www.rebook.ch Ein inhaltsoffenes Buch. Mitautorinnen/en können sich auf der Website registrieren. Alle Textteile mit Ausnahme des Titels, der Cartoons und dem Klappentextes sind veränderbar. Zitate und Hinweise bitte mit der URL der Website versehen. Alle Autorinnen/en werden im Autorenverzeichnis aufgeführt. © 2007 www.rebook.ch Markus Hartmeier, Promenadenstr. 86, 9400 Rorschach, Schweiz, [email protected] Permission is granted to copy, distribute and / or modify this document under the terms of the GNU Free Documentation License Version 1.2 or any later version published by the Free Software Foundation ISBN 978-3-033-01189-2 Book on Demand Digitaldruck AWZ St.Gallen, Switzerland. www.awz-sg.ch Die Karikaturen stammen von Gregor Müller, St.Gallen, das Titelbild „Mein Freund“ von Gottfried Helnwein, Tipperary. Die Veröffentlichung erfolgt mit Bewilligung der Künstler. Das vorliegende Buch ist ein Teil des gemeinnützigen Gesamtprojektes Reboot. Es besteht aus weltweitem Diskurs (lernendes Buch), kulturellen Inzentives, gesellschaftlichen Veränderungen, Referaten, Zukunftswerkstätten und soll in die Gründung vernetzter ThinkTanks münden, welche diesen Ideen zum Durchbruch verhelfen. Dazu ist aber Geld und Engagement vieler nötig. Werden Sie selbst Botschafter dieser Ideen. 2 Markus Hartmeier (Hg.) Reboot ! Die Krise nutzen Ein lernendes, inhaltsoffenes Buch Mach mit – Bekomm 1 – Verschenk 2! Die Sterne vom Himmel lügen: 3 weniger am Firmament, dafür einige mehr, die auf der Erde leuchten1. An Utopien glaubt man nicht. Utopien sind Vorstellungen von einer anderen Zukunft. Wenn ich also sage, wir brauchen mehr Solidarität in der Gesellschaft, dann ist das eine Utopie. Und dann muss man dafür sorgen, dass solche Utopien auch realisiert werden.2 1 Selbstverständlich ohne jede Gewähr! Übrigens, da dieses Buch für eine bunt gemischte Population von animi und animae geschrieben ist, wird auch relativ bunt – also ohne einheitliche Regelung – mit weiblichen und männlichen Formen umgegangen. Entgegen der Rechtschreibung wird „jedermann“ mit einem „n“ geschrieben. Ebenso spielerisch werden Formen, wie „Sie“, „du“, „ihr“ „euch“, „wir“, „ich“ und zuweilen „man“ verwendet, wie es sich für eine anständige Plauderei geziehmt. Nicht gelogen ist, dass dieses Buch nur dank der Hilfe, Unterstützung und der Rücksichtnahme sowie dem Wohlwollen einiger wichtiger Personen zustande kam. Insbesondere Dank verdient hat Esther Flury, welche mit Akribie sich um die Tücken des richtigen und lesbaren, fehlerfreien Ausdruckes bemüht hat, besser als ich es könnte. Die Aphorismen auf S. 23, 40, 76, 116, 144, 146, 148, 150, 168, 179, 191, und 214 entnahm ich: Schmidt, A. P.: Turi’s Turing Test. Blue Planet Team Network, www.wissensnavigator.com, 2005 2 Elmar Altvater in einem Interview in der taz, 16.1.2006, Seite 28. Siehe auch: Altvater, E.: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Westfälisches Dampfboot, Münster, 2006 4 Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................... 7 Lügen mit Hand und Fuss .......... Error! Bookmark not defined. Ethik der wahr-haften Lüge ..................................................... 37 Bilder machen Leute – Leute machen Bilder ........................... 48 Handlungstheorie und die Droge Entropamin .......................... 57 (K)ein Staat zu machen ........................................................... 71 Krieg „funzt“ nicht mehr ........................................................... 78 Bei Flut steigen alle Schiffe – auch Hänschens! .................... 102 Bombiges Pyramidenspiel Geld ............................................ 139 Demokratur: Herrschaft des Volkes über das Volk ................ 153 Wertschöpfung: Wirtschaft für Werte und Arbeit .................... 183 Soziale Buchhaltung: Hilfe oder Fürsorge? ........................... 203 Wissenschaft: Empirie genügt nicht! ..................................... 217 Gesundheit: Lebenseinstellung statt Versorgung .................. 231 Eine Religion: Sinn, Einheit und Zuversicht stiften ................ 252 Ökologie: Macht Unbekümmertheit wieder möglich ............... 265 Ethik: Der Seiltanz mit dem Guten und Bösen....................... 273 Schlusswort........................................................................... 282 Literaturverzeichnis ............................................................... 292 Die 32 eingestreuten Cartoons zur Weisheit der Dakota Indianer und unserem Umgang damit bis zum Schlussfazit sowie die Aphorismen sollen ebenso Anstoss geben wie der Lauftext. 5 6 Vorwort Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. (Albert Einstein) Unsere Welt, unser Weltbild, unsere Weltgesellschaft ist in der Krise. Angst und Unsicherheit macht sich breit. Die Folgen daraus sind unterschiedlich. Während die einen dazu neigen, dies auszublenden und zum Rückzug ins Private blasen und das persönliche Wohlergehen über das Aller stellen, reagieren andere mit Hoffnungslosigkeit und Lähmung, wieder andere mit übertriebener Beschönigung der dramatischen Zustände. Wieder andere stürzen sich in übertriebenen Aktivismus und wähnen, dass dogmatische Kritik am System den Ausweg darstellt und das Festhalten an überholten Wahrheiten. Während die einen immer stärker leiden, profitieren die andern umso mehr. Während die einen verzweifelt um ihre Pfründen kämpfen, kämpfen die anderen ums nackte Überleben. Die einen huldigen dem Optimismus, die andern verkünden vollmundig den Opportunismus, die dritten suchen ihr Glück im Pessimismus und weitere gar im verzweifelten Festhalten. Die einen suchen sich an alten oder neuen Wahrheiten zu orientieren, die andern suchen neue Utopien. Während die einen akribisch die Mikroebene besser zu ergründen versuchen und sie in immer mehr Einzelteile zerlegen, versuchen die andern von einer Gesamtschau her zu erfassen was wichtig ist und wie es zusammenhängt. Schliesslich verschränken sich diese Bewegungen alle: Diese vermeintlich unterschiedlichen Grundstimmungen sind Auswirkungen desselben: Wir wollen alle retten und verbessern und das mit voller Kraft. Deshalb stören solche, die andere Veränderungsvorschläge machen, ausserordentlich. Es ist das Phänomen „des Hyperns“, das uns erfasst: Überkontrolle, Überanpassung, Hyperreflexion, Hyperintention, Überbesorgtheit, Überverantwortlichkeit3. Selbst 3 Dass solche Reaktionen diejenigen Effekte verstärken, welche man versucht zu überwinden, stellte schon Viktor Frankl fest. Frankl, V. E.: The Doctor and 7 die Erschöpfung und Verzweiflung kann als Folge des Hyperns betrachtet werden. Grosses Engagement, das enttäuscht wird weil es nicht fruchtet, führt in die Agonie, oder zu Wut oder... Lemminge: Es hilft nicht, jeden einzelnen vor der Klippe zu retten, wenn der Strom die Richtung beibehält4. Wir sind „versklavt“ von Wirklichkeitskonstruktionen: folgenden widersprüchlichen Sisyphos: Kaum ist die Arbeit getan, so tue wiederum dasselbe! Die Geschichte des Sisyphos belegt unsere Erfahrung der Wirkungslosigkeit und Nutzlosigkeit. Auf die andere Seite lehnen wir uns gegen diese Deutung auf. Deshalb tun wir weiterhin dasselbe. Hydra: Beseitige die Ursache mit dem Effekt, dass die Ursachen sich hämisch und gefährlich vermehren. Diese Deutung ist der ersten insofern verwandt, als sie die Erfahrung der Wirkungslosigkeit „zementiert“. Sirenen: Lass dich vom Wehklagen oder Wohlgesang verleiten und anlocken und siehe, du wirst verschlungen. Die Sirenen sind ein Beispiel für die Verlockungen, denen wir beim Analysieren der Probleme und auf der Suche nach Lösungen begegnen. Die Sirenen locken damit, dass sich einfach alles in Wohlgefallen auflöst. Wer würde diesem Ruf widerstehen? Damokles: Das Schwert des Damokles dräut vermeintlich so unausweichlich über dir, dass du gar nicht erst versuchst, ihm zu entrinnen. Das Schicksal ereilt dich so oder so. the Soul: From Psychotherapy to Logotherapy, Random House, London, 1986. Dt. erschienen: Frankl E.V.: Ärztliche Seelsorge, Zsolnay, Wien, 2005. Zudem kommt neuerdings noch die Einsicht der „Hypokognition“ dazu. Wir agieren häufig ohne Vision und Verständnis der Zusammenhänge, und dies tendenziell überschiessend und adhoc statt strategisch. 