungen nicht sinnvoll zu deuten ist.
Deshalb bekommt die Lehrperson auch Schwierigkeiten,
probiert und macht, bis sie schliesslich nicht mehr weiter weiss.
Auch Lehrpersonen machen nichts anderes, als zu lernen.
Lernen besteht darin, dass man sich Phänomene erklärt, Sinn
sucht112, einordnet, handhabbar macht. Auch eine Lehrperson
macht nichts wirklich Falsches, wenn sie sich zu erklären
versucht, warum ein Kind nicht so funktioniert, wie es
vorgesehen ist, abweicht davon. Nur, es gibt so viele
Erklärungsmöglichkeiten, die auf dem Markt der Ideen verkauft
werden, dass manchmal die Idee der Passung verschwindet
und die offizielle Wahrheitssuche beginnt.
Es ist manchmal erstaunlich festzustellen, dass es fast egal ist,
was die gefundene Wahrheit für das Kind bedeutet und bewirkt.
Ausdrücke wie leistungsschwach, verhaltensauffällig, blockiert,
wahrnehmungsgestört,
konzentrationsgestört,
hyperaktiv,
behindert werden schnell gefunden oder (um auch zu
bezeichnen, dass es manchen sogar halbwegs bewusst ist,
dass das „contre coeur“ abläuft) überfällt und überschwemmt
einem. Sicher ist darin auch Angst verborgen, dass man eine
Erklärung sucht, die entlastet. Man findet so vermeintlich den
professionell distanzierten, kühl, sachlich, objektiven Zugang. Es
112
Frankl, V. E.: Theorie und Therapie der Neurosen, UTB Reinhardt Stuttgart,
1999. Frankl erklärt sich das Entstehen einer dysfunktionalen Deutung (damals
Neurose genannt) aus dem Suchen nach Sinn. Z. B. kommt ein Mann in einen
Fahrstuhl. Er schwitzt. Der Fahrstuhl ist kühl. Der Schweiss wird kalt
empfunden. „Kalter Schweiss“ hat eine Bedeutung. Die Tür schliesst sich. Der
Lift setzt sich in Bewegung. Der Mann fröstelt. Er möchte raus. Er fühlt sich
ausgeliefert. Sobald die Tür öffnet, springt er erleichtert raus. Gerade noch
geschafft. Von dieser Erfahrung gesteuert, vermeidet er die Benützung der
Lifte. Er hat sich eine „Klaustrophobie“ erfunden, weil er dem Umstand, dass er
im Lift schwitzte Sinn abzugewinnen suchte. Wäre dies Zufall gewesen, hätte
er keine Angst bekommen müssen. Dummerweise verstärkt sich die Angst
noch, indem man nie mehr Lift fährt...
119
ist die Erklärung, die häufig dazu gebraucht wird, um nicht selbst
in nagende Zweifel zu verfallen.
Kindreife der Schule oder Schulreife des Kindes?
Die Prozesse, die in einer solchen Situation bei der geforderten,
überforderten Lehrperson ablaufen, sind denjenigen so ähnlich,
die das Kind entwickelt, dass es geradezu frappant ist, dass
man die Ähnlichkeit in der Situation häufig gar nicht entdeckt.
Beide verzweifeln daran, dass das, was sein soll, scheinbar
durch eigenes Zutun nicht möglich wird.
Unter dem Aspekt für jedes Kind, das scheitert oder sonst
auffällt, die optimale Förderung zu suchen, wird unter dem
Deckmantel „Diagnostizieren – Helfen“ dieses Spiel113 fast
gezwungenermassen mitgespielt und mitunterstützt. Das
Helfersystem sitzt häufig in der gleichen Erklärungs- und
Beurteilungsfalle. Immerhin bekommt das Kind mit Hilfe der
Diagnose (Etikett, Zuschreibung, Erklärung, eigentlich aber im
ursprünglichen Wortsinn Erhellung, Durchblick) eine geeignete
Massnahme (Therapie, Hilfe, Unterstützung, Klassenwechsel,
Sonderschulung, etc.). Die Hilflosigkeit der Helfer114 besteht
darin, dass man nicht ein geeigneteres Denksystem den bereits
gefassten Fragestellungen gegenüberstellen mag, weil es so
fremd erscheint und damit möglicherweise ein Problem für die
Lehrperson darstellt – also lassen wir es. Die Aufgabe der
113
Berne, E.: Spiele der Erwachsenen, Rowohlt 2002; Eigen, M.; Winkler, R.:
Das Spiel, Naturgesetze steuern den Zufall, Piper, München 1975; Hofstadter,
D. R.: Gödel, Escher, Bach. Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 (17. Aufl.)
114 Schmidbauer, W.: Die hilflosen Helfer, Rowohlt, Reinbek, 1977. SelviniPalazzoli, M.: Der entzauberte Magier, Frankfurt, Fischer, 1991. Die
Helfersysteme in der Schule haben Hochkonjunktur. Sie spriessen wie Pilze,
vergrössern aber zum Teil nur die Hilflosigkeit, verkomplizieren die
Helfersysteme und haben Erfolg in der Froschperspektive, welcher sich aber
aus der Vogelperspektive ins Gegenteil verkehren könnte.
120
Schulpsychologie115 scheint es ja auch nicht zu sein, Anstösse
zu einer andere Schule, einer andere Pädagogik zu geben,
sondern nur und ausschliesslich sich innerhalb des Status quo
die sinnvollsten Inseln auszuwählen.
Es ist eine Gratwanderung. Man muss sich dem Denksystem
des Klientensystems soweit anpassen, dass Verständigung
möglich ist, aber soviel anderes damit verpacken, dass
Veränderung möglich wird.
Eine Diagnose im psychologischen Sinn ist etwas fast
vollkommen anderes, als eine Diagnose im medizinischen Sinn.
Ein gebrochenes Bein ist ein gebrochenes Bein, ist ein
gebrochenes Bein. Eine Verhaltensauffälligkeit ist jedoch im
einen Kontext eine schlimme Sache, weil einzigartig und
unpassend, im andern Kontext eine Auszeichnung, weil anders
als die andern, im dritten Umfeld unauffällig, weil alle so sind, im
vierten Kontext gar…
Im Kontext der Fragestellung „Wie ändern wir das?“ jedoch ist
es erstmal nichts als: Es ist, was es ist. Zweitens ist es dann
veränderbar, wenn wir eine Erklärung erreichen, die sowohl für
die eine Seite, als auch die andere Seite klarmacht, dass das
nichts Schlimmes ist, sondern lediglich das Resultat von
Bemühungen darstellt. Veränderbar wird es erst, wenn beide
Seiten (der Hersteller des Phänomens und der Beobachter des
Phänomens, was die vice versa Betrachtung beinhält), in dem
was sie machen, die volle Verantwortung über das, was sie
herstellen, übernehmen können.
Jemand der verzweifelt, weil er gestört wird, kann seine Störung
erst zum Verschwinden bringen, wenn das Störende wegfällt.
Jemand aber der in der Lage ist zu sehen, dass die Störung
Ansichtssache ist, kann sich ein hilfreicheres Bild zurechtlegen
und die Störung ist verschwunden. Jemand der stört, kann,
Hartmeier, M.: Mit Pioniergeist in die Zukunft. Schulpsychologie –
Standortbestimmung und Perspektiven. In: Psychoscope, Zeitschrift der
Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, Bern, 2005/01,
S. 8-11. Hartmeier, M.: Positive Schulpsychologie – Seele der Schule. In:
Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer Psychologinnen und
Psychologen, Bern, Vol. 28 2007/01-02, S.6/7
115
121
wenn
er
als
gestört
bezeichnet
wird,
seine
Störungsanstrengungen verstärken. Er tut dies aber als
Verletzter, weil er sich wehren muss. Er könnte aber genauso
gut darauf verzichten, wenn man ihm zeigt, dass die Störung in
einen bestimmten Rahmen durchaus Sinn macht.
Was glauben Sie wird mehr nützen, dem Störefried den Titel
hyperaktiv zu geben und damit festzuschreiben, dass er für
seine Störung gar nichts kann und sie damit schicksalhaft
(körperlich bedingt) ist oder allenfalls, wenn man den Eindruck
eines ADS116-Kindes nicht los wird, sich selbst, dem Kind, der
Klasse, den Eltern eine Erklärung dazu abzugeben, die etwa wie
folgt lautet:
„Möglicherweise macht dein Körper mit dir etwas, das du
scheinbar nicht unter Kontrolle hast und für uns wirkt deine
Unruhe so, als ob du das nicht selbst steuern würdest. Wir
wissen aber über diese schwierigen Dinge, dass du dann, wenn
du unruhig bist, gerade die Bewegungen dazu brauchst, um dich
konzentrieren zu können. Bewegung lässt zwischen deinen
Nervenzellen Stoffe wandern, die machen, dass du besser
denken kannst. Wir alle wissen nun, dass du dich dann
besonders anstrengst, wenn du unruhig bist. Du machst also
genau das Richtige. Wir fühlen uns durch diese Erklärung nicht
mehr so gestört. Wir finden aber, dass wir gemeinsam eine
Lösung finden müssen – weil, wenn jeder das machen würde in
der Klasse, dann würde die Konzentration so laut und so
unruhig, dass sich keiner mehr konzentrieren könnte. Was
schlägst du vor? Was schlagt ihr vor?117“
Die Etikettierung, welche mit der Bezeichnung geschieht, löst
häufig bei den Betroffenen die Schreckreaktion aus, dass dies
116
Dafür gibt es mittlerweile so viele Bezeichnungen, dass ich das Ganze nur
noch als die Buchstabenseuche bezeichne. Kann etwas, das alle Momente
wechselt, überhaupt eine Diagnose sein?
117 Angelehnt an Forschungsresultate, die davon ausgehen, dass unruhige
Kinder den Neurotransmitter Dopamin, welcher konzentrationssteigernd wirkt,
durch Bewegung zu vermehrter Ausschüttung zu bringen in der Lage sind und
deshalb unruhig werden, weil sie sich konzentrieren wollen. Siehe auch: Voss,
R.: Pillen für den Störenfried. Reinhard, München, 1999
122
unveränderbar ist und dem eigenen Zugriff vollkommen
entzogen. Wer würde nicht bei einer solchen Zuschreibung sich
entweder dagegen auflehnen (neues Phänomen bestätigt
bisherige Meinung) oder sich dem geforderten Schicksal
ausliefern nach dem Motto „Dann mach du Schicksal mal weiter.
Ich habe ja keine Ahnung.“ Wenn wir Aktivität, Anstrengung
erzeugen wollen, müssen wir imstande sein, sie in die richtige
Richtung zu lenken. Sonst kann es sein, dass wir den bereits
schwachen und verzweifelten Erklärungen noch eine weitere
verheerende hinzufügen. K.O. Vorhang zu. Licht aus.
Häufig sind die Vorgänge, die dazu führen, dass das Kind Hilfe
beanspruchen kann, so verwirrend, dass die Hilflosigkeit des
Kindes zunimmt, was wiederum dazu führt, dass es das
Vertrauen in seine eigene Tätigkeit in Frage stellt, ja sich
einstellen und sich ausliefern muss118. Die Hilfe hat nicht gegen
das ursprüngliche Phänomen anzukämpfen, was mit Hilfe des
Klienten noch anginge, sondern auch noch gegen die
Hilflosigkeit, was fast ein unmögliches Unterfangen ist, weil die
Hilfe, die Therapie, dem Kind im Erklärungskontext gerade
darum gegeben wird, weil es es nicht kann.
Die Schule könnte solche Minenfelder von Fallen überwinden,
indem dies anerkannt würde und in der Didaktik, in
Reglementen, in der Kultur, in der Professionalität, in der
Schulstruktur Niederschlag finden würde. Das ist nicht so
kompliziert, wie es hier vielleicht auf den ersten Blick tönen mag.
In erster Linie ist der Auftrag der Schule, den Lehrplan zu
erfüllen. Die Nichterfüllung des Lehrplans wird sanktioniert,
sowohl gegenüber der Lehrperson, als auch gegenüber dem
betroffenen Kind. Es ist quasi ein Sakrileg, die Lernziele zu
verpassen. Wir führen fast überall so genannt altershomogene
Klassen, die die Idee, dass es möglich sein muss, dass alle
Kinder des gleichen Alters, das Gleiche im gleichen Zeitraum
beherrschen müssen, stützen.
Familien, das gewohnte Umfeld, funktionieren anders. Sie
machen klar, dass alle Kinder, nur schon wegen dem Alter und
118
Seligman M. E. P.; Petermann, F.: Erlernte Hilflosigkeit; Beltz, 2000
123
Geschlecht, unterschiedlich sein müssen. Dies wird sogar von
ihnen erwartet. Altersgemischtes Lernen würde solche
künstlichen Hürden des Gleichseinmüssens begrenzen. Die
„Verschiedenheit zu gestalten“, wäre das Ziel dieser Klassen. Es
wäre gar nicht mehr möglich, weil es für die Lehrperson zu
aufwändig wäre, eine Klasse als Ganzes zu belehren. Deshalb
müsste die Lehrperson eine neue Rolle übernehmen, jene des
Lernberaters, der Lernberaterin, des Lernbegleiters, der
Lernbegleiterin. Jeden Tag würden die Kinder auf eine Lernreise
geschickt, deren Resultat weitgehend offen ist, die Zielrichtung
auch durch die verschiedenen Vorlieben (forschende Neugier)
gesteuert würde.
Da die Früchte des Lernens wieder zusammengetragen und die
Kinder sich gegenseitig erzählen würden, was und wie sie es
gemacht haben, wären Kinder diejenigen, die einander
gegenseitig von Lernerfahrungen, Erfolgen und Misserfolgen
berichten würden119.
Ich bin keineswegs gegen Forderungen, Erwartungen oder gar
Zwang. Nur es muss gesichert sein, dass dies entweder
plötzlich oder schrittweise zum gewünschten Verhalten führt, da
die Gefahr besteht, dass es sonst zu Disziplinarexzessen
kommt, die beiderseits in die Verleugnung der Zuständigkeit
führen können.
Verschiedenheit muss belohnt werden, nicht eingeschränkt.
Unterschiedliche Lerntempi und Vorgehensweisen zu entdecken
und zu gehen, ergibt beim aktiven Lerner, bei der aktiven
Lernerin mehr motivierende Erfolgserlebnisse und macht im
Umgang mit Lernhemmnissen kreativer. Die Idee muss sein:
Was du dir eingebrockt hast, kannst (nicht musst) du auch
selbst auslöffeln. Ich kann dir nur Hinweise geben. Den Weg
gehst du selbst. Es ist deine Erfahrung, die zählt. Meist sind es
119
Achermann, E.: Mit Kindern Schule machen. Verlag Lehrerinnen und
Lehrer Schweiz, Zürich, 1995. Siehe auch: Kahl, R.: Treibhäuser der Zukunft Wie in Deutschland Schulen gelingen, Archiv der Zukunft, Beltz, Weinheim,
2006
124
Hoffnungsgeschichten aus dem eigenen Lernen, welche den
„20iger fallen lassen“ – es braucht nicht mal eigentliche Hilfe120.
In dieser Struktur von „Schule geben“, kann es gar nicht mehr
von Bedeutung sein, dass es Kinder gibt, welche schneller an
ein Ziel kommen, als andere. Die Schule selbst ist eine
Institution, die Begabungsförderung an sich macht und diese
nicht eingeschränkt auf jene fokussiert, welche scheinbar
wertvolle Begabungen bereits schon zeigen. Früher hat man
das so gemacht: Die Gesellschaft legte fest, was wertvoll und
erwünscht ist, und das andere wurde ausgeblendet.
Begabungen fördern heisst,
diese zu sehen oder zu unterstellen,
bevor sie bereits sichtbar sind121.
Verbissen wird heute in der Schule neben Wissen
angemessenes
Sozialverhalten
hergestellt.
Durch
die
Verkleinerung der Klassen kippt aber die Bedeutung dessen,
was erwünscht ist, deutlich immer mehr auf die Lehrperson und
geht weg von den Schulkindern. Die Schulkinder werden immer
mehr zum Objekt der Vorstellung von guten Manieren (statt zum
Subjekt) und können sich somit aus der Verantwortung stehlen,
da es nicht wirklich um sie geht. Wer hat denn meist die
Konsequenzen zu tragen, wenn etwas nicht funktioniert, wenn
ein Kind sich nicht im Zaum hält: die Lehrperson. Wieso soll in
einer solchen Situation das Kind lernen, dass es wirklich
bedeutungsvoll ist, wenn es keine Konsequenzen in der direkten
120
Ich möchte hier mal einflechten, dass die vielen Hinweise über die
Problematik von Hilfe rein grundsätzlicher Natur sind und nicht etwa helfende
Professionen in ihrer Bedeutung und ihrer Berechtigung in Frage stellen soll.
„Hilfe“ kann auch, und das ist das Paradoxe, die geringe
Selbstwirksamkeitserwartung Betroffener noch mehr reduzieren.
121
Wie könnte es also sinnvoll sein, als Voraussetzung für
Begabungsförderung, zuerst Begabungen zu entdecken, bevor sie gefördert
werden. Wie könnte es sinnvoll sein, unterscheiden zu wollen zwischen jenen,
welche über keine förderungswürdigen Begabungen verfügen und jenen,
welche gefördert werden müssen, dürfen, sollen... Vgl. auch: Meyer, W.-U.:
Das Konzept der eigenen Begabung, Huber, Bern, 1984
125
Situation hat, sondern nur in der abstrakten Behandlung des
Vorfalls.
Deshalb gehe ich davon aus, dass im Zusammenhang mit der
Beratungspädagogik wie geschildert weniger Bedeutung hat,
wie viele Kinder in einer Klasse sind und dass deshalb druckfrei
und flexibler mit der Klassengrösse umgangen werden kann.
Dies lässt die Diskussion über die Grösse der Klasse etwas weg
vom brisanten Politikum nüchterner betrachten. Eine etwas
grössere Klasse kann nur funktionieren, wenn die Schulkinder
das Funktionieren – mit Unterstützung, aber nicht in
Hauptverantwortung der Lehrperson – herstellen müssen und
dafür verantwortlich sind. So wird soziales Lernen zum
Erfahrungslernraum und wird dadurch erfahrbarer, auch in der
direkten Konsequenz von „bösen“ Verhaltensweisen. Soziales
Lernen findet damit nicht im „Lehrplan“ statt, sondern im Alltag
und wird effektiv wieder zu dem, was es ist, zum
zwischenmenschlichen Sorgen, dass man nicht andern tut, was
man nicht selbst wünscht, dass es einem geschieht.
Das Phänomen Förderung möchte ich als nächstes beleuchten.
Immer mehr wird Förderung im Volksmund – und wer gehört
schon nicht im besten Wortsinn zum Volk – zu einem Begriff,
der so verwendet wird, als ob Unterricht eine Notwendigkeit ist,
aber keine hinreichende. Gewünscht wird immer mehr
Förderung. Teilweise stimmt die Schule in diesen
Sirenengesang ein und sucht durch die Verstärkung dieses
Angebots darin Entlastung der Lehrperson und auch das Heil für
unter- oder überforderte Schülerinnen und Schüler. Diese
Diskussion scheint mir manchmal gar Dimensionen
anzunehmen, als ob die Schule selbst ihre eigene
Bankrotterklärung fördern würde. Unterricht, wie auch immer
geartet, muss das zentrale Fördermittel sein, werden oder
bleiben, sonst besteht zumindest die latente Gefahr, dass man
Förderung und Unterricht gegeneinander ausspielen kann.
Wenn Unterricht nicht fördert, kann man das auch nicht damit
ausgleichen, dass Zusatzförderung angeboten wird. Zudem wird
Förderung in diesem Gesamtzusammenhang auch scheitern.
Ebenso geschehen im Zusammenhang mit der vor einigen
Jahren in Gang geratenen Diskussion von Hochbegabung. Man
126
bot diesen ausgewählten Kindern separative Zusatzförderung.
In der Zwischenzeit sind bereits leise Töne von jenen zu hören,
welche dies vor Jahren lautstark als Menschenrecht eingefordert
haben, dass diese Massnahmen nicht sehr viel mehr gebracht
haben.
Es muss Einkehr in die Pädagogik halten, dass neue Formen
von Lernen so angeboten werden, dass sie es ermöglichen,
schneller oder langsamer zu lernen, ohne dass Unterforderung
oder Überforderung reklamiert werden kann und muss. Es ist
nicht bestätigt, dass weniger starke LernerInnen stärkere
LernerInnen blockieren müssen.
Wir brauchen keine immer bessere Bildung,
sondern eine gute.
Eltern haben heute mehrheitlich das Gefühl, dass ihre Rolle
darin besteht, von der Schule Dinge zu erwarten, die sie zu
erfüllen hat, ohne sich darum zu kümmern, dass schulisches
Verhalten sehr viel mit familiären Einstellungen und Erfahrungen
zu tun hat122. Es ist nicht damit getan, dies als Bestätigung zu
betrachten, dass der Lehrer eine untaugliche Person ist, wenn
er nicht besser erreicht, dass die Tochter in der Schule aufpasst,
als zuhause. Wenn sie zuhause gelernt hat, dass Nichtzuhören
konsequenzenlos bleibt, so wird ihr kaum einleuchten, warum
sie in der Schule andere Gesetze anzuerkennen hat.
Andererseits werden aus der Anspruchshaltung heraus häufig
die Eltern von der Schule als potentiell gefährlich betrachtet.
Häufig kommt echte Partnerschaftlichkeit und gegenseitige
Wertschätzung und Unterstützung nicht aus Unvermögen nicht
„Erfolgreiches erzieherisches Verhalten vermittelt den Kindern ein grosses
Mass gelassenen Selbstvertrauens sowie Beharrlichkeit und Optimismus. Die
Kinder gehen in der Folge davon aus, dass fast alles von ihren Anstrengungen
abhängt und von der Fähigkeit Frustrationen ohne Schaden überstehen zu
können. Solches Erziehungsverhalten geht davon aus, dass die Kinder etwas
Besonderes darstellen. Aufgrund dessen werden auch besondere Ansprüche
an die Kinder gestellt. Das individuelle Verhalten der Kinder besteht eher in der
mutigen Erprobung der eigenen Fähigkeiten statt dem ängstlichen Vermeiden
von Fehlern.“ Simon, F. B.: Die Kunst nicht zu lernen, Carl-Auer-Systeme,
Heidelberg, 2002, S. 140f
122
127
zustande, sondern aus Missverständnissen. So können gerade
Eltern nicht neutral auf ihren Teil der Erziehung hingewiesen
werden. Wie soll denn die Zuschreibung, dass Eltern unfähig
oder überfordert sind, positive Möglichkeiten im Umgang mit
dem Kind eröffnen. Diese Zuschreibung ist meist das Ende der
Pipeline. An die Wand gespielt. Waffenstillstand oder Krieg sind
die Möglichkeiten, die bleiben. Gerade diese beiden eröffnen
jedoch dem Kind, das sich ändern soll, ungeahnte Freiheiten,
dies nicht zu tun. Zuhause: „Der Lehrer sagt, aber…“ In der
Schule: „Hähä, die Mutter meint, aber Sie seien auch nicht
besser.“
Die Last, dass Beziehungs- und Lernprozesse misslingen
können, nimmt für die Schule häufig titanisch-unmenschliches
Gewicht an. Sie kann nicht ohne Gesichtsverslust sagen: Lass
es uns anders probieren, lass es uns vorläufig beenden.
Höchstrichterliche Instanzen legen fest, dass es sich bei der
Schulpflicht um ein Grundrecht handelt, das niemandem
aberkannt werden kann, auch dann nicht, wenn es nichts bringt.
Ich wäre der Meinung, dass die festgefahrenen Positionen
durchaus entkrampft werden könnten. Es muss Möglichkeit
geben, solche Geschichten mit hohem Beratungs- und
Überzeugungsaufwand
zu
überwinden
(noch
besser
selbstverständlich zu verhindern). Oder es muss verschiedene
Wege geben, die Schule ehrenvoll zu durchlaufen und
abzuschliessen. Wem der Kopf raucht, aus welchen Gründen
auch immer (vgl. Yerkes-Dodson-Gesetz, S. 114), dem ist
definitiv der Lernkanal blockiert.
Eine Pause macht Sinn. Ich meine mit Pause nicht, dass die
Schule eine andere Beschulung suchen muss, sondern eine
echte Pause: Von mir aus auf dem Bauernhof, zuhause, auf
einem Schiff oder sonst wo. Klar wäre, dass mit der
Finanzierung
solcher
Eskapaden
sehr
zurückhaltend
umgegangen werden müsste und dass Eltern einen gewichtigen
Beitrag zu leisten hätten. Es muss möglich sein, abgebrochene
Schulkarrieren zu jeder Zeit des Lebens wieder aufzunehmen
und zu beenden. Wichtige Voraussetzung ist nicht die Zeit, die
verstrichen ist, sondern die Bereitschaft und der Wille, sich auf
schulische Gepflogenheiten und das Lernen für sich selbst
128
einzulassen. Es darf auf keinen Fall sein, dass die Idee der
Untragbarkeit eines Schülers eine hinreichende Voraussetzung
für ein solches Time-out darstellt. Diese Feststellung ist (neben
der ‚objektiven’ Feststellung, die vielleicht sogar zutreffen mag)
in erster Linie eine existentielle Kränkung, die die Situation nur
noch mehr emotionalisiert, als sie schon ist. „Wir sind
gescheitert. Es tut mir leid. Nun müssen andere Wege gesucht
werden. Es braucht eine Beruhigungs- und Nachdenkphase.
Wenn du bereit bist, bekommst du selbstverständlich deine
nächste Chance,“ wäre nützlicher, aber vielleicht auch
schwieriger. Die Schule ist ein Angebot, das Privilegien
verschafft. Wer in Genuss der Privilegien kommen will, muss
auch das Gegengeschäft eingehen. Keine Rechte ohne
Pflichten, sonst sind Lehrkräfte nur noch Sklaven und
Marionetten.
Auf der Schule lastet ein Nimbus, dass Fehler nicht geschehen
dürfen. Das lässt sich aber mit der altbewährten Feststellung,
dass man aus Fehlern lernt, nicht vereinbaren. Entweder – oder,
würde ich sagen. Mir wäre „oder“ lieber. Wenn aber die Schule
ein verständliches Beispiel dafür sein will, so muss sie in der
Lage sein, mit ihren eigenen Fehlern selbstverständlicher
umzugehen. Ich gehe davon aus, dass Entwicklung und Lernen
geradlinig und ohne Abweichung völlig unmöglich und sinnlos
sind. Gerade da sich etwas in ständiger Bewegung befindet, gibt
es eben keine gleiche Gewähr und Sicherheit, wie etwas
Stabiles. Die Schule kann, selbst wenn sie mit Steinen der
Weisheit gebaut ist und Eier des Kolumbus füttert, nicht davor
gefeit sein, ständig und immer wieder unermüdlich mit
Schwierigkeiten zu dealen. Es ist das eigentliche Hauptgeschäft
der Schule. Die Schule muss auch keine Angst vor
Schwierigkeiten haben, auch nicht, dass sie damit keinen
wirklich guten Umgang zu pflegen imstande ist. Sie sind schlicht
und einfach unumgänglich und so selbstverständlich wie das
tägliche Brot und die Pausenglocke. So gesehen sind es nicht
die Schwierigkeiten, die uns Schwierigkeiten machen, sondern
unsere Schwierigkeiten, die wir mit jenen haben. Im Umgang mit
Schwierigkeiten ist immer auch eine existentielle Infragestellung
enthalten. Deshalb ist Gelassenheit – was keinesfalls, und
darauf lege ich Wert, gleichbedeutend mit Ignoranz zu setzen ist
129
– angezeigt. Schule hat das Know-how vielleicht im
Zusammenhang mit dem einkehrenden Kulturpessimismus
etwas verloren, da die Idee um sich griff, dass alles immer
schwieriger werde und deshalb Lehrkräfte allein der Situation
nicht mehr Meister würden.
Die bisher durchgeführten Reformen im Bildungswesen sind genauso
Augenwischerei wie die Gesundheitsreformen123.
Man muss den Lehrern helfen und sie entlasten. Dieser Ruf
schallt durch die Lande. Ich kann das nur zu gut verstehen.
Wenn aber immer neue Berufsgattungen in der Schule immer
neue Aufgaben übernehmen müssen zur Entlastung der
Lehrpersonen, so geht das Verfahrensknow-how, worauf die
Lehrerschaft
früher
stolz
war,
verloren
und
der
Koordinationsaufwand erhöht sich. Resultat: Die Lehrerschaft ist
nicht entlastet. Meines Erachtens ist vermehrt Supervision
angezeigt, welche das Ziel hat, verlorenes Verfahrensknow-how
zurückzuerobern und neues aufzubauen und in Schwierigkeiten
nicht den Schwierigkeiten die Steuerung zu überlassen, weil
man zu früh, zu wenig, zu spät oder ohne Erfolg eingegriffen
hat. Solche Neuerungen muss die Schule selbst initiieren, weil
bisher Supervision und Ähnliches stets mit der Idee verbunden
war, als unfähig betrachtet werden zu müssen, bevor man so
etwas zu beanspruchen hat. Schande. Supervision dient dem
selbstverständlichen
Umgang
mit
den
alltäglichen
Schwierigkeiten, die einem in Tat und Wahrheit auf die Palme
bringen können. Man kann aber von der Palme herunter ebenso
wenig Lehrer sein, wie man es vom Katheder her könnte.
Selbstverständlich gibt es in der Lehrerschaft auch alles von
jenem, der besser Handwerker, Politiker, Banker oder
Akademiker geworden wäre, bis zu jenen, die mit Leib, Herz und
Seele und Verstand einen absoluten Superjob tun. Meist sind es
die letzteren, welche trotz der Unbillen der heutigen Zeit
zufrieden und fröhlich, wenn nicht glücklich ihrem Beruf
nachgehen. Es muss dem Lehrkörper ein Anliegen sein,
123
Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 195
130
denjenigen, die ihrem Amt nicht gewachsen sind, dies
unmissverständlich klar zu machen und sie auf neue
Berufswege zu schicken, manchmal auch dann, wenn es hart
ist. Es kann und darf nicht sein, dass wir die Güterabwägung
falsch machen, nämlich zugunsten einer Person und
zuungunsten Hunderter von Kindern. Das ist eine heikle Frage.
Sie muss aber gelöst werden, denn sonst sieht die Lehrerschaft
untätig zu, wie das Ansehen des Berufs immer mehr schwindet,
obwohl dies eigentlich nur einen kleinen Teil, so hoffe ich,
betreffen würde.
Im Zusammenhang mit der strukturellen Sicherstellung der
Individualisierung ist natürlich auch die Frage der Promovierung
und der Beurteilung neu einzuordnen. Es macht einfach meist
keinen Sinn, und würde im neuen System überflüssig, dass
jemand, der nach bestem Vermögen gelernt hat, vor den
Promotionsrichter gestellt wird. Es gibt 9 Jahre offizielles
Schulangebot. Die hat man zu durchlaufen und tritt altershalber
danach in höhere Schulen oder ins Arbeitsleben ein. Jeder hat
die Möglichkeit einmal eine Ehrenrunde zu drehen, auf eigenen
Wunsch. Durch die Strukturierung der Schule nach dem
Familienmuster ist auch die Grenze oder Grundfrage der
Integration versus Separation aus dem Ideologieecken befreit.
Es können neue Lösungen gedacht werden.
Ich finde, der Wert von sozialer Integration ist deutlich über
denjenigen der schulischen Separation zu stellen. Schulische
Separation muss den Beweis für den positiven Effekt auf
pädagogischer Ebene antreten. Die Situation der sozialen
Separation, die damit im Zusammenhang steht, muss auf
gesamtgesellschaftliche Folgen und Wirkungen untersucht
werden und beides in einen Zusammenhang gebracht werden,
damit eine sachliche Güterabwägung gemacht werden kann.
Immer stärker leidet man in der Schule darunter, dass dem
hohen Ideal der Chancengleichheit nicht mehr nachgelebt
werden kann. Dafür hat man teure Hilfsprogramme, Therapien,
sonder- und heilpädagogische Massnahmen integriert und
separiert auf die Beine gestellt. Deren Erfolge sind zweifelhaft.
Wir verwenden viel Geld und Liebesmüh’ darauf, Unterschiede
auszugleichen, indem wir Problembeschreibungsbegriffe wie
131
Störung und Schwäche prägen, ohne zu sehen, dass in der
Anerkennung der Verschiedenheit mehr kreatives Potential
entstünde. Immer stärker setzt sich das Bewusstsein durch,
dass erstens mit Unterschieden auf jeden Fall gerechnet werden
muss und dass diese kaum nivelliert werden können. Es muss
aber viel stärker daran gearbeitet werden, dass bei der frühen
Entwicklung bestehende Unterschiede, vor allem auch auf
sozialem Hintergrund nicht noch verschärft werden. Deshalb
sollte eine frühere Einschulung bewerkstelligt werden. Die
frühere Einschulung darf aber nicht eine frühere Verschulung
bedeuten. Im Zusammenhang damit sind vor allem
Elternschulen und -selbsthilfestrukturen aufzubauen. Es geht
also nicht um die Übernahme der Erziehungs- und Förderpflicht
der Eltern, sondern um deren Aufbau. In der heutigen Zeit der
Chancenvielfalt ist möglicherweise das frühere Ideal der
Chancengleichheit antiquiert und hat nur noch als fixe Idee
Bestand.
In diesem Zusammenhang ist auch zu überlegen, ob die
Bildungselite nicht zu dünn gesät ist, dass die Bildungspyramide
sich zu stark verjüngt. Es muss dafür gesorgt werden, dass nicht
nur so genannt erkannte Hochbegabte speziell gefördert
werden,
sondern
dass
der
Zugang
zu
höheren
Bildungsangeboten etwas geöffnet wird. Im Moment ist davon
auszugehen, dass sich auf dem Bildungsolymp wenige
Menschen bewegen, die sich bewährt haben. Deren Ideen
müssen alle einzeln durchschlagend sein, damit wir mit der
Zivilisations- und Wirtschafts- und Wissenschaftsentwicklung
mithalten können. Einfacher wäre ein Postulat zu verwirklichen,
das Ideen mit durchschlagenden Erfolg nicht nur von einer
engen Bildungselite erwarten liesse... Also die Bildungselite
muss breiter werden. Der Zugang an höhere Schulen etwas
(immer noch begrenzt) gelockert werden.
Die Schule wird sich in Zukunft weniger darum bemühen,
mehr zu nützen, als weniger zu schaden.
Die Gesellschaftsfähigkeit der Schule insgesamt steht auf dem
Prüfstand. Immer mehr Schülerinnen und Schüler benötigen
Stütz- und Sondermassnahmen. Man spricht von 20 – 50 %.
132
Das sind zu viele. Wenn man von einer Normalverteilung
menschlicher Eigenschaften ausgeht, muss es auch von der
Schule aus möglich sein, diesen Normalitätsbegriff zu
übernehmen. Mit diesem Denkmodell hätten höchstens 15 %
der Schülerinnen grössere und allenfalls überdauernde
Lernschwierigkeiten. Inwieweit man allerdings auch diese als
„normal“ und damit gegeben beziehungsweise durch eigenen
Antrieb veränderbar ansieht und ansehen möchte, hat mehr mit
grundlegenderen Philosophien und davon abgeleiteten
Gesellschaftstheorien zu tun.
Förderalismus124
Metalog: Die Zukunft ist eingekehrt und mit ihr die Beruhigung.
Das Schulsystem hat sich nun zu einem Lernsystem
umgestaltet. Es dient nicht nur der Erziehung und Bildung von
Kindern während einer vorgegebenen Schulzeit, sondern
Schulhäuser wurden zum Zentrum des Quartierlebens und
bieten Bildung mit und für alle an. Schulen und Klassen im
üblichen Sinn gibt es nicht mehr. Es sind eher Lerngärten. Das
Lernangebot,
das
Entdeckungs-,
Gestaltungs-,
und
Entwicklungsfeld steht im Vordergrund. Alte lernen mit Jungen.
Kinder lernen von Kindern. Unterricht existiert natürlich ebenfalls
und ebenfalls existieren Prüfungen. Aber Prüfungen sind
komplexe Aufgabenstellungen mit mehreren Lösungen. Es sind
eigentliche Projektarbeiten – angepasst ans Alter. Sie fordern
Kreativität, Wissen, Flexibilität sowie Ausdauer und soziale
Kontaktfähigkeiten. Unterricht im Sinne von Stoffvermittlung wird
am Morgen gegeben. Es gibt Kurse für Schreiben, Rechnen,
Lesen, Zeichnen, Musik, Geometrie, Biologie usw. auf allen
Fertigkeitsstufen.
Zur
Teilnahme
an
gewissen
Kursen
muss
man
Voraussetzungen erfüllen, andere sind frei. Freie Nachmittage
gibt es nicht. Alle Nachmittage sind belegt durch frei gestaltbare
124
Druckfehler, unfreiwillig die überschiessende, lifestylebetonte Förderwelle
konterkarierend in: Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 142
133
Aktivitäten im Sinne von selbstbestimmtem Lernen. Man kann
eine Grundschule in kürzerer oder längerer Frist durchlaufen.
Jedes Kind darf wählen – selbstverständlich zusammen mit
seinen Eltern und Lehrpersonen, wie es die Lernzeit am besten
gestaltet. Lehrpersonen sind Lernbegleiter, regen an und
beurteilen, geben Rat, helfen und überprüfen. Die Schule der
Zukunft geht von folgenden Grundprinzipien aus:









Lernen erfolgt nach eigenen Wegen. Es gibt verschiedene
Wege und verschiedene Tempi.
Bildung ist ein erforderliches Grundprogramm, erfolgt aber
zugleich interessengeleitet.
Lernen hat keine Grenzen. Grosse lernen von Kleinen.
Kinder von Erwachsenen. (Alters)-Unterschiede beflügeln.
Soziales Lernen ist kein Fach. Schule ist das Lernfeld.
Es gibt klare Regeln und Grundanforderungen. Sie müssen
erfüllt werden.
Alles ist durch individuelle Lernverträge geregelt, welche
auch zur Kooperation anregen.
Prüfungen sind nicht in erster Linie Stoffprüfungen. Es soll
vielmehr eine Art Ritus sein, um in eine nächste Phase zu
gelangen. Prüfungen werden streng gehandhabt. Es gibt
eine Jury.
Die Mitwirkung von Eltern und Kindern an der Gestaltung
von Schule und Bildung ist selbstverständlich und verbrieft.
Es
gibt
keine
Sonderinstitutionen
und
keine
nachhilfeähnlichen Stunden oder Personen, welche sich
delegiert mit Lernschwierigkeiten befassen müssen.
Dadurch, dass individuelle Wege den Grundsatz darstellen,
entfällt der Begriff von Lernschwierigkeiten.
Wer gegen Regeln verstösst, muss Konsequenzen tragen. Er
wird der Schule verwiesen und muss einen Lernvertrag neu
aushandeln, bevor er oder sie wieder aufgenommen wird. Dies
kann aber grundsätzlich unbeschränkt oft geschehen.
Jederman hat Anrecht auf 10 Jahre Beschulung und einen
Abschluss. Man kann aber die Grundschule auch in höchstens
12 Jahren oder wenigstens 8 Jahren durchlaufen. Der
Schuleintritt findet individuell statt und ist ab 3 Jahren möglich.
134
Es wird nicht mehr zwischen verschiedenen Stufen wie
Kindergarten, Unterstufe etc. unterschieden. Natürlich werden
die pädagogischen Mittel und Ziele sowie die Schulzeiten dem
Alter und Entwicklungsstand der Kinder angepasst.
Das Lehrparadigma wird durch das
Lernparadigma ersetzt125.
Es wird der neuen Schule nicht mehr aufgebürdet, als sie kann.
Schule wird nicht mehr als eine Institution angesehen, die
gesellschaftliche Entwicklungen an einzelnen Kindern
korrigieren soll. Insofern als gesellschaftliche Entwicklungen
spürbar sind, werden intelligente Zusammenarbeitsformen und
Feedbackschlaufen eingerichtet, damit auf der politischen, aber
auch auf der Ebene der sozialen Dienste entsprechendes
Wissen, aber auch Handlungsfähigkeit und Zusammenarbeit
entsteht. Das Wichtigste aber ist, dass den Eltern in keinem Fall
die Fähigkeit abgesprochen wird, ihre Kinder zu erziehen. Im
Gegenteil: Sie sind so in die Beschulung eingebunden, dass sie
gestärkt und gefordert werden und gegenseitig auch auf Stufe
der Eltern Lerneffekte möglich gemacht werden.
Die Schule hat auch nicht Betreuungsmängel der Eltern
auszugleichen oder zu ersetzen. Sie kann jedoch aus
pädagogischen Erwägungen Tagesschulangebote setzen,
sodass eine Betreuung von Kindern möglich ist von 7 Uhr
morgens bis 7 Uhr abends. Es soll jedoch unterschieden werden
zwischen Betreuungs- und Unterrichtszeit. Es darf nicht sein,
dass die beiden Aufgaben vermischt werden oder sich gar
gegenseitig behindern. Der Betreuungsteil wird von Eltern
mitgetragen, personell und finanziell.
Pörksen, B.: Vom Lernen zum selbstorganisierten Lernen – zwölf Thesen.
In: Lernende Organisation – Zeitschrift für systemisches Management und
Organisation, Institut für systemisches Coaching und Training, Wien, 25/2005,
S. 26 – 27. Nur unter dem Lehrparadigma hat sich der Diagnose-, Förder- und
Therapiewahn breit machen können. Er ist eine Folge des Systems und dient
nicht primär den Lernenden.
125
135
Epilog: „Was sollte denn der Titel des Kapitels: ‚Bei Flut steigen
alle Schiffe’?“ „Jede Form von Lernangeboten nützt allen und
erreicht alle. Alle profitieren davon.“ „Das ist nicht neu. Das ist
banal.“ „Ja natürlich. Das Wesentliche dabei ist, das Banale zu
anerkennen. Nicht alle Schiffe haben den gleichen Tiefgang. Die
einen sind beladen oder liegen einfach tiefer im Wasser. Die
andern ragen mehr aus dem Wasser. Trotzdem: Bei Flut steigen
alle Schiffe gleichviel – nur die Unterschiede bleiben.“ „Obwohl
alle gleichermassen Lernfortschritte machen, sind die
Unterschiede nicht auszugleichen.“ „Ja, ausser wir wollen, dass
es nur noch eine Schiffssorte gibt, welche nur in einem
einheitlichen Ladezustand verkehren darf...“ „Und was hat das
mit Hänschen zu tun?“ „Man sagt doch: ‚Was Hänschen nicht
lernt, lernt Hans nimmermehr.’ Das bedeutet, dass nur das
gelernt werden kann, was man früh lernt. Oder anders gesagt,
was man jetzt versäumt, wird man später nicht nachholen
können. Eine defaitistische Meinung, die ich bekämpfe. Man
lernt immer. Man kann gar nicht anders. Hänschens Schiff steigt
genau so wie alle andern. Aber es ist nicht die Schule, die die
individuellen Unterschiede ausgleichen muss. Das kann sie gar
nicht. Wenn schon, dann sind es die Lernenden selbst, die
durch Aufladen und Entladen ihre aktuellen Tiefgang ändern
(können).“
Die Effizienz der Bildung
hängt in Zukunft mehr von der „Intensivierung
des Verlernens“ sowie dem „Vergessen des Vergessens“ ab,
als von der Anhäufung des Wissens.
Lernen Null und Lernen I126 haben ausgedient.
Zum „Lernen 0“ und „Lernen I“ vgl. Bateson, G.: Die Ökologie des Geistes,
Suhrkamp, Frankfurt/M, 1981
126
136
137
138
Bombiges Pyramidenspiel Geld
Gemeinschaften zerfallen,
wenn einseitige Geldgeschäfte
den Gabentausch ersetzen.127
Dialog: „Mama, warum wird das Geld immer weniger wert?“
Mama: „Kind, du fragst Sachen.“ Kind: „Du hast gesagt, dass
das Geld immer weniger wert ist. Stimmt das? Ich habe mir
überlegt, dass es dann irgendwann gar nichts mehr sein wird.
Was können wir dann noch kaufen?“ Mama: „Du musst keine
Angst haben. Das wird nicht passieren.“ Kind: „Ich habe keine
Angst. Ich mache mir Gedanken.“ Mama: „Weisst du, das Geld
ist einfach ein Tauschmittel. Der Wert eines Produkts wird durch
den Markt festgelegt. Wenn Nachfrage und Angebot nicht
übereinstimmen, erhöht oder senkt sich der Wert eines
Produkts.“ Kind: „Ist denn der Wert und der Preis das Gleiche?
Weisst du, Mama – wenn der Wert des Geldes immer geringer
wird, dann muss Papa immer mehr Lohn verdienen, damit wir
das Gleiche kaufen können.“ Mama: „Ja Kind. Der Lohn steigt
jedes Jahr. Dafür streiten Gewerkschaften.“ Kind: „Ja, aber
wenn der Lohn jedes Jahr steigt, dann werden die Produkte
teurer und der Wert des Geldes sinkt. – Mama, kann man Geld
kaufen.“ Mama: Ja, man kann Geld auch kaufen.“ Kind: „Dann
ist es aber kein Tauschmittel, dann ist es selbst Ware.“
Antilog: 40 Prozent der durchschnittlichen Konsumentenpreise
bestehen aus Kosten für Zinsen. Das bedeutet, dass die
Konsumenten fast die Hälfte des Preises nicht für die
Herstellung des Produkts bezahlen oder anders gesagt, dass
der „Wert“ des Produkts nur halb so gross ist, wie der Preis, den
sie bezahlen. Warum ist das so? Geld bringt Zinsen. Zinsen
bringt es für jene, die Geld haben. Jene, die Geld brauchen,
bezahlen dafür. Um Fabriken zu bauen und zu betreiben,
braucht man Geld. Auch wenn man das Geld aus dem privaten
Vermögen finanzieren könnte, tut man das nicht – aus
127
Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002, S. 307
139
steuertechnischen Gründen: Schulden machen, lohnt sich
(selbstredend nur für jene, die Geld haben). Also um zu
wirtschaften, holt man sich Geld von der Bank und bezahlt für
das Ausleihen des Geldes. Die Kalkulation für den
Konsumentenpreis des hergestellten Produkts enthält natürlich
auch die Kosten für das geliehene Kapital. So kommt es dazu,
dass Produkte teurer sind, als sie wären.
Eigentlich ist es gut, dass die Menschen der Nation unser
Banken- und Währungssystem nicht verstehen. Würden sie es nämlich
so hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh. (Henry Ford)
Die Zinsmaschine ist eine mathematisch hoch interessante.
Wenn ich im Jahre 0 einen Euro gespart und gegen drei Prozent
Zinsen ausgeliehen, das heisst zur Bank gebracht hätte, um es
für mich arbeiten zu lassen, so wäre dieser Euro lange nicht viel
wert geblieben, obwohl er wie verrückt „gearbeitet“ hat. Plötzlich
hätte er aber seinen Wert sprunghaft bis ins Unermessliche
gesteigert. 2000 Jahre später wäre der Euro auf rund 40
Quadrillionen angewachsen, das ist eine Zahl mit 24 Nullen128.
Ich, beziehungsweise natürlich meine Nachkommen – und es
würde für einige von ihnen reichen, wären mit Abstand die
Reichsten der Welt. Unvorstellbar! Wie ist das möglich? Die
Zinsrechnung verhält sich mit Zins und Zinseszins
exponential129. Ihr Wachstum steigert sich plötzlich sprunghaft
128
Zu Zeiten Barbarossas, etwa um 1200, wäre das ganze Vermögen auf ca.
1 Erdkugel in Gold angewachsen. In der Zwischenzeit würde bereits die ganze
Milchstrasse in Gold nicht mehr ausreichen. Machen wir eine andere
Rechnung, welche mir deshalb glückt, da ich, Baron Münchhausen, ja als
unsterblich gelte: Hätte ich zu einem Lohn von 4 Euro bei einer 40 Std.-Woche
seit dem Jahr Null unserer Zeitrechnung gearbeitet, hätte kein Geld davon
verbraucht und gäbe es andererseits keine Zinsen, so würde mein Vermögen
lediglich auf eine Kugel Gold in der Grösse eines VW Käfers angewachsen
sein – relativ überschaubar im Vergleich. (nach Binn, G.: Die Rolle des
Kapitals bei der Wirtschaftswachstums- und Umweltproblematik, S. 30f in:
Onken, W. (Hg.): Perspektiven einer ökologischen Ökonomie, Gauke,
Lütjenburg, 1992)
129 Exponentielle Kurven kommen in der Natur nur im Zusammenhang mit
Katastrophen vor, z. B. der Entwicklung einer Lawine; solche Entwicklungen
sind aussergewöhnlich und gefährlich. Eine natürliche Wachstumskurve ist
nicht einmal linear, sondern beginnt mit einem relativ steilen Winkel, flacht sich
140
bis ins Unendliche. Verzinstes Geld verschiebt sich so vom
einen zum anderen. Es arbeitet nicht nur, sondern es wuchert
regelrecht. Wer hat, dem wird gegeben. Beziehungsweise, um
genauer zu sein: Wer hat und so tut, als bräuchte er es nicht,
dem geben andere, die es brauchen. Oder um noch genauer zu
sein: Wer hat, und das Geld nicht braucht, der verleiht das Geld,
um etwas produzieren zu lassen, an andere, welche ebenfalls
Geld haben. Die bezahlen ihm Zinsen für das Geld, das er
selbst nicht braucht. Halt, da hat es doch einen Denkfehler drin:
Warum braucht derjenige, der hat, das eigene Geld nicht für
seine Fabrik? Risikoverteilung ist die Antwort. Er will das Risiko
für seine Geschäfte nicht allein tragen. Umgekehrt lässt er am
Erfolg auch andere teilhaben, indem er für das von ihnen
ausgeliehene Kapital Zinsen bezahlt. Das alles wäre so schön
inzuchtmässig, weil das Geld so unter seinesgleichen bleibt. Der
Haken ist erst dort, wo der Konsument das ausgeliehene Geld
zu bezahlen hat. Durchschnittlich bezahlt er für sein Produkt 40
% zu viel.
Das ist aber nicht das eigentliche Problem. Wenn der
Konsumentin das Produkt so viel wert ist und Produkte, die nicht
als eigentliche Luxusprodukte gelten, für alle erschwinglich sind,
so kann die Kalkulation des Herstellers doch egal sein. Nun hier
ist nicht der Ort, uns über Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten
im Welthandel und in der Entwicklungsstufe der Länder der Erde
zu unterhalten. Es geht hier um eine andere Thematik.
Warum gibt es Teuerung? Warum wohl? Wegen der Folgen der
Zinswirtschaft. Sie zwingt uns die Teuerung auf. Damit das
Gleichgewicht wieder hergestellt ist, wird eine Teuerung immer
wieder durch Lohnanstieg kompensiert, den die Gewerkschaften
in
harten
Verhandlungen
erzielen
oder
durch
Gesamtarbeitsverträge garantiert haben. Der Lohnanstieg führt
natürlich wiederum zur Anheizung der Teuerung. Damit die
Maschine Geldwirtschaft nun nicht kollabiert, wird die Sache
nachher ab und bleibt über
Ende zuneigt. (vgl. auch:
Permakultur Publikationen,
sieben Mal und siehe Sie
Prozesse.
längere Zeit auf einem Plateau, bis sie sich zum
Kennedy, M.: Geld ohne Zinsen und Inflation,
Steyerberg, 1990). Verdoppeln Sie ein Prozent
erhalten 100 %. Das nennt man exponentielle
141
ausgeglichen, indem man die Inflation, also die Geldentwertung
einsetzt.
Eine ziemlich gewagte Geschichte, mit ziemlich viel Aufwand für
unterschiedliche Sozialpartner, um einen allzu offensichtlichen
Mangel des Geldsystems auszugleichen: Die Folgen von Zins
und Zinseszins. Ohne dies bräuchte die Wirtschaft kein
Wachstum,
die
Gewerkschaft
keine
jährlichen
Lohnverhandlungen,
die
Wirtschaft
keine
jährliche,
ausschliesslich
strukturell
bedingte
Anpassung
der
Konsumentenpreise, der Staat mit den Nationalbanken keine
entsprechende Anpassung der Geldwerte. Was käme dabei
heraus: Natürlich kein stabiles Korsett des Geldes, das stur auf
alle Veränderungen reagiert, sondern ein dynamisches
Geldsystem, das weniger komplex und damit steuerbarer ist.
Die Ablenkungsmanöver, die durch die Zinswirtschaft und die
Teuerung im Kreise drehen, wären beendet und man könnte
sich ums Wesentliche kümmern, nämlich um die Grundstruktur
des Lohngefüges.
‚Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld’
wird dem Leser, wenn er es nachschlägt, die moralische
Höhe Gesells130 zeigen. (John Maynard Keynes)
Ist es wirklich nötig, dass der Faktor im Lohnunterschied mehr
als 10 beträgt? Das heisst: Ist es wirklich nötig für das
Funktionieren der Gesellschaft, dass ein Manager 20 Millionen
verdient im Jahr (um eine vorsichtige Zahl zu nennen),
währenddessen der Minimallohn bei 40'000 jährlich liegt (um
von einer grosszügigen Annahme auszugehen)? Der Faktor des
Lohnunterschiedes beträgt 500! Mit dem Faktor 10 wäre der
höchste Lohn bei dem erfundenen Minimallohn immer noch
400'000. Ich gehe davon aus, dass dies in jeder Währung,
mindestens der entwickelten Staaten, vollkommen ausreicht und
man grundsätzlich weder mehr verdient (im eigentlichen
130
Gesell, S.: Die natürlich Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld,
Gauke, Lütjenburg, 2004. Siehe auch: Senf, B.: Der Nebel um das Geld.
Gauke, Lütjenburg 2005
142
Wortsinn gemeint), noch grössere Verantwortung131 zu tragen
imstande ist (welche einen höheren Lohn rechtfertigen würde)
und dass auch niemand in der Lage ist, reell mehr Geld zu
sinnvollen Zwecken auszugeben. Man kann sich nicht mehr als
Luxus leisten und man kann nicht mehr als reich sein, wenn das
eine oder das andere oder beides überhaupt als anstrebenswert
betrachtet werden soll.
Wenn man sich nicht immer um die Auswirkungen der sich im
Veitstanz befindlichen Geldsystems kümmern muss, also um
den Bart des Propheten kämpft in Lohnverhandlungen, so
könnte man sich darum kümmern, dafür zu sorgen, dass man
ein Lohngefüge erreicht, das gerechter ist. Sicher, es darf
Lohnunterschiede geben. Es muss Anreize geben, sich in
spezielle Positionen zu begeben. Diese sollen aber reell bleiben
und nichts metaphysisch abstraktes oder gar märchenhaftes
beinhalten oder auslösen. Es gibt sicher Verschiedenstes dabei
zu bedenken, wie Mindestlöhne in unterschiedlichen
Wirtschaftsbereichen festgelegt werden und welche Bedeutung
die Lohnskala überhaupt haben soll, welche Anreize zu
welchem Zweck, mit welchem Ziel vom Minimallohn bis zum
Maximallohn gegeben werden sollen.
Geld macht nicht reich. (Seneca)
Geld soll wieder das werden, was es einmal war: Ein
Repräsentant für etwas, eine Vereinfachung des Tausches,
nicht eine Ware selbst, mit welcher gehandelt werden kann.
Geld bekommt man für eine Leistung, für eine Dienstleistung, für
ein Produkt, für eine Arbeit. Verdienen kann man nicht, indem
man Geld hat und es einsetzt, indem es für einem arbeitet.
Zins wirkt letztlich, wie am Beispiel am Anfang gezeigt,
exponentiell, also explosiv. Die Auswirkungen auf den
Hierin, nämlich in der Logik „höhere Verantwortung rechtfertigt höheren
Lohn“ liegt vielleicht sogar die Hauptfalle in diesen Thema. Wenn Bosse
wirklich die einzigen Verantwortungsträger in einem Betrieb wären, dann
müssten sie sich nicht wundern, dass alle Untergebenen verantwortungslos
handeln würden. Verantwortung kann aber nicht einer Person delegiert
werden. Diese ist auch nicht in der Lage, sie zu tragen.
131
143
Konsumenten, auf den Lohnempfänger, auf die Wirtschaft, auf
die Staaten, auf das Management des Geldsystems sind so,
dass man ständig Stabilisierungsmassnahmen ergreifen muss,
um das System aufrechtzuerhalten, obwohl man eigentlich
weiss, dass es explodieren oder implodieren muss.
Die Schaffung eines Geldes, das sich nicht horten lässt,
würde zur Bildung von Eigentum in anderer
wesentlicherer Form führen. (Albert Einstein)
Wie wäre denn die Summe zustande gekommen, welche sich in
zweitausend Jahren von einem Eurocent angesammelt hätte?
Ähnlich, wie in der Geschichte erzählt, wird vom Erfinder des
Schachs, der vom indischen König, zirka im Jahr 500, eine frei
wählbare Belohnung bekam, da sich der König am Spiel so
ergötzte. Der weise Erfinder des Schachspiels, offensichtlich
auch ein Meister der Mathematik, soll vom König lediglich
gewünscht haben, dass dieser auf das erste Feld des
Schachspiels 1 Reiskorn, auf das zweite Feld des Spiels zwei
Reiskörner, auf das dritte Feld schliesslich 4 Reiskörner legen
solle ... immer das Doppelte bis zum Feld 64. Der König, der
erst böse wurde ob der Bescheidenheit des Weisen, konnte
diesem jedoch den Wunsch schliesslich nicht erfüllen, da es
sich um insgesamt 18'446'744'073'709'551’615 (das sind 18
Trillionen) Reiskörner handeln würde, die es auf der ganzen
Welt nicht gab und nie geben wird.
Intelligenz, Eigentum und Macht verpflichten!132
Diese Summe existiert nicht und würde sie existieren, so müsste
das Geld für meinen Reichtum erstens erwirtschaftet werden,
also müsste zweitens jemand dafür bezahlen, drittens würde
das Geld dort, wo es verdient würde abgezogen und zu mir
transferiert, viertens würde das alles ohne mein Zutun
geschehen, fünftens wäre es vollkommen unmoralisch,
sechstens unmöglich, siebtens aber ist dies genau die Realität
dessen, was mit unserem Geld, mit der Zinswirtschaft geschieht.
132
Wussten Sie, dass sogar gemäss deutschem Grundgesetz Art. 14 Abs. 2
Eigentum verpflichtet?
144
Die einzige Möglichkeit, mir dieses Geld zu bezahlen, bestünde
darin, dass man alle Geldmaschinen der Welt auf Hochtouren
laufen liesse, um mir dieses Geld zu produzieren. Jedoch: Da
dieses Geld keine eigene Wertschöpfung hätte, würde durch die
Geldproduktion das Geld ständig entwertet. Irgendwie ist das
tröstlich, dass man allein durch Liegenlassen des Geldes nicht
zum Eigentümer der ganzen Welt werden kann, andererseits ist
es doch beunruhigend zu sehen, dass die Zinsmaschine letztlich
einem Pyramidenspiel gleicht, das nur so lange funktioniert, als
neue Wertschöpfung (Wachstumszwang der Wirtschaft133) hinter
dem Geld steht. Früher oder später, das ist vorauszusehen,
muss die ganze Sache explodieren, oder sich selbst an der
exponentiellen Entwicklung aufhängen, oder einfach kollabieren.
Das eigentlich Schwierige am Zinssystem und daran, dass Geld
damit zur Handelsware wird, ist, dass es nach dem MatthäusPrinzip134 funktioniert: Wer hat, dem wird gegeben (Wachstum
des Vermögens ohne eigenen Verdienst). Umgekehrt bedeutet
dies: Wer braucht, der muss geben (dafür Zins bezahlen). Da
kann doch etwas Weiteres nicht stimmen.
Solange wir aber die Geldwirtschaft nicht als Problem erkennen,
ist keine ökologische Wende möglich. (Hans Christoph Binswanger)
Was muss in der Produktion von Waren und Werten belohnt
werden? Es müssen Anreize für Initiative und Einsatz gesetzt
werden, für Geld, das in Umlauf gesetzt wird. Es müssen
Anreize dagegen gesetzt werden, dass Geld gehortet wird und
gegen Geld als eigenständige Handelsware. Jenes Geld steht
so dem Kreislauf der Waren nicht zur Verfügung.
Schliesslich macht der Verzicht die Wirtschaft produktiver. Es ist
auch nicht wirklich nötig, für ausgeliehenes Geld eine
Leihgebühr zu bezahlen. Denn beide Seiten profitieren: Die
Geldgeber, weil sie mit ihrem Geld, das sie zu viel haben, etwas
133
Creutz, H.; Suhr, D., Onken, W.: Wachstum bis zur Krise?, Basis, Berlin,
1986; Noth, R.: Wer bezahlt die Rechnung? Die wirklichen Kosten unseres
Wohlstands, Hammer, Wuppertal, 1988
134 Die gute Nachricht, Bibel in heutigem Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft,
Stuttgart, 1982: Matthäusevangelium Kapitel 25, Vers 29
145
Sinnvolles anfangen können, die Geldnehmer, weil sie so ein
Vorhaben realisieren können, wofür sie sonst zu wenig Geld
hätten.
Metalog: Ich stelle mir ein Geldsystem vor, das nicht schon vom
Prinzip her die Reichen (jene, die Geld zur Verfügung stellen
können) immer reicher macht und die Armen (jene, die zu wenig
Geld haben) immer ärmer. Zudem stelle ich mir ein Geldsystem
vor, das nicht durch Zins und Zinseszins eine Dynamik auslöst,
welche die Herstellung und die Waren immer mehr verteuert
und deshalb auf Gedeih und Verderb auf Wachstum
angewiesen ist, um dies auszugleichen. Vor allem bei den
armen Ländern sind ja wegen der Zinslast die Geldströme,
welche mit Unterstützung und Entwicklungshilfe in diese hinein
fliessen, oft deutlich geringer, als jene Gelder, welche
herausgezogen werden: Eine Spirale welche durchbrochen
werden muss.
Das Wachstum der Wirtschaft soll dann und dort stattfinden, wo
ökologisch sinnvoll Produkte hergestellt werden, die der
Menschheit dienen. Wachstum soll aber nicht dazu dienen, der
Zinsspirale immer knapp zu entrinnen und auch nicht dazu, die
für die Erhaltung der Kaufkraft immer höheren Löhne bezahlen
zu können. Löhne sollen in erster Linie aufgrund von Leistung
angepasst werden sowie um mehr Wohlstand bei jetzt tieferen
Löhnen gewährleisten zu können. Dies wäre aber keine irreale
Entwicklung der Löhne, wie sie jetzt vom Grundsatz her abläuft.
Mein Gärtner hat damals vor ca. 60 Jahren für 60'000 ein
Mehrfamilienhaus gekauft, was zirka 3 Jahreslöhnen entsprach.
Das gleiche Haus hat heute einen Wert von 400'000 bis
600'000, was auch heute in der vergleichbaren Lohnkategorie
immer noch zirka 3 bis 5 Jahreslöhnen entspricht. Es hat also
nicht seinen eigenen Wert gesteigert, sondern die Kaufkraft des
Geldes ist zurückgegangen, was durch höhere Zahlen
kompensiert wird.
Eine Wirtschaft und ein Staat, die sich das Prinzip des zinsfreien
umlaufgesicherten
Geldes
zunutze
macht,
hat
Wettbewerbsvorteile, denn die Geldentwertung sinkt – im besten
146
Fall auf null. Je nachdem steigen so die Möglichkeiten für den
Export, wo hingegen die Produkte, welche importiert werden,
eher im Preis steigen werden – wenn man davon ausgeht, dass
nicht gleichzeitig alle oder mehrere Länder dieses Prinzip
anwenden. Damit wird der eigene Binnenmarkt geschützt. Die
Produkte des eigenen Marktes, z. B. Ernährung und Bekleidung,
also die notwendigen Alltagsprodukte, werden durchschnittlich
bis zu 40 % billiger, da der Zinsanteil der Herstellungskosten
wegfällt.
Übereinstimmend mit ökologischen Kriterien, und damit meine
ich nicht nur die Elemente des Begriffs, welche die Natur
betreffen, sondern umfassender, dass die Welt als ein Haus
(Oikos = gr. Haus) gesehen werden muss, auch jene Elemente
der Rücksichtnahme auf Länder mit geringerer Kaufkraft des
Geldes, macht es durchaus Sinn, dass Produkte, vor allem für
den Alltagsgebrauch, welche aus andern und fernen
Wirtschaftsräumen stammen, teurer sind, als jene vom eigenen
Binnenmarkt. Ein Hochpreisland könnte sich gar erlauben,
davon unabhängig die Löhne so zu senken, dass die selbst
hergestellten Produkte erschwinglicher werden. Im gleichen
Atemzug könnte man es sich sogar erlauben, wenn man so
wollte, das ganze Lohngefüge und die dahinter steckende
Philosophie, dass auch die Preise einer Arbeitsstelle dem Markt
unterworfen sind, zu korrigieren135.
Denn ausschliesslich unter dieser Prämisse ist es verständlich,
warum man für bestimmte, weniger beliebte Arbeiten wenig
Lohn bekommt, für jene aber, die beliebt sind, wofür es aber
wenig geeignete Menschen gibt, dafür Unsummen. Das
Lohngefüge muss nicht flatlinig nivelliert werden. Es soll Anreize
geben, sich zu bewähren, so genannt aufzusteigen, sich
weiterzubilden, aber diese sollen sozialverständlich und
sozialverträglich sein. Wenn heute ein Universitätsstudium
offensichtlich so teuer zu stehen kommt, dass der „return of investment“ im Durchschnittsfall während der Lebensarbeitszeit
nicht mehr stattfindet, dann stimmt von einem Marktdenken im
135
Damit diese Idee funktioniert, müsste allerdings noch ein neues System
angewendet werden, wie der Kurswert von Währungen festgelegt wird.
147
ökonomischen Sinn her sowieso einiges nicht mehr. Auch mit
dem Aufsteigen ist es so eine Sache. Spätestens seit dem
Peter-Prinzip136 wissen wir, dass man so lange befördert wird,
wie man als fähig betrachtet wird, bis man auf jenem Stuhl
sitzen bleibt, auf dem man sich nicht mehr so fähig benimmt, um
weiter steigen zu können. Mehr Lohn kriegt man dafür aber
allemal oder mindestens eine tolle Abfindung, wenn man im
gegenseitigen Einvernehmen freigestellt wird. Jede Beförderung
hat zur Folge, dass andere Fähigkeiten benötigt werden, als
jene, aufgrund derer jemand auf der Ebene, aus welcher er
befördert wurde und als fähig betrachtet wurde. Dass es auf
jeder Ebene auch gute und fähige Leute hat, haben wir dem zu
verdanken, dass das Schicksal nicht erbarmungslos zuschlägt.
Neuere Forschungen zeigen, dass jede Chefposition nur so gut
sein kann, wie es ihr gelingt, das Know-how der ihr Anvertrauten
anzuzapfen. Also weshalb um alles in der Welt, wenn der Chef
nur kraft seiner Mitarbeiter gut sein kann, soll er dann immense
Summen verdienen? Ein bisschen Bescheidenheit wäre
angezeigt… Fähigkeit ist eine Systemvariable, ebenso wie
Intelligenz, kein individueller, originärer und universaler
Wesenszug ist.
Geld wird also wieder zu einem Mittel, das den Tausch
erleichtert. Dafür wurde es früher erfunden. Geld selbst ist keine
Ware, die gekauft und verkauft wird. Sie repräsentiert den Wert
der Waren und nichts sonst.
So kann Geld auch nicht selbst „arbeiten“, denn dass Geld
arbeitet, kommt nur Teilen der Bevölkerung zugute. Es
repräsentiert nicht Arbeitsleistung und damit reell erarbeiteten
Verdienst. Gerechtes Geld repräsentiert nur eigentliche
Wertschöpfung und stellt sie nicht virtuell selbst her.
Dass sich mit solchem Geld tatsächlich arbeiten lässt, zeigen
äusserst erfolgreiche Beispiele aus vergangenen Zeiten. Das
bekannteste stellt die österreichische Stadt Wörgl137 dar, die in
der schweren Wirtschaftskrise zwischen dem ersten und dem
136
Peter, L. J.; Hull R.: Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen,
Rowohlt, Reinbek 2003
137 Das Geldwunder von Wörgl: Spiegel Spezial 5 (1996, S. 10
148
zweiten Weltkrieg ein entsprechendes Experiment mit
zinsfreiem,
umlaufgesichertem
Geld
wagte,
das
ausserordentlich erfolgreich war – offensichtlich zu erfolgreich,
denn das Geld von Wörgl wurde am 15. September 1933
verboten.
Solches Geld hätte zur Folge, dass die Abhängigkeit der armen
Staaten von den Reichen reduziert würde, da der
Schuldendienst nicht mehr so schwer drückt.
Solches Geld hätte zur Folge, dass die sozialen Themen wieder
vermehrt unter dem Aspekt Ziele und Ausgleich diskutiert
werden könnten, denn das immer stärkere Auseinanderdriften
von Arm und Reich, solchen mit und ohne Privilegien, ist eine
Zeitbombe, welche entschärft werden muss, bevor sie
explodiert. Wenn man dies auch auf dem Hintergrund einer
Geldreform tun würde, so würde man auch das
zwangswachstumsbestimmte Explodieren des Geldes mit all
seinen spiraligen Folgen im gleichen Streich lösen.
Banken werden selbstverständlich Schwierigkeiten mit dieser
Reform haben. Allerdings zu Unrecht, denn diese Reform führt
nicht zur Abschaffung der Banken, sondern lediglich zur
Veränderung ihrer Tätigkeit. In den Anfängen des Christentums
waren Geldzinsen höchst umstritten und wurden in
Zusammenhang mit Wucher gestellt. Schliesslich liess man der
Zeit ihren Lauf. Hingegen blieb im Islam diese Thematik länger
kontrovers. Offensichtlich gibt es in islamisch dominierten
Ländern trotzdem ein florierendes Bankensystem, denn Geld
geliehen und verliehen, verteilt und umverteilt wird auch dort.
Offensichtlich lässt sich davon auch leben. Eine zinsfreie
Wirtschaft ist also keine Wirtschaft, welche gegen die Banken
gerichtet ist.
Natürlich wäre es in diesem Zusammenhang konsequent, wenn
Spekulationen an Börsen, mit Aktien und ähnliche
Bereicherungsversuche ohne eigentliche Wertschöpfung
ebenso eingeschränkt würden.
Ich gehe davon aus, dass diese Utopie (gr. = kein Ort) nicht für
immer heimatlos bleiben muss, auch wenn es im Moment eher
einer bodenlos brotlosen Erfindung gleicht, dies anzunehmen.
149
Wenn grüne Reiser allein die Kraft haben,
eigene Wurzeln zu schlagen,
warum soll das nicht auch mit Ideen geschehen?
Geld, das dazu dient, Waren, die man zum Leben braucht,
gerecht zu verteilen, ebenso, wie den Reichtum? Warum soll es
das nicht geben? Warum soll es nicht Länder, ja eine Welt
geben, die dies als sehnlichsten Wunsch in die Tat umsetzt und
erst noch profitiert davon, dass dies geschieht? Warum soll es
nicht ArbeitgeberInnen geben, die nicht mehr ständig mehr Lohn
fordern müssen, nur um ihre Kaufkraft für das
Lebensnotwendige zu erhalten und warum eine Wirtschaft,
welche die Preise oder die Produktion zu erhöhen gezwungen
ist, nur um mit dem Wachstum den Wohlstand zu erhalten,
dabei aber die Natur mit Füssen zu treten oder sie gar untertan
machen zu müssen. Die Natur des Menschen lässt viel mehr
Möglichkeiten zu, als wir manchmal für wahr halten mögen.
Übrigens: Wegen der dramatisch hohen Verschuldung
der USA gehören bereits 46 % der Staatspapiere
dem Rest der Welt. Wäre die USA eine Aktiengesellschaft,
wäre die USA nicht mehr weit entfernt davon,
den Besitzer zu wechseln.138
138
Vgl. Goff, S. z.B. auf www.fromthewilderness.com
150
151
152
Demokratur: Herrschaft des Volkes über das Volk
Konsens ohne Zustimmung139.
Dialog: „Mama, Mama, was ist Demokratie?“ Mama:
„Demokratie ist die beste Staatsform.“ Kind: „Wieso die beste?“
Mama: „Das hat mal Churchill, ein englischer Staatsmann,
gesagt. Demokratie ist die beste aller schlechten Staatsformen.“
Kind: „Aber ist sie gut?“ Mama: „Man kann sich keine bessere
vorstellen.“ Kind: „Aber du beantwortest meine Frage nicht.“
Mama: „Du stellst auch schwierige Fragen, die nicht so einfach
zu beantworten sind. Weisst du, man sagt, dass das Bessere
der Feind des Guten ist. Warum wollen wir uns darüber
Gedanken machen, wie man es besser machen könnten, wenn
wir nicht mal wissen ob das, was wir jetzt haben, gut ist?“ Kind:
„Also du weisst auch nicht, ob die Demokratie gut ist! Warum ist
es denn gut, dass die Mehrheit gewinnt. Kann es nicht sein,
dass ein einziger mehr weiss als das ganze Volk? Kann es nicht
sein, dass die Mehrheit gar nicht recht hat? Kann es nicht sein,
dass Meinungen bei Abstimmungen manipuliert werden?
Warum gibt es Abstimmungspropaganda? Darf es sein, dass
man als Minderheit nicht zum Recht kommt, nur weil es eine
Mehrheit gibt?“ Mama: „Ich weiss auf deine Fragen keine
Antworten. Ich weiss nur, dass ich nicht in einer Diktatur leben
möchte.“ Kind: „Ich möchte auch keinen bösen Herrscher
haben, der befehlen kann. Ich möchte nur wissen, ob es hinter
der Demokratie vielleicht noch eine bessere Staatsform gibt.“
Mama: „Weshalb machst du dir so viele Gedanken darüber?“
Kind: „Wir haben in der Religion über Gerechtigkeit gesprochen,
darüber was gut ist und festgestellt, dass vieles nicht genügt. Es
gibt zu viele arme Länder. Wir zerstören unsere Umwelt und
verbrauchen die Ressourcen unserer Zukunft. Wir haben
Probleme mit Fremden, die in unser Land kommen. Wir haben
viele Arbeitslose...“ Mama: „Das sind grosse Probleme. Die
139
So bezeichnet Noam Chomsky heute verbreitete demokratische
Regierungsformen. Mit dem Effekt steigender Politverdrossenheit, -abstinenz
und damit der Erhöhung des Effekts. Chomsky, N.: Profit over People – War
against People. Piper, München, 2006. S. 54ff
153
brauchen Zeit. Das bedeutet nicht, dass die Demokratie nicht
funktioniert.“ Kind: „Aber ich mag nicht warten. Mama, hat denn
in der Demokratie die Mehrheit immer recht? Hat man als
Einzelner nichts zu sagen? Du sagst doch auch immer: Nur, weil
etwas alle tun, muss es noch lange nicht gut sein!“ …
Ein einziger mutiger Mensch
stellt eine Mehrheit dar.
(Andrew Jackson140)
Antilog: Demokratie ist eine Erfindung, die damals eine
brennende Frage neu und revolutionär definierte: Wie kann
Gottes Wille in der Welt umgesetzt werden? Wie kann dafür
gesorgt werden, dass das, was Menschen tun und entscheiden,
Gottes Wille am ehesten entspricht und damit – gottfrei
ausgesprochen – gut ist. Weshalb kamen Philosophen damals,
als es nur die Aristokratie gab, auf den verwegenen Gedanken,
über
so
etwas
Umstürzlerisches
und
Gefährliches
nachzudenken? Man stellte fest, dass das Volk immer weniger
bereit war, die Ungerechtigkeiten, Zwangsabgaben und
Grausamkeiten zu tolerieren, welche Fürsten, Grafen, Kaiser
und Könige für selbstverständlich hielten. Man hatte Verständnis
dafür. Mehr noch, man sah, welche gesellschaftspolitische
Sprengkraft
sich
in
den
unterdrückten
Massen
zusammenbraute. Man musste aber ein Problem lösen. Die
Aristokratie stellte die Stellvertretung Gottes auf der Erde dar.
Sie war in sich gut und damit unangreifbar, weil sie selbst den
Willen Gottes verkörperte. Deshalb war es auch so, dass es
keine Auswahl des Herrschers gab, sondern dass die
Thronfolge an eine auserwählte Familie gebunden war.
Nun erdachten die Philosophen und Theologen eine neue
Theorie, wie das Gute auf der Welt hergestellt, gefunden,
bewahrt und entschieden werden kann. Sie problematisierten
flugs, dass eine einzige Person in der Lage sein könne, den
vollen Willen Gottes zu erfassen. Zweitens konstruierten sie die
140
Andrew Jackson war der 7. Präsident von Amerika. Zit. nach Horx, M.:
Anleitung zum Zukunftsoptimismus. Campus, Frankfurt/M, 2007. S. 262
154
Idee, dass es auch kaum möglich sei, den Willen Gottes
herzustellen durch eine einzige Person, welche das Gute
erkennt, wenn alle andern, also das Volk, dazu nicht in der Lage
wären. Eine Titanenarbeit eines Diktators also oder eine
Sisyphusarbeit eines grossmütigen Geduldsengels. Beides
schien nicht zu funktionieren, umso mehr, als auch die
Philosophen davon ausgingen, dass „Gutes nur durch Gutes“
gewirkt werden kann und dass für alle erkennbar ist, was gut ist.
Nun, wenn also die Herrschaft eines Gottesvertreters entarten
kann, so ist er nicht mehr gotteswürdig und damit geriet
philosophisch die Institution der Aristokratie ins Wanken.
Welche Alternative und damit welcher Ausweg bot sich also an
in dieser schwierigen und verzweifelten Lage? Wie konnte dem
Volk wieder Hoffnung gegeben werden ohne dass das Volk nun
in Selbstherrschaft und Anarchie entartete? Damals, da das
Volk ja nur als Mob, ungebildet und unwissend, roh und
ungestüm, einfach und unselbständig galt, war diese Frage
wesentlich. Die Lösung war: Das Volk selbst, also alle ohne
Unterschied, vertreten Gottes Wille auf der Welt. Nicht alle
gleich viel, aber alle zusammen ergeben schliesslich die Fülle
von Gottes Ratschluss.
Allerdings fehlte in dieser Konstruktion zuerst noch Folgendes:
Man hatte in der dunklen Vergangenheit von der herrschenden
Klasse viel dazu beigetragen, dass das Volk dumm und
dümmlich gehalten werden konnte, indem man ihm die Bildung
weder ermöglichte noch zutraute. Dies musste korrigiert werden,
denn nur solche, die über Vernunft verfügen und die Möglichkeit
besitzen, sich Wissen zu verschaffen, können vernünftig denken
und handeln. Erst Volksbildung ermöglichte Partizipation,
welche eine wichtige Säule der Demokratie darstellt.
So kam es dazu, dass die philosophisch-theologische
Neudefinition zur Entstehung einer Demokratie wesentlich
beigetragen hat. Diese Grundlagen haben vor allem dazu
geführt, dass die Demokratie als Verbesserung angesehen
werden konnte, da dieses Vertretungsmodell von Gottes Willen
und damit dem „Guten“ auf der Erde vertrauenswürdiger
erschien, als sich auf die Launen eines Herrschers, bzw. im
damaligen Ausnahmefall einer Herrscherin zu verlassen.
155
Gleichzeitig wurde diese Theorie jedoch in der französischen
Revolution auch in die Tat umgesetzt. Ihr Motto war: Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine erste Anwendung der
philosophisch-theologischen Grundlagen, die bis heute in ihrer
Einfachheit und Klarheit ihre Gültigkeit nichts eingebüsst hat.
Heute würde man einfach politisch korrekter von
Geschwisterlichkeit sprechen. Man muss aber heute auch
wieder genauer überlegen, was eigentlich damals gemeint war,
denn sonst erfasst man den eigentlichen Sinn nicht.
Freiheit bedeutete in erster Linie Freiheit von Herrschaft,
Geschwisterlichkeit bedeutet, dass man fürsorglich und
altruistisch mit andern umgehen soll und die Gleichheit
bedeutet, dass es nicht solche gibt, welche mehr wert sind oder
mehr zu sagen haben, als andere. Diese drei Forderungen sind
gleichzeitig auch ethische Verpflichtungen. Die Freiheit des
Einzelnen hört bei der Freiheit des andern auf. Die Gleichheit
bedeutet nicht, dass wirklich alle gleich sind, sondern dass trotz
der Vielfalt der Eigenarten und des Potentials kein Mensch vor
dem andern vorgezogen oder aus dem gleichen Grund niedrig
geschätzt werden darf. Sie funktionieren eben nur im
gegenseitigen Dreispiel, wenn alle bereit sind, aufeinander
Rücksicht zu nehmen.
Zünde lieber ein Licht an,
wenn es andern ablöscht.
Damit war die Grundlage der Demokratie gelegt. Und wer will
schon zweifeln daran, dass sie sich bewährt hat und wirklich die
beste aller Staatsformen darstellt? Ist die Demokratie universell
die beste Staatsform? Dann müsste sie überall, in jede Kultur, in
jede Religion und zu jedem Volk passen. Ist die Demokratie
wirklich jene Staatsform, der es gelingt, das „Gute“ auf der Welt
einzufangen, zu behüten und zu pflegen, sodass es sich
vermehrt und zwar zugunsten aller des Landes und zugleich
nicht zuungunsten anderer, welche nicht im gleichen Land
wohnen, auswirkt?
Eine Demokratie, wenn das Prinzip ernst zu nehmen ist, ist
keine Möglichkeit dafür, es sich hinter abgeschotteten Grenzen
in einem umschriebenen Territorium möglichst wohlig
156
einzurichten, denn die Demokratie ist grenzenlos. Es geht um
das Wohl der Menschheit, nicht um dasjenige bestimmter
Länder, bestimmter Rassen, bestimmter Völker oder Nationen.
Das Prinzip besagt, dass die Menschen selbst über ihr Wohl
und Wehe im Rahmen ihrer Vernunft bestimmen können.
Niemand hat davon etwas gesagt, dass es bestimmte Länder
gibt, welche mehr Recht oder Macht haben, als andere. Wenn
dem nicht so wäre, so hätten wir nun das Prinzip der Monarchie
oder Oligarchie (ein Mensch oder wenige beherrschen alle
Menschen in einem Land) ersetzt durch die Aristokratie (edle
und auserwählte Länder herrschen über andere) zwischen
Ländern.
Daran muss die Demokratie gemessen werden. Setzen wir sie
also auf den Prüfstand und warten gespannt auf die Resultate
auf der Anzeige. Dafür werden wir verschiedene Themen
streifen und beleuchten. Am Schluss werden wir im folgernden
Metalog zwar nicht Bilanz ziehen – diese möchte ich der
geneigten Leserschaft überlassen – aber dafür vielleicht einige
lose Ideen, selbstverständlich geschüttelt und nicht gerührt,
präsentieren.
Natürlich
sind
diese
Gedanken
reine
Kopfgeburten, Ausgeburten der Phantasie. Aber vielleicht gibt
der eine oder die andere ihnen Gelegenheit Wurzeln zu fassen
und zu wachsen. Wohlan!
Weise und Alte: Früher gab es den Rat der Alten. Heute gelten
Alte häufig als verknöchert, senil und eigenbrötlerisch. Man
sollte natürlich keine falschen Schlüsse ziehen. Damals, als
man das Alter ehrte, wurden die Leute vielleicht 40 bis in
Ausnahmefällen 60 Jahre alt. Heute würde man dazu sagen,
dass die Menschen im besten Alter sind. Das Alter führt häufig
dazu, dass man beginnt, sich zu beschränken, das Leben en
passant vor dem inneren Auge zu betrachten, und Wichtiges
von Unwichtigem zu unterscheiden beginnt. Natürlich kommen
die Alten in einer so schnelllebigen Welt wie der heutigen nicht
mehr nach. Dies könnte aber gerade ein beachtenswertes
Zeichen darstellen. Weisheit besteht meist aus einer Mischung
von emotionaler Gelassenheit und Filtervorgängen, welche die
Erfahrungen gewichten. Warum sollte eine Staatsform, die sich
gerecht und die Beste nennt, nicht verstärkt von solchen
157
Prozessen genährt und vielleicht gemässigt werden? Natürlich
gibt es auch die Idee, dass „Erfahrung dumm macht141“ und sie
ist nicht von der Hand zu weisen, denn wenn jemand dauernd
immer die gleiche (schlechte) Erfahrung macht, traut er sich, der
Umwelt und dem Schicksal nicht mehr und wird argwöhnisch.
Dies ist keine taugliche Grundlage für die Verbreitung einer
aktiven, zuversichtlichen Stimmung.
Jugend: Die Jugend wurde schon immer kritisiert. Bereits aus
der Zeit der alten Griechen existieren Zitate, welche darauf
hinweisen, dass die Jugend verwerflich, gefährlich usw. sei. Die
Jugend reagiert mit rebellischem Verhalten. Sie nimmt die
Gesellschaft entweder in aktiver Konfrontation aufs Korn, zieht
sich schmollend zurück oder gründet Subkulturen. Was uns
weitgehend nicht gelingt, ist, die darin enthaltene Kritik für die
Gesellschaft nutzbar zu machen. Meist lehnen wir extreme
Verhaltensweisen und Kulturen ab und verpassen damit den
Anschluss. Wir können uns nämlich so oder so nicht gegen die
Stabübergabe zu einem späteren Zeitpunkt an die heutige
Jugend, die dannzumal allerdings bereits schon arriviert ist, zur
Wehr setzen. Sie findet statt. Viele der extremen Vorgänge
stecken in gemässigter Form auch in breiten Kreisen der
Jugend. Wir täten also gut daran, uns vermehrt mit der
Bedeutung und dem Sinn auseinander zu setzen, statt in
Unverständnis, Agonie und Ärger zu versinken.
Den Bock zum Gärtner machen, lohnt sich insbesondere darum,
weil der Bock später sowieso zum Gärtner werden wird.
Heutzutage wird viel unternommen, die Jugend wieder für
politische Themen zu gewinnen. Die angebotenen Formen
(Jugendparlamente, Jugendparteisektionen) sind jedoch meist
jene der Alten und erfassen deshalb vornehmlich jene
Jugendlichen, welche nicht mit Sprengkraft neue Wege gehen.
Natürlich muss nicht jeder jugendlich vorlaute Eiferer zum
Prophet werden und jede Spinnerei und Spintisiererei gleich
zum Volltreffer hochstilisiert werden. Aber die Jugend ist das
Ideenreservoir für die Zukunft. Natürlich sollten wir die Jugend
141
Dt. Filmemacher R. W. Fassbinder, vgl. auch: Jegge, J.: Dummheit ist
lernbar, Zytglogge, Bern, 2002
158
wieder vermehrt auch zu den traditionellen Formen der Politik
wie Abstimmungen und Wahlen (aktiv und passiv) hinführen,
jedoch sind leider diese Vorgänge weit getrennt von jeder
Jugendkultur – seit längerem.
Minderheiten: Die Demokratie ist ein Mehrheitssystem. Wer die
meisten Stimmen hat, kauft, fängt, wirbt oder durch andere
Machenschaften gewinnt, siegt. Das ist gut so, denn wenn es
Möglichkeiten gäbe, wie die Minderheit siegt, so wäre das
unerträglich und es würde bereits wieder etwas nach Oligarchie
(wenige herrschen über viele) schmecken. Aber eben mit dem
Thema Sieg sind wir nicht in der demokratischen Sprache
gelandet, sondern in der martialischen des Kriegs. In der
Demokratie geht es um Einheit und um Konsens. Die Mehrheit
wird deshalb respektiert, weil es eine Art ungeschriebenes
Gesetz gibt, das von einem geteilten Konsens ausgeht. Die
Einigkeit und damit die Zustimmung zu einem Mehrheitsresultat
eines Landes steht nicht auf dem Spiel, solange man bereit ist
Zugeständnisse zu machen. Dazu sollten Minderheiten jedoch
nie zu Verlierern gestempelt werden. Schon gar nicht sollten
Minderheiten verunglimpft werden, welche vom politischen
Prozess formell ausgeschlossen sind oder aus andern Gründen
bereits unterprivilegiert sind. Gerade in einer Demokratie muss
es möglich sein, dass sich Minderheiten bemerkbar machen
können, gehört und nicht ausgegrenzt werden. Viele Nachteile
unserer Gesellschaft sieht man tatsächlich erst aus der Sicht
vom Rand her. Eine gerechte solidarische Gesellschaft nimmt
auf die Mitmenschen am Rand Rücksicht, darf allerdings daran
auch bestimmte Erwartungen knüpfen, was nicht unbedingt in
Richtung von unterwürfiger Dankbarkeit, also Abhängigkeit
gehen sollte. Ideen entstehen meist nicht in einer Eingebung
des kollektiven Unbewussten über Nacht bei einer Mehrheit,
sondern sie schlummern vielfach in den Herzen und Köpfen
Einzelner. Selten ist eine bahnbrechende Entdeckung sofort
bekannt und erkannt worden. Da hat die Demokratie als
Mehrheitensystem noch Nachholbedarf.
Unpopuläre Entscheide: Die politisch Verantwortlichen in der
Exekutive und die Mandatsträger in der Legislative müssen aus
Systemgründen darauf achten, wieder gewählt zu werden oder
159
dies mindestens abwägen. Deshalb ist es häufig so, dass
nötige, wichtige Entscheide nicht gefällt werden, weil sie dem
einen oder anderen wehtun könnten oder zumindest nicht in den
Kram passen würden. Das ist richtig so. Wer hat denn in einer
Demokratie das Sagen? – Wohl das Volk! Das hat aber auch
gewichtige Nachteile. Wenn irgendetwas Einschränkendes aus
guten Gründen beschlossen werden muss, so ist einem doch
das eigene Portemonnaie und der eigene Kittel am nächsten.
Eine Demokratie kann sich also immer nur so langsam und so
schnell bewegen, als sich bestimmte Einsichten im Volk
verbreiten – und das ist manchmal zu langsam, vor allem wenn
es um grundlegende Veränderungen geht, welche zur Erhaltung
des Planeten notwendig und unabdingbar sind und die auch
eine bestimmte Agenda benötigen. Da bräuchte es doch
zusätzliche Entscheidungsprozesse, welche mehr von Vernunft,
Wissen und Daten geprägt sind, als vom Kalkül. Es bräuchte
zusätzliche Meinungsbildungs- und -änderungsprozesse,
welche auch Unliebsames gegen den Willen der schweigenden
oder
aufbegehrenden
Mehrheit
beschliessen
lassen.
Demokratie ist mehr als das Vertreten von Partikular- und
Eigeninteressen, von Füssen, Stimmen, Pfründen unter
gleichzeitiger Einhaltung von Status (quo) und unter Wahrung
des (Besitz)standes.
Wenn Sie etwas verändern wollen –
müssen Sie etwas ändern.
Zukunft: Wenn wir unsere Zukunft in Angriff nehmen wollen,
müssen wir die Demokratie reformieren. Es besteht die Gefahr,
dass die Entwicklungen verschlafen, welche sich auf der Welt
anbahnen und am eigenen Ast sägen, auf welchem uns die
Natur die Aussicht geniessen lässt. Das was ich hier schreibe,
soll alles andere als Panikmache sein. Es ist verständlich, wenn
die Menschen dann insbesondere gegen Einwanderung
rebellieren, wenn von der Wirtschaft nicht mehr genügend
Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden. Es ist verständlich,
wenn die Menschen böse werden, wenn Flüchtlinge die
Gastfreundschaft missbrauchen. Es ist verständlich, wenn man
nicht aufs Auto verzichten will, wenn die Industrie oder der Staat
keine umweltfreundlicheren Transportmittel zur Verfügung stellt.
160
Es ist verständlich, dass Menschen ihren verdienten Wohlstand
nicht einschränken möchte, wenn sie sehen, dass andere im
Luxus prassen. Es ist verständlich, wenn Menschen mit allen
Mitteln um Privilegien kämpfen, umso mehr, als man sie ihnen
nicht gewähren möchte. Es ist verständlich, dass Menschen aus
einer trostlosen Zukunft in ein hoffnungsvolleres Land ziehen
möchten. Es ist verständlich, dass Menschen dann, wenn das
erwählte Migrationsland sich nicht als Paradies herausstellt, in
Agonie verfallen oder sich durch (illegale) Machenschaften
bereichern wollen. Es ist verständlich, wenn die Wirtschaft im
harten Konkurrenzkampf, welcher offensichtlich zur heilsamen
Grundregel des Ökonomismus gehört, ihre Kapitalgeber nicht
verdriessen wollen und deshalb nur insofern an nachhaltiger
Sanierung der Ökobilanz interessiert sind, als andere dazu
gleichermassen verpflichtet werden. Trotzdem bleibt all dies ein
gefährlicher Ritt am Rande des Abgrundes.
Kommunismus: Der Kommunismus war ein später Versuch, das
zweite Mal das zu wagen, was sich mit der französischen
Revolution angebahnt hatte. Eine Reformation, wie Luther sie
mit dem Christentum initiierte. Die Reformation ging schief. Sie
reformierte nicht die Demokratie, gebrandmarkt als
Kapitalismus. Lediglich das zaristische Russland hatte
umsturzhalber Musikgehör. Die Theorie Kommunismus vollzog
nur nochmals auf anderer Grundlage das, was Demokratie
eigentlich bedeutete, nämlich, dass alle Menschen gleich viel
wert sind, dass deshalb niemand mehr verdienen sollte, dass
deshalb niemand mehr Befugnisse haben sollte, dass alles dem
Volk gehören sollte. Nun, weshalb ging der Kommunismus
schief? Nicht etwa wegen der hohen Ziele und Werte, sondern
wegen derer menschenverachtenden Umsetzung. Leider war
der real umgesetzte Kommunismus meist eine Art
Materialismus, der alles, was nicht zählbar war, ablehnte.
Gefühle störten. Leid gab es nicht – nur verordnete
Begeisterung. Aussenseiter durfte es nicht geben – es sei denn
als psychiatrisch diagnostizierte staatsfeindliche Elemente. Der
Kommunismus zerbrach an seinem Menschenbild, das das
Gegenteil dessen war, was die eigentliche Botschaft darstellte.
Alles musste verwaltet und versorgt werden, alles musste
geplant werden. Da alles stimmen musste, musste vieles
161
geradegebogen werden, was krumm war. Dazu brauchte es die
verborgene Ebene. Man wollte ja das Volk nicht betrügen, also
liess man das Volk von den Machenschaften nichts wissen. Die
Parteilinie war rigide: Eine Meinung und das bittschön mit
wehenden Fahnen. Dissidenten und Kritiker waren Staatsfeinde,
obwohl vielleicht der Kommunismus tatsächlich erfolgreich hätte
werden können, wenn er von seinen Kritikern gelernt hätte, statt
sie in Gulags zu stecken. Am allertollwütigsten jedoch war das
Abschotten der Grenzen, wie Klostermauern gegen die böse
Welt. Eigentlich hätte ja dies dazu dienen sollen, dass niemand
aus dem bösen kapitalistisch ignoranten Umland in die Freiheit
des Kommunismus hätte kommen können. Es war aber
umgekehrt, schliesslich die Einkerkerung der Sträflinge.
Niemand ist frei, ausser er ist im Kommunismus eingesperrt.
Alles Gehabe des Kommunismus diente dazu, selbstherrlich
Wahrheiten aufstellen zu können, ohne dass jemand das Recht
darauf besass, diese einer Nagelprobe zu unterziehen.
Abschliessend ist nur zu fragen: Wem traute der Kommunismus
weniger: Den Menschen, die er vom Joch befreien wollte oder
der befreienden Botschaft, die er vertrat? Man wird es nie
wissen.
Der Hauptfehler von Marx war,
dass er den Kapitalismus eigentlich gar nicht ändern,
sondern nur dem Staat übergeben wollte. (Michael Ende)
Nun, worauf ich hinaus will. Eifrig ging man daran, von westlichkapitalistisch-demokratischer Seite, nach dem Zusammenbruch
des real existierenden Kommunismus, dies als Überlegenheit
und Endsieg des westlichen Systems über den Feind
darzustellen. Einverstanden: Statt menschenfreundlicher
Systeme hat der Kommunismus fast nur heuchlerische
Diktaturen erschaffen. Die Idee, meine Damen und Herren, ist
aber mit der schlechten Ausführung nicht gestorben und
beerdigt. So einfach geht das nicht. Kommunistischökonomisch-philosophisch-soziologische Elemente sind längst
selbst zu einem Teil unserer Kultur geworden, aber immer noch
suspekt. Es ginge darum, das Prinzip des Gleichvielwertseins in
einer universaleren Dimension mit unserer demokratischkapitalistischen Welt zu verschmelzen, ohne die Vorteile
162
unseres Gesellschaftssystems aufzugeben. Man soll doch nicht
bei lautem Siegesgebrüll die leisen Töne des Kindes, das man
mit dem Bad ausschüttet, überhören.
Gelebte Demokratie … schafft Macht142.
Befreiungstheologie: Die Bewegung der Befreiungstheologie
wurde vom Machtapparat der katholischen Kirche unterdrückt –
oder zumindest deren Sprachrohre zu leiseren Tönen ermuntert,
was etwa denselben Effekt hat. Was wollte diese Bewegung?
Etwas, was uns in unseren Ländern sehr gefallen würde und
was zugleich Not täte: Selbstverantwortung. Mit Hilfe religiöser
Bilder gab sie in erster Linie der armen, Not leidenden
Bevölkerung die Würde zurück, zeigte ihnen, dass weder Armut
noch Not Schicksal oder gottgewollt sei. Gab ihnen Selbstwert.
Zeigte ihnen gar, etwas überhöht, dass ja sogar ihr religiös
bewunderter Retter geschmäht wurde, leiden musste, dass er
von der herrschenden Klasse als Umstürzler abserviert wurde.
Diese Geschichten gaben den Armen und Notleidenden in
Lateinamerika Mut und Hoffnung. Wir können etwas zur
Verbesserung unserer Lage tun. Wir haben Fähigkeiten. Wir
sind jemand.
Wer sagt in unseren Landen solches? Die Kirche hat zu wenig
Kraft dazu. Der Staat zeigt, dass die Sozialhilfeempfänger, egal
welcher Provenienz, ihm eine Last sind. Es müsste doch
möglich sein, gerade jenen, welche unter ihrer Randständigkeit
leiden, eine Heilsgeschichte zu erzählen, welche vielleicht nicht
unbedingt religiös sein muss. Es könnten auch solche z. B. von
einem Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen –
142
Lappé, F. M.: Was für eine Art von Demokratie? S. -283-336 In: Girardet,
H. (Hg.): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos, eva, Hamburg,
2007, S. 292. Er führt dazu aus: In diesem Sinne schafft die gelebte
Demokratie Macht (power), indem sie mehr Menschen in die Lage versetzt,
gemäss ihren Wertvorstellungen und Interessen zu handeln. (a. a. O.)
Wohlgemerkt: Dahinter steckt genau die Feststellung, dass eine
Hauptproblematik der heutigen Demokratie darin steckt, dass sie eine
sogenannte magere Demokratie darstellt, weil die konkrete Ausgestaltung
meist zur Zunahme privater Macht durch Machtkonzentration führt. Dies ist
selbstverständlich demokratiefeindlich.
163
ach, das bin ja ich – sein. Warum nicht eine Heilsgeschichte, an
der man sich wie am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf
herausziehen kann. Man kann etwas tun. In jeder Situation. Um
die Lage zu verbessern. Man kann das tun, wenn man das
Gefühl hat, man sei aus eigener Schuld in die missliche Lage
geraten oder wegen andern. Man kann etwas tun, unabhängig
davon, ob man die Lage als Strafe oder als Prüfung des
Schicksals betrachtet. Ein bisschen davon täte unserer
Gesellschaft gut. Wir versorgen zwar in der Regel die
„Armengenössigen“, wie man etwas beschönigend aber
gleichzeitig leicht säuerlich sagt, bestens, tun aber gleichzeitig
wenig dafür, dass sie bis zum 1001. Versuch sich aus der
Notlage zu befreien den Mut und die Würde nicht verlieren und
dann, wenn die Zeit gekommen ist, den nötigen Eifer, die
Sicherheit und die Kraft dafür aufbringen können. Hat dies
vielleicht sogar System?
Möglicherweise könnte hier das Konzept „Beratung im
Zwangskontext143“ und Einsatz von Gemeinwesenarbeit etwas
dazu beitragen, dass die Demokratie nicht nur „belastet“ wird
und sich auch so erlebt, sondern zugleich sich entlasten kann,
als auch verschüttete Hoffnung wieder in Eigenaktivität
ummünzen kann.
Freiheit: Der Begriff der Freiheit wird heute in der
staatspolitischen
Diskussion
häufig
in
pervertiertem
Zusammenhang
verwendet.
Das
Gemeinwesen,
die
Gesellschaft, der Staat soll durch Deregulation und
Privatisierung dafür sorgen, dass jedeR tun und lassen kann,
wie ihm beliebt. Freiheit wird zum egoistischen Selbstzweck.
Wenn wir auf die Ursprünge des demokratischen
Freiheitsbegriffs zurückgehen, so war dieser im Zusammenhang
mit der Befreiung von Herrschaft gemeint und trug zugleich auch
die Verbindlichkeit in sich. Freiheit kann nie grenzenlos sein.
Dort wo die Freiheit des andern beginnt, dort hört meine Freiheit
Conen, M.-L.: „Unfreiwilligkeit“ – ein Lösungsverhalten, Familiendynamik,
1999, 3, S. 282-297; dieser und weitere Artikel sind auch im Internet abrufbar
unter: http://www.context-conen.de/artikel/. Der Beratungskontrakt besteht im
Wesentlichen in der Frage: Wie können wir dafür sorgen, dass Sie mich wieder
loswerden?
143
164
auf. Freiheit lässt sich also nur sinnvoll im Rahmen einer
ethischen Gesamtschau definieren. Freiheit um jeden Preis gibt
es nicht zu haben – auch auf dem freien Markt nicht. Heute
scheint es so, dass man sich eben gerade nicht durch die
andern einschränken lassen will und schon gar nicht durch ein
unpersönliches Gebilde wie ein Gemeinwesen. Demokratie
verspricht scheinbar Freiheit. Es ist aber nicht die „Freiheit, die
ich meine144“.
Fremde: Früher riefen wir Fremde als Arbeitskräfte in unsere
Länder. Heute kommen sie von selbst. Sie kommen in Scharen,
einzeln und in kleinen Gruppen, bitten um Aufenthalt, um
Aufnahme, um Arbeit, um Schutz und sind doch nicht glücklich,
fühlen sich doch fremd und heimatlos. Wir haben etwas in Gang
gesetzt, dessen wir nun immer stärker überdrüssig erscheinen.
Wir diskutieren darüber, Grenzen zu verschärfen und
verstricken uns in ein Dilemma, da aus anderen Gründen die
Grenzen aufgehoben werden sollen. Wir fordern vermehrte
Integration, setzen aber eher Zeichen der Versorgung, als der
Eigeninitiative. Mir scheinen die Bestrebungen diesbezüglich
höchst eigenartig zu sein und auf Misstrauen uns und den
Fremden gegenüber zu basieren: Wir wollen eigentlich die
Integration gar nicht wirklich und gehen zugleich davon aus,
dass auch die Fremden, die Integration entweder nicht wollen
oder dazu nicht in der Lage sind. Damit sind Erwartungen
gesetzt, die so zwiespältig erscheinen, dass sie niemand
erfüllen kann, auch wenn er/sie noch so wollte.
Woher kommt das? Wir, das Volk, sind uns nicht einig, was wir
wirklich wollen! Wollen wir, dass niemand die Grenzen mehr
überwindet? Wollen wir, dass nur Bestimmte hinein dürfen?
Wollen wir, dass jene, die kommen, hier bleiben oder wieder
gehen?
144
In Anlehnung an ein deutsches Volkslied; Text von Max Schenkendorf
(1818); Melodie von Karl Gross. 1. Strophe: „Freiheit, die ich meine, die mein
Herz erfüllt, komm mit deinem Scheine, süsses Engelsbild! Magst du nie dich
zeigen der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen nur am Sternenzelt?“ (Ob
es sich allerdings dabei um die Freiheit handelt, die ich meine? Auf jeden Fall
– die Sehnsucht, die ist gross.)
165
Wollen wir, dass Fremde bei uns arbeiten und für ihren
Lebensunterhalt aufkommen oder wollen wir, dass sie uns das
bisschen Arbeit, das noch für uns übrig bleibt, nicht auch noch
wegnehmen? Wollen wir Fremde aus humanitären Gründen
aufnehmen oder „benötigen“ wir sie aus wirtschaftlichen
Gründen? Die Fragen werden zwar diskutiert, meist aber
emotionalisiert, rechthaberisch, mit wenig Sachlichkeit, Faktizität
und klarer Zielvorstellung. Mehrheiten lassen sich so nur zufällig
überzeugen. Einmal so, einmal so. Populistische Argumente
haben häufig Tiradencharakter, die Gegenargumente hingegen
gleichen Schalmaientönen.
Die Themen gehen bis an die existentiell-emotionale
Schmerzgrenze, bis zur ethischen Fragwürdigkeit: Werden wir
durch Überfremdung ausgerottet? Hat Darwin überhaupt recht?
– Und wer verdient es dann, als „fittest145“ mit dem „survival“
belohnt zu werden?
Wir können das Thema auch anders beleuchten: Wenn wir uns
nach aussen mit attraktiven Begriffen schmücken wie
Wirtschaftswachstum, Humanität, Wohlstand, Demokratie,
Toleranz, Sicherheit, so müssen wir uns über die ausgelöste
Attraktivität (Anziehung) nicht wundern. Wieso soll jemand, dem
es aus diversen Gründen schlecht geht, nicht auf den Gedanken
kommen, er könnte in einem attraktiveren Land nicht bessere
Zukunftschancen haben? Warum sollte jemand, dem die
Trostlosigkeit des Daseins so in die Knochen fährt, nicht ein
Wagnis eingehen, bei welchem er nichts zu verlieren hat, auch
wenn seine überhöhten Phantasien nur ein Trugbild darstellen?
145
Darwin, Ch.: The Origin of Species, Wordsworth Edition, 1998. Darwin
meinte mit dem „Survival of the fittest“ nicht das Überleben der Schnellsten,
der Besten, der Grössten, der Mutigsten, der Mächtigsten, sondern der
ausdauernd Anpassungsfähigsten. (oder wie es etwas neuer und komplexer
eingeordnet wir: Dasjenige, dessen Beziehung zwischen Nische und Art sich
am stabilsten erweist.) Nun bleibt nur noch die Frage offen: Wer sich woran
anpassen muss – die Realität dem Menschen oder der Mensch der Realität,
wobei wir bei der Frage sind, was Realität ist und gleich auch die Antwort dafür
haben, weshalb diese Fragen nicht trivial sind. Sie drehen sich im Kreise, sind
zirkulär.
166
Unsere Demokratie hat sich in dieser Thematik zu bewähren.
Sie muss zeigen, ob sie das ist, was sie vorgibt. Es geht um die
Universalität des Demokratieprinzips zwischen den Ländern und
Völkern. Es geht darum, dass Demokratie auf Partizipation
aufbaut, dies aber deshalb auch zu den Pflichten aller
Bürgerinnen gehört. Es geht darum zu prüfen, ob „Bürger“ und
„Aufenthalter“ die gleichen Pflichten, aber andere Rechte haben
und ob dies die erwünschte Wirkung zeitigt oder zumindest
unterstützt. Dazu muss aber die Demokratie es schaffen, aus
dem Teufelskreis der Suche nach dem Sündenbock
auszubrechen und auf die progressive Idee der Lösung
umschwenken, denn Suchen und Finden sind zwei
verschiedene Tätigkeiten. Das eine kann ewig dauern.
Währenddessen wird sich die Situation jedoch bedeutend
komplizieren.
Träume
und
Vokabeln:
Amerika
war
lange
das
Einwanderungsland par excellence. Amerika machte dies
ausserordentlich geschickt. Es präsentierte sich als Land der
ungehinderten Freiheit (eine Illusion, die es sich zuerst aufgrund
der geografischen Weite lange leisten konnte), ein Land, wo
alles möglich ist und ein Land, das jede Person willkommen
heisst, unabhängig davon, welchen Standes, welcher Rasse
und welcher Herkunft sie sei. Dieser Traum machte im
eigentlichen Wortsinn und dessen Folgen Amerika attraktiv. Der
amerikanische Traum wirkte so anziehend, dass es eine
absolute Selbstverständlichkeit war, dass jeder Immigrant zuerst
und zumeist ein besserer Amerikaner werden wollte, ohne dass
man dies explizit von ihm verlangen musste.
Die Aussicht auf Erfolg und Aufstieg oder Reichtum wirkte wie
eine Self-Fulfilling-Prophecy146 – ein Selbstläufer. Viele brachen
146
Dieser Effekt wird auch als Pygmalion-Effekt (Rosenthal-, Placebo-Effekt;
dieser Effekt wird mittlerweile auch in der Physik diskutiert) bezeichnet.
Pygmalion verliebte sich so in eine Statue, dass diese für ihn zum Leben
erweckt wurde. Der Effekt wurde im schulischen Zusammenhang erstmals
erforscht von Rosenthal und Jacobson. Nach einem Klassentest wurden den
Lehrkräften willkürlich bestimmte Resultate über die Leistungsfähigkeit der
Schüler und Schülerinnen mitgeteilt. Und siehe da: Die als intelligent
bezeichneten wurden „intelligenter“, jene als weniger intelligent bezeichneten
167
aus und auf. Amerika wurde (auf Kosten der Urbevölkerung)
bevölkert und umso mehr Erfolgsgeschichten es verbreitete,
umso attraktiver wurde es. Das Ziel Amerikanerin zu werden
wurde billig feilgehalten. Nach wenigen Jahren konnte man den
amerikanischen Pass erhalten.
Man war, wie dies heute vielfach ausgelegt wird, nicht nur
äusserlich Einwohner des Staates, sondern hatte innerlich
Heimat gewonnen und Wurzeln geschlagen – der Pass als
Ausdruck einer tiefen emotionalen Bindung. Amerika hat es
gelernt, in einem Volk Erfolgsdenken so zu verankern, dass
Kritik und Hinterfragen des Traums obsolet oder verpönt waren
und sind. „Man ist glücklich und ok“ als vernebelnd-glückselige
Volksdroge, mit einem leichten Schuss Überheblichkeit
verabreicht, welche zugleich den Gesinnungspreis darstellt.
Eines ist klar. Amerika ist ein Erfolgmodell, so stark, dass viele
davon träumen, fast alles Amerika nachzumachen, was geht
(und Geld bringt). Nun: Wenn Amerika dank der Einwanderung
und Integration von Fremden zu einem Erfolgsmodell wurde,
und es sind beileibe nicht nur Qualifizierte gekommen, sondern
offensichtlich viele Tellerwäscher, dann warum in aller Welt
meint man im „alten Europa“ (Entschuldigung, Herr Rumsfeld),
dass Immigration das Ende eines Landes oder zumindest eine
Bedrohung darstellt?
Was ist besser: Autonomie: Selbstverantwortung
oder Heteronomie: Fremdbestimmung
– die andern sind schuld?
Neuerdings behaupten Berufene in plausibler Darstellung, das
Amerika ein Auslauftraummodell sei147. Im Kommen sei
hingegen Europa! Das hören wir gerne. Was macht nun plötzlich
wurden „dümmer“. Wir stellen her, was wir erwarten, auch wenn wir meinen,
dass wir nur beurteilen. Erwartungen, die wir an andere Personen haben,
können im sozialen Miteinander dazu führen, dass am Ende genau das eintritt,
was wir von anderen erwartet haben. Bedenkenswert und bedenklich
insbesondere im Zusammenhang mit Sozialfürsorge und Ausländerthematik.
Wir stellen möglicherweise ständig zuerst das her, was wir anschliessend
bekämpfen. Das kann teuer werden und vor allem lange andauern. Rosenthal,
R; Jacobson, L.: Pygmalion im Unterricht. Beltz, Weinheim, 1983
147 Rifkin, J.: Der europäische Traum, Campus, Frankfurt/M, 2004
168
Europa zum Erfolgsmodell? Die Idee, vom territorialen
Landesmodell abzukommen, eine Idee zu gebären, welche viel
von einem Vereinsmodell hat: Jedes Land, das unsere Ethik
annimmt, kann auch teilnehmen an unserem Markt und am
friedlichen Zusammenleben. Europa kann sich ohne
Territorialanspruch über die ganze Welt als Idee verbreiten.
Dazu braucht es keine Eroberung, keine Kriege, sondern
lediglich die Überzeugung, dass Menschlichkeit in aller
Dimension der Bedeutung erfolgreich ist. Europa kann also nicht
nur von Amerika lernen, womit wir uns in der Vergangenheit
abmüssigten, sondern neuerdings auch von Europa selbst, aber
das ist noch nicht alles. Wir können noch viel mehr lernen, von
Russland, bzw. der ehemaligen Sowjetunion zum Beispiel. So,
wie eine zentrale Idee des dritten Reichs, leicht vereinfacht und
mit ironisierendem Unterton präsentiert „Vollbeschäftigung um
jeden Preis“ auch nach dem Zusammenbruch überlebt hat, so
muss auch die zentrale Botschaft des Kommunismus nicht mit
dem Zusammenbruch des Territorialreiches gestorben sein
„Gleichheit verpflichtet“. Um gut zu sein, zu werden und zu
bleiben, muss man auch in der Lage sein, aus schlechten
Erfahrungen zu lernen. Europa kann das. Es ist der Phönix aus
der Asche. Auch von so genannt gottesstaatlichen Ländern,
obwohl sie wahrlich in der real existierenden Form kein
Erfolgsmodell darstellen, lässt sich lernen. Wäre es nicht toll,
wenn Ethos148 wirklich weltumspannend zur eigentlichen
Triebkraft der Menschheit würde und nicht wirtschaftlicher und
politischer Opportunismus allein? Schliesslich lässt sich von den
so bezeichneten Entwicklungsländern lernen149. Es steckt schon
im Begriff, den wir nur leicht ändern müssen, indem wir die
despektierliche Konnotation entfernen. Es handelt sich um
148
Küng, H.: Projekt Weltethos, Piper, 1990. Das Projekt Weltethos orientiert
sich an 4 Verpflichtungen, nämlich: zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit, einer
Kultur der Solidarität und Gerechtigkeit, einer Kultur der Toleranz sowie einer
Kultur der Gleichberechtigung. Das Parlament der Weltreligionen plädiert für
„eine Umkehr der Herzen. Gemeinsam können wir Berge versetzen.“
Erklärung zum Weltethos. www. weltethos.org S. 15 Vgl. auch Charta der
Weltethik. www. charta-der-weltethik.de
149 Burton, M.; Kagan, C.: Liberation Psychology: Learning from Latin America.
In: Journal of Community and Applied Social Psychology 15/1, 2005, S. 63-78
169
entwicklungsfähige Länder. Sie können noch Ziele anstreben –
wenn sie nicht nur westliche Assimilation suchen – welche aus
ihrer Kultur entstehen und völlig neue Möglichkeiten offenbaren.
Bescheidenheit,
Improvisationstalent,
(notgedrungene)
Genügsamkeit,
Ressourcen
schonende
handwerkliche
Produktion, Konzentration aufs Lebensnotwendige.
Die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“150, mag ein
Element davon anklingen lassen: Kurz zusammengefasst
beschreibt Heinrich Böll hier eine zirkuläre Geschichte. Der
Anfang ist gleich wie das Ende. Ein Tourist macht einen am
Strand dösenden Fischer darauf aufmerksam, wie der Fischer
grösseren Fang einbringen könnte, wie er darauf eine
wachsende Firma gründen könnte, sodass er schliesslich zum
Chef eines Fischerei- und Reedereimperiums avancieren würde.
"Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten
Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf
das herrliche Meer blicken." "Aber das tu' ich ja schon jetzt",
sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, …." So
das Ende dieser Geschichte.
Partizipation: Demokratie lebt von der Beteiligung des Volkes, ja
vom Leben und Zusammenleben des Volkes. Dies ist
sozusagen der Lebensnerv. In der Postmoderne haben die
traditionellen
Beteiligungsformen
(Parteien,
Wahlen,
Abstimmungen) bei Vielen an Anziehungskraft verloren. Nicht
etwa
die
Äusserungsvielfalt,
die
Gedanken
sind
zurückgegangen, sondern nur jene, welche sich in den
traditionellen Formen wohl fühlen. Die Demokratie aber tut sich
schwer damit. Sie beklagt die zunehmende Abstinenz und
Gleichgültigkeit, hat aber dabei selbst den Anschluss an die
Entwicklung verpasst. Wenn das Hörrohr fehlt, kann man aber
nicht mehr Demokratie machen. Es wird daraus eine
Gesellschaft nach dem Vorbild „unter den Blinden ist der
150
Böll, H.: Werke, Band: Romane und Erzählungen 4, 1961-1970, Anekdote
zur Senkung der Arbeitsmoral, S. 267-269. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln
170
einäugige König“ oder „wer nicht hören kann, muss fühlen“ Statt
Demokratie nur noch Idiosynkrasie151 und Majokratie152.
Die Institutionalisierung von Werten
lässt die Werte verkümmern (Ivan Illich)
Werte: In der Demokratie der Postmoderne gilt der Pluralismus.
Alles ist erlaubt und weil alles erlaubt ist, ist grundsätzlich alles
möglich, nichts verwerflich. Es kommt lediglich auf die Position
darauf an, ob etwas einem eher entgegenkommt oder man sich
distanziert, ob etwas passt oder nicht passt. Pluralismus: Jede
Meinung, und sei sie auf den ersten Blick noch so abwegig, wird
angenommen, geprüft, abgewogen, „die guten ins Kröpfchen,
die schlechten ins Töpfchen“. Toleranz wird grossgeschrieben
und eingeübt. Im Pluralismus herrscht Goldgräberstimmung. Es
könnte ja sein, dass…!? Demokratisch folgerichtig dabei ist:
Jede Meinung ist wichtig, jede Äusserung zählt, Gedanken sind
frei. Die Gefahr dabei ist, dass wir in Beliebigkeit verfallen, alles,
was machbar und denkbar ist, gelten lassen, Toleranz üben, um
des Respekts willen. Natürlich wird damit nicht einfach alles
gleichermassen von allen Seiten Wert geschätzt, aber jede
Seite ist in der Lage, Strömungen, Moden, Gedanken und
Interessen opportunistisch für ihre Zwecke und ihre Interessen
zu benützen, zu instrumentalisieren und löst dabei gleich den
Entrüstungssturm im anderen Lager aus. Gerade in einer Zeit,
wo Nützlichkeit Thema ist, Toleranz wegen der Meinungsvielfalt
und der Gedankenfreiheit zum Grundwerkzeug des
Zusammenlebens gehören muss, kann es doch nicht sein, dass
die Metaebene der Werte ganz verloren geht und die
Meinungsvielfalt statt dem dynamischen Konsens zum Prinzip
erhoben wird. Die ethische Diskussion, die Diskussion über Sinn
ist umso zentraler, je toleranter die Gesellschaft Gott sei Dank
wird. Toleranz ist kein Ziel, kein Selbstzweck, sondern ein Mittel,
Werte gemeinsam aufzubauen. So ist die Grundlage der Einheit
151
Idiosynkrasie: gr. idios, synkrasis, Eigenmischung, eine Art
Selbstaufschaukelung durch innere Reize, ein eitles Drehen um sich selbst;
schlimmstenfalls eine Selbstbeweihräucherung
152 Majokratie hat nichts mit Mayonnaise zu tun, vielmehr aber mit dem
lateinischen maior: grösser, mehr. Es bedeutet: die Herrschaft der Mehrheit.
171
der Menschheit Verständnis und hohe Werte. Wir haben
zugunsten der Toleranz die Einheit, den Konsens auf „höherer“
Ebene strapaziert, wenn nicht fallen gelassen. Wir haben
Nachholbedarf. Dass diese Ebene von Menschen auch als Halt
gewünscht ist, zeigt – nach dem anhaltenden Kirchenschwund –
die Zunahme der Faszination durch allerlei Bewegungen, seien
sie esoterisch, metaphysisch, heilsversprechend oder einfach
beruhigend, sinnstiftend oder in anderer Form ermutigend oder
aufmunternd. Realpolitik allein kann keinen Sinn schaffen.
Parteien: Was ärgere ich mich über Parteiengeplänkel, über
Gehässigkeiten, über Misstrauen, über schlechte Manieren. Es
scheint, als ob die Parteien die Hauptaufgabe hätten, der
andern Seite beizubringen (übrigens schön, dass das Ganze ja
immer noch auf einem eindimensionalen Kontinuum von links
bis rechts stattfindet, was es erleichtert, immer genau zu wissen,
wer der wahre Gegner ist), wie falsch, gefährlich und abstrus
ihre Meinung sei. Aus Prinzip wird jemandem aus dem andern
Lager misstraut. Lösungen kommen nicht zustande, weil es
Parteien und damit fixe Ideologien gibt. Parteien wären doch
wohl dazu da, bestimmte Werte hochzuhalten, welche, wenn sie
nicht gleichzeitig mit Füssen getreten werden sollen, auch auf
dem Weg dorthin zu beachten sind. Parteien hätten doch die
Aufgabe Menschen- und Ideenpools zu sein, damit öffentliche
Diskussionen in Gang kommen. Die öffentlichen Diskussionen
sollten nicht schon durch Kampagnen seitens der Parteien
„vorentschieden“ sein, denn sonst ist eine Diskussion nicht mehr
möglich, sondern nur noch gegenseitige Rechthaberei.
Manchmal werde ich den Eindruck nicht los, dass Parteien dem
Volk gar nicht trauen, obwohl das Volk ja, wie immer betont
wird, der eigentliche Souverän darstellt. Warum wohl muss man
dümmliche Propaganda machen, warum wohl bis zur
Schmerzgrenze pointieren: Das Volk versteht es sonst nicht.
Aha!
Ein grosser Staat regiert sich nicht
nach Parteiansichten. (Otto von Bismarck)
Vergessen wir doch nicht, dass Propaganda noch nie dazu
gedient hat, sondern immer schon für Interessenvertretung,
manchmal sogar zur Verschleierung da war. Kann denn ein
172
Gespräch mit dem Volk nicht sachlich sein, nur schon dazu,
dass das liebe Volk begreift, dass es nicht um Rechthaben
sondern um die Sache geht? Kann denn eine Partei, egal
welcher couleur, nur schon deshalb eine böse und grundfalsche
Idee vertreten, weil sie aus einem andern Lager kommt? Muss
denn Opposition gleich Hetze sein? Es wäre doch schön, wenn
Parteien Ideengeneratoren wären und nicht engstirnige
Ideologiebonzenhochburgen. Dann käme vielleicht auch mal
etwas Neues heraus dabei. Vielleicht würden verbindende Töne
auch eher betonen, dass wir ja nicht so viel Welten haben, wie
es Parteien gibt, sondern nur eine und dass es in der
Demokratie um Einigkeit und nicht um rechthaberische Macht
geht. Vielleicht hätten Parteien wieder Zulauf, wenn es wieder
um gemeinsames Wahrnehmen von Verantwortung ginge, um
Sorgfalt. Es zeigt sich ja auch, dass das eindimensionale
Parteikontinuum nicht mehr taugt, wenn es um mehrschichtige
Themen geht. Etwas mehr Dimensionen könnten nicht schaden.
Wir könnten wegkommen von schwarz-weiss. Grautöne würden
sich mit Farben zu mischen beginnen. Emulgationen (Milch ist ja
auch nicht nur Fett und Wasser) und chemische Reaktionen
(aus den Gasen Wasserstoff und Sauerstoff ergibt sich Wasser)
wären sinnvoll. Parteien bleiben Parteien. Sie reagieren nicht
miteinander. Sie grenzen sich ab, könnten ja Profil verlieren.
Das Gefährlichste wäre ja, wenn man sich einig würde. Was
sollen die Wähler denken? Ängste von Parteien, vom Volk
verlassen zu werden. Ängste führen häufig dorthin, wo man
nicht wollte.
Populismus: Populismus scheint zum Rettungsinstrument für
Politikverdrossenheit des Volkes zu werden. Meiner Meinung
nach hat dies allerdings nicht die gewünschte Wirkung.
Entweder ist das Volk dumm, dann ist es aber nicht statthaft, es
noch mehr zu verdummen oder es ist vernünftig, dann wird es
den Schwindel früher oder später aufdecken. Der Schwindel
besteht darin, dass die Dinge meist nicht so einfach sind, wie sie
dargestellt werden und es nicht nur eine Lösung gibt, bzw. diese
Lösung meist nicht die erwartete Wirkung hat. Populismus
macht das Volk verdienter- oder unverdientermassen zu
Lemmingen oder zu Ratten, welche dem Rattenfänger in
verzückter Trance zu folgen haben, ob sie wollen oder nicht. Um
173
es klar zu sagen: Populismus ist eine gleiche „Krankheit“ wie
Fundamentalismus und Ideologismus. Obwohl vor allem
Rechtsparteien diese Klaviatur virtuos bedienen, sind auch
andere nicht gefeit davor.
Polarisierung: Wenn man von einem eindimensionalen
Kontinuum ausgeht, sind zwei Pole als Enden des Kontinuums
die notwendige und logische Folge des Konstrukts. Zwei Pole
als Extreme wahrzunehmen, führt zu Schwierigkeiten, wie sie
Buridans Esel153 hatte. Wenn der eine Pol mit dem andern nichts
zu tun hat, muss man sich entscheiden oder bleibt hungrig.
Könnte es nicht sein, dass es gerade zur Wahrheitsfindung
beide Pole und den Zwischenraum braucht, weswegen die
Polarisierung vollkommen kontraproduktiv ist, aber eine
offensichtliche Folge des eindimensionalen Denkens, die die
Politik, das Parteiensystem dem Volk vorgaukelt. Polarisierung
bedeutet Zerfall und Zerwürfnis der Gesellschaft, wenn die Pole
nicht entweder zirkulär, spiralig oder als Prozess verbunden
sind. Die Zuspitzung und Extremisierung macht eine Wahrheit
nicht glaubwürdiger, sondern eher leerer. Aber je sinnentleerter
sie ist, umso heftiger wird sie vertreten. Polarisierung führt zu
Rigidisierung, zu Fixierung und damit zur Extremisierung. Ob wir
das wirklich wollen? Ob wir das noch aufhalten können? Wir
könnten zum Opfer des eigenen „Erfolgs“ werden.
Zauberlehrling lässt grüssen.
Konsens: Selbstverständlich können wir uns alle frei
entscheiden, ob wir eine Konsens- oder eine Streitkultur pflegen
wollen. Das eine muss nicht zwingend und von Beginn weg
schlechter sein wie das andere. Faule Kompromisse nützen
ebenso wenig, wie eskalierende Tiraden. „Es schleckt aber
keine ‚Geiss154’ weg“, dass Demokratie nicht von der
Polarisierung lebt, sondern von der Konsensfähigkeit. Wenn
153
Ein Johannes Buridan (1304-60), Philosoph, zugeschriebenes Gleichnis:
Ein häufig in der Psychologie zitiertes Entscheidungsdilemma. Ein Esel
verhungert zwischen zwei Heuhaufen, weil er sich nicht entscheiden kann,
welchen er fressen soll. Man kann natürlich – und das ist das perfide – noch
besser zwischen zwei unliebsamen Alternativen „verhungern“, die man lieber
beide vermeiden möchte.
154 Helvetismus für Ziege
174
dem nicht so ist, zerfällt ein Volk immer mehr in aufteilende
distanzierte Subkulturen. Diese Ghettoisierung lässt sich, einmal
begonnen, kaum mehr aufhalten. Konsens ist aber nur bei
verschiedenen Meinungen möglich, wenn man sich gegenseitig
Wertschätzung entgegenbringt, wenn die eigenen Gefühle
während der Verständigung nicht den Inhalt ersetzen, sondern
dazu da sind, die Begleitumstände zu verdeutlichen. Streitkultur
ist letztlich Konsenskultur, wenn sie nicht entartet. Aber
Konsens braucht manchmal mehr Entgegenkommen, als uns
allen lieb ist. Wir sind nur in der Lage, diese emotionale
Parforceleistung immer wieder zu bringen, wenn wir dies als
Geben und Nehmen, ein Geschäft, ein bilanziertes und
balanciertes Ausgleichsspiel ansehen können.
Konsensfindung lebt von klaren Positionen, aber man muss ja
nicht gleich festwachsen. Meist ist es ja nicht so wichtig, ob die
Meinung richtig oder falsch ist, sondern viel mehr was sie
beabsichtigt, was sie bewirkt, was sie nützt, was sie
(neu)schafft. Damit aber ist die ganze Sache sowieso
dynamisiert und es nützt wenig, auf einer Position eisern zu
(be)stehen, bis man rostig wird.
Wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse: Das Volk hat seine
Vertreter, die Wirtschaft hat ihre Vertreter und ihr Lobbying. Mir
scheint, dass die Wissenschaft, immerhin eine ständige Quelle
neuer Erkenntnisse, sich bisher im Rahmen demokratischer
Prozesse zu wenig Bedeutung verschaffen konnte. Vielleicht ist
Wissenschaft auch entweder zu akademisch, zu insiderhaft oder
da meist der wissenschaftliche Diskurs ein Prozess ist, meist
nicht so hieb und stichfest oder zu vorsichtig, etwas zu
behaupten, dass sie nicht als hilfreich wahrgenommen wird.
Wissenschaftlerinnen warnen eifrig vor diesem oder jenem – die
Tagespolitik geht darüber hinweg. Wissenschaft findet – so
nimmt es die Öffentlichkeit wahr – in einem Elfenbeinturm statt.
Es ist der Wissenschaft ein Gräuel, Dinge so zu vereinfachen,
dass sie allgemeinverständlich werden, da damit die notwendige
Differenzierung auf der Strecke bleibt. Die „erfolgreiche“
Forschung ist jene, welche von der Wirtschaft selbst unterhalten
wird und zur Produktentwicklung dient – sie ist aber häufig auf
einem Auge blind und damit instrumentalisiert. Jene
175
wissenschaftlichen Fragen, welche von der Öffentlichkeit zur
Beantwortung in Auftrag gegeben werden, sind nicht Legion,
sondern eher selten. Lieber diskutiert man frei und ohne
erhärtete Fakten. Diese fraktalen Weltbilder, die dabei
entstehen, müssen konfligieren. Es wäre an der Zeit, einen
ständigen Brain pool zu unterhalten, welcher umfassende
Gutachten erstellt, damit auch diese Stimme zum Wohl des
gesamten Volkes gehört werden kann.
Wirklichkeitsmodelle: In der politischen Auseinandersetzung
werden häufig Wirklichkeitsmodelle verwendet, welche linear,
und trivial155 erscheinen, obwohl unsere Welt häufig in
Kreisläufen stattfindet. Probleme werden mit Rede und
Gegenrede versucht greifbar und entscheidbar zu machen. Eine
Metaebene, deren Betrachtung dazu führt, dass sich
vermeintliche Widersprüche auflösen oder vereinbar werden,
gibt es in der trivialen Weltsicht nicht. Die triviale Weltsicht
besteht aus unmittelbaren „Wenn-dann-Beziehungen“, aus
Ursache-Wirkungsmodellen, enthält aber Phänomene wie der
„Schmetterlingsflügelschlag156“ nicht, weshalb vielfach nach dem
Prinzip „Mehr Desselben“ entschieden wird. Das ist teuer. Wenn
etwas nicht funktioniert, dann gleicht ein „Mehr Desselben“ in
der Hoffnung, dann sei die Wirkung ein Vielfaches davon, meist
einer Lotteriehoffnung. Es braucht Mut, dann etwas anderes zu
tun. Die Chaosforschung lehrt, dass man auch auf nichttrivialen
Klaviaturen virtuos spielen kann. Unsere Situation der
Menschheit dünkt mich alles andere als trivial, aber um so
wichtiger ist es, keine Angst vor dem Unvorhersagbaren zu
haben. Übrigens, manchmal gelingt es der Satire, dem Kabarett,
einen Hauch dieses stetig stärker werdenden Eiferns ohne jede
155
Der Physiker Heinz v. Foerster (z.B. Foerster, H. v.: KybernEthik, Merve,
Berlin 1993) verwendet diesen Begriff zur Beschreibung einfacher technischer
Geräte, wie dem Auto, bei welchen die Folgen eines Eingriffs immer
vorhersagbar sind. Gaspedal drücken heisst mehr Sprit, Drehzahl und damit
Geschwindigkeit erhöhen. Wenn dem einmal nicht so ist, wissen wir
automatisch, dass das Auto kaputt ist – und nicht unser Fuss.
156 Ein Begriff aus der Chaostheorie (Lorenz, E. u.a., dargestellt z.B. in:
Breuer, R. (Hrsg.): Der Flügelschlag des Schmetterlings. Ein neues Weltbild
durch die Chaosforschung. DVA Stuttgart 1993), allerdings eben alles andere
als trivial.
176
nachhaltige Wirkung erlebbar zu machen – die Haare stehen zu
Berge.
Demokraturfalle: Wir befinden uns in der Falle. Die Nachteile
dieses Systems sind offensichtlich. Diese werden aber durch die
Vorteile mehr als aufgehoben. Dies wiederum führt dazu, dass
man die Demokratie so verteidigt, als wäre sie in Stein
gemeisselt. Die Demokratie muss ihre Fitness und damit
Anpassungsfähigkeit immer wieder neu in Bewährung setzen.
Wir wollen etwas Bewährtes behalten, das können wir aber nur,
indem wir es verändern, erneuern oder neu erfinden. Die
Demokratie ist gleichzeitig träge und stabil.
Es gibt nichts Beständigeres
als den Wandel.
Metalog: Allen Ernstes und in aller Zuversicht stelle ich mir vor,
dass neue Gemeinschaften, welche den Menschen
Geborgenheit und Anerkennung vermitteln, Bedeutung und
Einfluss verleihen, wieder entstehen werden. Es wird eine
Gegenbewegung zur Individualisierung, zur Gettoisierung, zur
Vereinsamung geben. Aufgehobenheit kann man in Zukunft
wieder verstärkt in Vereinen, Verbänden, Glaubens- ,
Denkzirkeln, politischen Gruppierungen, als auch im
wiedererstarkten familiären bzw. Freundeskreis sowie am
Arbeitsplatz erleben. Sie alle werden als Kernprozesse der
zukünftigen Gesellschaft deshalb an Bedeutung gewinnen, weil
irgendwann der Mensch die Leere und die Orientierungslosigkeit
satt hat. Die Postmoderne und der fast zum sinnvollen Prinzip
erhobene Pluralismus hat dazu geführt, dass der Halt und die
Einheit unterminiert wurden.
Der Staat, welcher nicht mehr auf Gemeinschaftserfahrung und
-erlebnis basierte, wurde zu einem Verwaltungsgebilde, zu
einem Moloch. In Zukunft wird der Staat wieder mehr Bedeutung
erhalten, als Gemeinschaft von Menschen guten Willens, denn
nur so lässt sich ein „Staat machen“ – wenn wir selbst der Staat,
also die Demokratie sind. Wir werden uns in Zukunft intensiv
damit auseinandersetzen, wie wir trotz oder besser gerade
wegen
unterschiedlicher
Vorstellungen,
gemeinsame
177
Zielvorstellungen entwickeln können, wie wir unsere Form des
Zusammenlebens weiter entwickeln können und wie wir aus der
Demokraturfalle heraus finden. Wir haben uns als Menschheit
enormen Herausforderungen zu stellen, welche wir nur im
Verbund lösen können, da sie sonst sowohl unsere materiellen,
unsere geistigen, als auch unsere emotionalen Mittel
übersteigen. Es wird also darum gehen, Lösungen für
Weltprobleme zu suchen, welche nach dem Prinzip „Sieben auf
einen Streich“ funktionieren, wobei der Unterschied lediglich
darin besteht, die Probleme nicht zu erschlagen, sondern zu
lösen. Es wird in Zukunft zur Selbstverständlichkeit, dass alle
Menschen an der Gesellschaft und damit an der Demokratie
teilhaben, egal welchen Status sie haben. Es muss auch
vermehrt darauf geachtet werden, alle „Intelligenzen“ der
Gesellschaft für die Lösung zu aktivieren, unabhängig davon, ob
sie aus fremder, neuer, junger, alter, unerfahrener, armer,
reicher, mächtiger Provenienz stammen. Es wird wieder eine
blühende Kultur der politischen Betätigung geben. Diese wird
sich allerdings wenig in die Strukturen von politischen Parteien
einzwängen lassen. Sie ist freier, hat viele Ausdrucksformen,
Orte und Gruppierungen. Es wird eine Kultur von (Mit-)Sprache
entstehen, welche provokativ, aber Konsens erzeugend ist. Es
wird zu wechselnden Allianzen zwischen inner- und
ausserstaatlichen Organen, Personen und Gruppierungen
kommen, welche nicht nur formellen, sondern kreativen und
damit eben kulturellen Charakter haben. Alles zwischen
Happening, Hearing, Ausstellung, Theater, Essen, Sitzung und
Demonstration oder Performance wird politisch sein (das ist es
jetzt schon und war es immer) und auch so wahrgenommen
werden. Weil alle Formen von Äusserung beachtet und
erwünscht werden, wird sich die Demokratie verändern,
dynamisieren. Sie wird in der Lage sein, Fehler zu machen,
diese aber auch wieder zu korrigieren. Sie wird risikobereiter
werden, aber auch experimentierfreudiger. Das Volk wird zwar
nicht der Souverän als homogene politische Masse sein, welche
bestimmt, was das Volk zu tun hat, sondern Menschen werden
miteinander tragen und entscheiden helfen, was notwendig ist.
Toleranz wird eingeübt, nicht weil alles gleich-gültig ist, sondern
mit dem Ziel, sich anzunähern und zu verständigen.
178
Ein neuer Gesellschaftsvertrag wird ausgehandelt werden, der
langfristig verbindliche Ziele festlegt: Minderheitenschutz,
Bevölkerungssteuerung,
Ausgleich
von
sozialpolitischen
Spannungsfeldern, Welternährung, Autonomie und Würde des
Menschen, Schutz der Biosphäre. In diesem neuen
Gesellschaftsvertrag – solche Dinge werden üblicherweise
Charta genannt – wird vor allem die Entwicklung und die Zukunft
beleuchtet. Die Charta geht davon aus, dass das Leben Sinn
macht, wenn wir daraus etwas Sinnvolles machen und lässt uns
Menschen zu einem Teil des Ganzen werden. Diese Charta
geht weit über die Menschenrechte hinaus. Sie stellt eine Vision
dar, welche Menschen fasziniert und deshalb deren Entwicklung
zu kanalisieren und koordinieren imstande ist.
In der neuen Weltordnung sollen Begriffe Ost/West und
Nord/Süd nicht mehr mit Gefälle assoziiert werden, mit Unterund Überentwicklung oder Dekadenz. Welt wird zur Einheit, zur
gegenseitigen Verpflichtung und Verbindlichkeit. „Eine Welt“
wird zum Imperativ, denn wir haben keine zweite im Keller – und
sie hat auch keinen doppelten Boden. Vielleicht könnte man
wortschöpferisch tätig werden, damit der griechische Begriff der
Herrschaft (gr. kratos) aus dem Wort getilgt wird. Es könnte ein
Konglomerat von zusammen, gemeinsam, arbeiten, leben,
gegenseitig, geben und nehmen, sorgen, schützen sein. Es
müsste dynamischen, aber soliden Charakter haben und es
müsste eine Dimension von Zukunft als auch Vergangenheit
beinhalten. Vor allem dürfte der Begriff von Zuversicht, Kraft und
Solidarität strotzen.
Wenn das alles umgesetzt ist, wird es so sein, dass jeder
Mensch, seinen Teil beitragen darf, aber nicht muss und so oder
so zufrieden sein darf oder pragmatischer ausgedrückt, dass
alle gleich unzufrieden sind. Da man aber die Plattform
gemeinsam gefunden hat, auf welche die hehren Ziele gehören,
gehört der Unterschied zwischen Ziel und Weg zu den
grundlegend verselbständlichten Erfahrungen des Alltags,
welche weder resignativ noch frustriert zur Kenntnis genommen
werden, sondern grossräumig und grosszügig. Dieser
grosszügige Umgang mit langfristigen Zielen ist vor allem
deshalb möglich, weil Notsituationen ebenso pragmatisch,
179
nachbarschaftlich und unbürokratisch überbrückt werden und
Solidarität dafür vorhanden ist.
Struktur wird in einer „nachhaltigen Solidargemeinschaft“
selbstverständlich weiterhin notwendig sein, denn es sollen ja
gerade Ideen zerstörende und vorschnelle „Wahrheiten“
erzeugende egozentrische Staatsformen wie Anarchie und
Diktatur verhindert werden. Demokratie ist noch nicht das Ende
(der Entwicklung).
180
181
182
Wertschöpfung: Wirtschaft für Werte und Arbeit
Damit diese Wirtschaft gesund ist,
braucht es emotional kranke Menschen.157
Dialog: „Papa, wem gehört die Wirtschaft?“ Papa: „Die
Wirtschaft produziert das, was wir brauchen. Ohne sie hätten wir
nichts.“ Kind: „Nein, du verstehst mich nicht. Ich möchte wissen,
wem sie gehört!“ Papa: „Wieso möchtest du genau das wissen?“
Kind: „Die Wirtschaft entlässt Arbeiter, erhöht die Gewinne,
muss jedes Jahr Wachstum produzieren und fusioniert zu
Grosskonzernen.“ Papa: „Woher hast du das?“ Kind: „Das hat
die Lehrerin erzählt. Papa, kannst du auch entlassen werden?“
Papa: „Unserer Firma geht’s gut, ich glaube nicht...“ Kind: „Also
ja. Weisst du, ich frage mich, wozu die Wirtschaft da ist. Gehört
sie eigentlich der Gesellschaft oder gehört sie Reichen und
Mächtigen?“ Papa: „Weisst du, ohne Reiche und Mächtige
ging’s uns noch schlechter. Sie bauen die Fabriken. Sie haben
das Geld dazu. Sie stellen Leute ein. Sie produzieren, was wir
brauchen...“ Kind: „Sie entlassen aber auch Menschen in die
Arbeitslosigkeit. Sie machen Werbung, damit man ihre Produkte
kauft. Vieles würde man sonst gar nicht kaufen.“ Papa: „Was
möchtest du später mal werden?“ Kind: „Ich möchte nichts
werden. Ich möchte nicht arbeiten.“ Papa: „Du wirst schon noch
etwas finden, das zu dir passt.“ Kind: „Ich meine das nicht so.
Ich möchte nicht von einem Arbeitgeber entlassen werden. Das
kann ich nur vermeiden, wenn ich nicht arbeite.“ Papa: „Aber du
musst arbeiten, um deinen Lebensunterhalt und jenen deiner
Familie zu verdienen...“ Kind: „Warum kann mich dann die
Wirtschaft entlassen? Wer bezahlt eigentlich die Kosten der
Arbeitslosigkeit?“ Papa: „Der Staat hat dafür eine Versicherung.
Gott sei Dank. Als Arbeitsloser wird man nicht gleich
armengenössig.“ Kind: „Weil der Staat die Arbeitslosigkeit
bezahlt, kann der Wirtschaftsboss entlassen, ohne sich ein
Gewissen zu machen. Papa, wem gehört die Wirtschaft?“
157
Zitat von Erich Fromm zit. nach: Senf, B.: Die blinden Flecken der
Ökonomie, DTV, München 2004. S. 147
183
Wenn jemand Hunger hat, aber kein Geld (keine Kaufkraft),
muss für ihn auch nicht produziert werden, da ja der Bedarf fehlt.
Begriffsdefinition Bedarf in der herkömmlichen Volkswirtschaftslehre:
„Wenn Bedürfnisse mit Kaufkraft befriedigt werden können,
spricht man von Bedarf.“ (Cora Leroy)
Antilog: Ursprünglich war die Wirtschaft nicht eine eigenständige
Kraft in der Gesellschaft, sondern sie diente dazu, die
lebensnotwendigen Güter für sie, durch sie und in ihr
herzustellen und diese zu verteilen. Sie tat dies, indem jedeR
seinen/ihren Teil an der Produktion hatte und auch wahrnahm.
Die Grundzüge der modernen Wirtschaft waren und sind es, mit
beschränkten Ressourcen sparsam umzugehen, sie nicht zu
verschwenden, sondern die Artikel zum Gebrauch möglichst
ökonomisch herzustellen, also möglichst günstig zu produzieren.
Der Grenznutzen der Güter nimmt mit
der zur Verfügung stehenden Menge ab.158
Wenn man diese Ansätze in die postmoderne Zeit übersetzt, so
stünden nach wie vor drei Elemente im Zentrum:



Produktion lebenswichtiger Güter und Güter des alltäglichen
Gebrauchs
Nutzung des vorhandenen Humanpotentials
Schonung der vorhandenen ökologischen Ressourcen
Dies alles hat mit der Absicht und dem Ziel für die Gesellschaft,
also für die Menschen etwas Gutes zu tun, zu geschehen.
Heutzutage jedoch scheint die Wirtschaft zunehmend eigene
Interessen zu verfolgen und nicht mehr in erster Linie der
Gesellschaft zu dienen. Es geht offensichtlich mehr darum, mit
allen möglichen Mitteln den Shareholdervalue zu maximieren,
als einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten.
158
Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in
der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006, S. 3
184
Ist Ökonomie noch ökonomisch?159
Es scheint so zu sein, dass man immer mehr automatisiert, um
billiger produzieren zu können, dass man Produktionsstätten
von teuren Produktionsstandorten nach Billiglohnländern
verlagert. Zudem scheint ein ungebremster Trend da zu sein, zu
wachsen, indem man auf der ganzen Welt Konkurrenten
aufkauft und sie damit ausschaltet.
Arbeit als Berufung160
Natürlich könnte man sagen, dass die Konsumentin immer
billigere Produkte kaufen möchte. Natürlich könnte man sagen,
dass man damit in entwicklungsfähigen Ländern (damit sind die
sogenannten Schwellenländer und Entwicklungsländer gemeint)
Arbeitsplätze
schafft.
Insofern
diese
Arbeitsplätze
vergleichsweise gut bezahlt werden, könnte man dies sogar
gerechterweise als Entwicklungshilfe bezeichnen. Man könnte
sogar sagen, dass damit das Überleben des Betriebs gesichert
wird, indem man die Arbeitsplätze verlagert.
Unter diesen Umständen ist es auch nicht verwunderlich,
dass man die Verantwortung
für das Wachstum dem Staat überträgt.161
Trotzdem bleibt ein schales Gefühl betreffend der damit
verbundenen strukturellen Veränderungen. Die Arbeit scheint in
159
Begann die Geschichte der modernen Ökonomie mit Walras' Publikationen
zu "Paradoxes Economiques" im "Journal des Economistes" um 1860, so sind
wir trotz vieler diesbezüglicher Theorien nicht viel weiter und reiben uns immer
noch verwundert die Augen ob den eklatanten Paradoxien der Ökonomie.
Inkonsistenzen haben leider die unangenehme Gewohnheit sich selbständig
zu machen zu verbreiten und sich gegen die Sache zu wenden. Léon Walras
(1834 – 1910) kann als Vater der modernen Ökonomie verstanden werden.
160 Motto der „Neuen Arbeit“ oder „was Sie wirklich, wirklich tun wollen“ als
Alternative zur Lohnarbeit. Bergmann, F.: Neue Arbeit, Neue Kultur. Arbor,
Freiamt, 2004
161 Zit. nach: Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und
Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006,
S.4f.
185
unseren Gefilden immer mehr unbezahlbar zu werden, da
Produkte immer billiger werden sollen. Das ist an sich
ökonomisch gedacht. Auch die Arbeit selbst gehört zu jenen
Ressourcen, mit welchen sparsam umgegangen werden soll.
Aber: Wenn immer alles billiger werden muss, damit immer
mehr dessen gekauft wird, was die Wettbewerbsfähigkeit des
Betriebs erhöht, so wird automatisch die Arbeit zum Teuersten
der Produktion. Schliesslich muss die menschliche Arbeit aus
zwei Gründen wegrationalisiert werden: Weil sie zu teuer ist und
weil sie gegenüber Maschinen zu langsam und zu fehleranfällig
ist.
Psychologische Faktoren spielen bei
wirtschaftlichen Entscheidungen eine zentrale Rolle.
Einige Autoren behaupten gar,
dass Wirtschaften zu 50 % Psychologie sei162.
Das Ziel wäre dann: Produktion ohne menschliche Arbeit. Die
Verlagerung der Arbeit in Billiglohnländer ist ja auch nur eine
vorübergehende Massnahme. Je mehr sich diese dem
Zivilisations-, Technisierungs- und Bildungsniveau der
westlichen Industrienationen annähern, umso mehr werden
auch dort die Produktions- und Lohnkosten ansteigen. Nun
könnte man mutmassen, dass der Preisniveauunterschied
zwischen Noch-nicht-Industriestaaten und Industriestaaten
bestehen bleiben wird. Dies wiederum würde bedeuten, dass
unsere Löhne weiterhin im gleichen Masse steigen werden, wie
die Löhne in jenen Staaten steigen, in welchen wir produzieren
lassen. Dies würde wiederum darauf hinweisen, dass wir gerade
nicht am Ausgleich der unterschiedlichen Entwicklungsstände
interessiert sind, sondern diese damit umso mehr fixieren.
Agrarstaaten (wiederum ein Bezeichnungsversuch, nicht einen
quantitativen Unterschied, sondern einen qualitativen als
Unterscheidung zu nehmen zwischen 1.- bis 3.-Welt) werden
Industriestaaten unterlegen bleiben, obwohl deren Produktion
162
Rogall, H.: Volkswirtschaftslehre für Sozialwissenschaftler, Verlag für
Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006. S. 70
186
lebensnotwendigere Güter herstellt, als die Industrie es je
können wird.
Im Wachstumsprozess wird Arbeit
durch Energieeinsatz substituiert.163
Es würde ja grundsätzlich Sinn machen, jene Güter, die alle
brauchen, möglichst günstig auf den Markt bringen zu können,
damit niemand hungern oder sonst wie darben muss.
Wenn aber der zunehmende Reichtum der Industrieländer
daraus resultiert, dass strukturell bedingte Unterschiede
zementiert werden, so ist dies sicher nicht sinnvoll und hat mit
Entwicklungshilfe nichts zu tun. Wir geben den andern nicht
Arbeit in neu aufgebauten Industrien, damit sie leben können,
sondern damit wir noch reicher werden.
Die moderne Bedürfniswirtschaft
ersetzt die ursprüngliche Bedarfswirtschaft.164
(Durch die Modernisierung hervorgebrachte; Erg. M.H.)
Zivilisationsrisiken sind ein Bedürfnis-Fass ohne Boden.165
Somit haben wir einen Selbstläufer-Moloch erzeugt.
Gehen wir den gedanklichen Weg der fast zwangsweise so
ablaufenden Entwicklung noch etwas weiter, so wird in den
Industriestaaten Arbeit als knappes Gut behandelt – verknappt –
damit anderswo billiger produziert werden kann. Offensichtlich
aber geht es meist darum, dass das höhere Know-how als
Management, Engineering und Marketing am Ursprungsstandort
gehalten und nicht verlagert wird. Also Arbeitsplätze, welche
hohes Bildungs- und Kompetenzniveau benötigen, werden
gehalten und ausgebaut, jene welche primär handwerklich bzw.
163
Zit. nach: Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und
Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006,
S. 360
164 Ziegler, L.: Sinn und Ziel des Wirtschaftens, In: ders., Zwischen Mensch
und Wirtschaft, Darmstadt, 1927. S. 126-162. Zit. n.: Binswanger, H.C.: Die
Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des
Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006
165 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt / M, 1986. S. 30
187
repetitiv sind, werden ausgelagert. Industriestaaten sind mitten
in der Entwicklung „Eierköpfe mit Bodensatz“ zu werden. Es
wird je länger je mehr eine Entwicklung geben, dass nur noch
die teuersten Jobs und die absolut billigsten Jobs am
ursprünglichen Standort gehalten werden. Es wird in den
Industriestaaten eine Veränderung geben, dass sie nicht mehr
in erster Linie produzieren, sondern Produkte entwickeln und
deren Produktion steuern und finanzieren. Ebenfalls werden wir
noch
stärker
zur
Dienstleistungsund
Kommunikationsgesellschaft allgemein.
Wer aber bezahlt die sozialen Kosten dieser Veränderung, dass
es in den traditionellen Industriestaaten sich immer weniger
lohnt, Produzenten (Arbeiter) anzustellen? Nun, wir haben ja ein
gut ausgebautes Sozialsystem. Es gibt die Arbeitslosenkasse
und
das
existenzsichernde
„Grundeinkommen“166
der
Sozialfürsorge. Seien wir beruhigt – oder nicht? Es wird doch für
alle gesorgt.
Extreme Konzentration von Reichtum
und mangelnde Flexibilität
angesichts veränderter Bedingungen sind
die Ursachen des Untergangs aller grossen Kulturen167
Nein, eben gerade nicht. Wer bezahlt die Arbeitslosenkasse168?
Wer bezahlt die Fürsorgeleistungen? Die verbleibenden
Arbeitnehmer und die verbleibenden Betriebe als Steuerzahler
und als Beitragszahler. Erstens werden die Jobs und die
166
Grundeinkommen für alle in anderem Sinne, bzw. Lohn ohne Arbeit scheint
wieder als Thema aufzukommen, umso mehr als „nicht mehr genug Arbeit für
alle da“ ist. Im Rahmen der sog. Latte-Macchiato-These wird dargestellt, dass
verblüffenderweise das Grundeinkommen nicht nur ein Postulat ist, sondern
sich ökonomisch durchaus rechnet. Als Beispiel: Löpfe, P., Palumbo, D.: Das
neue Paradies. In: Facts 09/07, Tamedia, Zürich, 2007, S. 16-21.
167 Toynbee, A.: Der Gang der Weltgeschichte. Bd. 1. Aufstieg und Verfall der
Kulturen, DTV, München, 1970 zit. n. Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft,
Riemann, München, 2002, S. 360
168 Manchmal habe ich das Gefühl, dass es die Arbeitslosenversicherung mehr
für die Wirtschaft als für die Arbeitslosen gibt. Je besser sie ausgerüstet ist,
umso mehr Betriebssanierungen werden mit Entlassungen bewerkstelligt. Die
soziale Verantwortung wird dem Staat übertragen.
188
Produkte damit noch teurer. Zweitens steigt damit der Druck,
auch diese Arbeiten zu verlagern, da sie nicht mehr renditefähig
sind. Irgendwie und irgendwann landen wir auf dieser Spirale
dort, wo wir konsterniert feststellen müssen: Wir können uns die
Arbeit nicht mehr leisten. Aber das ist nur das eine.
Das Proletariat ist tot. Es lebe das Prekariat.169
Was tun denn die vielen Arbeitnehmerinnen, welche nicht mehr
benötigt werden, weil sie dem Profil (kreativ, hoch gebildet,
führungsstark, gut verdienend [Eierkopf] versus karg gebildet
und ebenso bezahlt [Bodensatz]) nicht mehr entsprechen? Sie
lassen ihr Leben an sich vorbei ziehen, geniessen es, dass sie
am Sozialtropf hängen dürfen, während die Saubermänner und
die Drecksmänner arbeiten?
Wohl kaum. Der Mensch will tätig sein170.
Motto der Zweiten Moderne. Zum Begriff „Zweite Moderne“ und zum Begriff
„Prekariat“ konsultiere www.wikipedia.org
170 Einen guten Beitrag zu einer neuen Sozialpolitik leistet die Stadt Köln. Mit
dem Konzept „Fordern und Fördern“ sparte sie 100 Mio Euro in den letzten
drei Jahren durch Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser in der
Arbeitsprozess. Beitrag im WDR am 6. April 2005: Das Wunder von Köln
169
189
Es gibt offenbar einen Fehler in der Ökonomie:
Die Annahme, dass eine Gesellschaft ihre Bürger glücklich macht,
wenn sie ihnen mehr Konsum ermöglicht.
Menschen sind glücklich,
wenn sie eine Arbeit machen können,
die sie für sinnvoll halten und die sie herausfordert171.
Die Arbeit ist kein Produktionsmittel,
sie ist überhaupt kein Mittel
es sei denn eines zur Verwirklichung der Menschenwürde.172
Wahrscheinlich wird es damit eine Auswanderungswelle in die
unterentwickelten Länder geben, die nach dem Motto geht:
Lieber weniger verdienen, als ohne Arbeit sein Leben als
Almosenempfänger fristen zu müssen. Dies erinnert mich daran,
als die alte Welt aus Gründen der wirtschaftlichen und ideellen
Depression ihr Schärfchen packte, das Bündel aufschnallte und
ihr Glück in der neuen Welt versuchen wollte.
Wollen wir dies ein zweites Mal versuchen? Nein, wir würden
damit nämlich nicht das leere (Entschuldigung: Die Indianer, die
eigentlich ja Amerikaner waren, haben wir übersehen und
deshalb einfach tabula rasa gemacht) Land Amerika erneut
bevölkern, um dort Tellerwäscher zu werden, sondern wir
würden eine erneute, diesmal aber nicht neugierig-überhebliche
Kolonisation, sondern eine verzweifelt-überhebliche Kolonisation
vom Stapel laufen lassen – weil dort, in den ehemaligen
Agrarstaaten, mehr Jobs der normalen mittelständischen Art
angeboten werden. Eine Völkerwanderung, welche die so
genannte Migrationswelle in umgekehrter Richtung absolut in
jeden Schatten stellen würde. Also: Die Auslagerung der
Arbeitsplätze kann es nicht sein. Um im bisherigen euphemischzynischen Jargon zu bleiben, würden wir, statt nur Arbeit zu
exportieren, letztlich die Arbeitenden exportieren…
171
David Bornstein in einem Interview in Zeitpunkt, Nr. 87, Januar/Februar
2007, S. 7. Bornstein, D.: Die Welt verändern. Social Entrepreneurs und die
Kraft neuer Ideen, Klett-Cotta, Stuttgart, 2006
172 Spieler, W.: Demokratischer Sozialismus als regulative Idee. S. 136. In:
Mäder, U.; Saner, H. (Hg.): Realismus der Utopie. Rotpunkt, Zürich 2003. S.
131-148
190
„Arbeitslosigkeit führt in einen circulus vitiosus,
durch den der Wohlfahrtsstaat sich selbst unterminiert173.“
Das andere, das damit zusammenhängt, ist: Wir retten mit der
Verlagerung der Arbeitsplätze nur die Produktion, aber nicht die
Arbeitsplätze, und langfristig gesehen weder die Firma und
damit die Existenz einiger Arbeitsplätze, noch, was gewissen
Leuten wichtiger wäre, das Kapital. – Denn, die Arbeitslosigkeit
ist strukturell bedingt und nimmt zu. Dies verteuert die
Arbeitsplätze, was wiederum Druck auf die Auslagerung der
Arbeitsplätze geben würde.
Erwarten ... Investoren ... eine Krise ...
dann halten sie sich mit ihren Investitionen zurück
und lösen gerade dadurch die Krise aus,
die sie vorher befürchtet haben.174
Wie nun geschieht die Schonung der natürlichen Ressourcen im
heutigen Wirtschaften? Sie geschieht in dem Sinne, dass billige
Produktion das oberste Ziel ist. Solange die natürlichen
Ressourcen billig genug sind, hat die Wirtschaft sie nicht zu
schonen. Sie wehrt sich erfolgreich dagegen die (Ver)Nutzung
der natürlichen Ressourcen zu verteuern, auch wenn alle immer
mehr zu begreifen beginnen, dass die natürlichen Ressourcen
endlich und nicht unendlich sind. Nun gut, es gibt
nachwachsende Rohstoffe. Die müssen wir hegen und pflegen,
denn die gehen uns nicht aus. Wir haben die Natur jedoch
dadurch, dass wir sie uns untertan gemacht haben, eher
gefährdet und damit unser eigenes Überleben, als dass wir sie
gehütet und gepflegt haben. Irgendwann wird es soweit sein,
dass die Natur nicht mehr wächst, denn sie benötigt Wasser, ein
angemessenes Klima, eine ausgewogenes Luftgemisch aus
173
Ganssmann, H.: Politische Ökonomie des Sozialstaats, Westphälisches
Dampfboot, Münster, 2000, S. 90. Anm. d. Verf.:… und damit zur Gefährdung
des sozialen Friedens und letztlich zur sozialen Spaltung und zum Konflikt.
Dabei wäre doch gerade die Wirtschaft die Spezialistin dafür, knappe Güter
gerecht zu verteilen (Grundsatz der Ökonomie). Entropie geschieht von selbst.
Dafür brauchen wir die Wirtschaft nicht.
174 Senf, B.: Die blinden Flecken der Ökonomie. DTV, München 2004. S. 207
191
Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid, einen Humus voller
Mikroorganismen und eine Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten,
welche in einem dynamischen Gleichgewicht aufeinander
angewiesen sind. Wenn dem nicht mehr so ist, verweigern sie
das Wachstum. Also fertig mit Nachwachsen.
Unsere industrielle Produktion stellt eben nicht nur Konsumgüter
her auf Teufel komm raus, sondern sie stellt auch
Nebenwirkungen175 her, wie bei Medikamenten üblich: Abfall,
Abgase, Gifte, Verdichtung und Abdichtung sowie Überdüngung
von Boden, zunehmende Erosion, Veränderung des Klimas,
Abholzung von Sauerstoff produzierenden und Kohlendioxid
umwandelnden Pflanzen und Wäldern. Auch die hergestellten
Produkte dienen vielfach dazu, diesen Prozess zu
beschleunigen. Diese Nebenprodukte sind vermehrt zu
beachten. Dafür wurden mit der ökologischen Buchhaltung176 die
entsprechenden Mittel zur systematischen Erfassung und
Lenkung entwickelt und stehen zur Verfügung.
Darf ich – mit Verlaub – nochmals daran erinnern: Es geht in der
Wirtschaft darum, einen Beitrag zum Wohl der Menschen zu
leisten. Es geht darum, für ihr kurzfristiges (mit Produkten) und
langfristiges
Überleben
(durch
sorgfältiges,
ethisches
Wirtschaften) zu sorgen. Die Wirtschaft ist ein Teil der
Gesellschaft und hat dieser zu dienen und nicht umgekehrt. Wir
werden es nicht zulassen, dass die Wirtschaft, wenn es einmal
soweit kommen sollte, uns eine Welt hinterlässt, auf der man
nichts mehr pflanzen und wachsen lassen kann. Wenn wir das
wirkliche Ziel, uns ernähren und dafür arbeiten zu können, ohne
die
Industrie,
ohne
industrialisierten
Ackerbau
und
automatisierte Massenviehzucht besser bewerkstelligen können,
sollten wir jetzt auf sie verzichten. Wenn uns die Wirtschaft aus
wohl nachvollziehbaren Sachzwängen nicht mehr eine
„…zu Nebenwirkungen konsultieren Sie den Arzt oder Apotheker.“ Wer ist
der Arzt der Wirtschaft?
176 Braunschweig, A., Müller-Wenk, R.: Ökobilanzierung für Unternehmungen.
Eine Wegleitung für die Praxis, Haupt, Bern 1993. Diese Idee wurde
weiterentwickelt. Jetzt spricht man vom ökologischen Fussabdruck.
175
192
lebenswerte und existenzsichernde Arbeit anbieten kann,
welche Vorteile bringt sie denn noch?
Die Sozialkosten können in Schädigungen der menschlichen Gesundheit,
in der Vernichtung oder Verminderung von Eigentumswerten
und der vorzeitigen Erschöpfung von Naturschätzen
zum Ausdruck kommen177.
Metalog: Ich stelle mir eine Wirtschaft vor, welche die
gesellschaftliche Aufgabe wahrnimmt Arbeit, Güter und
Wohlstand herzustellen und gerecht zu verteilen. Ein Teil dieser
Aufgaben könnte auch, nach Massgabe des Volkes, dem Staat
treuhänderisch übergeben werden, sodass er lenkend und
unterstützend eingreift. Grundsätzlich soll aber die Wirtschaft
möglichst effizient, autonom, ethisch und verantwortlich ihren
Spielraum
wahrnehmen
können.
Die
Ideen
der
gesellschaftlichen Teilsysteme Staat / Politik (Abstimmen,
Ausgleichen) und Wirtschaft / Anbau / Kommunikation
(Versorgen), Bildung / Forschung / Wissenschaft (Entwickeln)
sowie Ethik / Religion / Recht (Aufrichten, Ausrichten) und Kunst
/ Kultur (Anregen, Musse) sollen miteinander in regem Kontakt
sein, einander gegenseitig überwachen, aber auch und in erster
Linie anregen. Jeder dieser wichtigen Teilbereiche ist
unabdingbar für die Entwicklung der Menschheit, einerseits
autonom, andererseits aber im Verbund, denn nur so lernen wir
von dem, was andere Bereiche erfinden, tun oder fehlen. Der
Mensch – oder als Gemeinschaft das Volk – ist Teilhaber,
Gestalter, Motor, Investor und Profiteur zugleich.
Wenn das alles ist, glaube ich lieber an das, was (noch) nicht ist.
Damit die Wirtschaft ihren Beitrag in Zukunft leisten kann, gelten
folgende Regeln:
177
Kapp, K. W.,: Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Fischer, Frankfurt/M.,
1988
193
Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt.178