4 Oder wie es J. Beck formuliert: Es geht nicht um die Rettung Schiffbrüchiger, sondern um die Rettung brüchiger Schiffe. Beck, J.: Der Bildungswahn, Rowohlt, Reinbek, 1994. S. 51 8 Zauberlehrling: Die Geister, die wir riefen, werden wir nun nicht mehr los. Es gibt allerdings auch hellere Lösungsbilder, die vielleicht treffender sind wie zum Beispiel: Die Macht der Schwäche (David und Goliath); Orientierung nicht verlieren (Ariadnefaden); Die Lösung ist bereits im Gange (Es braucht nur einen bestimmten Schwellenwert bis zur Eigendynamik5) oder Münchhausens Zopf (Warum sollte eine Befreiung aus eigenem Antrieb nicht möglich sein? Und wer sollte uns denn dabei behilflich sein, wenn nicht wir selbst? – Etwa die Ausserirdischen?6) Unsere Glaubenssätze formen die Zukunft7. Dieses Buch möchte beliebt machen, die zunehmende Verunsicherung und die scheinbare Ausweglosigkeit als Zeichen dafür zu betrachten, dass wir kurz vor einem Phasenübergang8 stehen und nicht etwa vor der Apokalypse oder Armageddon. Was wir jetzt an uns selbst, an andern und an gesellschaftlichen Prozessen wahrnehmen, sind die unvermeidlichen, aber schmerzlich empfundenen Vorboten. „Wenn hingegen genug Menschen fest daran glauben, dass die Zukunft zumindest teilweise in ihrer Hand liegt, verbessern sich die Aussichten auf unser Überleben ungeheuer, denn dann wird es weitaus wahrscheinlicher, dass die Menschen geeignete Gegenmassnahmen ergreifen, um die erdgeschichtliche Katastrophe zu verhindern.“ Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta, Stuttgart, 2005, S. 32 6 „Heute leiden wir an einem fast panikartigen Vertrauensverlust im Hinblick auf das Gute im Menschen und auf seine Fähigkeit, sich selbst zu helfen.“ Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta, Stuttgart, 2005, S. 34 7 O’Connor, J.; McDermott, I.: Systemisches Denken verstehen & nutzen. Die Lösung lauert überall. VAK, Kirchzarten 2006. S. 68. Resultat sog. Vorwärtskopplung 8 „Diese ‚beinahe chaotischen’ Perioden treten dem Nobelpreisträger Ilya Prigogine zufolge dann auf, wenn Systeme sich auf der nächsten Komplexitätsebene regenerieren und restrukturieren.“ Zit. nach: Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002 5 9 Ohne Vision geht ein Volk zugrunde!9 Dieses Buch wurde für jene Leserinnen und Leser geschrieben, die nicht daran glauben wollen, dass die Zukunft nur die lineare Verlängerung der Gegenwart darstellt, nur aus Überdauern von Wahrheiten besteht, die ihren Zenit schon überschritten haben oder nur Schicksal, nur Fortsetzung von Sachzwang sein soll. Dieses Buch wurde für Freiheitsliebende, Selbstverantwortliche geschrieben, die sich nicht vorstellen wollen, dass es ausserhalb des herrschenden Denkens keine weiteren lebensund bedenkenswerten Möglichkeiten mehr geben soll. Dabei ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass wir die Probleme nicht mit dem gleichen Denken lösen können, mit welchem wir sie erzeugt haben. Manchmal ist es nützlicher, statt die Dinge ändern zu wollen, unsere Sicht der Dinge zu ändern. Siehe da: Wenn wir die Dinge verändert betrachten, verändern sie sich. Verabschieden wir uns vom Teufelskreis und vom irreführenden Sachzwang und nehmen an, dass die meisten Prozesse in Kreisen und Schlaufen und Spiralen stattfinden. Ja akzeptieren wir sogar, dass Ordnungsprozessen chaotische Zustände vorausgehen. Im Teufelskreis kann man nicht gegen die Wand fahren. Befreien wir uns aus der Problemtrance! Trauen wir uns den Phasenübergang zu einem lernenden System zu10! 9 Die Bibel, Altes Testament, Sprüche, 29,18 Ausspruch König Salomos Damit auch dieses Buch selbst zu einem lernenden System wird, wird unter www.rebook.ch ein eine Art Feedback Book eröffnet. So wäre dieses Buch das einzige lernende Buch auf dem Markt. Sie können es zusammen mit andern Engagierten verbessern und anpassen. Jederzeit und gratis erhalten Sie im Internet ein aktuelles Update bzw. Upgrade. Zudem können Sie die aktuellste und die ursprüngliche Fassung als Paperback direkt beziehen. Wikibooks.org funktioniert ähnlich, nur, dass es diese Bücher normalerweise nicht gedruckt, sondern nur im Internet gibt. Arbeiten Sie mit an einer Verstärkung und Verbesserung. Das Thema kann dadurch nur gewinnen und Sie auch. 10 10 Um internationalen Frieden zu erreichen, müssen wir uns um die Organisation der Macht kümmern. Um allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, müssen wir uns der Produktion und Verteilung der Güter annehmen. Um allen das nötige Steuerungswissen zu vermitteln, haben wir uns mit der Organisation des Wissens und der Bildung zu befassen. Um zukünftigen Generationen eine Erde zu hinterlassen, die weiterhin Lebensgrundlagen zur Verfügung stellt, haben wir uns mit dem Kreislauf der Ressourcen auseinander zu setzen. Und schliesslich, damit die Ideenwelt nicht kurzsichtig wird, haben wir uns mit Ethik und Religion zu beschäftigen11. Wir leben in einer Zeit, in welcher immer mehr Menschen zu Recht ihr Wohlergehen einfordern. Immer mehr Menschen werden jedoch gleichzeitig krank, verarmen, werden einsam oder verhungern. Der individualisierende Ansatz von Helfen und Heilen greift hier zu kurz. Während die individuelle Anspruchshaltung steigt, sinkt das prosoziale Engagement und die Eigenverantwortlichkeit. Grundsätzliche Veränderung ist notwendig. Der einzelne Mensch kann nicht geheilt werden, ebenso wenig wie das System, in welchem er lebt12. Jedoch das unermessliche Leiden von immer mehr Menschen weist ja gerade aufdringlich darauf hin, was Probleme auslöst und 11 Dass es anwachsende Gruppe von Menschen gibt, die die Dinge als Ganzes und veränderbar betrachten, zeigt die Forschungsarbeit des Soziologen Paul Ray. Er nennt diese Gruppen von Menschen, die zur Zeit etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen die „Kulturell Kreativen“. Ray, P., Anderson, S. R.: The Cultural Creatives, Harmony Books 2000 12 Auf die Problematik des Begriff der Krankheit und Heilung im Zusammenhang mit lebenden und sozialen Systemen weis Klaus Mücke hin. Im psychosozialen Kontext gibt es weder Krankheiten nach Heilungen, sondern ausschliesslich Probleme und Lösungen. Mücke, K.: Probleme sind Lösungen. Klaus Mücke Ökosysteme Verlag, Potsdam, 2003. Zudem muss heute gefragt werden, ob individualisierende Konzepte, wie der pandemisch verwendete Begriff „Krankheit“ es darstellt, zum Teil sinnlos sind oder gar kontraproduktiv wirken können. Mangelernährung und Arbeitslosigkeit ist mit diesem Konzept nicht beizukommen. Deren Folgen werden jedoch individualisierend behandelt, als ob es sich doch um „Krankheit“ handelte. 11 Schwierigkeiten bereitet. Wie wäre es, wenn dort Remedur geschaffen wird? Martin Seligman13 hat festgestellt, dass es sehr darauf ankommt, wie wir unsere Befindlichkeit deuten, wie wir unsere Möglichkeiten betrachten und wie wir unseren Einfluss bewerten. Je nachdem leiten wir daraus befreiende Handlung oder depressives Verharren ab. No one knows enough to be a pessimist. (Wayne Dyer14) Ich bin Skeptiker, also kann ich kein Pessimist sein. (Milan Kundera15) Es ist davon auszugehen, dass Systeme den Menschen in seiner Lebensgestaltung prägen, dauernd beeinflussen und sozialisieren (daraus würde folgen: Der Mensch ist das Produkt seiner Umwelt!). Es ist zudem davon auszugehen, dass der Mensch auf die Funktion der biochemischen Prozesse und der genetischen Grundlagen angewiesen ist (daraus würde folgen: Der Mensch ist das Produkt eines technischen Bauplans und linearer Prozesse). Scheinbar, so wird postuliert, bleibt nach Abzug der erdrückend starken Einflüsse und Prägungen seitens der Umwelt, der Biochemie, der Genetik und gar des Schicksals. (daraus würde folgen: Der Mensch ist das Produkt von Zufall oder allenfalls eines Plans einer höheren Macht). Es bleibt kaum noch Platz für ein Selbst, eine individuelle Gestaltungskraft, für eine persönliche und überindividuelle Verantwortung sowie Handlungs- und Entscheidungsfreiheit übrig. Die einen feiern dies, als ob es eine Befreiung von Schuld wäre: „Wir können nicht anders. Wir können nichts dafür. Es musste so kommen“, 13 Seligman, M.: Learned Optimism, Vintage, New York, 2006. Gemäss Seligman, M.E.: The Optimistic Child, Harper, New York, 1996, S. 38 beträgt die lifetime Prävalenzrate für Depression in Amerika 60 %. Und bei uns? 14 Wayne Dyer ist Erfolgsautor im Bereich Lebensratgeber und Selbsthilfe. z.B. Dyer, W.: Der wunde Punkt. Die Kunst nicht unglücklich zu sein. Rowohlt, Reinbek, 2004 15 Milan Kundera ist unter andere bekannt geworden durch: Kundera, M.: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Fischer, Frankfurt, 1987 12 rufen sie lauthals aus, als ob sie eine Frohbotschaft verkündeten16. Ich meine hingegen, dass selbst Umwelteinflüsse, Genetik und Chemie nicht davon befreien können, dass wir für unsere Handlungen, Entscheidungen persönlich voll und ganz die Verantwortung tragen. Sicher: Dies macht uns auch schuldfähig und Schuld drückt. Aber es gibt uns auch die Möglichkeit und Freiheit zur Gestaltung, zur Veränderung17. Denn die vierte dieser möglichen Weltenformeln ist: Der Mensch ist ein Lebewesen, das ebenso sehr abhängig ist, wie er selbst Einfluss ausübt. (Daraus folgt: Der Mensch ist aufgefordert 100 % Selbstverantwortung zu tragen, dafür was er und die Menschheit bewirkt. Umgekehrt ist er ebenso in der Lage seiner Abhängigkeit bewusst zu sein und dafür Dankbarkeit und Demut zu empfinden.) Wir müssen uns also damit beschäftigen inwieweit jedeR in der Lage ist oder in die Lage versetzt werden kann, für sich selbst und das Ganze18 verantwortlich zu handeln 16 Zudem dünkt es mich etwas gar einfach, alle Fehlleistungen, die uns bisher in der Zivilisation und „Zuvielisation“ unterlaufen sind, auf etwas zurückzuführen, was ausserhalb von unserer Beeinflussbarkeit liegt; alles jedoch, was uns gelungen ist, stolz als Produkt unserer Leistung und Fähigkeit zu verkünden. Dieser selbstreferentielle Erklärungskreislauf würde uns versklaven, sodass wir selbst dann noch in der gleichen Richtung weiter marschieren würden, wenn wir erkannt hätten, dass wir auf den Abgrund hin steuern. Im Teufelskreis kann man nicht an die Wand fahren. 17 „Die Idee des freien Willens ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wer daran glaubt, befreit sich von dem absoluten Determinismus äusserer Einflüsse. … Diese Überzeugung ist in sich selbst eine ‚Ursache’“ Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta, Stuttgart, 2005, S. 33 18 Das Ganze meint ein komplexes Wirkungsgefüge, eben ein System. Systeme haben Eigendynamiken, verhalten sich eigenwillig. Dies ist zu beachten. Strukturen beeinflussen Verhalten. Häufig werden wir von solchen Charakterzügen gefangen. Wir werden Opfer des eigenen Erfolgs (Limits to Growth; Escalation; Tragedy of the Commons, Growth and Underinvestment); wir werden wie im Zauberlehrling überflutet (siehe a. S. 53, Shifting the Burden; Fixes that Fail); wir übersehen, dass Kooperation erfolgreicher ist als Kampf (Accidental Adversaries); wir werden von Suchteffekten ergriffen wie dem Mark Twain-Effekt (In dessen Buch „Leben auf dem Mississippi“ soll der Satz stehen: „Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatte, verdoppelten sie 13 inwieweit die Gesellschaft (i. e. S. der Staat) Verantwortung zu übernehmen hat für Einzelne und für das Ganze und was mit psychologischen oder medizinisch-technischen Mitteln zu beeinflussen ist sowie – und dies ist bedeutungsvoll – was nicht verändert werden kann oder sollte, d. h. womit wir leben müssen, können und uns damit zu arrangieren haben Ein hilfreicher Deutungsraster für die Probleme der heutigen Zeit könnte auf folgenden Gedanken basieren: Die Probleme von heute beruhen auf den Lösungen von gestern. Je stärker du drückst, desto stärker schlägt das System zurück. Das Systemverhalten wird besser, bevor es schlechter wird (auch: Es wird schlechter, bevor es besser wird. Selbst Rückfälle sind notwendige Zeichen einer anhaltenden Besserung. Klammerbemerkung erg. d. Verf.). Der leichte Ausweg führt gewöhnlich zurück ins Problem. Die Therapie kann schlimmer sein als die Krankheit. Langsamer ist schneller. Ursache und Wirkung sind raumzeitlich nicht eng verknüpft. Kleine Änderungen können grosse Wirkungen erzielen – aber die sensiblen Druckpunkte des Systems sind am schwersten zu erkennen. Man kann den Kuchen haben und ihn essen – nur nicht gleichzeitig. Wer einen Elefanten in zwei Hälften teilt, bekommt nicht zwei kleine Elefanten. die Anstrengungen.“ Eroding Goals); oder wir setzen “unschuldig” eine Kettenreaktion im Sinne des Matthäus Prinzip in Gang (siehe S. 216; Success to the Successful); zu Guter Letzt können wir auch ungeduldig werden und schliesslich in Panik geraten (Balancing process with delay). Diese Phänomene wie wir von Systemen verführt, in die Enge getrieben, geschlagen und verwirrt werden, nennt Peter Senge “Archetypen”. Senge, P.M.: Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Klett-Cotta, Stuttgart, 2003; Twain, M.: Leben auf dem Mississippi, Aufbau, Berlin 2001 (engl. 1884, dt. erstmals 1890) 14 Schuldzuweisungen bringen nichts.19 Dieses Buch geht von einer ökosystemisch-konstruktivistischen Grundhaltung aus. Dies bedeutet, dass einerseits die Dinge nicht voneinander unabhängig sind und andererseits eine fixe Realität nicht existiert. Wir alle sind Beobachter. Wir erfinden gemeinsame und unterschiedliche Wirklichkeiten. Warum sollte es also nicht möglich sein, auch andere wünschbare Wirklichkeiten und Zusammenhänge zu erfinden? Die Vorsilbe öko- (in öko-systemisch) ergänzt, dass man die Dinge immer vom ganzen Wirkgefüge20 her und nicht nur vom Mikrokosmos betrachten sollte. Aus der konstruktivistischen Sichtweise, die diesem Buch zugrunde liegt, soll nicht erneut eine scheinbar wirkliche Wirklichkeit gefolgert werden können. Es soll nicht möglich sein, die hier dargelegten Gedanken in apodiktisch-dogmatischer Art zu vertreten. Es soll auch nicht einem Idealismus gehuldigt werden, der dazu verführt, darin Schutz zu suchen, statt zu ergründen und zu handeln. Es soll also damit nicht „Mehr Desselben“ hergestellt werden. Es ist gar nicht so einfach, alternative Ideen als nicht erhabener, besser, gescheiter darzustellen. Damit würden sie aber den anregenden Charakter verlieren – und führten damit die konstruktivistische Grundhaltung ad absurdum. Deshalb habe ich die folgenden Kapitel dem bekannten Lügenbaron Münchhausen21 in Auftrag gegeben, womit wir beim Lügen wären: Die Mutter der Utopie. Die Lüge ist etwas, das nicht dem Faktischen folgt, sondern sich wagt, daneben zu liegen und das 19 Willke, H.: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Fischer, Stuttgart, 1999, S. 182, vgl. dazu auch: Senge, P.M.: Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Klett-Cotta, Stuttgart, 2003, S. 72ff 20 Der Physiker Hermann Haken begründete die Lehre des Zusammenwirkens und nennt sie Synergetik. Diese neue holistische Auffassung findet nun auch in den Sozialwissenschaften und der Psychologie Anwendung. Haken, H.: Synergetik, Springer, Berlin, 1982; Hansch, D. Psychosynergetik, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1997 21 Sie mögen dem Baron nachsehen, wenn er sich besonders anfänglich mit den heutigen Sprachgepflogenheiten etwas schwer tut. Er verwendet teilweise Ausdrücke, die der Duden lakonisch als „veraltet“ bezeichnet. 15 Unwirkliche ebenso zu postulieren, als ob es wahr wäre. Fürbass: Was ist Wahrheit? Was ist Lüge? Was ist Wirklichkeit? Was ist Utopie? Es ist der Unterschied, der den Unterschied macht.22 (Gregory Bateson) Nun bin ich Ihnen aber noch die Auflösung des Buchtitels schuldig. Reboot! Sie kennen dieses Wort aus dem Computerjargon. Wenn der PC nicht mehr richtig läuft, rebooten Sie. Rebooten bedeutet ja, dass die bereits vorhandenen Elemente wieder so konfiguriert werden, dass sie wieder funktionstüchtig sind. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, woher dieses Wort kommt? Das, was das Erfolgsrezept Münchhausens war, sich am eigenen Schopf zum Dreck herausziehen, nennt sich im Englischen „bootstrapping“. „Bootstraps“ sind Schnürsenkel. Im Englischen zieht man sich an den Schnürsenkeln aus der unmöglichen Situation, so wie dies im Deutschen „am eigenen Schopf“ gemacht wird. Daraus entstand der Begriff „booten“ für den Computer. Eine schöne und verblüffende Analogie, so finde ich. Also, zum „booten“ brauchen wir nicht zuerst in ein neues Paar Schuhe (boots) zu schlüpfen. Es reicht, wenn wir uns eine neue Sichtweise der Dinge zulegen und gegen jede Realität danach handeln. Wir sind in der Lage, selbst unsere grössten Probleme zu lösen, die scheinbar unmöglichen Herausforderungen zu bewältigen. Wenn nicht wir, wer denn sonst? 