Freiheitsprinzip: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf
das
umfangreichste
Gesamtsystem
gleicher
Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Eine weniger
umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der
Freiheiten für alle stärken.
Vielfaltsprinzip: Jeder Mensch hat das Recht, spezifisch
eigene Eigenschaften wie Begabung, Lebensstil und
Lebensplanung zu pflegen, zu erhalten und sie im Sinne
eigener Selbstverwirklichung zu nutzen.
Autonomieprinzip: Jeder Mensch hat das Recht auf die
Früchte der eigenen Arbeit (die Idee des Selbsteigentums).
Das Eigentum des einen darf nicht dauerhaft auf Kosten
desjenigen anderer besessen werden.
Zugangsfreiheitsprinzip: Jeder Mensch hat das gleiche
Recht auf Zugang zu natürlichen Ressourcen und zu
sozialen Positionen. Eine Einschränkung dieses Rechts
muss zur Stärkung desselben sowohl für alle in der
Gegenwart lebenden Menschen wie auch für künftige
Generationen führen.
Fürsorgeprinzip: Jeder Mensch ist zur Fürsorge für
benachteiligte und abhängige Menschen verpflichtet. Die
dabei in Kauf genommene Einschränkung der Autonomie
muss das Gesamtsystem der Autonomie für alle stärken.179
Ergänzen möchte ich, dass diese Prinzipien selbstverständlich
nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Staaten,
Völker
und
Mächte
gelten.
Ein
paar
weitere
Rahmenbedingungen müssen dafür aufgestellt werden:
178
Negt, O.: Arbeit und menschliche Würde. Steidl, Göttingen, 2002. S. 10
Diese 5 Prinzipien der Chancengleichheit verdanke ich Massarat, M.:
Chancengleichheit als Ethik der Nachhaltigkeit. In: Widerspruch, 40/2001,
Zürich, S. 55-69
179
194
Hersteller produzieren
Nachfrage und Produkte.


Das Wachstum, insofern es nötig und sinnvoll ist, hat sich
dem Prinzip der Zukunftssicherung in allen Bereichen
unterzuordnen.
Man
sollte
bedenken,
dass
Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung nicht
dasselbe bedeuten und das eine nicht das andere bedingt.
Insbesondere dürfen folgende Formen des Wachstums
nicht stattfinden: Wachstum ohne neue Arbeitsplätze,
Wachstum ohne Skrupel (die Reichen werden reicher, die
Armen ärmer), Wachstum ohne Mitspracherecht, Wachstum
ohne Wurzeln (die kulturelle Identität von Menschen
verkümmert)
und
Wachstum
ohne
Zukunft
(da
übermässiger Verbrauch von Umweltressourcen)180.
Der Lohn einer Arbeitskraft (100 %) muss im Minimum die
gängigen Lebenshaltungskosten eines Menschen decken.
Wenn diese Person Kinder hat, muss der Lohn für die
Familie (in ihren verschiedensten Formen) ausreichend
sein, um die Lebenshaltungskosten der ganzen Familie zu
decken. Die erwachsenen Partner, welche die Familie
führen, sollen sich die Arbeit in der Familie und die Arbeit
für die Familie nach freiem Ermessen aufteilen können,
dass sowohl für das Einkommen als auch für die Erziehung,
Betreuung und Förderung der Kinder gesorgt werden kann.
Es soll verboten sein, dass mehr Lohnarbeit als 100 % pro
Familie geleistet wird, wenn dies auf Kosten der
Kinderbetreuung geht. Selbstverständlich ist es möglich,
diese Familienarbeit geschlechtsneutral aufzuteilen. Damit
wird die gesellschaftliche Funktion der Familie und der
Kindererziehung aufgewertet. Will ein Paar mit Kindern
mehr Lohnarbeit als 100 % leisten, obwohl diese zum
Lebensunterhalt nicht nötig ist, hat es zuerst den Nachweis
zu erbringen, dass für die Betreuung der Kinder
180
Gemäss Global Human Development Report, United Nations, 1996
(http://hdr.undp.org/reports/detail_reports.cfm?view=546)
195


181
professionell gesorgt ist181. Betriebe, welche Menschen mit
Kindern einstellen, die über das Grundmass hinaus
Lohnarbeit leisten wollen, haben für die Betreuung der
Kinder zu sorgen. Grundsätzlich soll Doppelverdienst
verpönt sein, da damit die ursprüngliche Idee der
Gesellschaftszeit (soziales Engagement) verloren geht. Für
Familienarbeit und Gemeinschaftsengagement sollen
Vergünstigungen und Zeitgutschriften möglich sein. Ebenso
sollen Wiedereinstiege ins Berufsleben nach Ablauf der
Schulzeit des letzten Kindes erleichtert werden.
In erster Linie werden die Güter für den Binnenmarkt (des
Landes, der Region) produziert und auf diesem vertrieben.
Dies bedeutet, dass Effizienz – im Sinne von höchste
Stückzahl möglichst billig – zweitrangig ist gegenüber der
Passung an die hiesigen Bedürfnisse. Natürlich ist Handel
darüber hinaus, also Import und Export absolut möglich. Er
ist aber für die Konzeption von Verbrauchsgütern und
Lebensmitteln als Surplus zu betrachten und nicht primäres
Ziel.
Vermehrt
sollen
in
einem
solchen
Fall
Produktionslizenzen vergeben werden, damit dezentrale,
regionale Produktion gefördert wird. Damit werden kulturelle
Eigenarten
geschützt
und
internationale
RisikoAbhängigkeiten vermieden. Jedes Land soll von seiner
Wirtschaft in die Lage versetzt werden, sich primär autonom
zu versorgen. Der Weltmarkt stört dabei nicht, dessen
Verlockungen führen aber auch nicht dazu, dass alles zu
jeder Zeit und überall zu haben ist und sein soll. Zudem
führen regionale Strukturen auch dazu, dass das Know-how
für die Produktion spezieller Güter in der Welt besser
verteilt wird und nicht wirtschaftliche Giganten dazu führen,
dass regionale Strukturen, Eigenheiten und Produkte
aussterben.
Primär ist die Versorgung darauf auszurichten, dass
lebenswichtige Grundgüter zu Preisen erzeugt werden,
Kinder zeugen und erziehen, gerade wenn deren Zahl weniger wird, gilt
damit als vornehme Sozialaufgabe der Gesellschaft. Eltern werden entlastet.
Dafür sollen andere, welche keine Kinder wollen, in anderer Form sich
gemeinnützig engagieren.
196


welche jederman sich leisten kann, aber nicht zu
Dumpingpreisen, die wiederum zur Gigantisierung,
Automatisierung und Verschwendung führen. Was unter
Grundgüter zu verstehen ist, soll ideologiefrei, regional und
relativ breit ausgelegt werden. Diese Güter und deren
Herstellung werden steuerlich dann entlastet, wenn der
Nachweis erbracht wird, dass sie unter nachhaltiger
Ressourcennutzung produziert werden. Luxusgüter werden
steuerlich stärker belastet, denn zuerst soll es darum
gehen, für alle Erdenbürger das gegenwärtige und
zukünftige Überleben zu sichern.
Offensichtlich lässt sich nicht klar genug sagen, welche
langfristigen Effekte die ökologische Besteuerung, über
welche in Europa diskutiert wird, in Entwicklungsländern zur
Folge hat. Möglicherweise leisten sie dort sogar einem
weiteren Raubbau und Dumpingpreisen (und damit Löhnen,
die regional den Lebensunterhalt nicht genügend sichern)
Vorschub. Eine Steuer- und Abgabereform, bzw.
Umlagerung ist aber nötig, damit die Arbeit selbst für die
Wirtschaft entlastet wird. Es ist ja komisch, wenn der einzig
produktive in der Wirtschaft, nämlich der Mensch, nur noch
als Kostenfaktor zählt und man sparen und sanieren kann,
indem man den Produzenten entlässt. Ein Element der
Steuerreform müsste meines Erachtens sein, dass man
Maschinen besteuert, die dem Menschen Arbeit abnehmen.
Ebenso sollte die ökologische Steuerreform neben der
Verbilligung der Arbeit, die regionalen Märkte dadurch
schützen, dass der Transport und die natürlichen
Ressourcen teurer werden, damit man sich ihrer mit
Bedacht bedient.
Die Wirtschaft hat die Aufgabe, wie geschildert, Arbeit für
alle zur Verfügung zu stellen. Wer soll denn dies sonst tun,
wenn nicht sie? Sicher nicht die Staatsverwaltung, indem
sie sich aufbläht, um Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.
197
… in order to make people
‚want’ things they never previously desired,
they had to create ‚the dissatisfied consumer’.182

182
Der Markt bewirkt offensichtlich, dass die Mächtigen
wachsen, die Kleinen untergehen, die Armen hungern, die
Arbeitslosen keine Arbeit mehr finden. Dabei wäre in der
Urform der freie Markt jener, welcher das Gegenteil
sicherstellt. Zudem ist es nicht so linear, wie in der Theorie
vorgesehen, dass Nachfrage Angebot schafft, sondern
Angebot schafft auch Nachfrage. Leider hat man in der
eindimensionalen und linearen Theorie vergessen, dass es
nämlich eine Rückkoppelungsschlaufe gibt. Damit werden
die Marktprozesse statt linear chaotisch. Diese in der
Fachwelt
etwas
kleinlaut
als
Marktparadoxien183
bezeichneten Phänomene sind zu korrigieren. Jene
Rattenfänger, welche immer mehr „Markt“ rufen, in der
Hoffnung, dass der zügelloseste Markt mehr Gerechtigkeit
herstellen kann, möchte ich entgegenhalten, dass wenn er
es bisher in unvollendeter Form nicht konnte, so wird er es
in der Reinform auch nicht können – theoretisch und
praktisch. Soziale Marktwirtschaft besteht ja nicht darin,
dass der Markt als sozial bezeichnet wird, sondern darin,
Rifkin, J.: The End of Work. New York, Tarcher/Penguin, 2004. S. 20
Und es gibt so viele dieser so genannten Marktparadoxien – und es werden
täglich mehr –, dass das eigentliche Paradox darin besteht, dass immer noch
so viele an das Marktprinzip glauben und es rechfertigen, als ob es eine heilige
Kuh, statt ein Funktionsmechanismus sei, dessen Funktionieren gleichzeitig
seine einzige Rechtfertigung sei. Richtigerweise bezeichnet man dieses
Anomalien allerdings als Marktversagen (Rogall, H.: Volkswirtschaftslehre für
Sozialwissenschaftler, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006. S.
115ff). Jeremy Rifkin, bekannter Ökonom und Publizist beschreibt
Verschärfung
der
Verteilungsungerechtigkeit,
Machtund
Vermögenskonzentration sowie Ausgrenzung der Ärmsten als direkte
Auswirkungen des Kapitalismus, der Marktwirtschaft und der Ökonomie. Rifkin
sieht die Marktwirtschaft als nicht zukunftsfähiges Modell. (Rifkin, J.: Europa,
wir brauchen dich. In: Die Zeit vom 9.6.2005, zit. nach Rogall, H. 2006 (s.o.).
Siehe auch: Soros, G.: Der Globalisierungsreport. Rowohlt, Reinbek, 2003. Er
spricht von Marktfundamentalismus und dass der totale Markt ein falsches und
gefährliches Versprechen sei.
183
198


dass dem Staat die soziale Verantwortung abgetreten wird.
Das Marktprinzip wird so leider zuschanden geritten.
Wir müssen lernen, Weltbürger zu werden und über den
Tellerrand hinaus zu fühlen, zu denken und zu handeln. Die
Wirtschaft macht uns dies vor. Leider in unvollkommener
Art und Weise. Ein Geschäft ist quasi das Gegenteil eines
Kriegs: Es gibt zwei Sieger. Offensichtlich kann man auch
anders geschäften. Dann gibt es einen Hauptsieger und
einen andern, der nicht merkt, dass er verloren hat. Wie
sollte es sonst gehen, dass die Geldströme, welche in die
traditionell als unterentwickelte Staaten bezeichneten
Länder hineinlaufen drastisch geringer sind, als jene,
welche man herauszieht?
Entwicklungshilfe soll auf Gegenseitigkeit beruhen und nicht
auf dem Almosenprinzip. Die armen Länder mögen zwar
nicht so industrialisiert sein, was aber noch lange nicht
heisst, dass sie entwickelt werden müssen. Voneinander
lernen und einander gegenseitig unterstützen wäre ein
funktionierendes Modell des Zusammenlebens.
Dafür braucht es auch ein offizielles Mass für gegenseitige
Anerkennung, aber auch Ansporn, das anders funktioniert
als das (dis)qualifizierende Bruttoinlandprodukt.
Das Wettbewerbssystem basiert im wesentlichen auf einem
falsch verstandenen Darwinismus. Marktwirtschaft ist
angewandter Sozialdarwinismus. The survival of the fittest
heisst eben nicht, dass der Grösste, der Mächtigste und der
Stärkste überlebt, sondern derjenige, der anpassungsfähig
ist. Wäre der Darwinismus so verstanden, so würden wir
heute bloss noch mammutbäumefressende Dinosaurier
haben. Die Natur hat eben im Gegensatz dazu komplexe
Kooperations-,
Anpassungsund
Vielfaltssysteme
entwickelt, die sich gegenseitig regulieren und dynamisch
ausbalancieren. Diese funktionieren eher nach dem
Kinderspiel „Schere, Stein, Papier“184.
184
Die Schere schneidet das Papier, das Papier kann aber den Stein
umhüllen. Der Stein wiederum kann die Schere unscharf machen.
Gegenseitige Interdependenz statt einseitige Überlegenheit.
199