22 Bateson, G.: Ökologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt, 1981. S. 582. Siehe auch: Simon, F. B.: Unterschiede, die Unterschiede machen. Suhrkamp, Frankfurt, 1999 16 Phantasie ist wichtiger als Wissen. (Albert Einstein)23 Diese Analogie wird zusätzlich illustriert mit Cartoons, die über den ganzen Text verteilt sind. Die Serie startet mit der Weisheit, dass man absteigen sollte, wenn man ein totes Pferd reitet. Die restliche Bilderserie zeigt jedoch mit bissigem Humor auf, was wir stattdessen tun... Die vielen eingestreuten Sinnsprüche und die vielen Fussnoten sollen den dahinplätschernden Lesefluss unterbrechen und zu eigenem Nachspüren, zur eigenen Reflexion anregen. Der Fliesstext kommt mehr dem Kopfleser zugute, während die Sinnsprüche der Bauchleserin entgegen kommen. Und schliesslich: „Die Krise24 nutzen“ heisst, dass es weder sinnvoll ist in der Problemtrance zu verharren, noch die Krise zum eigenen Vorteil auszunutzen, noch sie als unvermeidliche Vorboten für noch Schlimmeres, sondern sie als Kairos25 zu betrachten, der Möglichkeiten und Kräfte im Sinne einer neuen „Emergenz26“ offen legen kann. Eine Möglichkeit, die Kraft der Self-Fulfilling-Prophecy27 in der umgekehrten Richtung zu 23 Albert Einstein löste unter anderem mit seiner revolutionären Formel E=mc 2 auch den Gegensatz von Materie und Energie auf. In der Synergetik geht man davon aus, dass es sich auch beim Leib-Seele, Körper-Geist-Problem um einen künstlichen Gegensatz handelt. Beides sind möglicherweise verschiedene Erscheinungsformen desselben und bedingen, ja erschaffen sich gegenseitig. Vielleicht sind sogar Form, Struktur und Inhalt in dem Sinn „nur“ als Elemente einer Gleichung, statt als disparate Dinge zu betrachten. Nach: Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S. 261 24 Wem die Prämisse: „Wir sind in einer Krise“ nicht glaubwürdig oder augenfällig erscheint, liest am besten Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. 25 Kairos: griech. für der günstige Zeitpunkt, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. 26 Emergenz: Begriff aus der Systemtheorie und der Synergetik. Unberechenbare Phänomene, die mehr als das „Erwartete“ oder „Erklärbare“ hervorbringen. 27 Dieses Phänomen wurde erstmals erforscht vom Psychologen Robert Merton. Merton, R. K.: Self-Fulfilling Prophecy, in: Merton, R. K.: Social Theory and Social Structure, Free Press, New York, 1968. Siehe auch S. 173 17 nutzen. Leider ist es nicht einfach, wenn man sich im Teufelskreis28 bewegt, dessen Dynamik zu begreifen und sie zu überwinden, da man sich an Sachzwänge gewöhnt: Was unsere Vorstellung übersteigt, ist nicht vorstellbar – trotzdem aber bleibt es möglich. Und was möglich ist, bleibt nicht ausgeschlossen. All diese (V)ermut(ig)ungen sind beseelt von einer weltanschaulichen Haltung, die weder Teil noch Ganzes, noch Ursache und Wirkung zu trennen vermag, sondern aus einem neuen Zusammenhang schöpft29. 28 Das Gegenteil eines Teufelskreises stellt der sogenannte Tugendkreis dar. Beides Beispiele sogenannt positiv rückgekoppelter Wirkungskreise, die Dynamik potenzieren. Stabilisierende Wirkungskreise unterliegen der sogenannten „negativen“ Rückkoppelung. Zudem gibt es noch die sogenannte Vorwärtskoppelung – die eben zur Self-Fulfilling Prophecy führt. 29 Hier stellt sich nicht zuletzt auch die Frage nach dem Selbstverständnis der Sozialwissenschaften: Handelt es sich um so genannt nomothetische oder idiographische Wissenschaften? Anders gesagt: Können wir nur vom Einzelfall aus deskripitv denken und nur im Einzelfall helfen, oder ist es möglich Aussagen allgemeiner Gültigkeit zu generieren, sodass vom Ganzen und vom Zusammenhang her gedacht werden kann. Dieses Buch folgt der nomothetischen Wissenschaftsidee. Daraus folgt: Es ist wichtig, dass Themen nicht ausschliesslich aus der Optik einzelner Sachverhalte gedeutet werden, sondern nach grundlegenden Zusammenhängen und allgemeingültigen Gesetzmässigkeiten gesucht wird, die den theoretischen Hintergrund zur Entstehung und Veränderbarkeit (Verhaltensänderung und/oder Verhältnisänderung) geben können. Vgl. auch: Malinowski, B. (Hg.): Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften, Vögel, München, 2006 In diesem Zusammenhang gilt es, ein neues Selbstbild der wissenschaftlichen Psychologie vorzuschlagen. Die zentralen Aufgaben der Psychologie sind: Erforschung, Beschreibung, Erklärung psychischer Prozesse und menschlichen Verhaltens. Aufbauend darauf entwickelt die Psychologie Instrumente um menschliche Entwicklungen zu prognostizieren, optimieren, steuern und verändern, sowohl bezüglich Einzelner, Gruppen, Gesellschaften und Systemen. Die Psychologie berät diesbezüglich politische, wirtschaftliche und andere gesellschaftliche Akteure. Es gibt also eine Mikropsychologie und eine Makropsychologie. Die Psychologie, die beides im Wechselspiel betrachtet nennt sich Metapsychologie. 18 Man darf das, was man sieht Nicht länger als etwas akzeptieren, was sich nicht ändern lässt. (João Pedro Stedile30) 30 Zit. nach: Lappé, F. M.: Was für eine Art von Demokratie? S. 283-336 In: Girardet, H. (Hg.): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos. eva, Hamburg, 2007., S. 308 19 20 21 Lügen mit Hand und Fuss Zuerst ignorieren sie dich; dann verspotten sie dich; dann greifen sie dich an; und dann gewinnst du. (Mahatma Gandhi) Hier bin ich wieder! Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen31, von Unredlichen, Feiglingen verdammt zum Lügenbaron. Ich war verschwunden, habe im Versteckten gewirkt. Manche mögen sich nicht mehr an mich erinnern, andere überhaupt noch nie von mir gehört haben, obwohl ich mir dies beim besten Willen nicht wirklich vorstellen kann. Ich tauchte unter – trotzdem blieb ich da. Allein durch Augenzwinkern habe ich manches Mal dafür gesorgt, dass ein Lügner dadurch augenfällig entlarvt wurde, dass seine Lügen sogleich zu wirken begannen und plötzlich vor aller Augen (ge)wahr wurden. Sie möchten belogen werden? Sie möchten betrogen werden? Sie möchten sich belustigen und amüsieren? Sie möchten unglaubliche Geschichten vorgesetzt bekommen und sie glaubhaft vorgetragen erhalten? Sie möchten, dass Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen? Nun stehe ich wieder leibhaft zu Ihren Diensten. Hier bin ich und werde Ihnen jeden Bären aufbinden, welchen Sie verdient haben. Ich werde Sie Lügen strafen, dass Ihnen Hören und Sehen aufgeht – und trotzdem Sie werden mich nicht wieder erkennen! 31 Literatur: Bürger, G. A.: Münchhausen, Reclam, Ditzingen, 2000; Kästner, E.: Münchhausen, Dressler, Hamburg, 1999. Film: Die Abenteuer des Baron Münchhausen, Regisseur Terry Gilliam, Columbia Studios, 1988; Münchhausen, Regisseur Josef von Baky, UFA Studios, 1943. Währenddessen der deutsche Film Münchhausen von 1943 dazu diente, von der Wirklichkeit (2. Weltkrieg) um jeden Preis abzulenken, hat dieses Buch den Zweck, neue Möglichkeiten denkbar zu machen und damit aufs Wesentliche hinzuweisen. 22 Wiewohl das Gewand für meine Auftritte leicht den Zeichen der Zeit angepasst wurde, sodass es en vogue erscheint, ist es nicht das, was Sie irritieren wird. Es ist auch nicht, dass ich in der Zwischenzeit gealtert wäre. Ich habe ja, wie Sie durch meine Geschichten wissen, die Gabe der ewigen Jugend erhalten und sie fein säuberlich aufbewahrt, sodass sie nicht runzelig oder gar ranzig werde. Nein – es ist mein Auftritt, ich selbst bin es, der anders geworden ist und sich auch anders ins Lichte stellt, um nicht zu sagen hinters Licht. Es ist nicht so, dass ich keine Bedenken hätt’, nochmals aufzutreten und mich zu präsentieren. Denn nicht nur ich, so nehme ich an, habe mich geändert, sondern vielmehr haben sich mit oder ohne mich auch die Zeiten geändert. Die Zeiten – was rede ich – Sie, mein treuer Leser und meine Zuhörerin, Sie haben sich verändert. Wer, wenn nicht ich, wird sich hier nicht anzupassen versuchen, um wiederum erheiternde und erhellende Geschichtchen in Volkes Umlauf zu bringen, um den dunklen, die sich ebenfalls verbreiten, etwas gar Eitles entgegenzusetzen. Manche Müh’ hat es mich gekostet, mich in die Gepflogenheiten der heutigen Zeit einzufühlen. Ich habe sie nicht gescheut und bin ihr nicht ausgewichen. Nicht etwa der Mangel an echter Wahrheit hat mich dabei überraschet, sondern eher gegenteilig deren Überfluss, der zeitweilig so viel fliesset, dass man dessen überdrüssig werden kann. Die Strafe des Lügners ist nicht, dass ihm niemand mehr glaubt, sondern dass er selbst niemandem mehr glauben kann (George Bernhard Shaw) Wahrheit war ja weiss der Teufel nie mein Geschäft, aber ebenso weiss Gott nicht die Lüge. Da wurde ich verkannt, was schliesslich zum Rückzug führte. Gar manchen Streich habe ich währenddessen trotzig aus dem Versteck geführt, zu meinem eigenen Plaisir. Ich wollte es über diese Zeit nicht verlernen. Nun sind die Zeiten gekommen, dass ein Freiherr – ich bin so frei – sich auf das Geschäft, das jenseits der Wahrheit wohnt, 23 zurückbesinnt und sich erdreistet, dass es in seiner ganzen Pracht über Wahrheit und Wirklichkeit sich ergiesse. Verkannt wurde ich, bei meiner Treu. So ist es. Denn hört, welch unrühmliche Titel man mir gegeben, nachgerufen hat – auch noch in der Hoffnung ich sei tot. Ein Lügenbaron. Alles erstunken und erlogen – ein Taugenichts, ein Lebemann ohn’ all und jede Tugend. Ein Frauenheld, obwohl die Frauen mir eher hold waren, als ich ihr Held. Ein Trinker gar, wurde mir nachgesagt, sei ich, nur weil ich meine Geschichten hie und da durch einen feurigen Trinkspruch angereichert hab. Eher waren meine Geschichten Brandreden, die die Herzen entflammten, als dass es wahrhaft Lügen32 waren. Gelacht haben sie alle, manche jedoch leider über den Geschichtenerzähler, statt über die Geschichte – das hatte ich leid. Nun ja, warum ich nicht in der Versenkung blieb und darauf wartete, bis in ferner Ewigkeit auch mich das Zeitliche segnen wird, ist schnell erzählet. Höret die Geschichte! Der Wolf, den ich davor geschützt hatte, etwas zu tun, das ihm später leid tun würde... Der Wolf, dem ich beim Angriff die Faust 32 Für jene, welche sich unter Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, genauso wenig zugestehen, die Ironie des Buches zu erahnen, wie die Moral, sei hier überflüssigkeitshalber erläutert, was hier in der vollen Bedeutung unter Lüge verstanden wird und weshalb sie hier als optimistisches Gegenkonzept zur so genannten Wahrheit entfaltet wird: Die „Lüge“ ist etwas, was unglaublich erscheint, aber deshalb tieferen Sinn enthält, weil sie neugierig machen soll, sich vorzustellen, wie die Welt Möglichkeiten im Verborgenen bereit hält, welche dann wahr werden könnten, wenn Menschen beginnen, das Unmögliche zu wagen. Die „Lüge“ soll ermutigen Utopien zu entwickeln, um der manchmal scheinbar mächtigeren Wirklichkeit dann zu entrinnen, wenn sie drückend jede Hoffnung zu ersticken droht. Es geht darum, lebenswerte Ideen für die Zukunft selbst dann für wahr zu halten, wenn sie unmöglich erscheinen. „Lüge“ ist deshalb nur ein flunkerndes Ersatzwort für schieren Optimismus gegen jede Realität. Warum soll es verboten sein, lockende Zukünfte aus dem Hut der „Lüge“ zu zaubern? All das soll sagen: Je schwerer es ist, umso leichter nimm es. Keine Lage ist schlimm genug, um ernst und hoffnungslos zu sein. Lüge ist eine List, um mit Lust die Last los zu werden. Zur Vertiefung in die „Welt der Lügen“ ist empfehlenswert: Hettlage, R. (Hg): Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, UVK, Konstanz, 2003 24 so weit ins Maul und seinen Schlund bohrte, dass ich ihn packen konnte und wie einen Handschuh umkehrte… Der Wolf, der dadurch jede Gefahr von sich weichen lassen musste… Der Wolf, den jeder kennt und just der Wolf, der nachher zahm wie ein Stück totes Fleisch vor mir lag, dessen zähnefletschendes Elend nun ein rühmliches Ende nahm. Just jener Wolf, den ich sorgsam als Beweis meiner Taten, Erlebnisse und Geschichten in meiner Wohnung ausgestellt hatte, begann sich eines Tages zurückzustülpen. Bei meiner Ehr – ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht auf den Tag genau sagen, wann er sich vor meinen Augen das letzte Mal aus eigener Kraft bewegt hatte. Ich muss Ihnen deshalb nicht näher erklären, dass ich einigermassen erstaunt war, als sich sein Geweide zu bewegen begann, langsam aber ohne Zweifel, dass das Aussen zum Innen wurde und das Innen zum Aussen. Ich staunte auch, so langsam dieser Vorgang vonstatten ging, dass die Beweglichkeit der Gelenke, des Felles und des Fleisches unter dem jahrhundertelangen angestrengten Umgestülptsein in keiner Art gelitten hat. Also nicht nur der Wolf hat sich gewendet, sondern auch die Zeit, denn seit jeher haben mich die tieferen Zusammenhänge der Dinge auf und hinter dieser Welt viel mehr interessiert, als deren äussere Erscheinung. Das habe ich mir dabei gedacht: Ich wollte zweierlei. Wenn schon die Zeiten sich wenden, so wollte ich nicht als einer jener dastehen, der nur deshalb davon fern bleibt, weil auch dies so unwahrscheinlich scheint. Ich wollte aber auch nicht und dies schon gar nicht, den günstigen Augenblick verpassen, um zu zeigen, was denn an meinen so genannten Lügengeschichten dran ist. Gerade jene, welche sie Lügen gestraft haben, wollte ich Lügen strafen. Ich dachte, wenn die Umstülpung von alleine so gut vonstatten ging, wie bei meinem geliebten, aufbewahrten Wolf, dann muss das wohl ein Zeichen sein, dass dies die Zeit ist, wo man offen wird für Dinge, die einem bisher verborgen geblieben sind. Eine Zeit gar, welche sich uns entgegenstülpt, um zu umfassen, dass Lüge nicht mehr gar fern von zukünftiger Wahrheit erscheint. Deshalb beginne ich erneut mein Umwesen zu treiben – ob es Ihnen nun passt oder nicht. Ich erzählte schon 25 früher meine Geschichten an den unpassendsten Orten, ohne Rücksicht darauf, was andere darüber denken. Das werde ich nun wieder tun. Ich hoffe aber, dass es Ihnen beliebt, dass die Geschichten nun allesamt ungelogen wahr sind. So eine Stülpung zeigt uns die Wirklichkeit auf beiden Seiten, welche beide so erstaunlich sind, dass wir ihrer kaum je gewahr wurden. Denn ich bin es leid, dafür Lügenbaron genannt zu werden, dass ich es mir erlaube, vor der Realität dann nicht zu kapitulieren, wenn sie sich mir entgegenstellt. Ich hatte immer Höheres im Sinn und darum war ich froh, wenn beherzte Taten mich nicht im Stiche liessen und in der Not aus einer guten Idee auch Gutes folgte. Wer Schlechtes lügt und nichts im Schilde führt ausser sich selbst, wird in der Regel selbst verstrickt im Lügennetz, das er andern auslegt. Ich lege Geschichten aus, um nicht zu verzweifeln, wenn es aussichtslos scheint. Eine Lüge oder Wahrheit kann mir dafür nicht zu schade sein. Die Lügen, die ich hier verbreite, zeugen allesamt von der unbändigsten Leidenschaft und reinsten Sehnsucht nach neuen Perspektiven für die Zukunft, nachdem mich die Gegenwart, in der wir uns so wohlig versuhlen und doch über sie schimpfen, gar verstaubet dünkt und umso überholter wird, je mehr wir uns in den alten Gedankengebäuden im Kreise drehen. Besser gut gelogen und damit Hoffnung gemacht, als bedrückende Wahrheiten erzählt und Pessimismus verbreitet. Nun muss ich aber, statt durch lange Vorreden Sie mein geneigter Leser, meine geneigte Leserin an der Nase herumzuführen, zum eigentlichen Grund meines Wiedererscheinens kommen. Statt weiter ums Feuer zu sitzen und Arrak zu trinken, verschwand ich von der Bildfläche, da mir die Zuschreibung „Lügenbaron“ jeden Boden unter den Füssen entzog. Ich fühlte mich missverstanden. Meine phantastischen Geschichten waren alles andere als Lügen – ich empfand sie gerade zu als Heils-, Hoffnungs- und Mutgeschichten. Hätte ich weiter erzählt, so 26 wäre ich noch auf dem Schafott gelandet, der Inquisition vorgestellt oder anderweitig entfernt worden. Das war mir echt, wie Sie sicher nachempfinden können, der Spass nicht wert. Nun, wie ich schon angetönt hatte: untätig geblieben bin ich in den Jahrhunderten meines Verschwindens nicht. So manchem Ränkeschmied – er oder sie – politisch, wirtschaftlich, sozial oder wissenschaftlich, lehrend tätig, habe ich Worte in den Mund gelegt, dass es ein gar schönes Plaisir war, sich von Baumes Wipfeln oder höher, wo ich weilte, anzuseh’n, welch prächtiges Lügengespinst sich daraus entwickeln konnte, in welches sich ein einfaches Gemüt so schnell versponn, dass es sich zum Gespött der Leute machte, oder gewieftere Pappenheimer sich der Lüge, welche ich ihnen auf die Zunge gelegt hatte, dermassen entzogen, dass sie dafür sorgten, dass sie wahr wurde. Bei der zweiten Gattung Leute entfaltete sich meine wahre Freude. So wurde durch mein bescheidenes Zutun doch so manches wahr und umgesetzt, woran noch kurz vorher niemand geglaubt hatte. Einer, dem ich gerne noch mehrere Geschichten eingeflösst hätte, weil er sie so spannend erzählte, war Jules Verne33. Was mich mit etwas Wehmut erfüllte, war, dass ich selbst ob meinen Geschichten der Lüge bezichtigt wurde, Jules Verne jedoch ob seiner Vorstellungskraft gelobt und gefeiert wurde. Und siehe da: So manches, was Jules Verne als Ausgeburten seiner Phantasie erdachte, wurde später wahr gemacht und nach-erfunden. Solcherlei unwahrer Tand wird heute gar schicklich mit Sciencefiction bezeichnet, von welchem ich aber nichts verstehen möchte, da fremde