Es braucht eine Vielfalt der Wirtschaftssysteme ohne
Ideologieverdacht. Je vielfältiger die Wirtschaftssysteme
sind, umso mehr kann man voneinander lernen. Deshalb
braucht es auf der Welt auch keinen missionarischen
Kapitalismus und keinen konformen Marktglauben, ebenso
wenig wie einen bornierten Kommunismus.
Die Wirtschaft muss in der Lage sein – dies ist
möglicherweise ein Alternativkonzept zur ökologischen
Steuerreform – die sozialen Kosten zu internalisieren. Unter
sozialen Kosten sind alle jene Auswirkungen, monetär
erfasst, gemeint, welche durch wirtschaftliches Handeln
über die reinen Herstellungskosten hinaus verursacht
werden: Schäden an der Natur, am Menschen.
Die Bildung und Forschung muss in engem Kontakt mit der
Wirtschaft stehen. Auch wenn das Bildungssystem
berechtigte Ängste hat, von der Wirtschaft vereinnahmt und
versklavt zu werden, so ist es doch entscheidend für den
Erfolg der Wirtschaft, welche Bildung die Berufseinsteiger
mitbringen. Ich vermute, dass in Zukunft soziale
Fähigkeiten, die Fähigkeit, sich Wissen selbst in Echtzeit
anzueignen und anpassungsfähig zu sein, selbständig und
kritisch zu denken, sowie Kreativität, noch wichtiger werden
wie bis anhin. Jedoch wird der Bedarf an Konservenbildung
abnehmen: Alles steckt fertig zubereitet drin und ist, bis
man es öffnet, lange haltbar...
Es darf keinen Profit ohne echte Wertschöpfung geben. Das
Kapital gehört in die Wirtschaft. Es soll produktiv sein, aber
nicht fiktiv, sondern real. Alle Börsen und anderen
Spekulationstempel werden geschlossen. Sie haben
keinerlei steuernden Wert. Die Werterhaltung oder
Vermehrung von Kapital soll lediglich über Arbeit zu
erzielen und legitimiert sein.
Epilog: Nun, können Sie die Anfangsfrage des Kindes im Dialog
beantworten? „Papa, wem gehört die Wirtschaft?“
200
201
202
Soziale Buchhaltung: Hilfe oder Fürsorge?
Da antwortete der Baron:
Ja, ich muss heute noch einmal nach Potsdam;
ich will da die soziale Frage lösen.“
Alles lachte.185
Dialog: „Papa, was ist ein Freumd?“ Papa (unwirsch): „Das
weisst du doch, lass mich lesen.“ Kind: „Nein, hör mir genau zu
– ein Freu-m-d! Was ist das?“ Papa: „Das ist ein Druckfehler,
nichts mehr.“ Kind: „Ich kenne das Wort „fremd“ und ich kenne
das Wort „Freund“. Es ist aber keins von beidem.“ Papa: „Eben
deshalb ist es ein Druckfehler. Lass mich jetzt in Ruh’. – Schau
auf den Zusammenhang, dann findest du es raus.“ Kind: „Aber
gerade der Zusammenhang hilft nicht. Es passt beides rein. Es
könnte ein „Freund“ sein oder ein „Fremder“. Papa: „Es muss
ein „Freund“ sein, denn ein Druckfehler besteht darin, dass ein
einziger ‚Wechstaben verbuchselt’ ist.“ Kind: „Ich bin doch nicht
blöd. Das weiss ich auch. Aber hier steht es so, als ob ein
Fremder ein Freund sein könnte.“ Papa: „Aber Kind, habe ich dir
nicht immer gesagt, dass du mir den Fremden anständig sein
musst.“ Kind: „Darum geht es doch überhaupt nicht. In der
Zeitung steht aber, dass die Fremden uns auf der Tasche
liegen.“ Papa: „Das stimmt so nicht. Es sind nicht die Fremden,
die unser Sozialsystem ruinieren. Es sind die Menschen aus
den tieferen sozialen Schichten. Die meisten Fremden bei uns
leben in diesen Schichten.“ Kind: „Was ist eine soziale Schicht?“
Papa: „Es gibt eine Oberschicht, eine Mittelschicht und eine
Unterschicht.“ Kind: „Was bedeutet oben und unten?“ Papa:
„Das bedeutet, dass die in der Oberschicht mehr verdienen und
deshalb mehr soziale Verantwortung tragen. Die in der
Unterschicht haben meist weniger Bildung und sind Arbeiter.“
Kind: „Wieso können nicht alle Menschen zur gleichen Schicht
gehören?“ Papa: „Das hat sich so entwickelt.“ Kind: „Aber wenn
die aus niedrigen Schichten mehr Bildung erhalten, können sie
dann auch aufsteigen?“ Papa: „Ja, aber es gelingt meist nicht.“
185
Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden.
Suhrkamp, 1987, Frankfurt, S. 33
203
Kind: „Ach so. – Die aus tieferen Schichten haben weniger.
Beziehen sie deshalb mehr Sozialhilfe?“ Papa: „So ist es.“ Kind:
„Warum dürfen sie das nicht?“ Papa: „Jetzt lass mich in Ruh’.
Du störst.“ Kind: (Denkt für sich:) „Ich bin wohl hier Freumd186.“
Man kann die Argumente gegen einen guten Sozialstaat
auch in ihr Gegenteil verkehren. Wir haben etwas davon,
wenn die Mühseligen und Beladenen unsere Hilfe bekommen.
Das ist gleichzeitig gemein- und eigennützig.
Antilog: Es wird gespart. Das Sozialsystem überbordet. Es muss
eingedämmt werden, wird gesagt.
Nun gut, warum kostet es denn immer mehr? Wird das auch
gefragt? Und wozu dient ein Sozialsystem denn, wird das auch
gefragt?
Wir alle sind doch „Freumde“. Deshalb wäre es zu überlegen, ob nicht
grundsätzlich die Aufenthaltsmöglichkeit in der Welt flexibler und einfacher
daran geknüpft wird, ob jemand eine Bleibe vorzuweisen hat, einen
Arbeitsplatz und den Lebensunterhalt selbständig bestreiten kann, statt dass
man sich dieses Recht erstreiten oder erschwindeln muss, indem man darlegt,
dass man bedroht oder verfolgt wird. Ich finde diese Verwaltung der
Berechtigung und Verknüpfung mit der Opferthematik weniger humanitär,
sondern mehr entwürdigend. Überdies hat sie eine immense Bürokratie zur
Folge. Lassen wir die Menschen selbst bestimmen, soweit es geht. Schaffen
wir aber in Notsituationen unbürokratisch Platz. Überdies: Eigentlich würden
diese Menschen ihrem Land und ihrem Volk mehr nützen, wenn sie dort
wirken könnten, wo sie herkommen. Sie könnten zur Entwicklung verhelfen,
sie könnten Gerechtigkeit schaffen, sie könnten die Diktatur beenden, wenn
sie nur Hilfe bekämen. Es geht letztlich nicht um Aufnahme oder
Nichtaufnahme, sondern um Idee, Wirkung und Ziel. Was soll erreicht werden
mit dem Asylstatus? Wie kann man das vertiefen? Wie kann man es
verhindern? Wie kann man es verbessern?
Wäre es denn nicht besser, bei Verletzungen von Menschenrechten, die zu
Flucht aus einem Land führen erstens dafür zu sorgen, dass die Bedrohung
beendet wird und zweitens jenen Zuflucht in einem Anrainerstatt zu geben, als
es als humanitär zu betrachten, dass diese flüchtenden Personen sich für
teures Geld in die ganze Welt zerstreuen müssen. Wäre es nicht besser bei
Unterdrückung und kriegerischen Konflikten Auffangstätten um dieses Land
als humanitären Kordon zu ziehen? Würde dies nicht mehr moralischen Druck
machen und die humanitäre Katastrophe besser zum Ausdruck bringen?
186
204
Überfürsorglichkeit entwürdigt
und entmündigt.
Nehmen wir nur mal als Denkfigur an, dass es eine gerechte
Welt gäbe, in welcher alle lebenswichtigen Güter (materiell und
immateriell) gleichmässig verteilt wären: Dann würde also
niemand eine bessere Bildung haben; es wäre niemand in
seiner Entfaltung unterdrückt; es hätten alle Arbeit nach ihren
Fähigkeiten und ihren Vorstellungen; es hätten alle einen
Verdienst der ausreichend ist, um sich das, was man zum
Leben braucht, zu beschaffen und sich Rücklagen zu machen
für die Pension; es besässen alle ein ähnliches Mass an
Vernunft; es würden Werte als gültig betrachtet, welche zur
Aufrechterhaltung dieses Systems dienen, die Wirtschaft würde
Güter produzieren, die allen zur Verfügung stehen, die sie
benötigen.
Ich vermute, dass dann zumindest potentiell jedeR eher danach
trachten würde, diesen Zustand aufrechtzuerhalten und dessen
Grundlagen nicht zu verletzen, im eigenen Interesse. Was
wären die Folgen:




Eltern würden ihre Kinder auf diese Werte „einschwören“
Alle würden sich so verhalten, dass ihr Engagement wichtig
ist
Man hätte genug, um andern, welche vom Schicksal
geschlagen würden, wieder auf die Beine zu helfen
Es bräuchte kein Sozialsystem
Man würde dann aber darauf kommen, dass es vielleicht billiger
und vor allem einfacher ist, als dass jeder sich seine Pension,
seine Rücklagen für Krankheiten und für Unvorhergesehenes
am Mund abspart, ein Versicherungsprinzip einzurichten. Denn
dort müsste nur soviel Geld verwaltet werden, wie nötig ist. Dies
liesse sich besser rechnen und steuern. Es wäre einfacher, als
wenn dies jedeR für sich macht, zumal vielleicht der eine mehr
und der andere weniger gut planen könnte und das Glück und
Pech im Leben sich trotz menschengesteuerter Gerechtigkeit
nicht gleichmässig verteilen würde.
205
Dies würde man nicht aus herablassender Barmherzigkeit tun,
sondern durchaus in vernünftigem Eigennutz für sich selbst und
damit für alle.
Denn die Gefährdung der heutigen Menschheit
entspringt ... ihrer Ohnmacht das soziale Geschehen
vernünftig zu lenken. (Konrad Lorenz)
Man würde damit ein Werk schaffen, das zwar nicht sozialen
Charakter im herablassenden Sinn, sondern im bewahrenden
Sinn hat. Man würde vielleicht staunen, wie viel den einen das
Pech verfolgt, aber man würde den Ausgleich darin sehen, dass
die anderen Glück haben und damit nicht alle gleichviel an
diesem grossen Geldpot knabbern müssten. Man würde es
geniessen, wenn man nicht auf den Fond angewiesen wäre.
Man würde auch nicht eine Rechnung machen, dass jeder nur
gleichviel Anrecht auf Unterstützung habe und Glück und Pech
mit technischen Mitteln steuern wollen, sondern man würde es
geniessen, wenn man eben nur Beitragszahler wäre. Man würde
diesen Fond GsG (Gerechtigkeit spart Geld) nennen.
Gerechtigkeit würde Grossmütigkeit schaffen und diese würde
Neid und Missgunst klein halten. Allen wäre dieser Zustand
wichtig, weil alle davon profitieren. Gerade weil allen dies so
wichtig wäre, würde man ein Monitoring und Controllingsystem
darauf aufbauen – nicht nach dem Motto: Vertrauen ist gut,
Controlling ist besser – sondern in der festen Überzeugung,
dass dieses System anzeigt, wo es Ungerechtigkeiten gibt. Man
würde Interessen daran haben, diese aus der Welt zu schaffen,
weil sie zu ungerechtfertigten Kosten im GsG führten. Man hätte
damit ein Warnsystem aufgebaut, das wie ein Thermometer
anzeigen würde, sobald sich irgendwo etwas ereignen würde,
das das stabile Gleichgewicht aus den Fugen zu bringen droht.
206
Hilfe wird mit der Funktionalisierung der Gesellschaft „erwartbar“
und ist nicht mehr eine „Sache des Herzens,
der Moral oder der Gegenseitigkeit“.187
Nun, das bringt mich auf eine Idee: Das heutige Sozialsystem
könnte ja auch ein gesellschaftliches Thermometer sein. Dieses
System spart grundsätzlich Geld, denn es bewahrt die
Gesellschaft vor sozialen Unruhen, welche weit grösseren
materiellen und seelischen Schaden anzurichten im Stande
sind, als der ganze Fond an Geld enthält und verwaltet.
Interessant. Heutzutage wachsen die Sozialausgaben
allenthalben. Was könnte dies wohl bedeuten?
Wie reagieren wir darauf: Wir versuchen die Fenster und Türen
zu schliessen, wir dichten ab, wo es geht und wir verstopfen gar
die Ventile. Wir stellen fest: Wir können zwar das eine
Teilsystem dicht machen, aber es gibt im andern Kessel einen
Überdruck. Wir müssen die Ventile wieder entstopfen, damit es
keine Explosion gibt. Aber die Ventile werden zu Quellen und
die Quellen werden zu Strömen. Haben wir das eine System
wieder im Griff, reagiert das nächste. Statt Kosten zu sparen,
machen wir eine interessante Finanzschieberei nach dem Motto
„Schwarzer Peter“. Wir sanieren das eine Kässeli auf Kosten
des andern.
Ich habe mal ein Kind gesehen, das in einem Sandkasten eine
grosse Burg gebaut hat mit einem Graben drum herum. Dann
hat es den Graben mit Wasser gefüllt. Das Wasser versickerte.
Es hat den Graben abgedichtet. Als der Graben voll war,
überlief er an einem Ort. Er hat sofort an diesem Ort Sand
aufgeschüttet. Da überlief das Wasser an einem andern Ort. Am
Schluss zerstörte das Kind das ganze Bauwerk und liess
regelrecht am Sand seine Enttäuschung über das Misslingen
aus. Es war eine schöne Burg, ein schöner Graben. Es hätte
funktioniert. Es war mit Inbrunst gemacht.
187
Nach: Hafen, M.: Soziale Arbeit in der Schule zwischen Wunsch und
Wirklichkeit, interact, Luzern, 2005, S. 32f.
207
Was fehlt, ist eine gesellschaftlich anerkannte Gesamttheorie,
ein
Monitoring-,
Controllingsystem
sowie
eine
Prozessvorstellung über die Funktionsmechanismen.
Es war mal vor einiger Zeit, als man über die Endlichkeit der
natürlichen Ressourcen erst leise Töne hörte, da machte sich
ein St.Galler188 Gedanken darüber, ob man nicht eine
Prozesstheorie und ein Erfassungssystem über die verbrauchte
Energie und Rohstoffe sowie die Emissionen bei der Produktion
und die Auswirkungen durch die Verwendung und Entsorgung
erfinden könnte. Damit würden diese am Endprodukt sichtbar.
Er bezeichnete dies als die ökologische Buchhaltung. Das
System der Ressourcenverwendung würde durchsichtig und
damit steuerbar und veränderbar. Dies alles wären nicht mehr
einfach nur hinzunehmende und damit scheinbar unveränderlich
Fakten.
Ein Sozialsystem ist nichts anderes, als der
Umtausch des Matthäus-Prinzips
in das Münchhausen-Prinzip189.
Was wir im Zusammenhang mit Welt umfassender
Energiebilanz auch noch bedenken sollten, ist, dass umso mehr
Energie verbraucht wird, je mehr Menschen es gibt. Dies
bedeutet, dass, nebst der Zunahme der Friedfertigkeit, die bei
zunehmender Bevölkerung erreicht werden muss, auch der
Energieverbrauch pro Person gesenkt werden oder das
Bevölkerungswachstum auf einer „optimalen“ Stufe auf null
übergehen muss.
188
Müller-Wenk, R.: Die ökologische Buchhaltung. Ein Informations- und
Steuerungsinstrument für umweltkonforme Unternehmenspolitik, Campus,
Frankfurt, 1978
189 Wer nicht hat, dem wird gegeben! Man möge sich erinnern:
- Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben (Mt. 25; 29)
- Münchhausen-Prinzip: Münchhausen gibt einem Frierenden seinen Mantel,
obwohl er selbst nur leicht bekleidet ist. Gemäss der Legende soll es früher
bereits einen Martin gegeben haben, der für das Selbige heilig gesprochen
wurde. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Barmherzigkeit. Ich
finde aber, es sollte mehr eine vorauszusetzende Selbstverständlichkeit
darstellen, als eine auszeichnungswürdige Ausnahme.
208
Offensichtlich ist es möglich, das Bevölkerungswachstum mit
der Zunahme der Bildung und der Zunahme der Gerechtigkeit
sehr effizient zu steuern. Während bisher Kinder unter anderem
den Zweck erfüllten, im Alter für die Eltern zu sorgen, wird diese
Aufgabe durch ein funktionierendes Sozialsystem von den
direkten Nachkommen gelöst190 und virtuell verwaltet.
Zudem führt Bildung dazu, dass man sich einerseits über die
Gefahren der Überbevölkerung – und damit der Zukunft –
bewusst wird, aber auch lernt, wie Familienplanung überhaupt
möglich ist.
Bildung und damit Entwicklung (oder umgekehrt) ist also jene
emanzipative Kraft, die im Zentrum jeder weltumspannenden
Bevölkerungssteuerung stehen muss.
Natürlich darf Bildung nicht als Mittel zum Zweck errichtet
werden, denn sonst ist sie missionarisch und ideologisch statt
emanzipativ.
Man nennt es sozial, dafür zu sorgen, dass alles,
was die Reichen sich leisten können,
auch den Armen und weniger Reichen zusteht. –
Damit wird reich sein zur Tugend und nicht reich sein zur Untugend.
Zudem muss Entwicklung wiederum so sein, dass das
Wachstum in den entwicklungsfähigen Staaten nicht unmöglich
und schon gar nicht von den so genannt entwickelten Staaten
einseitig dekretiert wird.
Wenn jedoch das Bevölkerungswachstum insgesamt auf null hin
tendiert, so werden einige Länder und Gegenden ein
190
Übrigens ein interessanter Ansatz, um darüber nachzudenken, woher die
Idee der Altersvorsorge ursprünglich stammt, wie sie weiterentwickelt wurde
und was sie jetzt für Auswirkungen hat. Zudem: Unsere Altersvorsorge scheint
bei sinkender Geburtenrate aus den Angeln gehoben zu werden. Entweder wir
entwickeln für dessen Finanzierung Partnerschaften mit Ländern mit hoher
Geburtenrate oder wir lassen Immigration zu (wie es heute passiert, ohne dass
dies aber in der Öffentlichkeit so zur Kenntnis genommen und gedeutet wird)
damit die Zugewanderten uns helfen, dass mit ihrer höheren Geburtenrate
unser Land nicht ausstirbt sowie sie uns auch sonst helfen, die steigende
Belastung für die Altersvorsorge zu tragen.
209
Minuswachstum haben, währendem andere Länder weiter
wachsen.
Diejenigen
Länder
mit
sinkendem
Bevölkerungswachstum müssen die Altersvorsorge umstellen,
weil diese von der Grundannahme des Bevölkerungswachstums
ausgeht.
Metalog: Sozialwerke würden missbraucht, haben wir am
Anfang gehört. Nun, ich habe versucht aufzuzeigen, dass diese
Idee eine Versuchung ist, der viele tranceartig erliegen: Die
einen, indem sie dies in Kadavergehorsam nachbeten, die
andern, indem sie dagegen ankämpfen, als ob es darum ginge,
das Ganze zu Fall zu bringen – obwohl man damit, dass man
die Konstruktion bekämpft, sie eigentlich nährt.
Schlicht und einfach die Fragestellung ist falsch. So falsch, dass
es sich nicht lohnt, sich damit zu befassen. Sie insinuiert, dass
damit der Kernpunkt des Sozialsystems getroffen wird. Sie
richtet die Anhänger und die Gegner dieses Themas schliesslich
auf die Frage aus: Braucht es ein Sozialsystem oder nicht?
Jedoch: Wir haben ein Sozialsystem eingerichtet, weil es billiger
und einfacher ist, als dass jede Erdenbürgerin selbst und allein
dafür sorgt.
Dass das Sozialsystem auch noch die so genannten
Marktparadoxien der Wirtschaft auszugleichen hat, stellt nicht
eigentlich den Zweck des Sozialsystems dar, ist aber leider im
Moment nicht zu vermeiden. Es führt aber dazu, dass die
Wirtschaft die sozialen Kosten externalisieren kann, was
wiederum im Denken und Handeln einen verheerenden Irrungsund Wirrungskreislauf in Gang setzt.
Wo die Not am grössten ist,
da wächst das Rettende auch.191
Ebenso wie die Arbeiter langsam zur eigentlichen Last der
Wirtschaft werden, statt zur eigentlichen Produktivkraft, werden
die Armen und Bedürftigen zu jenen, die es auszuschalten und
191
In Anlehnung an Friedrich Hölderlin
210
auszutricksen gilt, statt dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr arm
und bedürftig sind.
Dafür hätten wir die Wirtschaft. Sie hat Kompetenz im Verteilen
von knappen Gütern oder gibt diese wenigsten in der Theorie
vor.
Ein Sozialsystem ist ein wirksames Frühwarnsystem für
Ungerechtigkeiten. Wenn die Kosten hochschnellen, stimmt
etwas nicht. Es muss analysiert und korrigiert werden. Es hat
etwas zu bedeuten. Dazu braucht es den Diskurs der Politik, der
Wirtschaft, der Wissenschaft und der Ethik.
Übrigens: Selbst ein gut funktionierendes Sozialsystem kann
Graubereiche in ihrer Benützung nicht ganz ausschalten und es
wäre auch vollkommen falsch und nutzlos dies zu versuchen
und zu tun. Es gibt die so genannte Pareto-Optimalität192. Sie
stellt eine Art Grösse für den Wirkungsgrad dar und enthält
Kriterien dessen optimale Einstellung.
Betroffene zu Beteiligten machen ist
menschlicher und wirkungsvoller
als der Ausbau des Versorgungssystems.
Angenommen man würde erreichen wollen, dass es keinen
„Schwarzfahrer“
mehr
gäbe,
so
müsste
der
Verwaltungsaufwand, entweder um ihn zu vermeiden oder ihn
nachträglich zu finden, ins Unermessliche gesteigert werden.
Dies wiederum bedeutet, dass zu viel Geld in die Verwaltung
und Bürokratie des Sozialsystems gesteckt werden muss, so
viel, dass das Geld dort – beim Endverbraucher – fehlt, wo es
eigentlich hingehört.
Indem man den Wirkungsgrad vergrössern möchte, verkleinert
man den Wirkungsgrad. Und aufgepasst: Würde man Jagd auf
Mäuse machen, könnte man sie locken, aber ihnen auch den
192
Vilfredo Pareto, italienischer Ökonom, Ingenieur und Soziologe, wurde
unter anderem durch das Pareto-Prinzip (sog. 80:20 Regel) bekannt. Eines
seiner Zitate: „Die Menschen handeln nicht, weil sie gedacht haben, sondern
sie denken, weil sie gehandelt haben.“ zit. nach: www.wikipedia.org, die freie
Online Enzyklopädie.
211
Zugang verwehren. Sie kennen aber die Mäuse, sie finden
immer wieder einen Weg. Mäuse sind intelligent. Es geht also
nicht darum, das Ganze statisch anzusehen, sondern
dynamisch. Dadurch wird es allerdings immer noch komplexer.
Machen wir uns doch daran, statt das Sozialsystem als Makel
an einem perfekten Wirtschaftssystem zu betrachten, das wie
Sand im Räderwerk wirkt, es als Diagnose zu betrachten und
erwarten wir die Remedur nicht von jenen, die betroffen sind.
Verwechseln wir nicht die Ursache mit der Wirkung!
Deshalb: Sozialsysteme sind eine Hilfe. Sie sind eine
Erkenntnishilfe. Sie haben nichts mit Fürsorge in dem Sinne zu
tun, dass wir jenen Geld in die Tasche stecken, die sowieso
hilflos sind.
Da aber die Gefahr besteht, dass die Sozialkosten in einem
flotten Schwarzpeterspiel herum geschoben werden, sollten wir
uns dringend daran machen, eine Art Controlling- und
Monitoringsystem im Sinne der sozialen Buchhaltung zu
entwickeln. Solange wir nicht verstehen und darüber Konsens
erzielen können, was hier eigentlich passiert, werden wir nur
versuchen
Löcher
zu
stopfen,
aber
immer
im
Zauberlehrlingsstadium bleiben. Statt Löcher zu stopfen und
darüber zu schimpfen, dass die Ventile dem Druck nicht
standhalten, statt den Funktionsmechanismus zu verstehen und
schliesslich steuern zu können.
Früher hiess es, man sollte nicht
Hungrigen Fische geben,
sondern sie Fischen lehren.
Ich meine: Lasst sie einfach nur fischen
und anerkennt, dass sie fischen können,
aber es vielleicht anders gelernt haben.
Oder noch besser: Lernt von Ihnen
eine neue Art zu fischen, nicht zu fischen,
Fische oder Nicht-Fische kennen.
Bevor wir den Funktionsmechanismus nicht verstanden haben,
müssen
wir
mit
Sparund
so
genannten
Optimierungsvorschlägen immer scheitern. Wir sollten auch
212
keine vorschnellen Schlüsse ziehen und Sanierungswellen
anlaufen lassen.
Selbstverständlich sollten Anreize so gesetzt sein, dass sie nicht
dafür sorgen, dass jemand sich ohne Not sozialhilfeabhängig
macht und wenn jemand es ist, so schnell wie möglich danach
trachtet, sich wieder daraus zu befreien.
Wir müssen diesbezüglich auch uns davon befreien, ein
Fürsorgeprinzip anzuwenden. Fürsorge heisst letztlich, dass es
eine Voraussetzung darstellt zum Bezug der Leistungen, dass
jemand als unfähig betrachtet wird. Dies kann zwar sein. Es
bleibt aber trotzdem eine Haltung, die auf Dauerhaftigkeit von
Sozialabhängigkeit angelegt ist. Sie entzieht dem Abhängigen
quasi per Dekret die Zurechnungsfähigkeit und muss sie ihm zur
Erzeugung von neuer Unabhängigkeit wieder mit Druck
aufoktroyieren. Das muss schief gehen.
Man muss auch bedenken, dass es neben einem Attraktor
(Anziehungskraft) auch einen Repulsor (Abstosskraft)193 gibt.
Beide Kräfte zusammen können damit erst erklären, dass etwas
mehr angestrebt wird und etwas anderes zu vermeiden
getrachtet wird.
Soziale Buchhaltung:
So könnte das Sozialsystem
einen Beitrag leisten
zur Lösung der sozialen Probleme,
anstatt sie nur verwalten zu müssen.
Ja, natürlich stimmt etwas nicht. Aber wozu nur jammern?
Stellen wir unser Sozialsystem als Zusammenfassung von
Fürsorge, Krankenkasse, Unfall- und Invalidenversicherung,
Altersvorsorge194 auf neue Beine. Entwickeln wir eine
Konzeption, die es ermöglicht systematisch so einzugreifen,
193
Dies, zusammen mit einer dritten Kraft, der Fugaldynamik (Ausweichen,
egal wohin), kann dazu führen, dass man scheinbar in Hysterese
(Überhangstabilität) verharrt.
194 Um die Arbeitslosigkeit, insofern als hier das Verursacherprinzip gelten soll,
hat sich die Wirtschaft zu kümmern, deshalb würde diese „Vorsorge“ nicht im
engeren Sinn zum Wohlfahrtssystem gehören.
213
damit nachhaltige Verbesserungen und Veränderungen erzielt
werden können. Lösen wir uns davon, das soziale Problem
lediglich vom Einzelnen her zu betrachten, der uns scheinbar
unbegründet auf der Tasche liegt. Betrachten wir den
Betroffenen als fähig, seinen Teil dazu beizutragen, die eigene
Unabhängigkeit wieder zu erreichen, falls das System selbst
stimmig ist und damit auch die entsprechenden Anreize setzt.
Die Zeiten, da das Helfen noch geholfen hat,
sind unwiderruflich vorbei195.
195
Gronemeyer, M.: Wo geholfen wird, da fallen Späne, S. 170. In: Sachs, W.
(Hg.): Wie im Westen, so auf Erden, Rowohlt, Reinbek, 1993. S. 170 - 194
214
215
216
Wissenschaft: Empirie genügt nicht!
Seit Heisenberg196 wissen wir,
dass wir entweder sehr genau
über Unwesentliches oder sehr vage
über Wesentliches berichten können.
Wir müssen uns also entscheiden!
Dialog: „Dieses Mikroskop ist kaputt.“ Mama: „Es ist neu.“ Kind:
„Es funktioniert nicht.“ Mama: „Was hast du denn schon darum
herum gemacht? Du hast es sicher kaputt gemacht. Dabei hast
du es eben erst geschenkt bekommen. Ich hab dir immer
gesagt, dass du mit solchen Dingen sorgfältig umgehen sollst.
Sie sind wertvoll und das Mikroskop ist ein Geschenk.“ Kind:
„Ich habe doch gar nichts Schlimmes gemacht. Ich möchte hier
nur schauen.“ Mama: „Du musst die Schärfe eben einstellen. Du
kannst oben beim Okular und auf der Seite drehen, damit du es
scharf siehst.“ Kind: „Das mache ich ja dauernd.“ Mama: „Was
möchtest du denn betrachten?“ Kind: „Ich habe da eine tote
Fliege gefunden und unters Mikroskop gelegt.“ Mama: „Zeig
mal, warum sollte das nicht gehen?“ Schaut durchs Mikroskop,
dreht an den Rädchen. „So jetzt kannst du die Augen scharf
sehen. Ich hab’ darauf scharf gestellt. Schau mal, da.“ Kind:
(betrachtet die Facettenaugen) „Ja, das habe ich auch schon
hingekriegt.“ Mama: „Warum bist du denn nicht zufrieden?“
Kind: „Ich möchte die ganze Fliege scharf sehen.“ Mama: „Ja,
das geht natürlich nicht.“ Kind: „Warum nicht? Das Mikroskop ist
kaputt.“ Mama: „Das Mikroskop ist nicht kaputt. Du kannst nur
Teile scharf sehen. Immer wieder andere, auf die du scharf
Werner Karl Heisenberg (1901 – 1976) war Physiker. Er entdeckte, dass in
der Quantenphysik scheinbar andere Gesetze gelten, als in der Welt, die wir
uns vorher vorgestellt hatten. Die Unschärferelation bezeichnet das
theoretische Phänomen, dass wir unter einem Mikroskop den Ort eines
Teilchens umso unschärfer sehen könnten, je genauer wir den Impuls
bestimmen wollten. Dadurch, dass Photonen, also Licht zum „Sehen“, auf das
Teilchen prallen, verändern wir das zu erfassende Teilchen. Wir wissen nicht,
was wir sehen. Wir tappen im Dunkeln. Wir sind Veränderer und nicht wertfreie
Entdecker. Wir können nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen, aber nichts
Genaueres. Wir müssen immer etwas ausblenden und auslassen, um etwas
anderes „festzustellen“.
196
217
stellst.“ Kind: „Warum kann ich denn nicht die ganze Fliege
sehen?“ Mama: „Das Mikroskop eignet sich nur dazu, dass du
flache Dinge ganz betrachten kannst.“ Kind: „Du meinst, ich
muss die Fliege flach drücken, damit ich sie betrachten kann?“
Mama: „Ja, mein Kind.“ Kind: „Aber dann ist die Fliege kaputt.
Dann kann ich sie nicht mehr betrachten.“ Mama: „Das ist aber
so bei einem Mikroskop.“ Kind: „Ich muss also etwas kaputt
machen oder zerschneiden, damit ich es sehen kann?“ Mama:
„So ist es. Du kannst immer nur Teile scharf sehen.“ Kind:
„Wenn ich die Dinge kaputt machen muss oder nur Teile sehen
kann, dann nützt mir das Mikroskop nichts.“ Mama: „Lass es gut
sein. Viele wichtige Entdeckungen der Wissenschaft sind unter
dem Mikroskop gemacht worden.“ Kind: „Bezieht die
Wissenschaft ihre Entdeckungen daraus, dass sie Dinge kaputt
macht oder nur Teile davon sieht?“ Mama: „Ja, man kann sie
sich dann im Kopf wieder ganz vorstellen.“ Kind: „Ich möchte
nicht Wissenschaftler werden. Ich möchte die Dinge ganz sehen
lernen.“
Es ist dringender denn je nötig,
dass Wissenschaft dem immer stärker werdenden
Auseinanderdriften von Gesellschaft
und Wissenschaft entgegenwirken.197
Antilog:
Die
Wissenschaft
leidet
unter
einem
Empirismuszwang198. Alles muss erforscht werden, noch
genauer, noch tiefer, noch besser. Es ist zu einer Art
Spitzensport
geworden,
mit
allen
entsprechenden
Auswirkungen, den andern zu überflügeln, noch schneller, noch
höher, noch weiter... Die Neugier ist dabei vollkommen
197
Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S.
10
198
Als Begründer des naturwissenschaftlichen Empirismus gilt Sir Francis
Bacon (1561-1626). Er kritisierte die Täuschung unserer Wahrnehmungen
durch Ideale, hat sich aber in seinem Werk New Atlantis, in welchem er die
Segnungen der technischen Entwicklung im Voraus pries, ziemlich
verspekuliert. Bacon, F.: Neu-Atlantis, Reclam, Ditzingen, 1982 (engl.
Erstausgabe 1624)
218
ungezügelt: Forschen um des Forschens willen, nur weil man es
kann.
Es wird eine Geschichte erzählt. Es war verpönt, den König von
Bayern bei seinen Kutschenfahrten zu überholen. Der
Lohnkutscher Krenkl, der ausserordentlich stolz war auf seine
schnellen Pferde, konnte es nicht lassen, überholte den König
und rief ihm respektlos199 zu: „Tja, Majestät, wer ko, der ko!“
(Der Ausspruch bedeutet: Wer kann, der kann. – Er wollte damit
sagen, dass seine Pferde eben schneller seien, als jene des
Königs.)
Sicher ist die Forschung ein wesentliches Element der
Wissenschaft und sicherlich ergibt sich aus der Forschung ein
grosser, unverzichtbarer Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft
und deren Entwicklung. Aber: Immer stärker zeigt sich auch,
dass die Wissenschaft mit diesem Ansatz an Grenzen der
Erkenntnis stösst, die sie dazu zwingt, von der Spezialisierung
weg zur Integrierung und Interdisziplinarität zu finden. Solche
Entwicklungen sind insbesondere in der theoretischen Physik
immer stärker zu entdecken: Physik und Metaphysik beginnen
sich zu vermischen. Die Physik stösst an den Grenzen der
jetzigen Forschung auf Fragen, welche sich mit Physik und
Naturwissenschaft nicht ergründen, erklären und verstehen
lassen. Bisher waren, wie Heinz von Foerster200 sagt, die „Hard
sciences (Naturwissenschaften)“ so erfolgreich, weil sie sich mit
den „soft problems (triviale Fragen)“ beschäftigten. „Soft sciences (Sozial- und Geisteswissenschaften)“ jedoch hatten grosse
Schwierigkeiten, weil sie sich mit den „hard problems
(existentiellen, nicht-trivialen Problemen)“ beschäftigten.
199
Selbstverständlich steht in meiner baronesk-demokratischen Gesinnung
nicht die Respektlosigkeit gegenüber dem König im Zentrum, sondern der
zwanghafte Drang, alles, was man kann, auch zu tun und sich dafür zu brüsten
(Machbarkeitswahn).
200 Foerster, H. v.: KybernEthik, Merve, Berlin, 1993
219
Ich erkenne nur innerhalb dessen,
was ich vorher erfunden habe.
Die Wissenschaft hat sich vor lauter Analytik und Akademik in
einen Elfenbeinturm zurückgezogen oder sich der Wirtschaft
angedient. Sie hat sich vor lauter analytischem Vorgehen,
Denken und Entdeckerdrang – der immer auch ausliess, dass
es eigentlich keine Entdeckungen sind, welche man macht,
sondern Erfindungen – vergessen, dass es mehr dafür braucht
als Intelligenz und Neugier um von den grossen Fragen her zu
forschen, welche lauten: Wohin? Wozu? Wofür? Die Zeit der
rohen Machbarkeit ist vorbei. Nun geht es wieder um die
Sinnfrage.
Wir können es uns nicht mehr leisten, der Forschung und der
Wissenschaft jene Narrenfreiheit zu geben, welche die Kunst
hat. Sie muss vermehrt zu jenen Fragen Forschung treiben,
welche wirklich brennen. Synthetik, Synergetik, Emergenz,
Kreativität und vor allem Ethik sind gefragt. Die Wissenschaft
stellt quasi die Intelligenzia der Gesellschaft dar, die zu den
„hard problems“ Ideen- und Möglichkeiten-Lieferant sein sollte.
In der falschen Richtung („Effektivität“) wird man
auch mit Akribie („Effizienz“) nicht fündig.
Wir optimieren die Effizienz.201
Dazu braucht es allerdings die Überwindung des vom
Kleindenken geprägten reinen Empirismus, welcher wie ein
Sakrileg gehütet wird und seit jeher gegolten hat. Weshalb soll
diese heilige Kuh geschlachtet werden? Der Konstruktivismus
als Erkenntnistheorie zeigt uns, dass es keine Erkenntnis gibt,
ohne dass wir das, was wir erforschen, auch verändern. Im
schlimmsten Fall entdecken wir ständig Artefakte, also Dinge,
welche wir selbst bewirkt oder beeinflusst haben – und dies
unter dem streng gehüteten Mantel der Wahrheit, der
201
Wir optimieren ständig die Effizienz und wundern uns, wenn die Richtung
dieselbe bleibt. Hohe Geschäftigkeit heisst noch gar nichts. Vgl. den Spruch
zum Strom der Lemminge auf S. 8
220
Wirklichkeit, der Empirie und der Objektivität202. Dies bedeutet,
dass Wissenschaft und Forschung keine Entdeckungen
machen, sondern Erfindungen.
Was auf jeden Fall gehütet werden muss, ist die Unabhängigkeit
der Forschung. Sie soll in der Gesellschaft einen ähnlichen
Stellenwert haben wie die Kunst, die Religion, das Recht und
die Wirtschaft.
Bereits Kant postulierte, dass die Geisteswissenschaften
in Zukunft einen Auftrag zur „Beratungen der Machthabenden 203“
(der Regierung) haben werden.
Ich postuliere dies heute nicht. Ich stelle fest,
dass dies dringend notwendig ist.
Diese Unabhängigkeit erst ermöglicht der Gesellschaft die volle
Nutzung der Forschung und Wissenschaft und die Kooperation.
Die Wissenschaft muss sich nicht mehr im Elfenbeinturm
verstecken, sie kann sich bewusst werden, dass letztlich jede
Forschung Gestaltung ist, dass letztlich jede Forschung nicht
wertfrei ist und sein kann und dass somit jede Forschung
Aktions- und Praxisforschung und somit angewandte Forschung
ist.
Metalog: Wesentlich ist, dass zuerst und im Vordergrund die
Idee steht, vor jeder empirischen Tätigkeit, welche wiederum nur
die Relevanz der Idee, bzw. die Anwendung der Idee beweisen
soll.
Wenn wir die Empirie in den Vordergrund stellen, dann können
nur jene einen Forschungsbeitrag leisten, welche einen
202
Nehmen Sie nur zum Beispiel die Intelligenzforschung. Früher glaubte
man, dass dies eine stabile Eigenart von Menschen sei. Deshalb konstruierte
man Testverfahren, die auf der Idee aufbauten, dass bei zwei Messungen in
grösserem oder kleinerem zeitlichen Abstand am gleichen Menschen, das
gleiche Resultat heraus kommen muss. Heute weiss man, dass die Intelligenz
plastisch ist. Man hat aber noch keine Testverfahren entwickelt, die dieser
neuen Erkenntnis entsprechen. Vielleicht ist es sogar so, dass es gar nicht
mehr möglich und sinnvoll ist, Testverfahren zu entwickeln, die eine instabile
Eigenschaft stabil zu messen versuchen.
203 Reich, K. (Hg.): Kant, I.: Der Streit der Fakultäten. Meiner, Hamburg 1959,
S. 30
221
Forschungsapparat zur Verfügung haben, also das Geld und die
Macht. Dies wiederum führt dazu, dass nicht der gesamte Korb
an Ideen, welche im Volk schlummern, genützt wird.
Im Klima der Berechenbarkeit
spriesst das Unberechenbare prächtig.
Denken ohne Fühlen ist irrational204.
Die meisten grossen Erfindungen unserer Zeit sind
Gedankenblitze, glückliche Zufälle und Eingebungen: Galileo
erfand die Schwerkraft, als ihm ein Apfel auf den Kopf fiel.
Archimedes erfand das spezifische Gewicht, als er in die
Badewanne stieg und sah, dass das Wasser überschwappte.
Galvani erfand die Anwendung der Elektrizität, als er
dummerweise in seinem Laboratorium für seine Frau
Froschschenkel zubereitete. Kekulé erfand die Struktur des
Benzolmoleküls, als er von einer Schlange träumte. Natürlich
sagte Thomas Alva Edison, dass hinter solchen Erfindungen 99
% Transspiration stecke und nur 1 % Inspiration, das schmälert
aber die Bedeutung der Idee an sich nicht im Geringsten.
Ein Freund aus dem wissenschaftlichen Adel wollte einst vor
Zeiten einen Artikel veröffentlichen, der neue Ideen enthielt.
Diese wollte er in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen.
Der Artikel wurde mit der einleuchtenden, aber lapidaren
Begründung abgelehnt, dass er nicht empirisch sei. Später
erhielt er für die gleiche Idee den Nobelpreis205. Ich meine, dass
die Inspiration der Motor der Wissenschaft sein muss und nicht,
dass eine Idee nur dann wichtig ist, wenn man gleichzeitig den
ganzen Apparat dazu zur Verfügung hat, um sie zu erforschen.
Ideen darf man offensichtlich nur in philosophischen
Zeitschriften veröffentlichen.
204
Simon, F. B.: Der Prozess der Individuation. Vandenhoeck & Ruprecht.
Göttingen, 1984, S. 79
205 Es handelt sich um Albert Einstein
222
Wir forschen immer mehr ins Detail und vergessen dabei, dass
die grossen Entwürfe fehlen206. Ich meine damit, dass wir wohl
ins Weltall fahren können, aber diese Möglichkeit langsam dazu
verwendet wird, um eine Ausweichlösung zur Verfügung zu
haben, falls das mit der Erde schief geht. Sollten wir da unsere
Kräfte nicht besser darauf konzentrieren, eine Gesellschaft
aufzubauen, die wieder ehrfürchtig voreinander und vor der
Natur ein Zusammenleben übt, das das Überleben sichert.
Psychologie als Seele der Wissenschaften.
Sollen wir wirklich unsere Intelligenz darauf richten, die
Teflonpfanne (so genanntes Abfallprodukt der Raumforschung)
zu erfinden – damit nichts mehr klebt – oder den genetischen
Code des Lebens zu entziffern, damit wir unsterblich werden?
Hand aufs Herz: Wie viele Forschungsgelder fliessen in die
Friedensforschung, in die ökologische Forschung, in die soziale
Forschung im Vergleich zur technischen Forschung? Warum ist
das so? Offensichtlich lassen sich aus den ersteren
Forschungsbereichen weniger käufliche Produkte entwickeln.
Deshalb entsteht scheinbar der Eindruck, es lohne sich nicht. Ist
das nicht eine monetaristische, materialistische und damit
reduktionistische Einschränkung lohnenswerten Handelns?
Klar, diese Forschungsgebiete stellen keine Eindeutigkeit und
keine Linearität her. Man ist auf Wahrscheinlichkeiten
angewiesen. Man denkt in komplexen Wirkungskreisläufen,
welche einander gegenseitig bedingen. Man kann nur
Empfehlungen davon ableiten und keine Gewissheit. Trotzdem
würde die Forschung helfen, Schritte nicht von Beginn weg in
die falsche Richtung zu lenken, sie könnte begleiten im Sinne
von Prozessforschung. Die Erkenntnisse entstünden, während
man geht. Man wäre nicht darauf angewiesen zu warten, bis
man ins letzte Detail herausgefunden hat, „was die Welt im
Im Jahre 1990 fand in Heidelberg ein Kongress mit dem Thema „Das Ende
der grossen Entwürfe“ statt. Sicher, Bescheidenheit ist angesagt, aber
Mutlosigkeit wäre übertrieben. Fischer, H. R., Arnold Retzer, A., Jochen
Schweitzer, J. (Hg): Das Ende der grossen Entwürfe. Suhrkamp, Frankfurt,
1992
206
223
Innersten zusammenhält (Goethe, Faust)“. Aber es wäre
fahrlässig zu warten, bis die Welt im Innersten zusammenfällt.
Es braucht Mut, zu ändern, was zu ändern ist,
Gelassenheit, zu ertragen, was nicht zu ändern ist und
Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden207.
Mittlerweile stossen aber andere Wissens-, Forschungs- und
Wissenschaftsgebiete auch an ähnliche Grenzen, sodass die
Grenzen zwischen „hard“ und „soft sciences“ fliessend werden
und das gegenseitige Verständnis für die Schwierigkeiten
wächst, was eine unabdingbare Voraussetzung für die
notwendige Interdisziplinarität darstellt.
Statt immer mehr eingeschränkte und genau kontrollierte Experimente
über isolierte Fähigkeiten … ,
sollten wir lieber komplette Systeme studieren.208
Konstruktivistische Wissenschaftstheorie legt den Fokus
weniger auf Erforschung, sondern mehr aufs Gestalten, weniger
aufs Suchen, sondern aufs Finden, weniger aufs Machbare,
sondern mehr aufs (Un)mögliche, weniger auf Materielles,
sondern mehr auf Existenzielles. Die neue und kontroverse
Wissenschaftstheorie hält fest: „Das Nervensystem ist so
organisiert (bzw. organisiert sich selbst so), dass es eine stabile
Realität errechnet.209“
Der Buchtitel „What you can change and what you can’t“ von Martin
Seligman, dem Begründer der positiven Psychologie, lehnt sich am so
genannten Serenity Prayer (dt. Gelassenheitsgebet) an, auf welches sich der
obige Sinnspruch bezieht. Seligman, M. E.: What you can change... and what
you can’t (learning to accept who you are), Fawcett, New York, 1995. Das
Serenity Prayer wurde verbreitet von Reinhold Niebur, wird aber
fälschlicherweise auch Franz von Assisi, Niklaus von Flüe, Friedrich Christoph
Oetinger, Dietrich Bonhoeffer u.a. zugeschrieben.
208 Vorschlag des japanischen Psychologen Toda als Alternative zum
traditionellen Weg der akademischen Psychologie, zit. nach: Haken, H.;
Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S. 238
209 Foerster, H. v.: Wissen und Gewissen, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1993 zit.
nach: Lutterer, W.: Starre Selbstbilder als Barrieren beim Umgang mit
komplexen Situationen In: Lernende Organisation – Zeitschrift für
207
224
Was bedeutet dies? Ein komplexes System (Mensch) kann kein
komplexes System (Welt, Universum) erkennen. Es kann es nur
anregen und sich von ihm anregen lassen und hoffen, dass sich
das erkennende System und das zu erkennende System
einander gewogen sind und statt Rauschen Zuverlässigkeit
(Wiederholbarkeit und Eindeutigkeit) erzeugen. Wir befinden
uns dabei aber weit jenseits des Kausalitätsparadigmas.
Wir befinden uns damit im Münchhausen Trilemma210. Es ist so
schaurig schön, dass ich ihm gerne meinen Namen geliehen
habe. Wenn ich behaupte, dass ich mich am eigenen Schopf
zum Sumpf herausziehen kann, so wird es Menschen geben,
die mehr davon haben wollen, als nur die Belustigung über den
rettenden Einfall und heiteren Vorgang. Sie wollen Erkenntnis,
es verstehen, es begreifen. Diese und ich als jener, der erklären
muss, landen dann aber unweigerlich in nachstehenden
Abfolgen:



Unendliche Begründungskette: Sie kennen dies von
fragenden Kindern, die nicht mehr aufhören, bis einem der
Schnauf ausgeht. Es könnte unendlich weitergehen.
Zirkelschluss: Sie retten sich dann häufig, indem sie die
Unendlichkeit abkürzen und in etwa sagen, dass es so ist,
weil es so ist.
Behauptung: Oder sie greifen zum zweiten Rettungsanker
und sagen. Es ist so, basta.
Es gibt keine Erkenntnis.
Es gibt nur Konstruktion von
Sinnzusammenhängen.
Darüber lässt sich keine letztgültige Erkenntnis211 gewinnen –
Sie können es drehen und wenden wie sie wollen. Gründet
systemisches Management und Organisation, Institut für systemisches
Coaching und Training, Wien, 24/2005, S. 25
210 Begriff ursprgl. von Gottlob Frege (1848-1925) Mathematiker. Weiter
vertieft in: Albert, H.: Traktat über die kritische Vernunft. UTB, Stuttgart, 1991
211 Bereits Jean Piaget, der bedeutende Schweizer Entwicklungspsychologe
sagte darüber: „… wir geraten so in einen Zirkel, ohne jemals wissen zu
können, ob unser Abbild des Vorbildes diesem entspricht oder nicht.“ Piaget,
J.: (1970, S.22 zit nach: Rusch, G.; Schmidt, S. J. (g.): In Piaget und der
225
Erkenntnis letztlich in einer Glaubensfrage? Sind es die Ideen,
welche Erkenntnis auslösen und nicht die Wirklichkeit?
Der Wahrheitsgehalt, die Bedeutung und die Gestaltungskraft
von Tendenzen und Potentialen ist grösser als jene von Tatsachen.
Offensichtlich werden wir daraus positive Zukunftsentwürfe
ableiten müssen, dass wir anerkennen, abhängig zu sein, in
Zirkeln gefangen zu sein und das „Aha-Erlebnis“ immer nur
einen Augenblick des Innehaltens in der Abfolge der
Interpunktion212 der Ereignisse darstellt.
Wenngleich es auch manche … nicht … wahrhaben wollen,
so wird die physikalische Forschung …
von philosophischen Grundsätzen geleitet.213
Das dazu passende Bild der Entwicklung ist die Spirale. Sie
verleiht dem unablässigen im Kreis Drehen und unermüdlichen
Bemühen eine Dimension mehr, die uns aus der vermeintlichen
Sinn- und Hoffnungslosigkeit zu befreien im Stande ist. Gerade
weil es kein Ende gibt, müssen wir uns weder ereifern, noch
auspowern, noch konkurrenzieren. Das beruhigt. Das wiederum
adelt. Und wie Sie wissen: Adel verpflichtet.
Rätsel:
Was ist das?
Sie brauchen es zum Leben?
Kaum jedoch will man es fassen,
entwischt es einem zwischen den Fingern.
Es ist die Luft.
Einatmen, ausatmen.
Es ist ein Kreislauf.
Fühlen Sie sich darin gefangen?
Seit zirka 400 Jahren ist eine Frage noch ungeklärt: Das GalileiProblem214. Wer hat in der Erkenntnis Vorrang: Die Religion
Radikale Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1994. Vielleicht geht es aber
auch weniger um wahre Erkenntnis, sondern mehr um Lernen und Kreativität.
212 Zur Interpunktion vgl. S. 85
213 Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S.
65
226
oder die Wissenschaft. Offensichtlich schlug Galilei die
Wissenschaft dafür vor. Der Papst jedoch forderte Galilei auf,
dieses Weltbild als Hypothese zu vertreten. Es blieb
unentschieden, obwohl Galilei sein Versprechen brach.
Ich wäre ein Kamel, wenn ich diese Frage, über die Gras
gewachsen ist, jetzt entscheiden würde. Jedoch kann ich mich
dessen kaum erwehren: Mich deucht gewiss, dass das Eine
zentraler sein könnte, als das Andere. Sie mögen dies der
Grafik auf S. 76 entnehmen.
Sinn schaffen kann die Wissenschaft alleine nicht. Sie kann
Wege und Möglichkeiten vorschlagen und ihre Wirkung
überprüfen. Wissenschaft ist wichtig, aber sie schafft nicht
alleine Sinn. Ebenso wenig ist wissenschaftliches Handeln
bereits in sich ethisch und damit wertvoll. Dafür braucht es den
interdisziplinären Diskurs.
Der Ursprung der Wissenschafts- … kritik und –skepsis
liegt … in dem Versagen der wissenschaftlich-technischen
Rationalität angesichts wachsender Risiken
und Zivilisationsgefährdungen.215
Auch ohne Wahrheit lässt sich Wissenschaft betreiben,
vielleicht sogar besser, ehrlicher, vielseitiger, frecher, mutiger.216
Forschung um der Forschung willen nach dem Motto: „Wer ko,
der ko,“ ist nicht mehr zeitgemäss. Wir können es uns nicht
erlauben, die Kräfte zu verzetteln. Wir müssen sie bündeln. Die
verschiedenen Bereiche der Gesellschaft müssen nicht um
Macht oder Vorherrschaft buhlen. Sie sind alle nötig und
aufeinander angewiesen, um Ideen zu generieren und Konsens
zu schaffen. Der Wissenschaft steht nach wie vor eine wichtige
214
Nach: Lütz, M.: Der blockierte Riese, Psycho-analyse der katholischen
Kirche, Knaur, München, 2001, S. 146ff.
215 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. S. 78
216 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. S. 272
227
Rolle zu. Vielleicht muss ihr gesellschaftlicher Auftrag sogar
noch an Bedeutung gewinnen.217
Die offizielle Forschung verkürzt sich ...
auf ein Unternehmen zur Prüfung von A-priori-Hypothesen.
Was deren Begründung und Herleitung betrifft,
scheint es oft so, als würden sie vom Himmel fallen
oder vom Klapperstorch gebracht werden.218
Blosse Tatsachen-Wissenschaften
machen blosse Tatsachen-Menschen.219
217
Zu diesem Kapitel vgl. auch: Luhmann, N.: Die Wissenschaft der
Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1992
218 Prinz, W.: Wahrnehmung und Tätigkeitssteuerung, Springer, Berlin 1983.
Auch Dietmar Hansch schreibt: „Nicht ganz zu Unrecht macht man der
akademischen Psychologie oft den Vorwurf, mit sauberen wissenschaftlichen
Methoden an den eigentlich relevanten Problemen ‚vorbeizuforschen’.“
Hansch, D.: Psychosynergetik, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1997, S. 7
219 Husserl, E.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie. Den Haag, 1954, S. 4. Neudruck: Meiner,
Hamburg, 1996
228
229
230
Gesundheit: Lebenseinstellung statt Versorgung
Die medizinische Versorgung hat nur geringe
Auswirkungen auf den Gesundheitszustand
der Bevölkerung eines Landes220.
Dialog: „Mama, Mama, das ist ja schrecklich!“ Mama: „Was
beunruhigt dich so? Komm mal zu mir. Lass dich in die Arme
nehmen.“ Kind: „Mama, in der Tagesschau221 haben die gesagt,
dass 50 % der Schweizer krank sind.“ Mama: „Ja, ich habe es
auch gehört. Das macht mich auch nachdenklich. Aber schau,
wir sind gesund.“ Kind: „Ja aber Mama, 50 % sind sehr viel.
Werde ich jetzt auch krank?“ Mama: „Nein mein Kind, wir leben
gesund.“ Kind: „Aber es könnte doch sein, dass wir eine
Krankheit haben, aber sie gar nicht merken! Das ist mir
unheimlich.“ Mama: „Warum hast du Angst? Wenn es dir gut
geht, so bist du gesund.“ Kind: „Aber mir geht es gar nicht gut.
Gestern hatte ich so Durchfall. Jetzt habe ich so einen Druck im
Kopf. Mein Bein schmerzt.“ Mama: „Gestern hast du etwas zu
viel Süssmost getrunken. Jetzt ereiferst du dich, deshalb spürst
du einen Druck im Kopf. Das Weh im Bein kommt vom
Wachsen.“ Kind: „Du nimmst mich nicht ernst. Morgen musst du
mit mir zum Arzt gehen.“ Mama: „Wir gehen sicher nicht zum
Arzt.“ Kind: „Wovor hast du Angst, wenn wir zum Arzt gehen.“
Mama: „Ich habe keine Angst. Du bist gesund. Dann geht man
nicht zum Arzt.“ Kind: „Andere tun das aber auch. Der Arzt
könnte vielleicht doch etwas finden, wer weiss.“ Mama: „Eben.“
Kind: „Ich fühle mich krank.“ Mama: „Siehst du, wie aus
220
Überraschender Schluss eines Forschungsberichts des Canadian Institue
for Advanced Research. Den grössten Einfluss haben die Arbeitsbedingungen.
Zit. n. Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002, S. 233f
221 Meldung Tagesschau SF DRS, Winterhalbjahr 2004/2005. Als krank wurde
jemand operationalisiert, der mehr als ca. CHF 1’500.-/Jahr von der
Krankenversicherung bezieht. Eigentlich hat dies wenig damit zu tun, wie hoch
der allenfalls kranke Prozentsatz der Bevölkerung ist, sondern vielmehr damit,
wie stark es üblich geworden ist, sich alles mögliche bezahlen zu lassen, statt
es selbst zu bezahlen und zu verantworten. Man schlägt möglichst hohen
Profit aus der immer teurer werdenden Krankenversicherung. Wem wäre dies
wirklich zu verargen – auch wenn es natürlich ein wesentliches und damit ernst
zu nehmendes Element der verheerenden Dynamik darstellt?
231
Beunruhigung Krankheit entsteht. Deine Beunruhigung kann dir
der Arzt nicht nehmen, ausser er verschreibt dir etwas. Bist du
dann beruhigt?“ Kind: „Nein, dann bin ich krank.“ Mama: „Wie 50
% der Schweizer.“
Im Unterschied zur krankenorientierten,
patientenzentrierten Medizin steht eine
krankheitsorientierte Medizin in der Gefahr,
dass der medizinisch-technologische Fortschritt
zum Selbstzeck wird.222.
Antilog: „Sie erwähnen das Münchhausensyndrom. Dieses ist
zwar ein verbreiteter Ausdruck, aber ein sehr seltenes
Phänomen. Ein Münchhausensyndrom zeigen Patienten, die
gewohnheitsmässig körperliche oder psychische Störungen
vortäuschen, um dadurch die Aufnahme in Krankenhäuser zu
erwirken.
Beispielsweise können Nachahmungen von
Schmerzen oder das Bestehen auf das Vorhandensein anderer
Symptome so überzeugend und hartnäckig dargestellt werden,
dass wiederholt Untersuchungen oder gar Operationen in
verschiedenen Krankenhäusern oder Ambulanzen durchgeführt
werden, trotz mehrfach negativer körperlicher Befunde. Die
Motivation für dieses Verhalten ist fast immer unklar. Heute
nimmt man an, dass dieses Zustandsbild als eine Störung im
Umgang mit Krankheit und der Krankenrolle interpretiert werden
kann.223“
Körtner, U. H. J.: „Lasset uns Menschen machen“ C.H. Beck, München
2005. S. 123 (Hervorhebungen vom urspgr. Verfasser)
223 Kurmann, J., Chefarzt Psychiatriezentrum Luzern-Stadt, als Antwort auf
eine Leserinnenfrage in der Neuen Luzerner Zeitung; Ratgeber, Ausgabe
10.09.2002
222
232
Die unendliche Maximierung der Gesundheit
wird mehr Schwierigkeiten nach sich ziehen,
als die Linderung von Krankheiten224.
Immerhin komme ich da relativ prominent, wenn auch in
fragwürdigem Zusammenhang, zum Zuge. Ich hätte mir nicht
träumen lassen, dass dies mein Schicksal ist, für erfundene
Krankheiten hinhalten zu müssen und so die Kosten des
Gesundheitssystems zu belasten. Immerhin befinde ich mich in
bester Gesellschaft mit dem griechischen Arzt Galenios von
Pergamon, der den Begriff des Hypochonders225 prägte. Dieser
Begriff ist sattsam bekannt durch das Theaterstück von Molière:
Der eingebildete Kranke.
Um der bedenkenlosen Medikalisierung und Pathologisierung
von im Grunde natürlichen Vorgängen und Diversitäten
Einhalt zu gebieten, ist es notwendig,
einen Begriff von Nicht-Krankheiten zu entwickeln.226
Eigentlich sollte dies genug sein, um zu illustrieren, woher die
Krankheiten, die heute das Gesundheitssystem ad absurdum
treiben, kommen. Sie kommen aus der Enttäuschung darüber,
dass man sich nicht so wohl fühlt, wie man es sich vorstellt,
dass
aber
unserem
Gesundheitssystem
so
hohe
224
Als Alternative dazu empfiehlt Walter Krämer das Motto: (Lieber) früher zu
sterben, aber dafür besser zu leben. Krämer, W.: Die Krankheit des
Gesundheitswesens, S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 253. (Hinzufügung vom
Autor). Ein anderer Vorschlag stammt von Ivan Illich. Er formuliert fünf
Freiheiten das Leben zu feiern, u.a. auch „die Freiheit, ohne Diagnose zu
sterben“ Illich, I.: Health as one’s own Responsibility – no. Thank you. Rede
gehalten am 14. 09. 1990 in Hannover.
225 Übrigens: Wussten Sie, dass selbst diese „Krankheit“ Eingang gefunden
hat in die international anerkannte Klassifikation der Krankheiten? Z. B.:
Schulte-Markwort, M., Marutt, K.; Riedesser, P. (Hg.): Cross walk ICD-10 –
DSM IV: Klassifikation psychischer Störungen: eine Synopsis, Bern, Huber,
2002. Es macht keinen Sinn, dass man Pseudokrankheiten als Krankheiten
bezeichnet. Auch den Betroffenen ist man durch diese Pseudolegitimierung
wenig behilflich.
226 Körtner, U. H. J.: „Lasset uns Menschen machen“ C.H. Beck, München
2005, S. 126 Vgl. auch Smith, R.: In Search of Non-Disease, British Medical
Journal 342, 2002, S. 883-885.
233
Reparaturkompetenz unterstellt wird, dass man mit „sich nicht
Wohlfühlen“ schon bereits Anspruch auf solche Pflege hätte.
Wohlbefinden hat nichts mit Abwesenheit von
Krankheit zu tun. Sie lässt sich auch nicht erzeugen
durch Steigerungsformen von Gesundheit.
Überdies wird uns weis gemacht, dass man unbedingt alles
ausschliessen
muss.
Deshalb
macht
man
Vorsorgeuntersuchungen. Dabei wird häufig etwas entdeckt.
Oder ein Risiko führt zu einer Behandlung. Lieber wäre es mir
allerdings, dass Risikoverhalten ähnlich akribisch festgestellt
und „behandelt“ würde. Scheinbar ist die Industrie, die das
Risiko zur Krankheit und die Prävention zum Gebot erhoben hat,
mehr am Finden von Krankheiten interessiert, als an deren
Vermeidung. Sonst würde man Prävention nicht als
Kostenfaktor und damit als Krankheitsfaktor, sondern als
Sparfaktor und damit als echte Gesundheitsförderung rechnen.
Offensichtlich führt aber die Risikovermeidungshaltung nicht
etwa zur Kostenverringerung, sondern im Gegenteil: Sie leistet
einen Beitrag zur Kostensteigerung.
Gesund ist heute nur noch,
wer noch nicht genügend untersucht wurde227.
Offensichtlich gibt es auch genügend entsprechende
Bestrebungen der Medizinal- und Pharmaindustrie, die solches
induziert, wie das Buch „Die Krankheitserfinder228“ streitbar,
pointiert und polemisch festhält.
227
Die Idee, Krankheiten zu vermeiden und früh zu erkennen, ist ad absurdum
geführt worden, sodass es schwerer ist, zu sagen dass jemand gesund ist, als
dass jemand dies oder jenes hat. Ein Arzt, der dem Patienten sagen muss, er
sei vollkommen gesund – vielleicht trotz Klagen – wird als unfähig betrachtet.
Man hüte sich also geflissentlich davor, professionell dem Patienten die Last
der Gesundheit aufzuladen. Er trägt leichter an der Krankheit. Immerhin wird er
dadurch bedürftig. Damit muss er die Last nicht mehr alleine tragen. Einem
Patienten die Gesundheit anzuraten, ist aber viel schwieriger. Der nächste
könnte eine Krankheit finden. Da steht man dann schön blöd da. Es ist
einfacher zu beweisen, dass etwas ist und schier unmöglich, dass nichts ist.
228 Blech, J.: Die Krankheitserfinder. Fischer, Frankfurt, 2003 Vgl. auch:
Engelbrecht, T.; Köhnlein, C.: Virus Wahn, emu, Lahnstein 2006
234
Durch die indirekten Effekte (der Prävention229) wird das
Gesundheitswesen im Gegenteil oft nur noch teurer230.
Eine nicht seltene Krankheit heisst: Iatrogenie231.
Dafür gibt es eine Therapie: Sie heisst Udenustherapie232.
Ich mag nicht glauben, dass das Gesundheitswesen daran
krankt, dass unser Lebensalter immer höher wird, ausser die
Krankheitserfinder haben uns bereits erfolgreich beigebracht,
dass alt werden eine Krankheit ist. Es ist grundsätzlich egal, ob
man mit 60 oder mit 80 oder mit 100 an Altersschwäche stirbt.
Es ist lediglich ein grosser Unterschied, wie man mit den sich
selbstverständlich einstellenden Gebresten umgeht. Es hat nie
jemand behauptet, dass Gesundheit ein Anspruch ist, den die
Medizin einzulösen hat. Heute reicht offensichtlich die
Abwesenheit von Krankheiten nicht mehr, man muss auch noch
glücklich
sein
und
sich
wohlfühlen:
Healthism,
Gesundheitswahn233.
Kein,
selbst
das
beste
229
Hinzufügung durch den Autor
Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt,
1989. S. 101. Die nächste, auf die soeben geheilte Krankheit folgende ist in
der Regel teurer.
231 Iatrogenie: Mit diesem Begriff bezeichnet man Krankheiten, die durch
Behandlung entstanden sind.
232 Udenustherapie (auch Oudenotherapie und Udenotherapie), ein Begriff des
Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler. Er bezeichnete damit das Heilen durch
nichts tun. Der Begriff stammt möglicherweise aus einer Anlehnung an einen
gleichnamigen buddhistischen Mönch.
233 Lütz, M.: Lebenslust. Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und
den Fitness-Kult, Knaur, München 2005. Hier muss auch wieder einmal daran
erinnert werden, dass Glück kein messbarer Umstand, sondern in erster Linie
ein Gefühl ist, das man selbst produziert. Man kann also durchaus in
verschiedenen Umständen glücklich oder in denselben Umständen unglücklich
sein. Also sind für das Glück oder Pech nicht nur die Umstände massgeblich.
Die persönliche Verantwortung, der persönliche Einfluss, das persönliche
Coping bleibt. Der Anspruch auf Glück besteht nur insofern, als man ihn auch
selbst einlöst. Eine Geschichte, die mit diesem Begriff dealt, ist folgende:
Einem Bauern lief einmal sein Pferd weg: „Du bist sicher sehr traurig,“ sagten
die Nachbarn. Der Bauer erwiderte: „Wir werden sehen.“ Eine Woche später
kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wiederum kamen die
Nachbarn und bemerkten: „Jetzt hast du Grund glücklich zu sein.“ Der Bauer
230
235
Versorgungssystem, wird dies je herstellen können, weil es eine
Konsum-Mentalität, eine Anspruchshaltung darstellt.
Das Leben ist eine garantiert tödliche,
sexuell übertragbare Krankheit234.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich gehe davon aus, dass die
Vorstellung von ungerechtfertigten Entbehrungen und
Prüfungen sehr viel mit dem sozialen Stand zu tun hat. Es ist
davon auszugehen, dass folgende Grafik etwa zutrifft235:
Die einen sind schon zufrieden, wenn sie gesund sind. Je höher
die soziale Stellung ist, umso wichtiger wird das Glück und das
Wohlbefinden. Es werden sich also körperliche Krankheiten und
Abnutzungserscheinungen mehr in den unteren Schichten
finden, als in den oberen. Jedoch das Anspruchsniveau auf
Reparatur, auf entsprechende Versorgung ist unabhängig von
der sozialen Stellung durchgehend hoch. Die höhere Schicht
scheint sich tendenziell nicht mit der Gesundheit zufrieden zu
geben, was selbstverständlich Nachahmungsgelüste bei den
antwortete: „Wir werden sehen.“ Am nächsten Tag verletzte eines der
Wildpferde den Sohn des Bauern. Wiederum die Anteilnahme der Nachbarn:
„So ein Pech.“ Die lakonische Antwort: „Wir werden sehen.“ Kurz darauf
wurden alle Männer vom Militär eingezogen. Der Sohn des Bauern wurde nicht
als kriegstauglich befunden.
234 Skrabanek, P.; McCormick, J.: Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin,
Mainz 1985
235 Walter Krämer schreibt: Wer als krank gilt, hängt also davon ab, wo man
wohnt und wie viel Geld man hat. Krämer, W.: Lügen auf ökonomischen und
wissenschaftlichen Informationsmärkten. S. 163. In: Hettlage, R. (Hg.):
Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen, UVK, Konstanz, 2003, S. 159-172
236
bescheideneren
tieferen
Schichten
zur
Folge
hat.
Selbstverständlich sollte diese vermutliche Tatsache auch dafür
sorgen, dass obere Schichten nicht etwa denken, dass tiefere
Schichten krankheitsanfälliger wären.
Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit,
sondern die Fähigkeit, mit Störungen oder Behinderungen zu leben.
… Die Kostbarkeit des Lebens liegt … nicht
in seiner ewigen Verlängerung,
sondern in seiner Begrenzung.236
Wir sind in eine Sackgasse geraten. Man erhebt einen Anspruch
auf Heilung bei Krankheit und Linderung von Schmerz. Man
konstruiert einen berechtigten Anspruch auf ewige Gesundheit
und Wohlbefinden, kann diesen aber nicht einlösen. Erst
Antonovsky237 hat aufgezeigt, dass „Gesundheit hergestellt
wird“, aber nicht vom Gesundheitssystem, sondern von den
Personen, welche gesund sind238.
Es ist auch beileibe nicht einfach, sich als Arzt damit zurecht zu
finden, dass man um jeden Preis Leben erhalten, verlängern
und verbessern soll gemäss dem Hypokrates Eid. Man will ja
keinen Meineid schwören, umso weniger als dieser einem in der
Folge die Einkünfte schmälern würde. Nicht einfach ist es, weil
nicht mehr die ärztliche Kunst mit ihrer natürlichen und
selbstverständlichen Begrenzung im Vordergrund steht, sondern
236
Körtner, U.: Lasset uns Menschen machen. C.H. Beck, München, 2005 zit.
nach GDI Impuls, Sommer 06, Healthstyle, Gottlieb Duttweiler Institut,
Rüschlikon S. 44f. Vgl. auch: Schneider-Flume, G.: Das Leben ist kostbar.
Wider die Tyrannei gelingenden Lebens, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen,
2004. Huber betont das Recht darauf, nicht perfekt zu sein. Huber, F.: Projekt
Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 55
237 Antonovsky, A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit, dgvt,
Tübingen, 1997. Antonovsky erforschte die sogenannte Resilienz. Wie können
Menschen erreichen, dass sie gesund bleiben, wobei andere unter den
gleichen Umständen krank werden? Er begründete und regte damit die so
genannte Gesundheitspsychologie an.
238 Damit widerspreche ich Klaus Dörner, aber nur scheinbar. Gesundheit
kann nicht produziert werden. Sie ist damit kein Konsumprodukt. Sie ist aber
auch nicht Vorsehung. Wir haben Einfluss. Selbstverständlich ist und bleibt
Gesundheit letztlich ein Mysterium, das dem Gerechtigkeitsempfinden nicht
zugänglich ist. Dörner, K.: Die Gesundheitsfalle, Econ, München, 2003
237
weil der Anspruch des Patienten mit ethisch noch nicht
ausgereiften Grundsätzen abgeglichen werden muss: Heute
kann man als Arzt nie genug getan haben, weil die medizinische
Kunst keine Grenzen mehr hat. Damit hat der Arzt ein
unlösbares Dilemma auszutragen. Wenn es keine klaren
ethischen Grenzen gibt, so wird der Arzt immer ein schlechte
Gewissen haben müssen und deshalb grundsätzlich mehr tun,
als nötig, nützlich und sinnvoll wäre.
Die medizinisch-technische Entwicklung gefährdet
die Fähigkeit des Menschen,
Schmerzen, Krankheit und den Tod anzuerkennen.
Andernorts haben wir bereits vom Marktparadox gesprochen.
Leider schafft auch hier das Angebot die Nachfrage. Je weniger
hoch die Ärztedichte ist, umso mehr verbreitet sich eine andere
Vorstellung von Gesundheit – eine die auf einem tieferen
Anspruchsniveau und auf mehr Selbstheilung, Selbsttätigkeit
und Resilienz basiert. Diese Vorstellung ist keineswegs im dem
Sinne technisch, dass etwas durch Beanspruchung kaputtgehen
muss und dass man es dann reparieren muss, sondern man
hütet die Gesundheit und ist zufrieden, wenn einem dies
einigermassen gelingt. Je höher und besser ausgebaut das
medizinische Versorgungssystem ist, umso mehr „Krankheiten
produziert“ es. Die Maschinerie muss ja ausgelastet sein, denn
es war teuer genug, sie anzuschaffen. Medizin nach
wirtschaftlichen Grundsätzen.
Allzu oft verlängert die Medizin nicht das gesunde Leben,
sondern allein die Zeitspanne zwischen Erkrankung und Tod239.
Selbst der Arzt hält für notwendig, was machbar ist. Wenn die
medizinische Forschung immer weiter solche „Fortschritte“
macht, so dürfen wir bald nur mehr gesund und schön sterben
oder gar nicht mehr. Man lässt uns ja nicht, denn tun kann man
technisch immer noch irgendetwas. Diejenigen, die dafür sind,
argumentieren gleich, wie diejenigen, die dagegen sind. Das
239
Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt,
1989. S. 25
238
Leben ist heilig. Es wurde uns geschenkt, wir dürfen es nicht
(Achtung: Multiple choice)