Welten und Planeten mich solange nicht interessieren, als der eigene Planet Blut schwitzt, Hunger leidet und Unterdrückung und Unrecht sich ausbreiten, als ob es ein anstrebenswertes Gut wäre. Also Jules Verne war ein Lügner. Alles, was er schrieb, war zum damaligen Zeitpunkt nicht wahr, sondern nur und 33 Jules Verne schrieb über 50 phantastische Zukunftsgeschichten ab 1863. Viele seiner Phantasien wurden später wahr. Beispiele: Verne, J.: 20'000 Meter unter dem Meer, Arena, 2000; Verne, J.: Reise um den Mond, Fischer, Frankfurt, 1997 27 ausschliesslich die Ausgeburt seiner Phantasie. Er wurde gelobt und genial gepriesen. Wie ging es denn zum Beispiel Till Eulenspiegel34 in Mölln? Er wurde ausgelacht und verspottet. Er galt als dümmlicher Trottel, obwohl er eigentlich mit seinen Geschichten die Leute, durchaus in erzieherischer Absicht, zum Nachdenken bringen wollte. So unterschiedlich und willkürlich geht man mit Geschichtenerzählern um: Einmal sind sie genial, einmal dumm, dann gefährlich... Da soll sich einer einen Reim drauf machen, der kann. Dabei sind doch Lügen harmloser als Fakten. Sie können belustigen oder belehren, ganz wie’s beliebt. Wahrheiten müssen jedoch geglaubt werden, manchmal sogar um den Preis des eigenen Kopfes. Weniger gut gelogen fand ich jedoch die Geschichten von George Orwell, Aldous Huxley und Co.35, welche das Gelaber über die schöne neue Welt, die Tierfarm und den grossen Bruder, der dich in geheimdienstlicher Pflicht über Schritt und Tritt überwacht, verbreiteten. Sie setzen die Lügen in Gang, dass sogar ein Schwein ein besserer Mensch sein könne. Ha, wie Sie ein paar Jahre später hätten sehen können, waren dies gar keine Lügen, sondern in vorauseilendem Zeitgehorsam vorempfundene schreckliche Wahrheiten. Gar allzu schnell sind die eiligen Diener des Bösen gekommen und haben dafür gesorgt, dass wahr geworden ist, was zu Recht manche heute noch als Alptraum empfinden. Man sollte aufpassen, was man für Ideen und Hirngespinste in die Welt setzt, sie könnten wahr werden. Das ist die Gefahr von Lügen. Du musst schon denken, was du sagst, bevor es zu deinem Mund raus kommt und nicht nach der Devise leben: Wie soll ich denn wissen, was ich denke, bevor ich gehört habe, was ich sage36. 34 Kästner, E.; Trier, W.: Till Eulenspiegel, 8 Geschichten; Dressler, Hamburg, 1991 35 Huxley, A.: Brave New World, Grafton Books, London; Orwell, G.: Animal Farm, Penguin Books, London. Orwell, G.: 1984. Penguin, New York, 1990 (Ersterscheinung 1949) 36 …obwohl dies mit Resultaten aus neueren Hirnforschungen fast besser übereinstimmen würde. 28 Besonders treffend formuliert fand ich auch Bismarcks Beurteilung eines gescheiterten Diplomaten, dem ich natürlich auch souffliert hatte: Er war ein Gesandter, aber kein geschickter. Was mir wirklich die letzte Wahrheit aus der Lüge nahm und damit das Wasser zum Überlaufen brachte, war jedoch als ich feststellte – obwohl es sich nicht schickte, wie man mir beigebracht hatte – dass man phantastische Geschichte coram publico zum Besten gibt, deren Wahrheitsgehalt so offensichtlich war, dass jeder diesen selbst prüfen konnte – dass sich andere Formen von Lügen verbreiteten, welche als Kavaliersdelikt geduldet oder gar hoch gelobt und dekoriert wurden: Deprimierende Wahrheiten ohne Rücksicht zu verbreiten (Diese Zeitungsenten tituliert man, so liess ich mich belehren, heute neudeutsch „Bad news are good news!“). Da kann ich nur mit orwellsch-doppelzüngigem Augenzwinkern staunen und sagen: Brave new world?! Lügen unter dem Deckmantel von Tatsachen zu verbreiten. Diese Sitte hat sich so verbreitet, dass jedem heute lieber ist, seine eigene Wahrheit so wie seinen Augapfel zu hüten, um sie nicht zu verlieren, denn erstens gibt es so viele Wahrheiten, dass man sich darin nicht mehr auskennen mag und zweitens sind die meistens sowieso gelogen, dass man selbst fürderhin lieber auf Wahrheiten zu verzichten pflegt. Das regte bei mir insgeheim den Stolz, quasi als Altmeister der Kunst, den jungen Sitten und Zauberlehrlingen Paroli zu bieten. Na gut, wenn die Lüge schon bereits zum Alltag gehört und dabei ist, an Bedeutung zu verlieren, so wollte ich doch alles, was in meiner Macht steht, dazu beitragen, dass Lügen wieder als hohe Kunst ins Ansehen zurück befördert wird. Ich wollte statt Unmutgeschichten wieder reine Lügen erzählen, welche Mut machen; ich wollte wieder auftreten und Erheiterndes zum Besten geben, wo Lethargie und Ohnmacht sich breit machen. Es ist mir ein Anliegen und eine Herausforderung zu zeigen, dass Kulturpessimismus durch 29 saubere und gute Lügen ersetzt werden kann, welche selbst in der schlimmsten Situation noch einen Hoffnungsschimmer erscheinen liessen, der wieder – wie der Faden der Ariadne – aus dem Dunkel der Höhle heraus geleiten könnte. Keine Situation ist so schlimm, dass sie nicht ins Gegenteil umgestülpt werden kann. Kein Erlebnis so traumatisch, dass man darin nicht wieder Würde zurückgewinnen kann. Keine Sache so verzweifelt, dass man sich daraus nicht mit unbändigem Glauben an die eigenen Kräfte befreien kann. Ich wollte zeigen, dass mein Beispiel, wie man sich am eigenen Schopfe zum Dreck rauszieht, nicht nur zur Folge hat, dass Ross und Reiter wieder auf dem Trockenen stehen können, sondern auch noch, wie durch Ziehen am eigenen Schopf sogar der Sumpf selbst, die Ursache des dräuenden Untergangs, mitkommt. Es geht mir also um eine eigentliche Dialektik der befreienden „Lüge“ nach dem Muster: Das wäre doch gelacht, wenn man sich nicht durch eine gute Idee gar aus der misslichsten Lage befreien könnte und der Lage selbst noch damit den Garaus machen könnte. Mehrfach bereits habe ich in meinen früheren Taten bewiesen, wie und dass das zu bewerkstelligen ist und mit welchem Erfolg. Sie werden mir jetzt nachsagen, dass ich als Lügenbaron schon bereits wieder Schindluderei mit dem Begriff „Lüge“ treibe, aber lassen Sie sich gesagt sein: Ich bin mich an Kritik gewöhnt. Ich hatte genügend Zeit in meiner Jahrhunderte langen Klausur, mir eine lupenreine, unbelastete Seele und eine ebenso faustdicke Haut zuzulegen. Als ehemals verspotteter Lügenbaron von einst werde ich doch noch in der Lage sein, selbst zu entscheiden, was Lüge und was Nicht-Lüge genannt wird. 30 Für mich ist eine gute Lüge eine Geschichte, die ebenso gut wahr sein könnte und eine gute Lüge ist es, etwas zu erzählen, was noch nicht ist, aber ebenso gut werden könnte. Eine phantastische Lüge ist es ebenfalls, wenn jemand sagt, er sei in der Lage etwas zu tun, bevor er weiss, dass er dies kann und sich dann so anstrengt, dass er das Vor- gelogene wahr macht. In diesem Sinne ist eine Lüge eine Art vorauseilender, sich selbst erfüllender Impetus und Selbstgehorsam. Eine ultimative Lüge ist es, wenn jemand etwas denkt und möglicherweise gedanklich preisgibt, das unmöglich ist, daran aber so viel und so lang Gefallen findet, bis er es erfindet. Eine echte und gute Lüge ist eigentlich eine Art Vorspiegelung falscher Tatsachen – und das im eigentlichen Wortsinn. Damit, dass Sie es fast handgreiflich im Spiegel sehen können, ist eine solche Lüge nicht mehr weit von der Wirklichkeit entfernt, denn alles, was Sie denken können, ist bereits dadurch Wirklichkeit geworden. Es ist Ihre Wirklichkeit, die Sie erschaffen haben. (Für jene, welche jetzt Schwierigkeiten bekommen, sei angeführt, dass es sich dabei nicht um einen entarteten Machbarkeitswahn handelt oder gar blasphemische Selbstgerechtigkeit, sondern lediglich um die konsequente Anwendung der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus37.) Sorgen Sie also – seien Sie im Lügen, erfinden, konstruieren, und Geschichten erzählen Profi oder Amateur – dafür, dass Sie sorgfältig mit Ihren Gedanken umgehen. Denn wie Sie es bereits ahnen, können Gedanken ermuntern oder töten. Die Lüge ist die kleine Schwester der Utopie. Deren gemeinsame Mutter ist die Phantasie. Damit Sie mich dieses Mal nicht allzu früh und einfach in einen Käfig einsperren, aus welchem ich nur mit einer ausgebufften Münchhausiade entweichen kann, möchte ich Ihnen nun einige Hinweise zur Beurteilung von Lügen geben – so quasi der Lügenbarometer vom Lügenbaron: Unterscheiden Sie dummes Geschwätz von Ausgeburten einer genialen Phantasie. 37 Neuere Erkenntnistheorie; weiterführende Literatur: Foerster, H. v.; Glasersfeld, E. v.: Wie wir uns erfinden, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 1999; Watzlawick, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit, Piper München, 1988; Watzlawick, P.: Münchhausens Zopf, Huber, Bern 1988 31 32 Unterscheiden Sie Notlügen von echten Lügen, welche nicht eine Not unehrlich überdecken, sondern aus ihr herausführen. Unterscheiden Sie Lügen von Wahrheiten (Mehrzahl!). Lügen sind offensichtlich unwahr und unreal, also utopisch, können aber wahr werden. Wahrheiten sind scheinbar wahr, untergründig verbirgt sich aber oft ein Sachzwang, eine Notlüge, eine Nicht-die-volle-Wahrheit, eine Absicht; sie können also unwahr werden. Lügen haben also eine bessere Zukunft vor sich als Wahrheiten. Wahrheiten sind bedroht, sich als falsch herauszustellen, währenddessen Lügen die schöne Angewohnheit haben, sich ab und zu als Wahrheiten herauszustellen. Also erzählen Sie Lügen und Sie haben vielleicht recht. Erzählen Sie Wahrheiten und Sie haben vielleicht unrecht. Wahrheiten scheinen es in sich zu haben, eine kurze Halbwertzeit zu haben, denn sie werden durch neue Wahrheiten überholt. Da lobe ich mir die Lügen mit den so kurzen Beinen, dass sie fast durch die Realität überholt werden müssen und somit wahr werden. Ähnlich wie bei Satire kann der Lügner Genugtuung empfinden, wenn er von der Realität überholt wird. Für den penibel-zwanghaft Wahrhaftigen jedoch ist dies eher unangenehm und kann auch entsprechende Folgen haben. Unterscheiden Sie unterhaltsame Geschichten von eindringlichem Bekennergetue: „Sie müssen mir dies glauben, denn wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“ Wer würde denn so eine Anmache mit wahrhaftem Glauben erwidern. Was hat derjenige, der dieser irdischen Macht Folge leistet davon, ausser Abhängigkeit. Die wahre Lüge macht frei – ebenso wie der wahre Glaube. Unterscheiden Sie zwischen der Lebenslüge und der spontanen Launenlüge. Die Lebenslüge führt Sie immer dichter in den Nebel hinein, ohne dass Sie ihm entrinnen können. Die Lebenslüge beherrscht Sie und führt Sie in ein unentrinnbares Labyrinth. Die spontane Laune hingegen entbietet Ihnen in jeder Lebenslage neue und zusätzliche Möglichkeiten an, an welche Sie nicht hätten zu denken wagen, wenn Sie sich nicht getraut hätten, eine Lüge zu erfinden. Machtlügen sind die Schlimmsten. Sie werden extra erfunden, gezimmert und geschmiert, um Menschen Glauben zu machen. Sie werden von Präsidenten, Direktoren, Abgeordneten – auch von Frauen und solchen, die all dies gerne sein möchten – verwendet, um ihr Ziel zu erreichen. Sie haben den einzigen Zweck, souveräne Personen in Zwiespälte, Dilemmata, Sachzwänge und Loyalitätskonflikte zu schicken und sie damit beschäftigt zu lassen, dort wieder herauszufinden, damit der Weg für die eigene Karriere geebnet wird. Ich finde, sie sind die eigentlichen Lügen – die Mütter aller Falschheiten. Solche Lügen tönen meist so: „Es gibt keinen anderen Weg!“ Glauben Sie dies und Sie werden sehen: Es gibt tatsächlich keinen anderen Weg. Verleugnen Sie dies und Sie werden sehen: Die Welt steht Ihnen offen. Es gibt so viele Wege, wie Sie selbst zu gehen imstande sind. Perfide Lügen sind jene, die Schwäche zelebrieren: „Sie sind schuld, wenn es mir immer schlechter geht. Ich kann nichts tun. Ich bin ohnmächtig. Sie aber können alles. Sie sind mächtig. Helfen Sie mir. Wenn Sie nicht mein Freund sind, dann hat das Leben keinen Wert.“ Oder: „Du hast mich verletzt, deshalb kann ich nichts mehr tun. Ich bin ausgespielt. Du bist der wahrhaft Schuldige.“ Wenn Sie als einziger die Rettung sind, dann passen Sie auf! Passen Sie auch auf, wenn Sie derjenige sind, dem so viel Macht, Unterordnung oder Bösartigkeit zugemessen wird. Die Rettung könnte Ihre Kräfte übersteigen. Helfen ist recht und billig. Guter Rat aber ist meist teuer. Die Voraussetzung dazu, erfolgreich Hilfe zu leisten zu können, sind Personen, welche Selbstverantwortung zu tragen imstande sind. Die Gefahr besteht sonst, dass es nicht Hilfe ist, welche Sie leisten, sondern dass Sie die Obhut übernehmen müssen und sich zugleich die Personen, welchen damit die Verfügungsgewalt eingeschränkt wird, sich auch dagegen zur Wehr setzen. Eine Patt-Situation: Hilf mir, und du wirst scheitern! Denn du bist diejenige Person, welche den 33 Misserfolg zu verantworten hast, der daraus entsteht, dass ich mich gegen deine Hilfe auflehnen muss. 34 35 36 Ethik der wahr-haften Lüge „Herr Graf, wenn Sie der Meinung sind, dass mein Erscheinen in Europa ein grosses Aufsehen erregen könnte, so irren Sie sich doch. Ich bin jetzt gute vier Wochen in Europa und habe die Europäer besser kennengelernt; die sind nicht so leicht aus dem Texte zu bringen. ...“38 Viele Wahrheiten stellen sich im Nachhinein als Irrtümer dar: „Die Erde ist eine Scheibe“ und „Die Sonne kreist um die Erde“ sind nur zwei prominente Darstellungen. Menschen, welche Alternativen erdachten, wurden bekämpft, gefoltert, verachtet, hingerichtet. Wozu? Wahrheiten haben ein Ablaufdatum. Von dem Datum an, von welchem sie nicht mehr verkauft werden sollten, bis zu dem Datum, wo sie ungeniessbar werden, wird um sie gekämpft. Und vor allem wird gegen jene gekämpft, welche die Wahrheiten nicht mehr konsumieren. Ich finde, wenn Wahrheiten nicht mehr nähren, gehören sie auch nicht mehr angeboten. Wahrheiten stehen im Dienst der Menschen, wenn sie überhaupt eine Bedeutung, ausser einer akademischweltfremden haben. Gibt es denn überhaupt nichts mehr, was uns heilig und damit unantastbar ist? Nein. Ist denn der Mensch nicht mehr fähig, Respekt vor Wahrheiten zu haben? Doch. Soll man denn ganz auf Wahrheiten verzichten? Vielleicht. Wahrheiten haben keinen Selbstzweck, sie dienen. Vielleicht war es der Sinn der Sache, zu vertreten, dass die Welt eine Scheibe ist, dass wir, die Menschen und mithin unser Planet nicht unbegrenzt sind. Wir sind – auch wenn jetzt seit Jahrhunderten die Welt eine Kugel ist – weiterhin begrenzt. So haben also Wahrheiten möglicherweise einen Sinn und damit einen Nutzen39. Wenn die Wahrheiten also schal werden 38 Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden. Suhrkamp, 1987, Frankfurt, S. 9 39 Der Begriff des Nutzens oder der Nützlichkeit wird hier und im Folgenden nicht im Sinne eines ideologischen Utilitarismus, sondern im Sinne eines 37 und ungeniessbar, so sollte man sich darauf einigen, wie man deren Sinn und den Nutzen behält, statt die Wahrheit selbst zu verteidigen. Gut, ich kenne mich mit Lügen besser aus. Wenn ich von einem bösen Tier bedroht oder verfolgt werde, so lasse ich mir halt eine Geschichte einfallen, um nicht getötet und gefressen werden zu müssen. Hätten Sie mit Verlaub nicht auch den Bären in die Deichsel des Leiterwagens laufen lassen. Hätten Sie nicht auch den einen Wolf umgestülpt und den andern, nachdem er glücklicherweise Ihr Pferd statt Ihrer selbst in voller Fahrt verspeist hätte, ihn nicht auch gleich listig zur Weiterfahrt eingespannt, wenn Sie es gekonnt hätten, es Ihnen im rechten Moment eingefallen wäre? Muss denn etwas, was unglaublich ist, gleich falsch sein? Würden wir es doch wenigstens wagen, gegenüber abgelaufenen Wahrheiten ähnlich kritisch zu sein, wie gegenüber offensichtlichen Lügen? Welches sind zum Beispiel solche Lügen, denen man besser glauben sollte? Es sind derer viele. Sie unterscheiden sich nicht in Wortlaut, Satzbau oder Inhalt. Es ist der Sinn, Zweck oder Nutzen, der aus einer Lüge eine Wahrheit und aus einer Wahrheit eine Lüge macht. Wählen Sie, welchen Lügen Sie lieber glauben: Gemeinsam sind wir stark. Ich bin ohnmächtig. Morgen wird alles besser. Alles wird nur noch schlimmer. Niemand tut etwas, warum soll gerade ich? Ich kann nichts tun. ethischen Begriffs verwendet, dessen Bedeutung sich damit befasst, dass etwas jemandem (oder etwas) zu Gute kommen soll, wenn man es tut und dass es wichtig ist zu bedenken, wofür man dieses tut und ob man dem Ziel damit wirklich näher kommt. Zudem soll es ja zugunsten der Wirkung auch überprüfbar sein. Beispiel: Wirkungslose (ohne Nutzen) Hilfe anzubieten ist zynisch, ebenso aber auch Hilfe anzubieten, von deren Wirkung man nichts weiss, ohne sich darum zu kümmern. 38 Si vis pacem, para bellum40. Wenn du Frieden willst, schaffe Frieden. Pecunia non olet41. Belehren ist möglich. Das haben wir noch nie so gemacht. Das haben wir schon immer so gemacht. Ich liebe dich. Ich hasse dich. Wenn ich schon in den Sumpf geritten bin, soll ich auch elendiglich untergehen. Ich ziehe mich am eigenen Schopf heraus. Diese Sätze sind erstunken und erlogen. Diese Sätze sind wahrhaftig wahr. Gott ist tot. Gott lebt. Die Menschheit wird immer dümmer. Die Intelligenz der Menschen steigt42. Ich hoffe, Sie sind ähnlich verwirrt wie ich. Ich finde keinen Unterschied zwischen „Morgen wird alles besser“ und „Alles wird nur noch schlimmer.