von Menschenhand beenden
von Menschenhand verlängern
Ein ethisches Dilemma!
Früher konnte die Ärztin noch bedauern, dass sie nicht in der
Lage ist, etwas zu tun. Heute kann sie selbst dies nicht mehr, da
alle Welt weiss, dass dem nicht so sein darf. Wenn der eine Arzt
sagt, dass man nichts tun könne oder dass es nichts
behandlungswürdiges sei, so wechselt man die Ärztin. Früher
stand dafür die menschliche Anteilnahme und Hilfe im
Vordergrund und nicht der technische Heils(/ungs)anspruch.
Unser Umgang mit der Gesundheit ist ungesund.
Wohlbefinden
wird
zum
einklagbaren
Grundrecht240.
Grundrechte stehen nicht auf Pflichten und sind auch keine
Verdienste. Sie stehen allen nach Belieben zu. Man darf sie
nicht verweigern. So aber wird Wohlbefinden delegiert und
technisiert. So wird Wohlbefinden externalisiert und perpetuiert.
Ich muss, selbst bei der kleinsten Abweichung vom
Wohlbefinden, gleich den Arzt konsultieren.
Ich möchte lieber in einer Gesellschaft leben,
die die Konsequenzen zieht aus Krankheit, Leid und Unheil
statt sich an der individuellen Heilung gütlich zu tun.
Der Arzt ist verpflichtet zu helfen und die Medizinal- und
Pharmaindustrie rüsten ihn so aus, dass er helfen kann. Eine
verschworene
Schicksalsgemeinschaft.
Jene,
deren
Wohlbefinden auch mal eine Schwankung erträgt ohne sich
gleich krank zu fühlen und in eine fordernde Anspruchshaltung
240
Dabei scheint ja Glück eher eine unerwartbare Begleiterscheinung von
Hingabe (Anstrengung und Leidenschaft) zu sein, als dass es sich mit einem
Lotteriegewinn oder dem Erfolg einer Anspruchshaltung vergleichbar wäre.
vgl.: Csikszentmihalyi, M.: Flow: Das Geheimnis des Glücks, Klett-Cotta,
Stuttgart, 1993.
239
zu fallen, fühlen sich verschaukelt, was dazu führt, dass sie das
Gesundheitssystem auch zu belasten beginnen.
Was auf der einen Seite produktivitätssteigernd wirkt,
macht auf der andern Seite krank.241
Früher ging man Sport treiben, weil es Spass machte und
gesund war. Heute treibt man Fitness in einem stickigen Raum,
weil es präventiv ist und Krankheiten vermeidet. Weil die
Krankenkasse, welche sich heute Gesundheitskasse nennt,
diese Bestrebungen unterstützt – wohlgemerkt scheinbar aus
Kostenspargründen – zahlt sie das Jahresabonnement für den
Fitnessclub.
Krankheit ist eine unbeliebte Spielform
der Gesundheit.
Sie kann nicht ausgerottet werden.
Wir haben Anspruch auf Gesundheit, nein, das ist zu wenig, auf
Wohlbefinden. Dafür gibt es die Gesundheitsindustrie. Ich bin
weniger wert, wenn ich nicht fit und zumindest gesund, also
braungebrannt bin. Das zeigt die Werbung. Ich muss alle
Segnungen des Lifestylesaniererei voll ausnützen.
Jenen sei ins Stammbuch geschrieen: Es gäbe dann noch
Wichtigeres, als sich zwanghaft wohl zu fühlen! Es gäbe noch:
Dafür zu sorgen, dass sich auch unsere Nachfahren noch
wohlfühlen können, wenn nötig unter Mut, Schweiss und Tränen
– also ohne wirklich vollkommene Wellness aber dafür mit mehr
Sinn und weniger Wahn.
Wenn der ganze Gesundheitswahn mal schief geht, weil ich das
falsche Pülverli genommen habe, doch zu viel getrunken habe,
nach dem Fitness oder beim Wellness in der Badewanne voll
Heilschlamm
ausgerutscht
bin,
dann
gibt
es
die
Gesundheitshängematte. Quasi der Arzt verbündet sich mit der
Krankenkasse und gegen die wirklich Gesunden.
241
Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986, S. 80
240
Blutjung wollen sie sein,
wenn sie uralt sterben.
Metalog: Bekenntnis eines ins Leben verliebten, der Gesundheit
als Selbstverpflichtung242 in Verantwortung eingehen möchte:
Ich möchte das Vorrecht haben, mich auch mal unwohl fühlen
zu dürfen, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen zu
bekommen!
Ich möchte dem Arzt widersprechen dürfen, wenn er mir ein
Medikament zur Heilung, eine Operation zur Reparatur anbietet.
Die eklatante Wirkungslosigkeit
des Gesundheitssystems
zeigt sich gerade in dessen Wachstum243.
Ich möchte, dass Menschen alt werden dürfen, ohne dass die
perfekte Gesundheit bis zum letzen Atemzug aufrecht erhalten
werden muss.
Ich möchte vom Arzt eine Schandpredigt erhalten, wenn ich
meine Gesundheit zu fest auf ihn delegiere244.
242
Jene in Not, jene vom Unglück Gezeichneten, mögen mir verzeihen. Ich
wünsche jeder Person, die krank ist, Behandlung und bin auch bereit dafür
solidarisch zu sein. Was ich hier streitbar versprechen möchte, ist auf einer
andern Ebene.
243 Je besser ihr Gesundheitssystem funktioniert, desto mehr Kranke gibt es in
einer Gesellschaft. Simon, F. B.: Die andere Seite der Gesundheit. Carl-AuerSysteme, Heidelberg, 2001. S. 192. Es scheint sich dabei um ein
systembedingtes Problem zu handeln, denn wie Walter Krämer darlegt, ist es
grundsätzlich so, dass je gesünder wir alle individuell sind, umso mehr nimmt
der kollektive Gesundheitszustand ab. „Was dem einzelnen nützt, macht die
Gesellschaft krank.“ Krämer W. Die Krankheit des Gesundheitswesens. S.
Fischer, Frankfurt, 1989. S. 23
244 „1005 Medikamente habe ich auf Wunsch der Patienten aufgeschrieben.
Von diesen 1005 Patientenwünsche waren 291 gerechtfertigt. Gemäss dem
Art Paul Mössinger, zit. n. Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens.
S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 166
241
Früher war das Ziel des Gesundheitssystems
die Linderung der Krankheit.
Heute geht es um die Vermarktung der „Gesundheit“.
Ich möchte im Krankenhaus oder zuhause im Bett liegen dürfen,
ohne das Gefühl zu haben, der Apparat tue alles für mich. Ich
möchte, dass mein Lebenswille wieder zählt und meine
Zuversicht, wieder gesund zu werden, nötiger ist, als die Pille,
die ich auch noch nehmen muss.
Ich möchte sein dürfen, wie ich bin, gesund, krank, agil,
handicapiert, klein, gross, stark, schwach, dick, dünn, dumm,
gescheit. Daran soll nicht herumgedoktert werden, weder
präventiv, noch kurativ, noch palliativ-lebensverlängernd.
Das Martinshorn eines Ambulanzwagens
kann die Bereitschaft zur Samariter-Hilfe ... zerstören245.
Ohne Krankheit, ohne Prüfung, ohne Tiefs, ohne Leiden und
ohne Gebresten ist das Leben einförmig und schal.
Ich möchte, dass das Leben wieder ein Geschenk ist und kein
mit Plastik, Technik, Chemie und Lifestyle angereicherter
Vegetationszeitraum.
Ich möchte mich am schier unerschöpflichen Ersatzteilarsenal
nicht bedienen.
„Fürsorgliche Belagerung“246
Ich möchte sterben, wenn es soweit ist, und nicht wenn
entschieden wird, dass meine Maschinen abgestellt werden
dürfen.
245
Illich, I.: Die Nemesis der Medizin, Die Kritik der Medikalisierung des
Lebens, C. H. Beck, München,1995, S. 15
246 Dieser Begriff wurde geprägt von Ute Frevert. Frevert, U.: „Fürsorgliche
Belagerung“: Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20.
Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, 11. Jhg., Heft 4, 1985, S.420446
242
Ich möchte, dass die Medizin nicht nach wirtschaftlichen und
Marktprinzipien247 geführt wird, sondern wieder erzieherisch,
verantwortungsbewusst,
emanzipatorisch,
entwicklungsfördernd, Trost spendend und fordernd hilft.
Ich möchte, dass psychische Leiden nicht medizinisch und nicht
mehrfach behandelt werden. Ich möchte auch nicht vom
unerschöpflich boomenden Therapiemarkt248 als Kunde
247
Den Kern heutiger Gesundheitspolitik stellen die so genannten WZWKriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit) dar. Sie stellen die
Grundlage dar für das boomende Gewerbe der Gesundheitsökonomie. Diese
hat die Aufgabe zu quantifizieren und damit berechenbar zu machen, was sich
eigentlich dem entzieht. Z. B. wird heute der Wert eines Menschen auf etwa
Euro 5 Mio. (pers. Mitteilung) veranschlagt. Die Vorgehensweise ist immer
noch in etwa die gleiche wie 1912 beim Untergang der Titanic. Damals wurde
der Preis eines menschlichen Lebens so festgelegt: Preis der „eingesparten“
Rettungsboote – eigene Schadenssumme bei Schiffsuntergang x
Wahrscheinlichkeit des Schiffsuntergangs = Preis des Menschenlebens x Zahl
der zusätzlichen Toten bei voller Auslastung (Kreutz, H.: Das Überleben des
Untergangs der Titanic. In: Angewandte Sozialforschung. Heft 1 / 2 2001/2002,
Institut für angewandte Soziologie, Wien, S. 10 - 20). Dies gemahnt auch an
den „body-count“ im Vietnam-Krieg. Ein Toter Vietnamese stand in der
Kriegsrechnung Amerikas mit $ 450'000.- zu Buche. Interessant auch, dass
hier einmal mehr Wert, Preis und Kosten durcheinander gebracht werden, als
ob Äpfel und Birnen dasselbe wären. Vgl. auch die Ausführungen zum Wert
eines Vogels auf S. 275. Man scheint der klassischen Verwechslungsfalle von
Effizienz und Effektivität, Wirkung und Wirksamkeit anheim gefallen zu sein.
Zur Problematik des konkreten Umgangs mit WZW siehe auch: Slembeck, T.:
Kostentreiber im Schweizer Gesundheitswesen – Eine Auslegeordnung.
Santésuisse, Solothurn, 2006. Dort findet man auch Ausführungen über die
Auswirkungen des sog. moral hazard.
248 Die Wirkung von qualifizierter Psychotherapie („lernen, sich selbst zu
helfen) ist sattsam erwiesen, in vielen Bereichen auch deren Überlegenheit
gegenüber medizinischen Mitteln. Durch deren Einsatz könnten etwa jährlich
Franken 1.1 Milliarden an Gesundheitskosten eingespart werden (Frei, A.;
Greiner, R.-A.: Sparpotenzial: eine Milliarde. Der volkswirtschaftliche Nutzen
der Psychotherapie, Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer
PsychologInnen FSP, Nr. 5/2001, S. 14-17). Vgl. auch: Grawe, K.:
Psychologische Therapie, Hogrefe, Göttingen, 2000. Grawe, K. / Donati, R. /
Bernauer, F.: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession,
Göttingen, Hogrefe, 2001. Diese Tatsache soll hier auch nicht in Frage gestellt
werden. Etwas anders sieht die Bilanz aber aus, wenn man die
Therapiewirkung der Produktion psychischer Leiden gegenüberstellt.
Psychotherapie allein leistet quasi als Nebenprodukt der Individualisierung des
Leids Vorschub. Wenn der Auslöser weiter bestehen bleibt, wird das
243
umworben werden, ebenso wenig wie von der sozialen
Fürsorge.
Ein Gesundheitssystem,
dessen Patienten zu Konsumenten werden
pervertiert zum Gesundheitsjahrmarkt.
Ich möchte dann ein funktionierendes Gesundheitswesen ohne
Reue beanspruchen dürfen, wenn es wiederherstellen kann, mit
vertretbaren Mitteln.
Ich möchte, dass nur jene Phänomene als Krankheit gelten und
damit Krankenkassengeld auslösen, welche als (wirklich)
behandelbar gelten. Der Arzt soll mir beistehen, damit zu leben
zu lernen oder zu sterben, wenn ich andere „Krankheiten“ habe.
Ich möchte nicht eine Zweit- oder Drittmeinung einholen
müssen, nur weil ich glaube, es mir schuldig zu sein, oder
Bedenken haben muss, dass mein Arzt zu viel oder zu wenig
tut.
Ich möchte, dass Gott zur Dauer meiner Gesundheit und
meinem Ableben wieder bedeutend mehr zu sagen hat, als die
Medizin – selbst auf Kosten meines Leids (und demjenigen
meiner Lieben), wenn ich vom Pech verfolgt werde.
Ich möchte, dass die Alternativmedizin den Gesundheitswahn
der Menschheit nicht noch mehr pervertiert, als die
Schulmedizin es schon tut.
Ich möchte mutig durchs Leben gehen, auch wenn ich mühselig
und beladen bin.
Ich möchte nicht neidisch oder verärgert sein wollen über jene,
welche das Gesundheitssystem in extenso ausreizen. Ich
Vergrössern des Therapieangebots nicht dazu beitragen, dass es ein bisschen
weniger Leid auf dieser Welt gibt. Im Gegenteil: Sie würde zu einem
Instrument der Zivilisationsfolgenkorrektur. Dies ist die Achillesferse der
Psychologie. Sie entfaltet trotz ihrem immensen Zusammenhangs- und
Veränderungswissen
zu
wenig
gesellschaftskritische
und
gesellschaftsgestaltende Kraft.
244
möchte niemandem die Heilung vergönnen und niemandem die
Krankheit gönnen.
Das gesellschaftliche Streben nach Gesundheit ist zum
vorherrschenden pathogenen Faktor geworden249.
Ich möchte, dass krankheitsschädigendes Verhalten sich nicht
lohnt, dass aber gesundheitssteigernde Luxusmassnahmen
nicht auf dem Buckel der Solidarität durch alle bezahlt werden,
welche sie nicht in Anspruch nehmen.
Ich bin für das unantastbare Lebensrecht allen natürlich
gezeugten Lebens, das aus eigenem Antrieb lebensfähig ist,
auch wenn es auf menschliche – nicht technische – Pflege und
Obhut angewiesen ist, auch dann, wenn dieser Minimalgrad an
Unabhängigkeit
durch
vorübergehende
technische
Unterstützung wieder erreicht werden kann.
Ich möchte, wenn mich das Schicksal schlägt, eine solide
Medizin antreffen, eine, die ihre Wirkung und ihre Grenzen
kennt, nicht eine, die alles versucht.
Ich möchte sicher sein, dass jenen in Not – seien es Einzelne,
Gruppen, Völker – mit angemessenen Mitteln geholfen wird.
Ich möchte, dass sich die Medizin damit auseinander setzt,
womit sie so erfolgreich war. Mit dem Fortschritt. Ich möchte,
dass man sich ethische Beschränkung auferlegt. Ich möchte
sichergestellt haben, dass die Medizin nicht alles noch besser
kann und können wird, und dadurch nur die Dilemmata ins
Unermessliche gesteigert werden. Ich möchte, dass man ein
Fortschrittsmoratorium eingeht, bis diese Fragen geklärt sind.
Ich möchte, dass die Medizin sich nicht so weiter entwickelt,
dass man nicht mehr zwischen Kunstfehler und Kunst
unterscheiden kann.
Illich, I.: „Und führe uns nicht in die Diagnose, sondern erlöse uns von dem
Streben nach Gesundheit“, Vortrag in Bologna 24. 10. 1998. Abdruck in: Le
Monde diplomatique, dt. Ausg. 4/5. April 1999
249
245
Krankheitswertsteigerung!
Ich möchte, dass die Kunst und Notwendigkeit der
Gesundheitsförderung vor der Krankheitsverhinderung und
Heilung an die erste Stelle gelangt. Erforscht werden muss: Was
hält uns gesund? Daraus abgeleitet werden soll ein altes,
vergessenes Geschäft der Medizin, die Gesundheitserziehung.
Gesundheitsförderung250
als
ideeller
Bruder
der
kostenwuchernden „Prävention“ soll über die Reparaturmedizin
gestellt werden.
Ich verspreche, dass ich nicht zwanghaft alles tun werde, um
nicht krank zu werden. Ich verspreche, dass ich auch ungesund
leben und Sünden begehen werde, weil es mir Spass macht.
Darüber und über die Folgen möchte ich aber auch
Verantwortung übernehmen.
Die Diagnose macht die Krankheit erst „wirklich“251.
Epilog: Ein Dilemma besteht darin, dass man zwischen zwei
Möglichkeiten zu wählen hat, sich aber nicht entscheiden kann.
Wenn die Medizin für alles zuständig ist, was Gesundheit und
Krankheit betrifft so kann und dies dazu führen, dass die
250
Gesundheitsfördernd in dem Sinn wäre auch, dass man nicht alles, was mit
Gesundheit zu tun hat, verabsolutiert und medizinisiert, sondern auch und
gerade die Ursachen im sozialen, im wirtschaftlichen, im Bildungs- und im
ökologischen, im ethischen und im religiösen Zusammenhang sieht und sie
von dort her angeht. Es könnte billiger und vor allem sinnvoller, würdiger und
nützlicher sein.
251 Nicht zuletzt deshalb mehren sich die kritischen Stellungnahmen
gegenüber
den
immer
umfangreicher
werdenden
diagnostischen
Klassifikationssystemen wie ICD und DSM. Es kommt nicht von ungefähr,
dass es erst seit Kurzem den ausgleichenden Fokus gibt, nämlich ein eine
akribische Aufreihung dessen, was gesund ist und gesund macht. Peterson, C.
and Seligman, M.: Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford University Press, Oxford, 2004. Vgl. auch: Hartmeier, M.: NFA,
ICF, ICD und andere Buchstabensalate – genüsslich angerichtet, In:
Psychologie und Erziehung P & E, Zeitschrift der Schweizerischen Vereinigung
für Kinder- und Jugendpsychologie, 1/2007
246
Verantwortung beim Einzelnen abnimmt. Gleichzeitig aber steigt
der
Anspruch,
denn
der
medizinaltechnische
und
pharmazeutische Fortschritt führt dazu, dass man alles kann.
Also kann man dessen Anwendung einfordern. Die empfundene
und logisch abgeleitete Gerechtigkeit besagt, dass auch
selbstverständlich Spitzenmedizin allen zur Verfügung stehen
muss. Wenn aber selbst Risikofaktoren bereits Behandlungen
auslösen, wenn man nicht mehr sterben darf, dann sitzen wir in
der Tat in der Falle.
Die Determinanten von Gesundheit
liegen zum grössten Teil ausserhalb
des medizinischen Versorgungssystems.252
Dilemmata kann man lösen, indem man die Ebene wechselt
oder die Gedanken und Gefühle aus der Problemkatatonie
befreit.
Gerade weil man nicht kann und nicht darf, muss man wohl die
unliebsamen Themen entscheiden – oder um es mit Heinz von
Foerster zu sagen: „Nur prinzipiell unentscheidbare Fragen
können entschieden werden.“
Es sind gesellschaftliche Entwicklungen, die neu wieder in Gang
gesetzt werden müssen. Offensichtlich werden diese mit
politisch einschneidenden Entscheidungen eher angeregt, als
mit akademischer Diskussion. Wir kommen nicht umhin, uns
Einschränkungen aufzuerlegen, sonst werden wir eines Tages
nicht mehr unterscheiden können zwischen Leben und Tod.
Wenn etwas nicht kaputt ist,
mache es nicht ganz.
(Steve de Shazer, Psychotherapeut)
Die jetzige heftige Diskussion um immer mehr Hilfe und immer
mehr Anspruch hat mit der drohenden sozialen Spaltung, dem
Verlust der Solidarität (leider schürt, wie das eben in Kreisläufen
ist, das eine das andere) zu tun. Je mehr sich die einen etwas
252
McKeown, Th.: Die Bedeutung der Medizin, Suhrkamp, Frankfurt, 1979, S.
238, zit. nach: Engelbrecht, T.; Köhnlein, C.: Virus-Wahn, emu, Lahnstein,
2006
247
leisten können, je mehr es technisch möglich ist, umso mehr
fordern es auch die andern.
Daraus könnte es sogar sein, dass die Gesundheitsthematik,
neben der Bildung, der Arbeit und dem Geld, zum dritten
voranschreitenden Hauptfeld der Ungleichheit wird, welche die
zunehmende
Spaltung
oder
Polarisierung
anheizt.
Möglicherweise stellt die Gesundheitsthematik sowohl den
Brückenkopf als auch die Nagelprobe dieser Entwicklung dar.
Wir werden es nie schaffen, den Tod und die Krankheit zu
besiegen. Wir müssen hingegen diesen beiden wieder einen
Sinn und eine Bedeutung geben, damit unsere Besessenheit,
sie zu überwinden, abnimmt. In einem Zustand der gerechten
Verteilung von Gütern und Macht und im Frieden kann mit dem
Thema Glück und Unglück (sowie mit der natürlichen
Verschiedenheit) viel sachlicher umgegangen werden. Wir
brauchen kein Versorgungssystem, das jede Krankheit zu heilen
hat und den Tod beliebig hinauszuschieben im Stande ist. Wir
brauchen wieder vermehrt Menschen, die der Bedeutung der
persönlichen Gesundheitsförderung mehr Gewicht beimessen,
statt sich auf die Rettung danach zu verlassen. Dies kann nur
individuell geschehen und kulturell sozialisiert werden. Wir alle
werden nie imstande sein, die Gesundheit perfekt zu managen,
müssen aber andererseits in der Lage sein, persönliche
Konsequenzen unseres Lebensstils zu tragen, ohne diese durch
ein medizinisch perfekt funktionierendes Versorgungssystem
jederzeit reparieren lassen zu können. Leben auf Probe geht
nicht, es findet live statt.253
Sterben ist keine Krankheit.
Wie könnten wir ein Diagnosesystem entwickeln, das nicht
immer mehr Krankheitsbilder auflistet und deshalb in seiner
Komplexität geradezu verleiten muss, dass eher Krankheit als
Gesundheit diagnostiziert wird, das Ausschlussdiagnosen von
253
Zu diesem ganzen Kapitel siehe auch: Bauch, J.: Gesundheit als sozialer
Code, Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur
Medikalisierung der Gesellschaft, Juventa, Weinheim, 1996
248
Krankheit immer ausschliesslicher werden lässt? Wie könnten
wir es schaffen, dass nicht die Krankheitskosten ins
Unermessliche steigen, sondern der Mehrwert der Gesundheit?
Wie könnten wir es schaffen, dass der Gesundheitsmarkt, der
an Krankheit verdient, eingedämmt wird? Es darf doch nicht
sein, dass es erstrebenswerter und einfacher ist, eine Krankheit
zugeschrieben zu bekommen und zuzuschreiben, als für gesund
gehalten zu werden. Wie situativ Diagnosen sind und wie stark
sie vom gesamten Deutungshintergrund beeinflusst werden,
zeigt das Rosenhan-Experiment.254 Die Krankheit entsteht im
Auge des Betrachters. Was oder wer ist hier krank oder
krankmachend? Wie viel schwerer muss es sein, jemanden als
gesund zu bezeichnen, wie ihn krank zu schreiben?
Es gibt im psychosozialen Bereich
keine Krankheit und ebenso keine Heilung,
sondern nur Schwierigkeiten und Veränderung.
Die moderne Medizin bedroht uns nicht durch ihre Fehler,
sondern durch ihre Erfolge255.
Die „Ethik des Heilens“ ist das Ende der Ethik256.
Rosenhan – Experiment: Einige gesunde Versuchspersonen wurden von
psychiatrischen Kliniken aufgenommen und benahmen sich dort wie gewohnt.
Ihre Verhaltensweisen wurde mehrheitlich als krank gedeutet. Rosenhan, D.
L.: On Being Sane in Insane Places, Science, 179, 1973, S. 250-258.
255 Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt,
1989. S. 7
256 Lütz, M.: Ethik des Heilens – Ende der Debatte. In: WOZ, Zürich, Nr. 23/07.
S. 21
254
249
250
251
Eine Religion: Sinn, Einheit und Zuversicht stiften
Die zeitgenössische Psychologie
hat sich in ihren Erkenntnissen nicht sehr weit
von den alten Religionen entfernt.257
Dialog: „Hallo. Bist du überhaupt da?“ – „Was meinst du damit?“
– „Ich denke, dass es gut wäre, wenn es dich gäbe.“ – „Wieso
meinst du das?“ – „Weisst du, manchmal bin ich so allein,
manchmal bin ich so unsicher und manchmal ist alles so
schwierig. Ich weiss nicht, ob ich es richtig und gut mache.
Manchmal wissen auch meine Eltern keine Antwort auf meine
Fragen.“ – „Du meinst, dass ich dir da helfen kann. Das sind ja
die ganz schwierigen Sachen, die du von mir verlangst. Meinst
du, dass ich das kann?“ – „Wie heisst du eigentlich?“ – „Die
Menschen haben mir ganz verschiedene Namen gegeben. Mir
ist der Name nicht so wichtig.“ – „Die verschiedenen Religionen
sprechen also alle mit dir und von dir?“ – „Ja, ich glaube, dass
ich mit all jenen, die mit mir sprechen wollen, ins Gespräch
komme.“ – „Religion, Kirche ist langweilig.“ – „Das alles macht
mir so viel Sorgen. Heute wird es missbraucht oder ist tot.“ –
„Ich glaube aber, dass die Menschen deswegen nicht schlechter
geworden sind.“ – „Das glaube ich auch.“ – „Bist du zuständig
für das Gute und das Böse, das hier geschieht?“ – „Die Welt
und das Leben nimmt seinen Lauf. Da geschehen Dinge, die mir
gar nicht recht sind. Ich hoffe immer noch, dass die Menschen
lernen, immer mehr Gutes in die Welt zu tragen und zu
verwirklichen.“ – „Du klingst nicht gerade begeistert. Weisst du,
ich bin nur ein Kind. Aber wenn du mir hilfst, so werde ich tun,
was ich kann.“ – „Ich auch.“
Sucht nicht,
ihr Kleingläubigen,
findet.
257
Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. KlettCotta, Stuttgart, 2005, S. 214
252
Antilog: Die Religion lässt sich im Volk nicht ausrotten, selbst
dann nicht, wenn die Kirchen nicht mehr deren Hauptträger sind
und vom Volk in unseren Breitengraden zunehmend verpönt
werden. Das zeigen neuere Forschungsresultate. Wir gehen auf
eine Wiedergeburt des Religiösen hin, nachdem man es schon
verloren glaubte. Ob das wohl gut ist? Wofür könnte das gut
sein?
Wer ausser der Religion,
sollte nach dem Zusammenbruch
des realexistierenden Sozialismus
in der Lage sein,
den dritten Weg zu entwickeln?
Es muss nicht erstritten werden, ob es eine richtige Religion
gibt. Ob es einen Gott gibt, mehrere oder keinen258 ist
Ansichtssache. Der Monotheismus geht mehr davon aus, dass
es eine Repräsentation gibt, in welcher die verschiedenen
Erfahrungen des Lebens zusammenlaufen, währenddessen der
Polytheismus postuliert, dass es unterschiedliche Kräfte und
Themen gibt, die aber letztlich alle in göttlicher Natur
aufgehoben sind. Das muss kein Widerspruch sein, sondern
offenbart das gleiche Denken, nämlich, dass es eine ordnende
höhere Macht gibt, die Sinn verleiht. Es erklärt und meint beides
das Gleiche, die Bilder, die die Erfahrungen überhöhen, sind
aber anders gemustert.
Seit dem Einbruch der Säkularisierung (das Volk nimmt sich des
Guten an und lässt es nicht allein durch die Kirche verwalten)
und der Aufklärung (Das „Gute“ und das „Vernünftige“ werden
gleichgesetzt) besteht die Chance, dass die neuen Zugänge zur
Religion zur Völkerverständigung dienen können, statt sich
gegenseitig zu bekriegen. Das Problem dabei ist, dass Religion
258
In der so genannt gottfreien Religion des Buddhismus oder im so
genannten Atheismus. Der Buddhismus geht davon aus, dass das Ziel des
Lebens darin besteht, das Leid dieser Welt zu lindern. Weder als Ursache,
noch sonst wird im Buddhismus die Konstruktion eines Gottes benötigt. Damit
soll hier auch gleich klar werden, dass Religion hier nicht als Gegenteil von
Atheismus gilt. Kein Mensch kann leben, ohne auf Glauben angewiesen zu
sein und darauf zu vertrauen.
253
von politischen Machtträgern ebenso missbraucht werden kann.
Religion kann sich nur machtfrei sinnvoll weiterverbreiten –
durch Verständigung, gegenseitiges Lernen und Hochachten,
statt in der Rechthaberei. Die Religion, die dem Volk gehört, die
vom Volk gepflegt wird, ist aber auch eine Verpflichtung. Man
kann sich so nicht mehr nur an einen Schriftgelehrten oder
Mächtigen anlehnen, der vorgibt, was gut ist und was böse. Man
muss ein eigenes Instrumentarium entwickeln, es abgleichen mit
andern und es ständig überprüfen und verbessern.
Es gibt ein Leben vor dem Tod259.
Ein Gott schafft die Vorstellung von Einigkeit, währenddem die
Vorstellung von Vielfalt zweitrangig wird. Viele Götter schaffen
die Vorstellung eines Biotops der Vielfalt, in welchem die Einheit
dynamisch hergestellt wird. Ob wir den Göttern nun Heilige
sagen oder ob wir sie Propheten nennen: Sie sollen uns eine
Richtung, eine Orientierung geben, im Guten, wie im Bösen.
Seien es drei oder Hundertschaften. Es geht ums Ideal. Es geht
um die Nachfolge und nicht um die Verstrickung. Ob nun Gott260
den Namen Jahwe, ???261, Allah, Shiva oder ein Mehrfaches
davon heisst, spielt doch keine Rolle, wenn wir voraussetzen,
dass dies sprachliche und kulturelle Spielformen des Gleichen
sind, welche verstanden, gedeutet werden können und uns
etwas Wichtiges zu sagen haben.
Wir sollten weder warten bis die „beste“ Religion als einzige
überlebt hat, noch bis die Religion überhaupt im Volk
bedeutungslos geworden ist, noch bis wir kriegerisch oder im
Disput herausgefunden haben, welche Religion die wahre ist.
Wir können uns dies nicht leisten.
259
Wolf Biermann, ostdeutscher Liedermacher
Wenn jemand anderer Religion dieses Buch liest, so möge er/sie mir
verzeihen, dass ich im folgenden unbeirrt von Gott spreche, als ob die andern
Namen mir nicht geläufig wären oder minderwertig. Es ist nur eine
Gewohnheit.
261 „???“ steht stellvertretend für jene Religionen oder Weltanschauungen, die
gottfrei, gottfern sind oder jene, die in absoluter Vollkommenheit keinen
stellvertretenden Namen für das Unbenennbare erfunden haben.
260
254
Religion ist dazu da, uns zu Einheit, Sinn und Zuversicht
anzustiften und dazu, über den Alltagstrott hinaus, weitere
Dimensionen des Lebens zu entdecken und auch dazu,
einerseits uns die Angst vor dem Tod zu nehmen, aber auch
gerade deshalb uns auf das Leben zu verpflichten.
Religion muss beides beinhalten und hegen:
Einheit und Vielfalt.
Das eine um der Gegenwart,
das andere um der Zukunft willen.
Religion darf nicht zum Mittel des persönlichen oder verfassten
Machtegoismus verkommen. Fundamentalisten sind, so
gefährlich sie sich, sei es im christlichen, aber auch in andern
Glaubensbekenntnissen gebärden, kein Grund dafür, nicht
weiterhin an die positive Kraft der Religion zu glauben. Sie sind
eher eine Glaubensprüfung. Begegnen wir ihnen mit Milde, aber
fordern wir sie heraus.
Fundamentalismus ist keine Religion.
Religion ist keine Krankheit, derer man sich zu schämen
braucht, und keine Obsession, die jeder Vernunft abträglich ist.
Religion ist der Kristallisationspunkt jener tiefen Sehnsucht, die
sich selbst durch intensive Liebe und hingebungsvolles
Geliebtwerden nicht stillen lässt.
Religion ist für die Welt, für die Menschen da, nicht für Gott.
Religion ist universal. Es geht nicht darum, dass wir in die
Kirche gehen, dort Gottesdienst tun, um diesen, sobald wir
wieder an der frischen Luft sind, in den Wind zu schlagen. Dort
beginnt der Gottesdienst ja. Wenn schon, wäre die
Zusammenkunft in der Gemeinschaft jener, die aus dem
Glauben Kraft schöpfen, eine Feier des Gelingens, ein Trost fürs
Misslingen oder eine Ermunterung für das Weitermachen sowie
dafür, dass es möglich ist, wieder Tritt zu fassen, nachdem man
ihn verloren hat. Gott selbst – so nehme ich, wohl etwas
vorwitzig, zumindest an – hat gar nichts davon, dass wir uns
255
einmal die Woche in einem kalten, dunklen, muffigen Raum262
aufhalten, wenn darauf nicht ein Leben fusst. Glaubhaft wird
man durch die Tat, nicht durchs Gebet. Das Sprechen mit oder
darüber kann eine Hilfe sein, aus der Ruhe Kraft zu schöpfen
und nicht in Resignation zu verfallen und daran zu verzweifeln.
Wie es in so vielem geschieht. Es fällt mir leichter, meinen
Glauben zu leben, wenn ich weiss, dass andere dies auch tun.
Es ist spannend, von der Erfahrung anderer zu lernen, als sich
um
sein
eigenes
Universum
zu
drehen.
Das
Gemeinschaftserlebnis ist keine conditio sine qua non, aber ein
erleichternder Faktor und einer, welcher die Wirkung des
Glaubens zu potenzieren im Stande ist. Es braucht ja nicht viel,
zwei oder drei reichen… Nur, wenn ich davon ausgehe, dass
jeder Mensch für solche Dinge im Prinzip ein Sensorium hat, bin
ich nicht darauf angewiesen, eine Trennung zwischen
gewöhnlicher Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft zu
machen. Ich halte dies sogar im gewissen Sinne für überheblich.
Es gibt nicht zwei Welten, ausser wir seien schizophren.
Glauben heisst:
Trotz der erdrückenden Last des Faktischen
das Potential der Möglichkeiten
nicht aus den Augen zu verlieren.
Mir scheint die Diskussion darüber, ob es Gott gibt, in welcher
Erscheinungsform und welchem Vokabular auch immer, obsolet.


Erstens: Wenn es um Glaubensfragen geht, so sind
Beweise das Ende des Glaubens.
Zweitens: Wenn Gott die Vorstellung des Guten
repräsentiert, so hat die Menschheit etwas davon, wenn wir
versuchen, dies im Leben umzusetzen. Dafür brauchen wir
den Beweis nicht.
Wir gestalten sein Antlitz selbst, wenn wir versuchen, eine
menschlichere und lebenswertere, gütigere Welt zu entwickeln.
262
Eine Geschichte von Gott, in: Veen, H. van: Seine besten Lieder, Universal,
1988, Audio CD
256
Aufpassen müssen wir nur, wenn Theorien, Bücher, Riten,
Gewohnheiten, Gewänder, Mythen und Messen unsere
Sehnsucht nach Sinn, Einheit und Zuversicht bereits
erschöpfen. Wenn wir in dieser Konstruktion nur die Empfänger
sind, dann sind wir ein weiteres Mal Opfer unserer Gewohnheit
geworden, etwas zu geniessen oder über uns ergehen zu
lassen und uns lediglich am Nachhall der Sinneserfahrung in
unserem Hirn zu laben. Wenn sich unser Glaube darin
erschöpft, so ist dies mit Verlaub „autoerotisches brainfucking“,
eine Form der Entropaminsucht: Wir sind uns selbst genug. Wir
stehen im Zentrum. Wir wollen befriedigt werden. Wir bestehen
auf Anspruch darauf. Wir sind selbstgerecht.
Metalog: Gläubige sind jene Unverbesserlichen, welche selbst
dann vom Silberstreifen am Horizont sich lenken lassen, wenn
der Nordstern schon längst untergegangen ist. Gläubige sind
jene, welche deshalb in der Dunkelheit noch wandern, weil dies
kein Gegenbeweis dafür ist, dass es kein Ziel und keinen Sinn
gibt.
Ich wünsche mir Kirchen, welche in der Welt stehen, sich mit
deren Problemen auseinandersetzen und nicht mit sich selbst
und dem Mitgliederschwund, denn Religiosität und damit
Engagement für die Einigkeit der Welt, für tätige
Rechtschaffenheit und Zuversicht ist nicht an eine
Vereinsmitgliedschaft gebunden.
Kirche muss dorthin schauen, wo Not, Hoffnungslosigkeit und
Zerwürfnis stattfindet und mit jenen zusammenarbeiten, welche
sich für deren Linderung einsetzen, über alle Grenzen hinweg.
Wahre religiöse Gemeinschaft findet dann statt, wenn diese
nicht konfessionell und bekenntnismässig trennt. Es gibt zwei
Wege Einheit herzustellen, auf dem theoretisch-theologisch,
kirchenrechtlichen Weg und auf jenem der praktischen
Zusammenarbeit
und
dem
gesellschaftlichen
263
Zusammenleben . Der eine soll den anderen unterstützten und
263
Die praktisch gelebte Ökumene scheint bisher sehr viel erfolgreicher zu
sein, als die theoretisch kirchenrechtliche. Viele Probleme der Verständigung
257
nicht hemmen. Beide Ebenen, die gemeinschaftliche und die
verfasste Religion, sollten jedoch den Diskurs trotz aller
Unzufriedenheit nicht abbrechen lassen.
Wir können es uns nicht leisten, dass die Frage der Religion zur
individuellen Konstruktion von Heilserwartung264 reduziert wird.
Wir können es uns nicht leisten, dass Religion allein durch
Kirchenapparate verwaltet wird. Wir können es uns nicht leisten,
dass die existentiellen Anregungen der Religionen verstummen.
Wir können es uns ebenso wenig leisten, dass Religion in
lebensferne Bewunderung entartet, wie in pietätlose
Rechthabereien aber auch nicht in kadavergetreuem Gehorsam
und marketingmässiger Dressur erschöpft.
Es muss Dinge geben, die uns heilig sind, aber gerade deshalb
nicht tabu. Sie gehen uns alle an.
Übrigens: Den Streit um die Weiblichkeit Gottes – so gut ich ihn
verstehen kann und auch unterstütze – finde ich überflüssig.
Insofern als (unsere Vorstellung von) Gott die Transzendenz
unserer Hoffnungen und Werte darstellt und ausgehend von
dem, dass der Mensch kein Sensorium hat, mit welchem er die
Gottheit wirklich und vollumfänglich erfassen kann (geschweige
denn empirisch), stellt unsere Vorstellung der Gottheit sowieso
Projektion unserer Konstruktionen dar und repräsentiert
selbstverständlich ebenso stark den weiblichen wie den
männlichen, den körperlichen wie den geistigen, den
erwachsenen wie den kindlichen Teil. Andere Religionen
spiegeln einfach noch vielfältiger die Qualitäten, aber auch die
Risiken, Zwickmühlen und Fragen sowie Fehler des Lebens in
Gottheiten.
lassen sich in der Praxis viel einfacher lösen, als in der Theorie. Es kann so
auch sein, dass die Theorie einmal nicht der Praxis vorauseilt, sondern ihr
folgt. Die Religionen sind als Mischformen (Synkretismus) verschiedener
Einflüsse entstanden. Eine Überbetonung der Orthodoxie (einzig wahre Lehre)
kann dergestalt schnell in einen Absolutismus einmünden. Moral kann Ethik
nicht ersetzen.
264 …nach dem Motto: Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt.
Gott behüte!
258
Der Positivismus hat uns veranlasst,
den Glauben an Gott durch den Glauben an den Tod
zu ersetzen – eines der schlechtesten Geschäfte,
das Menschen je gemacht haben.265
Gotteserkenntnis ist nicht anders möglich und sie ist auch richtig
so. Es ist auch gut und notwendig, dass es dazu die
entsprechende Wissenschaft und Struktur gibt. Sie macht die
Welt und die Menschen immer wieder auf neue Überlegungen
aufmerksam. Wie in der Wissenschaft üblich, löst dies zuerst
den Diskurs aus, bis der Nebel des Umherirrens sich auflöst und
durch eine vorübergehende Übereinkunft ersetzt wird – bis zum
nächsten Diskurs266. Dieser Diskurs kann in der heutigen Zeit
nicht mehr wirklich durch eine formale Festsetzung der Wahrheit
gehemmt werden, schon gar nicht einer ewigen. Dabei ist gar
nicht zwingend daran zu zweifeln, dass es so eine gibt. Jedoch
daran, dass der Mensch sie sich in dieser Form je wird aneignen
können. Unser Suchen besteht in Irrungen und Wirrungen, aber
auch in Erleuchtungen, Erkenntnissen und Eingebungen, mit
vorübergehender Faszination und Halbwertszeit.
Glauben heisst sehen.
Heinz von Foerster267
Gerade daran, dass dieser Diskurs nicht endet, dass er auch
Zerwürfnisse und Auseinandersetzung sowie Unmut und
Enttäuschung, aber auch Mut und unverzagte Beharrlichkeit
265
Hansch, D.: Evolution und Lebenskunst, Grundlagen der Psychoenergetik,
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2002
266 Churchill wird der Satz „Planung ist der Ersatz des Zufalls durch den
Irrtum,“ zugeschrieben. Ich meine, dass es immer noch besser ist, sich
systematisch von Irrtum zu Irrtum (Halbwertzeit der Wahrheit) zu hangeln, als
einem Defaitismus anheim zu fallen.
267 Das hat auf den ersten Blick zwar nicht viel mit religiösem Glauben zu tun,
auf den zweiten jedoch möglicherweise sehr viel. Heinz von Foerster ist ein
Konstruktivist (siehe S. 32) und meint dies erkenntnistheoretisch: Erst wenn
man den Rahmen (bzw. Theorie) geschaffen hat, ist man fähig, innerhalb
dessen wahr zu nehmen. Erkennen heisst annehmen, glauben, voraussetzen,
tasten, bestätigen, also auch: Sehen heisst glauben!
259
auslöst, zeigt sich ja das anhaltende Interesse an diesen
Themen und wie wichtig Menschen diese nehmen.
Gerade die Religionen tragen trotz ihre Missbrauchs
und häufigen historischen Versagens die Verantwortung dafür,
dass solche Hoffnungen, Ziele, Ideale und Massstäbe
wachgehalten, begründet und gelebt werden können268.
Alle Religionen befassen sich mit dem Schicksal. In einigen wird
es als entrinnbar, in anderen als vorbestimmt beschrieben.
Glaubt mir: Es gibt keine Vorbestimmung, die es dem mit Glück
gesegneten Menschen erlaubt, sich zurückzulehnen und jenem,
der von Pech verfolgt wird, mutlos zu werden. Wie hätte ich
mich, der Graf Münchhausen, denn erfolgreich zur Wehr setzen
können, mehrfach meinem Schicksal zu entrinnen. Es gibt kein
Schicksal – es gibt nur Ungerechtigkeit, die zu beheben ist, und
Leid, das zu lindern ist. In diesem Sinn ist die Geschichte nur
Auftrag, wachsam zu sein: solidarisch auf der einen Seite; zu
vertrauen und nicht zu verzweifeln auf der andern. Niemand hat
verdient, dass es ihm auf Dauer miserabel geht, auch wenn er
es mit verursacht269 hat. Ebenso ist es kein Ruhekissen, wenn
es jemandem gut geht, auch wenn er es selbst mit verursacht
hat. Gemäss Rawls Differenzprinzip270 sind Ungleichheiten in
der Verteilung nur dann als gerecht(fertigt) anzuerkennen, wenn
diese dazu führen, dass sie gerade den schlechter Gestellten
gegenüber zum Vorteil gereichen.
268
Erklärung zum Weltethos. www.weltethos.org S. 5f
Insofern als die lineare Zuschreibung von Einzelursachen immer weniger
Sinn macht, ist dies sowieso obsolet.
270 In der Umsetzung ist dies verzwickt. Nehmen wir an, dass jemand über
besondere Fähigkeiten verfügt oder über besonderes Glück, so hat er dieses
zur Verbesserung der Situation anderer einzusetzen. Vereinfacht ausgedrückt
heisst dies: Reichtum, Glück, Macht und Begabung verpflichten. Rawls, J.:
Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp, Frankfurt/M, 2003.
269
260
Die Hölle, das sind die andern271.
Viele Religionen beschäftigen sich auch mit dem Bösen, als
Gegenkraft zum Guten. Das schafft einen Dualismus272, der
überwunden werden muss. So wie es Sartre psychologisch
scharfsinnig darlegt, wird dadurch die Tendenz, die negativen
Anteile des eignen Selbst zu veräussern und abzugeben,
gefördert. Ich bin es nicht, ich kann nichts dafür, der andere
muss es deshalb sein. Ich bin rein – oder habe mich wenigstens
bemüht.
Wir tun nicht, was wir wollen,
sondern wir wollen, was wir tun273.
Ich bin dafür, dass wir das Gute und das Böse als
Ausprägungen desselben ansehen, nämlich eines unbändigen
Bestrebens und Ereiferns. Wer dafür nicht „belohnt“ (muss nicht
materiell sein) wird, kippt ins Gegenteil. Er beginnt sich zu
rächen. Das ist ein psychologischer Vorgang. Genau so wenig,
wie dieser Mensch vorher Gott war, ist er jetzt Teufel274. Aus
271
Damit meint Sartre die Verdrängung der eigenen höllischen Anteile. Wir
selbst waschen unsere Hände in Unschuld. Sartre, J.-P.: Geschlossene
Gesellschaft, Rowohlt, Reinbek, 1986
272 Dieser Dualismus erinnert nach wie vor an einen Urzwist in der religiösen
Welt, der sich an der ursprgl. persischen Lehre des Mani (216-276) festmacht.
Manichäismus postuliert zwei Naturen: Finsternis und Licht (also Gut und
Böse). Bereits in ihrer Frühzeit beschäftigte sich die Kirche mit dem
leibfeindlichen Dualismus und lehnte diesen ab. Am deutlichsten zeigte sich
dies im Barock. Augustinus, ein grosser Kirchenlehrer, war vorher Anhänger
des Manichäismus.
273 Ergebnisse moderner Hirnforschung. Zit. nach Prinz, Wolfgang in einem
Interview mit Volker Lange im Magazin Morgenwelt , Morgenwelt, e.v.,
Hamburg 1/99
274 Nur zur Klärung für diejenigen, denen es jetzt ablöscht. Dieser
Erklärungsversuch hat nichts mit einer Entschuldigung zu tun. Verachtet
werden muss aber die Tat und nicht der Mensch. Gerade darum ist
konsequentes Ahnden nach dem gültigen Kodex des Rechts und der Ethik
wichtig, unabhängig davon, ob jemand als krank oder gesund eingeschätzt
wird. Nur, es muss die Tat gesühnt werden und nicht der/die Täter/in gerächt.
Die Strafe hat - neben dem begleitenden Effekt des Schutzes der Gesellschaft
- grundsätzlich das Ziel der Veränderung des Täters/der Täterin. Ob sie dafür
261
meiner Sicht braucht es deshalb den Teufel nicht. Es braucht
keinen Gegenspieler. Es ist dieselbe Kraft in uns, die Gutes und
Böses schafft.
Das Gute steckt im Bösen,
das Böse im Guten.
Der Dualismus verstärkt nur die Möglichkeit, die Verantwortung
auf den Teufel, also den Verführer zu übertragen. Lassen wir
das bleiben. Die Menschheit gibt es inzwischen lange genug, als
dass sie sich noch länger darum drücken könnte, mündig zu
werden. Also wenn schon: Die Hölle das bin ich (für mich und
für andere). Aber ich könnte auch der Himmel sein (für mich und
für andere)275. Es kommt auf meine Entscheidung und meinen
Willen an und wie weit ich bereit bin, dafür auch die Hilfe von
andern anzunehmen und auf andere, wie auf mich vertrauen zu
lernen.
hinreichend ist, ist umstritten. Erst unsere moderne Gesellschaft hat den
Anspruch erhoben, dass das Einsperren von Menschen in Käfigen ihren
Charakter und ihr Verhalten günstig beeinflusse. Illich, I.: Entschulung der
Gesellschaft, C. H. Beck, München, 2003, S. 84
Ein kleiner – allerdings nicht hinreichender – Hinweis dafür, dass gut und böse
nicht gottgegeben und damit unabänderlich oder gar genetisch festgelegt ist:
Es wird gesagt, dass Australien und Neuseeland früher grosse
Gefangenenkolonien beherbergte. In die Gegend um Sidney sollen damals
150'000 Gefangene aus dem british empire verbannt worden sein. Sollte sich
das Böse wirklich durchsetzen und stärker sein als das Gute, so müssten
diese beiden Staaten, weil sie durchmischt sind mit den Nachkommen der
Gefangenen, zu den „Schurkenstaaten“ oder der „Achse des Bösen“ gehören.
Wenn Böses sich genetisch vererbt und nicht sozial veränderbar ist, so würden
diese beiden Staaten gemieden werden. Sie gehören aber zu den
angesehenen Staaten und haben weder eine höhere Kriminalität, noch eine
schlechtere Wirtschaft, noch eine korruptere Politik. Sie sind begehrte
Reiseziele für Touristen, welche sich dort ohne Angst wohl fühlen können.
275 Dass mein Innenleben mir böse Streiche spielen kann und mir vorgaukelt,
ist eben der pefide psychologische Teil: Als Glückliche aus eigenem Verdienst
der Hölle der andern entronnen zu sein…? Als Gebeutelter nichts zur
Verbesserung der Situation beitragen zu können, weil die andern schuld
sind…? Hilfe abzuweisen, weil sie ja doch nicht gut (genug) gemeint ist…? Als
Begnadete selbstgerecht zu werden…? Als Armer aufzugeben, weil das
Vertrauen auf die andern sich nicht lohnt…? Als Reicher die Armen als
hoffnungslos zu betrachten…?
262
„Wer ein Warum hat, kann jedes Wie ertragen.276“
Umgekehrt wird jedes „wie“ egozentrisch, jedes „was“ unerträglich,
jedes „wohin“ beliebig, wenn man das „warum“ verloren hat.
276
Frankl, V. E.: Der Wille zum Sinn, Huber, Bern, 1978
263
264
Ökologie: Macht Unbekümmertheit wieder möglich
Jeder Tor kann einen Vogel umbringen,
aber kein Gelehrter der Welt kann einen erschaffen277.
Dialog: Papa: „Hast du deine Aufgaben schon gemacht?“ Kind:
„Ach, das habe ich ganz vergessen.“ Papa: „Ich erteile dir eine
Lehre.“ Kind: „Das tönt aber arg.“ Papa: „Hör zu: Wenn du nicht
lernst, zuverlässig zu werden, dann lernst du zu wenig. Wer zu
wenig lernt, bekommt schlechte Jobs und wenig Chancen.
Heute ist high Tech der Renner. Du solltest dich anstrengen,
dass du in dieser Branche etwas werden kannst.“ Kind: „Das
Gegenteil von high ist low.“ Papa: „Immerhin, du hast in der
Schule was gelernt. Aber damit hat das nichts zu tun.“ Kind: „Ist
low Tech278 schlechter und high Tech besser?“ Papa: „Das kann
man so nicht sagen. High Tech ist höher entwickelt. – Aber was
verwickelst du mich jetzt in Sachen. Du solltest deine Aufgaben
machen. Sonst wirst du nichts.“ Kind: „Wenn high Tech höher
entwickelt ist, so ist low Tech tiefer entwickelt. Ist das besser
oder schlechter?“ Papa: „Das kann man so nicht sagen. Low
Tech ist einfacher zu durchschauen und herzustellen. Im
Vergleich zum Stein, den du als Hammer brauchen kannst und
zum Feuer machen und als Waffe oder zum Kochen, ist ein
Fernseher absolut high Tech.“ Kind: „Ist high Tech schädlich?“
Papa (mit einem Anflug von Ärger und Unverständnis): „Was
soll jetzt das?“ Kind: „Unser Lehrer hat gesagt, dass Fernsehen
schädlich sei.“ Papa: „Ach so, das hat nichts damit zu tun.“ Kind:
„Ist Auto high Tech?“ Papa: „Möchtest du Automechaniker
277
Angelehnt an einen Spruch von Arthur Schopenhauer. Ein Blaukehlchen
kostet von seinen chemischen Bestandteilen her ca. 1.5 Cent, von seinem
ökologischen Nutzen her ist es Euro 1’357.90 wert. Wollte man einen Vogel
jedoch herstellen, so wäre dies unbezahlbar (bzw. eigentlich unmöglich). Vgl.:
Vester, F.: Der Wert eines Vogels, Kösel, München, 1987. Paradox: Jeder
kann eine Mücke zerquetschen, kein Wissenschaftler kann eine herstellen,
wiederum jeder kann jedoch einen Elefanten daraus machen.
278 Andere tiefgreifend neue Ansätze scheinen diejenigen der „Neuen Arbeit“,
der High-tech-Eigen-Produktion sowie der „cradle to cradle“- bzw. upcyclingProduktion zu sein. Bergmann, F.: Neue Arbeit, Neue Kultur. Arbor, Freiamt,
2004. Girardet, H. (Hg): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos. eva,
Hamburg, 2007
265
werden? Hast du Interesse an Autos? Heute sind Autos high
Tech.“ Kind: „Unser Lehrer hat gesagt, auch Autos sind
schädlich. Sie produzieren Abgase, die unsere Umwelt
verschmutzen und unser Klima verändern.“ Papa: „Aber jetzt
hört doch alles auf. Ihr solltet in der Schule Gescheiteres
lernen.“ Kind (unbeirrt): „Gibt es viel low Tech?“ Papa: „Darum
kümmert sich heute niemand mehr. Vielleicht gibt es das in der
Dritten Welt mehr als hier. Warum?“ Kind: „Ich möchte low Tech
Ingenieur werden. Da kann man neue Dinge entwickeln, die
nicht schädlich sind, aber für mehrere Aufgaben gleichzeitig
verwendet werden können. Sie schonen die Umwelt.“
Ich hoffe sehr auf technologische Neuerungen,
aber zu glauben, dass diese die alleinigen Lösungen bieten,
erinnert an technologischen Fundamentalismus.279
Antilog: Wir verwenden den Begriff der Ökologie häufig, als ob
er ein Begriff der Kasteiung sei, dabei ist er ein Begriff der
Ganzheitlichkeit.
Alles muss wachsen, frei und möglich sein. Das ist aber eher ein
Ausdruck unserer Unersättlichkeit, als unserer Sorge um
anvertrautes Gut.
Obwohl wir grundsätzlich wissen, dass alles menschliche
Handeln und Wirtschaften Einfluss hat und verändert, tun wir so,
als ob dies keine Auswirkungen hätte. Wir warten stets auf die
so genannten letzten wissenschaftlichen Beweise dafür, dass
man wirklich nicht Urwälder abholzen kann, ohne etwas zu
verändern. Wir warten darauf, wirklich den Beweis dafür zu
erhalten, dass die aktuellen Hauptenergiequellen eines Tages
versiegen werden. Wir warten auf den Beweis, dass wirklich der
Ausstoss von Gasen und Feststoffen der Umwelt irreversiblen
Schaden zufügt.
279
Uexküll, J.: Unser Konsum frisst die Erde auf. Interview. In: Stern Nr.
12/2007, Gruner + Jahr, Hamburg. S. 62ff. Uexküll ist u.a. Begründer des
alternativen Nobelpreises. Er fährt fort: "Die Technik hatte ja nun einige
Jahrzehnte Zeit; und das Klimachaos ist auch ein Zeichen für ein grosses
Technikversagen. Wie es auch ein Zeichen ist für das grösste Versagen des
Marktes ist, das wir kennen.“
266
Es gibt kein Utopia, aber wir können eine weniger
entfremdete und menschlichere Welt erschaffen280.
Mir kommt das vor wie die Geschichte vom Kind, das sich einen
Spass daraus machte, im Dorf wegen dem bösen Wolf um Hilfe
zur rufen. Jedes Mal strömt die Bevölkerung zu Hilfe. Der Kleine
findet dieses Schauspiel so toll, dass er es trotz der Warnungen,
die immer deutlicher werden, immer wieder versucht.
Schliesslich reagiert niemand mehr auf seine verzweifelten, aber
gespielten Hilferufe. In diesem Moment wird er von einem Wolf
angefallen. Seine Rufe verhallen ungehört. Der Kleine wird bei
lebendigem Leib zerrissen und aufgezehrt.
Das war gelogen, werden Sie mit untrüglicher moralischer
Gewissheit sagen und den Kleinen dafür verurteilen. Ich pflichte
Ihnen bei. Nur – das gerade ist es, was wir die ganze Zeit alle
tun. Wir schwindeln uns an. Wir tun als ob.
Gefahren sind real. Auch wenn sie (noch) nicht aktuell sind.
Gefahren kann man nicht beweisen. Man kann nur Tendenzen
aufzeigen. Da Menschen aber verschiedene Interessen haben
und es keine wertfreie Wissenschaft und Empirie gibt, werden
auch nie jene Stimmen verstummen, die die Gefahrenrufe als
Unkenrufe bezeichnen.
Ökologie ist langfristige Ökonomie.
Dann aber, wenn die Gefahr eintritt, dann ist es zu spät.
Gefahren kann man begegnen, indem man vorsichtig ist, indem
man Acht gibt, indem man nicht mit ihnen spielt, indem man
nicht desensibilisiert, indem man sie nicht herunterspielt.
Achtung vor der Natur ist jedoch nicht angezeigt, weil wir vor ihr
Angst haben müssen, aber etwas mehr Ehrfurcht könnte nicht
schaden.
Entwicklung muss auch nicht bedeuten, dass immer mehr
Raubbau an uns und der Natur getrieben wird. High Tech ist
280
Mollison, B.: Permakultur I+II, pala, Schaafheim, 1983. Bill Mollison ist
Träger des alternativen Nobelpreises. Permakultur I: S. 173
267
zwar nicht verwerflich. Sie stellt aber ebenso wenig einen
Garant für die Entwicklung dar, auf den wir fraglos und
unreflektiert stolz sein können. Mancher lowtech Artikel würde
bei der Herstellung mehr Manpower benötigen, wäre langlebiger
breiter nützlich und bräuchte zur Herstellung und zur
Entsorgung weniger Energie.
Die Natur braucht den Menschen nicht, der Mensch aber die Natur281.
Ökologie hat den gleichen Wortstamm (oikos gr. = Haus) wie
Ökonomie. Die beiden benehmen sich jedoch wie zerstrittene
Brüder. Es geht um den gemeinsamen Haushalt auf der Welt.
Dazu gehört die nährende Natur genauso wie alle Menschen.
Wir können das Haushaltbudget nur sanieren, wenn wir die
Schuldenbilanz verkleinern und in Zukunft ausgeglichen halten.
Das ist sattsam bekannt. Während dessen dies im einen Gebiet
hochgehalten wird, wird es im andern mit Füssen getreten.
Ehrlich gesagt, ich kann dies nicht verstehen. Zumal es sich
dabei nicht um einen Privatkonkurs handelt, um eine
Insolvenzerklärung einer Firma sondern um den Bankrott der
Menschheit. Wie hat es doch geheissen: Der Mensch ist die
Krone der Schöpfung. Irgendwann hat selbst die Menschheit
gemerkt, dass das mit den Kronen auch nicht so funktioniert und
ist dagegen aufgestanden. Aus dieser Revolution ergab sich die
Demokratie, in welcher alle Brüder (Geschwister) sind. Wie
lange wollen wir uns noch gegenüber dem Untertanen
ausbeutend benehmen? Irgendwann gibt es den Aufstand der
Natur. Diese Lehre hätten wir doch gelernt. Offensichtlich sind
wissen und tun zwei Dinge, die miteinander kaum etwas zu tun
haben.
Die Unbedenklichkeiten summieren sich bedenklich.282
281
Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 168
Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,
Suhrkamp, 1986. S. 34f
282
268
Metalog: Energieverbrauch ist eines der bewährtesten Mittel, um
die Umweltgefährdung zu erfassen. Unterentwickelte Staaten
verbrauchen wesentlich weniger Energie, als entwickelte
Staaten. Wenn wir diesen also eine Entwicklung ermöglichen
wollen – was die Bezeichnung, wenn wir sie ernst nehmen,
insinuiert – so werden diese also mit jedem Entwicklungsschritt
mehr Energie verbrauchen. Das bedeutet zwangsweise, dass
sich die Energiebilanz der Erde und damit deren
Zukunftserwartung verschlechtert. Vor jeder technischen
Entwicklung jedoch kommt die Ernährung. Zuerst muss es
möglich sein, dass alle Menschen dieser Welt selbst genügend
Nahrung produzieren können. Im besten Fall ist die
Agrarwirtschaft umweltneutral.
Gehen wir mal davon aus, dass dies nicht genügt, so haben wir
mehrere Möglichkeiten, den unterentwickelten Staaten die
Entwicklung zu ermöglichen:





Wir verlagern die Arbeitsplätze und damit die energiereiche
Produktion in die Entwicklungsländer und entlasten uns
davon.
Wir optimieren die Energiebilanz der entwickelten Staaten,
um
bei
energieneutraler
Gesamtbilanz
den
unterentwickelten Staaten den für die Entwicklung nötigen
Energieverbrauch zuzubilligen.
Wir hoffen darauf, dass in den unterentwickelten Staaten
ein Know-how im haushälterischem Umgang mit
Ressourcen vorhanden ist, von dem wir lernen können.
Wir machen ein Va-banque-Spiel, nach dem Motto, wer sich
am schnellsten entwickelt, leistet zwar am meisten Beitrag
zum Untergang, hat aber auch am längsten etwas davon.
Das ist allerdings eine Hochrisikostrategie.
Wir kooperieren in der Entwicklung von low Technology, die
zum Ziel hat, einfache Produktionsmethoden, die wenig
Energie aber viel Arbeit benötigen und Produkte für den
Alltagsgebrauch herstellt, welche wenn immer möglich
Mehrfachnutzen haben, sei es bei der Produktion, bei der
Verwendung und am Ende des Verwendungszyklus. Dabei
wäre aber notwendig, dass wir gegenüber diesen Staaten
anerkennen würden, dass unsere Entwicklung auf dem
269

Holzweg
ist,
damit
dahinter
nicht
eine
Art
Unterdrückungsmentalität dazu führen würde, dass diese
Staaten dies ablehnen müssten. Wiederverwendbarkeit,
Mehrfachnutzen, Nachhaltigkeit und nachwachsende
Rohstoffe sowie der Verzicht auf Unnötiges wären nur
einige Stichworte, die es dabei zu beachten gelten würde.
Wir verringern die atemberaubenden Zyklen der
Produktentwicklung, welche dazu führen, dass immer
schneller ein Produkt überholt ist und dafür die Produkte
kurzlebiger werden. Die längere Lebensdauer von
Produkten würde Energie einsparen. Man könnte die
Produkte dafür auch wieder teurer verkaufen, weil sie nicht
als Wegwerfprodukte konzipiert werden. Sie wären aber
auch entsprechend wert-haltiger Dafür könnte auch wieder
mehr Arbeit als Energie eingesetzt werden. Reine
Lifestyleprodukte, Modeprodukte und Wegwerfprodukte
sind überflüssig.
Punkt eins tun wir schon. Er führt zu sozialen Problemen und
zum Raubbau. Um Punkt zwei kämpft man im so genannten
Kyoto-Protokoll und ähnlichen internationalen Abkommen. Punkt
5 scheint ohne wesentliche Änderung die Strategie des
sinkenden Rettungsbootes zu sein – eine Pattsituation. Punkt 3,
Punkt 5 und Punkt 6, auch wenn hüben und drüben nicht
einfach umzusetzen, scheinen neu zu sein und vielleicht auch
gangbar.
So oder so: Wir müssen uns entscheiden. Entweder alles haben
wollen und dafür genau dieses andern verwehren. Oder
gemeinsam neue Ziele stecken und auf andere Kulturen und
anderes Know-how bauen. Oder auf Teufel komm raus am
eigenen und aller Ast sägen.
Ohne Gerechtigkeit kein Auskommen. Ohne Ökologie kein
Weiterleben. Ohne Arbeit kein Einkommen. Ohne Nahrung kein
Leben. Ohne Bescheidenheit keine Gesundheit. Ohne
Verantwortung keine Gerechtigkeit...
270
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge (Kurt Marti)283.
Es wäre doch schön, wenn man einfach wieder mehr oder
weniger unbekümmert, aber wachsam und aufmerksam durchs
Leben gehen könnte. Diese Sorgen um den Raubbau und die
Unterjochung der Natur erdrücken uns vor allem deshalb, weil
wir es wissen, aber nicht tun. Das konsequente Handeln danach
wäre die Befreiung, weil Freiheit so funktioniert.
Die Biologie kann nicht sagen, was das „Leben“ ist,
die Physik kann nicht sagen, was die „Natur“ ist,
die Theologie kann nicht sagen, was „Gott“ ist,
die Philosophie kann die „Weisheit“ nicht begreifen.284
Die Psychologie kann die „Seele“ nicht fassen.
Wohin wollen wir denn noch?
283
Evangelisch-reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller; lebt in Bern,
Schweiz
284 Negele, M.: Leben des Geistes. Zur Denkwürdigkeit von G.W. Hegels
„Phänomenologie des Geistes“ S. 177. In: Malinowski, B. (Hg.): Im Gespräch:
Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften, Vögel, München,
2006, S. 159-177
271
272
Ethik: Der Seiltanz mit dem Guten und Bösen
Die Bedürfnispyramiden285 sind relativ.
Reiche Länder: „Friede, Freude, Eierkuchen…“
Arme Länder: „Eierkuchen!, … Friede, Freude.“
Oder wie Bert Brecht zu sagen pflegte:
„Das Fressen kommt vor der Moral.“
Dies wiederum kontrastiert mit:
„Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein.“ (Mt,4,4)
Dialog: Mama: „Hör damit auf. Das ist nicht gut.“ Kind: „Ich finde
das aber lustig.“ Mama: „Ich sagte, hör damit auf.“ Kind: „Du
musst mir nicht immer sagen, was ich nicht tun darf. Ich habe
auch was zu sagen.“ Mama: „Ja schon, aber ich sage dir, dass
das nicht gut ist.“ Kind: „Warum soll es nicht gut sein, wenn es
mir gefällt?“ Mama: „Weil ich es nicht will und weil ich es nicht
gut finde, basta.“ Kind: „Erziehen finde ich zum Beispiel nicht
lustig. Du verbietest immer alles.“ Mama: „Du kannst ja etwas
anderes tun, was dir gefällt.“ Kind: „Aber ich will nicht.“ Mama:
„Wirst du wohl gehorchen?!“ Kind: „Du bist eine böse Mutter.
Das ist auch nicht gut.“ Mama: „Ich möchte auch lieber eine gute
Mutter sein. Aber wenn du damit nicht aufhörst, muss ich böse
werden.“ Kind: „Ich möchte nicht, dass du eine böse Mutter bist.“
Mama: „Dann tu, was ich sage. Sonst zwingst du mich dazu.“
Kind: „Aha, ich kann dich zwingen. Das ist lustig.“ Mama: „Ich
möchte nicht, dass du machst, dass ich böse werden muss.“
Kind: „Was ist gut und böse? Wer legt das fest.“ Mama: „Gut ist,
wenn du nichts Dummes, Gefährliches oder etwas machst, was
andern wehtut oder sie ärgert und nichts kaputt machst.“ Kind:
„Du meinst, dass das dich geärgert hat, was ich getan habe und
285
Abraham Maslow, Psychologe, postulierte eine Art Bedürfnispyramide.
Diese Theorie besagt, dass ein Mensch / die Menschheit erst in der Lage ist,
einer nächsthöheren Motivation nachzugehen, wenn die tiefere befriedigt ist.
Seine Hierarchie sah so aus (vom tiefsten bis zum höchsten Bedürfnis):
Körperliche Grundbedürfnisse, Sicherheit, soziale Beziehungen, soziale
Anerkennung, Selbstverwirklichung. Maslow, A. H.: A Theory of Human Motivation. Psychological Review, 50, S. 370-396, 1943.
273
dass es deshalb böse war?“ Mama: „Genau.“ Kind: „Warum tust
du so, als ob du besser wüsstest, was gut ist.“ Mama: „Du
weisst genauso gut wie ich, dass man einander nicht ärgern
soll.“ Kind: „Du meinst, du hast das Gute nicht gepachtet?“
Mama: „Ja, wie soll ich dich denn sonst auf das Gute
aufmerksam machen, wenn du nichts davon verstündest?“ Kind:
„Das leuchtet mir ein. Ich möchte auch gut sein. Ich möchte dich
nicht ärgern. – Mama?“ Mama: „Ja?“ Kind: „Warum gibt es böse
Menschen?“ Mama: „Die Menschen sind nicht böse. Du warst
vorher auch böse und ich auch. Jetzt bist du wieder gut und ich
auch.“ Kind: „Mama, wie macht man, dass Menschen gut
zueinander sind?“ …
Wir alle haben die Verantwortung
für eine bessere Weltordnung286.
Metalog I 287: Verschiedene Meinungen gibt es immer. Sie
repräsentieren nicht etwa – dies wäre eine Prämisse – je
nachdem amoralisches oder moralisches Verhalten, sondern
unterschiedlichen Umgang mit den täglichen Dilemmata288 des
moralischen Handelns.
286
Erklärung zum Weltethos. www.weltethos.org S. 5. Zusätzlich steht in
dieser Deklaration: Wir tragen die individuelle Verantwortung für alles, was wir
tun. All unsere Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen haben
Konsequenzen. S. 4. Den Menschenrechten müssen unbedingt auch
Menschenpflichten gegenüber gestellt werden. Vgl. Allgemeine Deklaration der
Menschenpflichten vom InterAction Council. www.weltethos.org Art. 3: ... Jeder
Mensch hat die Pflicht unter allen Umständen Gutes zu fördern und Böses zu
meiden. Art. 10. Alle Menschen haben die Pflicht, ihre Fähigkeiten durch Fleiss
und Anstrengung zu entwickeln.
287 Zum Thema Ethik gibt es keinen Antilog, weil das Thema nicht antilogisch,
sondern nur synthetisch bearbeitet werden soll. Böse Zungen unter den
Lesern würden behaupten, dass dieser Abschnitt fehlt, weil mir keiner
eingefallen ist. Sie haben recht.
288 Um nur eins der Dilemmata zu nennen, mit welchen sich die Ethik
theoretisch beschäftigt: Der „fat man case“: Stellen Sie sich vor, Sie stehen an
einer abschüssigen Strasse an einer Bushaltestelle. Neben Ihnen steht ein
sehr dicker Mann. Sie sehen, dass die Bremsen eines heranfahrenden Busses
versagen. Sie sehen, dass dieser direkt in eine Gruppe Menschen weiter unten
274
Adam Smith, der Vater der Marktwirtschaft postulierte
folgende Hypothese für die Wirtschaft:
Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht289.
Die konstruktivistische Sichtweise befreit uns vor der
dogmatischen Sicht, dass es eindeutige, ewige und universale
Wahrheiten290 gibt. Sie nämlich haben bisher dazu geführt (oder
führen müssen), dass die Menschheit miteinander in endlose,
aber
dafür
umso
machtbetontere
(kriegerische)
Auseinandersetzungen gelangt sind, um diese (vermeintlichen)
Unwahrheiten endgültig zu beseitigen und den Wahrheiten zum
Durchbruch zu verhelfen.
Man hat Kriege geführt, damit man dann irgendwann das
Paradies auf Erden – die immerwährende Erleuchtung, die
Erkenntnis
–
verlustieren
könnte.
Jedoch
die
Auseinandersetzungen selbst und die Suche nach der Wahrheit
waren es, die dazu geführt haben, dass wir in immer stärkere
Verstrickungen gelangt sind, statt unsere Fesseln abzulegen
und uns davon befreien zu können.
Das Herstellen von Ethik wäre also ebenso wenig von einem
Teilsystem der menschlichen Gesellschaft zu erwarten oder zu
finden, wie von einem Staat, sei er auf „hoher“ oder „niedriger“
Entwicklungsstufe. Es wird alles relativ, was aber keineswegs
entwertend, sondern eher aufwertend gemeint sein soll:
Niemand hat sie, die Wahrheit, umso mehr aber sind alle auf
jede und jeder auf alle angewiesen. Alle sind wichtig. Jedes
rasen müsste und diese töten würde. Dummerweise kommt Ihnen in den Sinn,
dass Sie den Dicken vor den Bus stossen könnten, sodass dieser gestoppt
wird. – Sie sind in einer verzwickten Lage. Dürfen Sie einen Menschen opfern,
um 10 vor dem Tod zu schützen? Alle für einen, einer für alle? Was müssen
Sie tun? Was dürfen Sie tun? Was nicht? Wie finden Sie aus dieser
vertrackten Gedankenmühle heraus? Was ist ethisch? Nicht zuletzt wird
gesagt, dass Ethik Diskurs ist - ständiges Suchen nach Übereinstimmung und
Anpassung auf höchster Ebene.
289 Die Wirtschaft scheint also einen völlig ethikfreien Raum darzustellen und
dies beabsichtigt und theoretisch untermauert.
290 Um genauer zu sein: Sie befreit uns nur davon, zu meinen, dass wir diese
erkennen können. Sie sagt nichts darüber aus, ob es solche Wahrheiten gibt.
275
Element und sei es auf den ersten Blick noch so unbedarft und
unwürdig, kann einen wesentlichen Beitrag leisten.
Heiligt der Zweck die Mittel,
oder vielmehr die Mittel den Zweck?
Dies befreit uns vom zwanghaften Nachdruck und dem
emotionalen Druck in Diskussionen über das Wesen des
Wesentlichen und öffnet uns mehr für die andere Meinung und
sei sie noch so unangebracht, frech, provokativ oder sonstwie
daneben. Das ist die neue Gleich-gültigkeit – also Gelassenheit,
die aus auslaugendem, nötigendem Aktivismus wieder
liebevolles Engagement macht. Wir brauchen wieder Menschen,
die Spiritualität und alltägliches, verantwortliches Handeln
verbinden wollen – ohne deswegen gleich zu Dogmatismus zu
neigen!
Ökologisch und langfristig betrachtet
bewirkt die Arbeit in Wahrheit einen Minderwert291.
Konflikte wird es – zum Glück weiterhin geben, denn die
Gegensätze sind nicht abgeschafft und die Schwierigkeiten
damit bleiben. Sie stürzen uns nach wie vor in unsere
Verzweiflung und begehren ihren emotionalen Tribut. Jedoch
die Empathie bekommt ihren wahren Platz darin, dass wir in
keiner Situation mehr danach trachten müssen, andere
abzuwerten, sei es um sie auf den rechten Weg zu bringen oder
ihnen zu „helfen“, sondern dass immer auch die Neugier auf die
Lebensweisheit gerade dieser Menschen uns beflügelt.
Wir müssten uns nicht fragen: Sind die Menschen gut oder böse?
Sondern vielmehr: Was macht sie gut und was macht sie böse?
Es gibt zwei Möglichkeiten, die dazu verhelfen, nicht Konflikten
ausweichen zu müssen oder sie mit der Technik des gordischen
Knotens zu lösen. Dabei ist es egal, ob diese Konflikte in
ethischen Dilemmas bestehen, welche wir mit uns selbst
austragen müssen, sei es, dass diese zwischen uns und andern
Ruh, H.; Gröbly, Th.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, Waldgut,
Frauenfeld, 2006. S. 81
291
276
bestehen. Wir brauchen weder Angst zu haben, noch müssen
wir dem Hochmut verfallen:

Das Palaver: Das ist eine alte afrikanische Art des
Zusammenkommens, des einander Redenlassens, des
geduldigen Wartens und aufeinander Hörens. Sie soll hier
nicht als Methode postuliert, sondern als Metapher gemalt
werden. Die verschiedenen Positionen werden im Prozess
des aufeinander Eingehens plötzlich vereinbar. Die Einigkeit
wird dabei nicht als sachliches Kalkül oder als fauler
Kompromiss erzeugt, sondern als emotional-soziales
feierliches Ereignis. Unserer europäischen Kultur ist dieses
Vorgehen nicht allzu fremd. So haben die alten Griechen
philosophiert, Erkenntnisse gewonnen, gewogen, oder je
nachdem verworfen.
Ethik in einer Risikogesellschaft muss unter dem Hauptmotiv
Verantwortung stehen. Das bedeutet: Der Unheilsprophezeiung
ist mehr Gehör zu geben, als der Heilsprophezeiung292.

Die Dialektik: Den rationaleren Verbündeten der Ethik dazu
stellt die Dialektik dar. Sie geht davon aus, dass es immer
eine oder mehrere Thesen sowie eine oder mehrere
Antithesen gibt, die auf der gleichen Ebene des Denkens
konfligieren müssen. Das ist die Problemtrance und die
Problemverlockung – das Dilemma. Es gibt aber zu jedem
Dilemma eine Ebene der höheren Betrachtung, auf der sich
der Konflikt auflösen lässt. Nach der Plus-eins-Regel sind
Individuen in der Lage und willens, eher einer
Argumentation zuzustimmen, die sich eine Ebene höher
ansiedelt, als die eigne Stufe293. Es gibt zwar aus jeder
Ruh, H.: Gröbly, Th.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, Waldgut,
Frauenfeld, 2006. S. 69
293 Kohlberg, L.: Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp, Frankfurt,
1996. Kohlberg postuliert sechs Stufen der moralischen Entwicklung. Jeder
Mensch und jede Organisation steht aber bezüglich unterschiedlicher Themen
immer wieder auf einer anderen Stufe.
Wichtig auch in diesem Zusammenhang: Oser, F.; Althoff, W.: Moralische
Selbstbestimmung, Klett-Cotta, Stuttgart, 2001. Er bezeichnet die sieben
Todsünden der Moralerziehung: 1. Relativismus (zwar sind alle Menschen
gleich-wichtig, aber nicht alle Ansichten gleichwertig, sonst würde es ja keinen
292
277
Klemme ein Ausweichen zur Synthese hin, aber nicht jedes
Dilemma lässt sich damit endgültig lösen.
Diese
beiden
Diskursansätze
helfen,
der
sonst
unausweichlichen Problemtrance auszuweichen, welche zum
nagenden, resignierenden Rückzug und Privatisierung oder zum
rechthaberischen und heroischen Titanenkampf – sei es mit
dem Gegner oder mit dem Problem – verführt.
Ethik ist ins Grenzenlose
erweiterte Verantwortung. (Albert Schweitzer)
Diese neue Ethik setzt Widersprüchlichkeit voraus und gewinnt
daraus aktuelle Einsicht und Übereinkunft. Sie versucht die
Widersprüchlichkeit nicht etwa aus der Welt zu schaffen, da sie
störend wäre für die Einigkeit. Dieser Ethik ist es ein Anliegen,
die Einheit in und durch die Vielfalt zu stärken. Daraus gewinnt
sie Inspiration.
Die Gegenwart wird immer mehr
unter einen „Zwang zur Zukunft“ gestellt.294
Metalog II: Ethik ist die universale Vorstellung des Guten und
bezeichnet auch die Überlegungen, die dazu Plausibilität
herstellen. Moral hingegen bezeichnet die Sitte. Ethisches
Handeln ist immer auch moralisches Handeln. Währenddessen
moralisches Handeln nicht zwingend ethisch richtig sein muss.
Unterschied machen), 2. Indoktrination, 3. Zynismus, 4. Unsensibilität
gegenüber moralischen Ansprüchen, 5. oberflächliches Wissen, 6. Fehlen
moralischen Mutes, 7. Unglaube hinsichtlich der Vision einer besseren Welt.
294 Was darunter zu verstehen ist, führt Elisabeth Beck-Gernsheim wie folgt
aus: „Die darin angelegten Optionen freilich auch ihre Kehrseiten. Mit dem
Planen entsteht die Planungsfalle, mit der Prävention kommt auch die
Präventionsfalle. Wenn man diese Gedanken weiterverfolgt, wird sichtbar,
dass sich der einzelne heute nicht mehr nur gegen Zufälle und Unfälle
wappnen muss. Vielmehr muss er sich idealtypisch auch wappnen gegen die
„Nebenfolgen“, die im Wappnen selbst angelegt sind, …“ Beck-Gernsheim, E.:
Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. C.H. Beck,
München, 2000, S. 83.
278
Das Uneigentliche ist der Quell
des Eigentlichen.
Moral, das sind Handlungssätze, wie Gebote, Traditionen,
Denk- und Vorgehensweisen, Regeln. In moralischen
Verhaltensregeln allein können sich viele Fallen295 verstecken,
die dazu führen, dass man sich zwar moralisch gesehen auf
dem Trockenen befindet, aber doch nicht ethisch handelt.
Moralisches Handeln kann auch selbstgerecht sein. Ethik stellt
mehr die Orientierung im Raum dar. Sie kann dazu verwendet
werden, Moral zu überprüfen oder zu verändern.
Vieles, was heute nicht mehr als amoralisch gilt, muss nicht
unbedingt ethisch gerechtfertigt werden können.
Die Summe aller menschlichen Tugenden und Laster
bleibt gleich. (J.R. von Salis)
Wer A sagt, muss nicht B sagen.
Er kann auch erkennen, dass A falsch war.
(Bertold Brecht)
Die Sitten und Gebräuche von Regionen, Ländern und
Kontinenten unterscheiden sich. Ethik stellt jenen Raum dar, in
welchem sich dies alles vereinen und vereinbaren lässt. Daraus
ist gemeinsame Entwicklung aufgrund von gemeinsamem
Vertrauen möglich.
Kulturen ergänzen sich und können voneinander lernen. Ethik
ist das gemeinsame Projekt der Menschheit. Sie kann zur
gemeinsamen
Sprache
werden.
Das
Mittel
der
Völkerverständigung. Jenseits aller Sprachen, jenseits aller
Kulturen, jenseits aller Moral, jenseits aller Verschiedenheit.
295
Der auf S. 173 geschilderte Pygmalion-Effekt soll nur als ein Beispiel für
solche Fallen nochmals erwähnt sein. Das sich daraus ergebende Oxymoron
(innerer Widerspruch): Menschen haben zugleich das Zeug dazu, gut zu sein
und böse. Soll ich auf Schlechtes Rücksicht nehmen und es damit faktisch
persistierend bestätigen oder soll ich darauf setzen, es zum Guten zu
wenden? Wann bin ich in diesem Zusammenhang schlecht oder gut?
279
Ethik muss nicht ewig sein. Auch sie ist einer Entwicklung
unterworfen.
Warum soll die Ethik ein Seiltanz sein? Erstens, weil sich so
wenige auf das Hochseil wagen. Zweitens, weil man auf zwei
Seiten herunterfallen kann. Drittens, weil man (mit den Füssen)
ständig ausgleichen muss, um nicht herunterzufallen. Viertens,
weil man ein gutes Gleichgewichtsgefühl braucht. Fünftens, weil
es besser ist, keine Höhenangst zu haben. Und schliesslich
letztens, weil das Fallnetz der Ethik die Moral darstellt, nämlich
das Set von bekannten Regeln, an welche man in heiklen
Situationen gewohnt ist sich zu halten. Regeln alleine genügen
nicht. Wir brauchen die Ebene darüber, die uns immer wieder
die Regeln reflektieren und auf Sinn hin überprüfen lässt. Kein
Seiltänzer beginnt schliesslich damit Seiltanz zu lernen, indem
er sich genügsam ins Fallnetz legt.
Einige Menschen sehen die Dinge, wie sie sind, und fragen: Warum?
Ich träume nie dagewesene Träume und frage: Warum nicht?
(George Bernhard Shaw)
280
281
Schlusswort
Was wir denken, könnte wahr werden;
was wir tun, wird wirklich;
darin erkennen wir uns.
Meine Aufgabe war: Lügen, wie gedruckt. – Die Wahrheit kommt
nach, was zu beweisen ist.
Wir sind in unserer Phantasie in der Lage, uns die grössten
Gräueltaten vorzustellen. Warum sollten wir nicht in der Lage
sein, uns ebenso gut eine Welt vorzustellen in der sich für alle
zu leben lohnt? Warum sollten wir nicht in der Lage sein, dafür
etwas zu tun? Warum sollen die Bilder der Wirklichkeit
aussehen, als ob die Menschen nicht zu etwas anderem fähig
wären: grau in grau? schwarz – weiss?
Wem dieses Buch und dessen Paradoxien zu schleierhaft
wirken, als dass er dessen Phantasien nur im Geringsten folgen
wollte, sei zum Schluss folgende Geschichte erzählt.
The world seems to reflect our beliefs
and to increasingly mirror our perceptions
whether they are reliant or not.
Es gab einmal ein Land, auf dem es nur Punkte und Striche
gab. Auch die Menschen dort bestanden nur aus Punkten und
Strichen. Sie waren nur in der Lage, Punkte und Striche zu
erkennen. Alles war flach. Es gab keine Erhebungen, nur Ecken
und Kurven. Da sah ein Kind eines Tages eine Kugel – sehr
wahrscheinlich in der Fantasie – und behauptete, dass es etwas
mit einer Ausdehnung in mehrere Richtungen gäbe – einen
Raum, statt nur einer Fläche. Das Kind wurde für verrückt
erklärt, umso mehr als es sich bei der Weitergabe seines
Traums sprachlich so verhedderte. Dies geschah deshalb, da es
auch für das Kind nicht einfach war, sich etwas auszumalen,
das gar nicht in die Wirklichkeit passte. Die Eltern des Kindes
wurden bestraft. Doch die Welt aus Punkten, Strichen und
Flächen erlebte weitere Unruhen. Plötzlich behaupteten weitere
Menschen, dass es eine dritte Dimension gäbe und es wurden
immer mehr. Sie forderten und postulierten diese dritte
282
Dimension, da sie erahnten, dass in ihr möglich erschiene, was
bisher nicht möglich war.296
Lügen leben länger.
Leider habe ich die Verbindung zu diesem Land in der
Zwischenzeit verloren, da es mittlerweile über die dritte
Dimension
hinausgegangen
ist
und
dies
mein
Vorstellungsvermögen so strapaziert, dass ich selbst nicht mehr
verstehe... Aber was mir bleibt, ist die Frage: Wollen wir Flatliner
bleiben?
Also, ihr redlichen Bürger von Schilda, Seldwyla, Sanberry,
Saragona, Serpignan, Sygadül, Sarborough, Singston,
Sodjonigrod, Sari, Siaulhak und wie sie alle heissen mögen: Nur
Mut. Ihr seid nicht dumm, wie man euch glauben machte. Holt
die Glocke aus dem See und lasst sie klingen – all over the
world! Lässt Licht in eure Rathäuser. Fenster aller Rathäuser
vereinigt euch297.
Man kann nicht nur lügen, man muss es auch tun.
Ich begann mit der frechen Lüge, dass man sich aus eigener
Kraft aus dem Dreck ziehen kann. Dafür, dass dies möglich ist,
stand nur meine Überzeugung, dies selbst schon erfolgreich
erlebt zu haben. Ich blies sodann diese Lüge noch auf, indem
ich behauptete, dass es sogar möglich sei, dass selbst der
Sumpf – in dem man soeben noch zu versinken drohte – dabei
mit herausgezogen werden könne. Dies ist eine Lüge 2. Grades.
Ich versuchte schliesslich mit den bescheidenen Mitteln eines
alternden Mannes, den nur noch sein Bemühen adelt,
aufzuzeigen, was dies alles in verschiedenen Gebieten unserer
Abbott, E. A.: Flächenland – ein mehrdimensionaler Roman, verfasst von
einem alten Quadrat, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1982
297 Anklänge zu zwei Geschichten der Schildbürger. Kästner, E.: Die
Schildbürger, Dressler, Hamburg, 2000. Da ich davon ausgehe, dass hinter
der vordergründigen Dummheit der Bürger von Schilda sich tiefere Einsichten
verstecken und ich diese Begabungen in aller Herren Ländern vermute, habe
ich lautmalerisch Orte erfunden, wo Schilda überall sein könnte.
296
283
weltumspannenden Gemeinschaft bedeuten könnte und wie
diese von Sumpf und Untergang befreit werden könnte.
Die Anerkennung des scheinbaren
Widerspruchs (Paradoxie)
führt weiter als
der Kampf um die einzig richtige
Wahrheit (Orthodoxie)
Ihr, liebe Leser, ihr liebe Leserinnen, habt es nun wahrlich nicht
leicht. Ihr werdet nun entscheiden müssen, (keine Angst, es ist
nur wieder ein multiple choice Test) ob ihr





mich als Lügner entlarven wollt
weitere Lügen 1. bis n’ten Grades hinzufügen wollt
durch aktives Handeln einer oder mehreren Lügen zu einem
ehrenhaften Leben verhelft, indem ihr sie für wahr hält
versucht (selbstverständlich mit beschränkter empirischer
Haftung) herauszufinden, ob und zu was die Lügen taugen
euch mit den bisherigen Fürwahrheiten und deren
Halbwertzeit bescheiden wollt
Die Zukunft kommt von selbst. Die Möglichkeiten in ihr jedoch
nicht. Das ist Inspiration und Transpiration. Meine Vorschläge
mögen vielleicht nicht die passenden sein. In erster Linie ist es
aber entscheidend, in unserer Situation überhaupt die
Möglichkeiten zu sehen.
Zum Schluss möchte ich euch noch ein Gedicht meines
genialen Freundes Christian Morgenstern als Koan298 mitgeben.
298
Unlösbare Aufgabe, welche als eine der zwei Möglichkeiten zur
Erleuchtung zu gelangen, im Buddhismus gestellt wird. Über die Verzweiflung
der Unlösbarkeit gelangt man schliesslich zur Gewissheit und Gelassenheit,
also zum Sinn und zur Sicherheit. Das hat Ähnlichkeiten mit der
Kreativitätstheorie, gemäss welcher nach der Inkubationszeit plötzlich der
rettende Gedanke einfällt. Man sieht: Sinnlosigkeit kann durchaus auch
Ansporn sein und nicht das Ende. Ah, ja genau. Da fällt mir gerade noch ein:
Ich habe dem Buch den falschen Namen gegeben. Es sollte heissen
Münchhausen hoch zwei. Es enthält nicht nur Geschichten darüber, wie und
dass es möglich ist, sich selbst am eigenen Schopf zum Dreck raus zu ziehen
und dass dabei auch noch der ganze Dreck mitkommt. Vielleicht fehlt dabei
sogar das Wesentliche: Man muss auch noch in der Lage sein, dafür vom
284
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.
Ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko299.
Bevor ich entschwinde, möchte ich mich zum Schluss bei all
jenen entschuldigen, welche mehr phantastische Geschichten,
mehr Unterhaltung und mehr Praxis erwartet hätten und weniger
schnöde Utopie, Theorie und Paradoxie. Ihnen empfehle ich zur
Entspannung und Belustigung und als weiteres Koan diese
Geschichte: Ein Mann ging in einen Laden. Es war ein
merkwürdiger Laden. Es roch gut und alles war hell und
freundlich. Aber man sah keine Waren. Hinter der Theke stand
eine Frau. Der Mann fragte: „Was verkaufen Sie denn hier?“ Die
Frau antwortete freundlich: „Alles, was Sie wollen.“ Der Mann
hohen Ross zu steigen. Die verschiedenen Steigerungsformen der
Betrachtung hier im Überblick:
Nur am eigenen Schopf kann man sich zum Dreck rausziehen – unabhängig
von der Hilfe, die man in einer solchen Situation vermisst oder kriegt:
Münchhausen1
Wenn man sich aus dem Dreck raus zieht, kommt auch der Dreck mit. Wenn
man sich befreit aus der misslichen Situation, verändert man damit auch die
Verhältnisse: Münchhausen2
Es ist leichter, sich aus dem Dreck zu ziehen, wenn man vom hohen Ross
steigt: Münchhausen3
Am Pferd zu ziehen, auf welchem man sitzt, nützt nichts: Münchhausen 4
Sie haben das Pferd geritten und gelenkt. Also schelten Sie es nicht:
Münchhausen5
Man kommt eher vorwärts, wenn man das Pferd nicht vom Schwanz aufzäumt:
Münchhausen6
Wenn man ein totes Pferd reitet, sollte man absteigen: Münchhausen7
Da es weitere Steigerungen gibt, müsste das Buch eigentlich heissen:
„Münchhausen hoch N“ Es gibt Lösungen ersten bis n’ten Grades.
299 Morgenstern, Ch.: Alle Galgenlieder, Diogenes, Zürich, 1997
285
zögerte nicht lange: „Dann hätte ich gerne den Weltfrieden; ein
Leben im Einklang mit der Natur; Gerechtigkeit; genügend
Nahrung für alle; Menschen, die ...“ Die Frau fiel ihm ins Wort:
„Entschuldigen Sie, Sie haben mich falsch verstanden. Wir
verkaufen hier keine Früchte. Wir verkaufen nur den Samen300.“
Hier stehe ich, ich kann nicht anders301.
Mit dem vorliegenden Buch wollte ich eine Skizze weltanschaulicher Psychologie zeichnen. Es soll eine Psychologie
der Öffentlichkeit, eine Psychologie des Volkes, der Zumutung
und Beherrschung 302 werden. Sie kümmert sich nicht nur um
einzelne Menschen, sondern viel mehr um die überindividuellen
Zusammenhänge. Sie ist in der Lage einige der notwendigen
Wissens-, Handlungs-, Veränderungs-, Funktions- und
Utopiebausteine beizusteuern.
300
Solche und ähnliche Geschichten finden Sie in: Lust, Th.: Gehe ins
Rathaus und ärgere Dich täglich, Buchspiel, Rowohlt, Reinbek, 1987; Lust,
Th.: Stell Dir vor, sie wartet auf dich und keiner weiss, wo..., Buchspiel,
Rowohlt, Reinbek, 1988; Peseschkian, N.: Der Kaufmann und der Papagei,
Fischer, Frankfurt a.M. 1979; Mello de, A.: Eine Minute Weisheit, Herder,
Freiburg / Brsg. 1986; Mello de, A.: Wer bringt das Pferd zum Fliegen?,
Herder, Freiburg / Brsg., 1989; Mello de, A.: Warum der Vogel singt, Herder,
Freiburg / Brsg., 1984; Mello de, A.: Warum der Schäfer jedes Wetter liebt,
Herder, Freiburg / Brsg., 1988; Shah, I.: Die fabelhaften Heldentaten des
vollendeten Narren und Meisters Mulla Nasrudin, Herder, Freiburg / Brsg.,
1984; Reichel, G.: Der Indianer und die Grille, Reichel, Forchheim, 1999
301 Der Mut, die Ermächtigung und Verpflichtung, aber auch die Freiheit, die im
Ausspruch von Martin Luther schwingt, ist heute nicht mehr verbreitet. Wenn
heute jemand dazu steht, nicht anders zu können, ist es meist keine Aussage
der Zivilcourage, sondern eine des Bedauerns.
302 Ausgehend von Sigmund Freud, der von vielen als Begründer der
modernen Psychologie gesehen wird, hat sich vor allem ein reduktionistisches,
Menschenbild des triebhaften, neurotisierenden, beschränkten Menschen
verbreitet. Es ist an der Zeit, dass Menschen ihrer wahren Berufung wieder
gewahr werden und sich an ihr orientieren. Lassen wir uns nicht verführen: Wir
fühlen uns zwar entschuldet verfallen aber dadurch in unheilsame Agonie.
Ermächtigen wir uns, statt uns billig zu erniedrigen. Gleichzeitig beherrschen
wir uns doch, statt dass wir andere und die Natur zu usurpieren suchen.
Geradezu selbstverständlich vertritt eine resignierte Mehrheit, dass wir dem
Bösen ausgeliefert sind und dass Gutes (erst) entsteht, wenn man Böses
ausrottet.
286
The Bad is not Parasitic upon the Good.
The Good is not Exhausting the Bad.
Neither the God nor the Bad are Infecting each Other303.
Wenn jetzt einige von euch denken, dass die Aufgabe,
nachhaltige Veränderungen zu bewirken, zu schwer sei, so
möchte ich ihnen selbstverständlich voller Mitgefühl beipflichten,
andererseits ist es meine Aufgabe, selbst in den
ausweglosesten Situationen eine Geschichte auf Lager zu
haben, die es ermöglicht, die Schwierigkeit von einer andern
Seite zu betrachten, so dass sie zwar vielleicht immer noch
schwer, aber nicht mehr schwierig erscheint. Das ist das erste
Problem.
Sieh’, das Gute liegt so nah.
Ich zeige euch, wie ich ein gefährliches Raubtier ohne Gefahr
fange, nämlich ein Krokodil. Ich lege mich mit einem Liegestuhl,
einem langweiliges Buch, einem Fernglas, einer Pinzette und
einer leeren Zündholzschachtel an den Strand jenes
Gewässers, an welchem das Krokodil lebt. Ich lege mich
bequem auf den Liegestuhl und beginne im langweiligen Buch
zu lesen. Da das Buch so langweilig ist, schlafe ich dabei ein.
Das Krokodil, das neugierig ist, kommt aus dem Wasser und
303
Persönliche Mitteilung von Nansook Park: Durch die Erforschung von
Stärken und Tugenden (Positive Psychologie) ist klar geworden, dass die
Mechanismen, die Gutes erzeugen und jene, aus welchen Böses erwächst
voneinander beinahe unabhängig sind. Wenn das Böse weg ist, heisst das
noch lange nicht, dass dann Gutes übrigbleibt. Gutes (Glück, Gelassenheit,
Altruismus, Hingabe usw. s. Peterson, C. and Seligman, M.: Character
Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford University
Press, Oxford, 2004) folgt eigenen Gesetzen, die bisher nicht bedacht wurden,
Man hat geglaubt, dass Gutes automatisch entsteht, wenn man Böses
ausrottet. Man hat bisher keine Ahnung, wie Gutes entsteht, wie man dazu
erzieht, wie man es vermehrt. Diesem Gebiet widmet sich die positive
Psychologie. Nansook Park ist Professorin am Positive Psychology Center der
University of Rhode Island, USA. Park, N., & Peterson, C., & Seligman,
M.E.P.: Character strengths in fifty-four nations and the fifty US states. Journal
of Positive Psychology, 1/2006, S. 118-129. Park, N.:. Character strengths and
positive youth development. The Annals of the American Academy of Political
and Social Science, 591/2004, 40-54.
287
beginnt ebenfalls im langweiligen Buch zu lesen. Es schläft
selbstverständlich nach einer gewissen Zeit ebenfalls ein. Da ich
nun vor dem Krokodil eingeschlafen bin, wache ich auch vorher
wieder auf. Ich nehme das bereitliegende Fernglas, drehe es
um, sodass ich das Krokodil ganz klein sehe. Dann greife ich mit
der Pinzette das schlafende Krokodil und lege es behutsam in
die Zündholzschachtel und schliesse diese. Das gefährliche
Raubtier ist gefangen und kann keinen Schaden mehr anrichten.
Wir haben gesehen, dass es möglich ist, gefährliche Situationen
einzufangen, ohne von ihnen gefressen zu werden Das zweite
Problem: Kann ich meine Energien überhaupt lenken oder bin
ich einfach wie ich bin – ein ungeschliffener Diamant?
Ein Grossvater unterhält sich mit seinem Enkel. Er spricht:
„Manchmal habe ich das Gefühl zwei kräftige Wölfe in meinem
Herzen zu spüren. Der eine ist angriffig, zerstörerisch, böse und
pessimistisch. Der andere ist gutmütig, zuversichtlich und
geduldig.“ Der Enkel fragt: „Welcher von beiden ist stärker?“
„Derjenige, den du nährst,“ antwortet der Grossvater.
Nachdem wir gesehen haben, dass es in unserer Hand liegt, die
Energien unserer Wölfe zu nutzen, möchte ich noch das dritte
Problem lösen: Wie gehe ich nun um mit der Wahrheit und der
Lüge? Wie kann ich sie unterscheiden, wenn nötig? Hier die
Geschichte dazu:
Sie stehen vor einer Weggabelung. Sie wissen, der eine Weg
führt ins Verderben, der andere in die Zukunft. Sie wissen aber
nicht, welcher Weg wohin führt. An dieser Weggabelung steht
ein Haus. In diesem wohnen zwei Zwillinge. Der eine sagt
immer die Wahrheit, der andere lügt immer. Sie haben nur eine
Frage, die Sie demjenigen stellen dürfen, der zufällig aus dem
Haus kommt, wenn Sie an die Tür klopfen. Wie lautet die Frage,
mit welcher Sie trotz der Schwierigkeiten eindeutig herausfinden
können, welcher Weg der richtige ist?304
304
Wenn Sie die Auflösung lesen wollen, statt dass Sie sie selber finden. Die
Frage lautet: Welchen Weg würde mir dein Bruder weisen, wenn ich ihn nach
dem Weg in die Zukunft fragen würde? Beide würden den falschen Weg
weisen. Der eine, weil sein Bruder lügt. Der andere, weil er lügt. Sie nehmen
288
Es gibt eine Geschichte, darüber, dass man einen Weisen
prüfen wollte. Dies geschah so: Die Skeptiker traten mit einem
Lebewesen in der Faust vor den Weisen und fragten ihn
arglistig: „Ist das Lebewesen in meiner Hand tot oder lebendig?“
Der Weise, wohl wissend, dass sie bei der Antwort „lebendig“
das Lebewesen zerdrücken konnten und bei der Antwort „tot“ es
lebend zeigen konnten, antwortete schliesslich ehrerbietig: „Es
liegt in eurer Hand!“305
Unser Unvermögen lässt sich nicht
durch Vermögen ausgleichen.
also den andern Weg, als ihnen gesagt wurde. So kommt man sicher in die
Zukunft – trotz der Schwierigkeiten. Vgl. Simon, F. B.; Rech-Simon, C.:
Zirkuläres Fragen, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2004
305 Nun am Schluss werden Sie nicht umhin kommen, sich die Frage zu
stellen, was kann ich tun? Diese Frage kann eigentlich nur individuell
beantwortet werden, weil sie eigentlich heisst: Was will ich tun? Wenn es
überhaupt dazu sinnvolle Vorüberlegungen gibt: Hilfreiche Entwicklungen
haben mit einer neuen Form von gegenseitiger Zumutung zu tun, die
Missverständnisse über jede Grenzen auszuräumen bereit ist. Neue Wege zu
finden, auszuprobieren und zu versuchen, hat vielleicht viel mit Zellen zu tun,
die neue Lebensformen erproben, mit Bewegungen wie jener der der kulturell
Kreativen (siehe S. 11), mit Strömungen, Komplementärwährungszirkeln,
Initiativen, Gruppierungen und Subsistenzwirtschaftskreisen. Es gab und gibt
solche immer ansteigend dann, wenn Umwälzungen vorbereitet wurden.
Vernetzen und beteiligen Sie sich! Experimentieren Sie! Und vor allem:
Reflektieren Sie ihre Handlungen, damit Sie sicher sind, nicht ein totes Pferd
zu reiten.
289
Ich wünsche euch alles erdenklich Gute und empfehle mich
euer ehrenwertester
(darauf lege ich Wert)
Unsere Macht ist ungeheuer gewachsen,
während unsere Weisheit leider nicht
im selben Masse gewachsen ist.
Sie hat im Laufe der letzten Jahrtausende
wahrscheinlich sogar in gewisser Weise abgenommen306.
306
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Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart, 2003
290
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