“ Wie wollen Sie überprüfen, was wahr ist, ausser Sie tun den ersten Schritt in die Zukunft? Es ist egal, ob der Satz wahr ist oder gelogen. Sie meine geneigte Leserin, Sie mein geneigter Leser sind es, die den Satz wahr oder falsch machen. Sie sind es, die den Satz einordnen, die ihm Sinn geben oder Nutzen daraus ziehen oder herstellen, indem Sie etwas in die Tat umsetzen. 40 Römische Weisheit: Wenn du Frieden willst, mache Krieg. Da ich damals nicht zugegen war, kann ich schwerlich feststellen, ob diese Weisheit schon damals Dummheit war. 41 Geld stinkt nicht. Eine weitere römische Weisheit, deren Halbwertzeit bereits längst überschritten ist. Heute kann Blut, Drogen und Schlimmeres an Geld haften. Umsonst würde man Geld ja nicht waschen. Ich muss allerdings zugeben, dass es zu Cäsars Zeiten nur Handwäsche gab. 42 Sogenannter Flynn-Effekt, benannt nach dem Politologen und Philosophen James R. Flynn. Flynn, J. R.: Massive IQ Gains in 14 Nations: What IQ Tests Really Measure. Psychological Bulletin 101: 171-191, 1987. Übrigens: Haben Sie davon schon etwas gemerkt? Paradox: Die Menschen werden immer gescheiter, die Menschheit jedoch dümmer. 39 Derjenige, welcher den Satz 1 glauben möchte, wird sich anders verhalten, als derjenige, der den Satz 2 glaubt, denn Sie können nicht gegen Ihren Glauben handeln. Da lob’ ich mir doch die klare und wahrhaftige Lüge. Gerade dann, wenn es bergab geht, wäre eine deftige Lüge angebracht, welche heisst: Morgen wird alles besser. Dann könnte man wenigstens den Schwung des Abwärts mit ins Aufwärts nehmen. Und die Lüge gewinnt noch mehr, wenn Sie eine Geschichte (ich glaube das heisst neudeutsch Szenario) erzählen, welche erläutert, wie Sie dies zu tun gedenken, warum und wozu es besser werden soll und wer alles etwas davon haben soll. Wenn wir wollen, dass morgen alles besser wird, so muss es für alle besser werden. Sonst werden jene, welche nicht profitieren, gegen die relative Verschlechterung kämpfen und damit ihre Lüge entlarven und wertlos machen. Erzählen Sie die Wahrheit: Alles geht bergab. Super. Stimmt genau. Überprüfbar. Wissenschaftlich erwiesen. Nützt aber nichts. Tolle Wahrheit. Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen. (Epiktet) „Gott lebt“ ist auch super. Hinten an meinem Auto! Wäre Gott kein Fisch, sondern ein Vogel würden Sie auch einen Vogel hinten aufs Auto kleben? Gott wird sich wundern, wie schnell er von A nach B gelangt, aber sonst wüsste ich nichts, wovon Gott etwas hätte, wenn er hinten flach gepresst auf einem Auto klebt. So flach kann er auch nicht mehr so lebendig sein. Aber „Teufel auch!“ – Gott möchte nicht umhergefahren werden. Er möchte selbst laufen können, wohin er will – und wenn es davon ist. In dem Sinn gratuliere ich Ihnen: Sie haben’s sicher gemerkt. Sowohl „Gott ist tot“ als auch „Gott lebt“ ist gelogen. (Das Problem, dass zwei Gegenteile gleichzeitig nicht wahr sein können, klammere ich hier geflissentlich aus und verweise auf gescheitere Leute wie Existentialphilosophen oder Logiker.) Nun, wie Sie wissen, gefallen mir ja Lügen. Sie werden sich jetzt schon Gedanken machen, wie ich mich aus dieser schwierigen Häresie befreie. Aber das ist kein Problem: 1. Gebe ich ja freimütig zu, dass alles gelogen ist, was hier geschrieben steht 40 und damit Irrglaube darstellt und 2. werde ich schon einen Weg finden. Gott (hat so viele Namen, dass es allein ein Buch füllen würde, dessen Namen vollständig aufzuzählen; aber alle sind gemeint) hat wenig davon, was wir von ihm glauben. Deshalb sind wir auch nicht dafür zuständig, über seinen Verbleib, seinen Tod oder sein Leben zu urteilen – auch nicht hinten auf einem Auto. Wir Menschen jedoch würden gut daran tun, wenn wir uns einigen würden, was gut ist, gut tut, statt uns über Gott zu streiten. Möglicherweise würde „…..“ sich dann ab und zu wieder auf der Welt blicken lassen. Nach der ultimativen Naturzerstörung, Krieg, Hunger. Der letzte Mensch schreit stolz: „Wir beide, Gott, du und ich, sind die letzten Überlebenden.“ Super. „…..“ würde sich gewünscht haben, nicht mehr zu leben. Auch ewig zu leben ist nicht so einfach. Meine einzige Begegnung mit „…..“, an welche ich mich erinnere, ist jene, als ich einem armen Teufel, der fror, meinen Mantel gab, obwohl ich für das herrschende Wetter auch nur leicht bekleidet war. Das war für mich eine Selbstverständlichkeit. Doch eine Stimme rief mir zu: „Hol mich der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergolten bleiben!“43 Ich fand das ziemlich stark, humorvoll und gewagt. Nun aber zur eigentlichen Ethik der Lüge: Es gibt keine Gedanken, ausser wir erfinden sie in unserem eigenen kleinen Universum, dem Körper oder dessen Hauptsteuerzentrale, dem Hirn. Alles, was auf dieser Welt gedacht wird, ist erfunden und damit vorerst nicht real. Manche vertrauen eigenen Erfindungen besser als denjenigen anderer. So werden Wirklichkeit oder Fiktion unterschieden. Es geht also dabei nicht um eigentliche Wahrheit, sondern um Plausibilität, Wertschätzung, Beurteilung, Nutzen, Passung, etc. 43 Bürger, G., A.: Münchhausen, Reclam, Stuttgart, 2000, S. 9 41 Als Fiktion, Lüge oder Falschaussage wird taxiert, was in das eigene Weltbild nicht eingeordnet werden kann, was stört, was gefährlich ist, was schadet etc. Ein Kind, das zum ersten Mal in der Schule hört, dass 2 + 2 = 4 gibt, wird dies zuerst als Fiktion abtun, weil es etwas Neues ist, das nicht eingeordnet werden kann und deshalb bedeutungslos und ohne Sinn ist. Für ein Kind, das vielleicht bisher eher gelernt hat, seine Assoziativkraft zu benützen, als strenge Logik, könnte eine andere Wahrheit vielleicht eher heissen: 1 + 1 = 3, 4 ,5 usw., denn was geschieht – aber auch nicht immer – wenn ein Mann und eine Frau zusammen kommen: Sie vermehren sich. Das mit dem Rechnen ist also eine Sache – sie kann zur Erklärung bestimmter Phänomene nützlich sein, für andere weniger. Wenn ich einen Ball habe und der wird mir geklaut, wird im Rechnungsdenken dies bedeuten: 1 – 1 = 0. Klar, ich habe keinen Ball mehr, aber habe ich deshalb gleich nichts? Und wer ist da die Null – nicht derjenige, der geklaut hat? Schwierig. Wenn Sie sich vorstellen, dass 10 Leute in einem Bus sitzen und 12 an der nächsten Haltestelle aussteigen, so müssen 2 wieder einsteigen, damit keiner drin ist. Sie glauben das nicht? Hier die korrekte Rechnung: 10 - 12 + 2 = 0. Na? Rechnen ist auch relativ – oder? Oder kennen Sie den: Ali Baba hatte 4 Kinder und 39 Kamele, welche er jenen vererben wollte. Der Älteste sollte die Hälfte davon bekommen, der Zweitälteste einen Viertel, der Dritte einen Achtel und die jüngste Tochter einen Zehntel. Als Ali Baba gestorben war, standen die vier Geschwister vor der Herde und rätselten, wie diese aufzuteilen sei. Sie wurden sich nicht rätig. Da kam ein alter Beduine auf seinem Kamel herangeritten und erkundigte sich nach dem Grund des Disputs. Schliesslich stellte er sein Kamel zur Herde. Der Älteste bekam 20, der Zweitälteste 10, der Drittälteste 5, und die Jüngste 4 Kamele. Alle waren zufrieden. So stieg der Beduine wieder auf sein übriggebliebenes Kamel und ritt von dannen. – Rechnen ist Glückssache. Oder stimmt da etwas mathematisch nicht ganz? 42 Wahrheit ist Ansichtssache – einmal so, einmal so. Gemeinsame Wahrheiten entstehen lediglich aufgrund von Konventionen. Ob sie wirklich standhält, wird dann sichtbar, wenn die Konvention angezweifelt wird. Als ich das letzte Mal auftrat, war klar, dass Kaiser, Könige, Grafen etc. das Sagen hatten, weil sie in höherem Auftrag handelten und damit im Besitz (göttlicher) Wahrheit waren. Erst als man begann, diese Konvention anzutasten, als die Lüge auftauchte, dass alle gleich seien, begann die Idee der Wahrheit, repräsentiert durch eine Person, zu wanken. Die Folge war Revolution, Krieg, weil eben Wahrheiten nicht gerne aufgegeben werden und schon gar nicht wegen einer noch nie da gewesenen Anmassung, einer Frechheit, also Lüge. – Nun, so schnell können Lügen wahr werden!? Es ist die Konvention, die Übereinstimmung, das Commitment, was eine Lüge von einer Wahrheit unterscheidet. Wahrheit an sich scheint es nicht zu geben. Wie Heinz von Foerster kürzlich darlegte: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners!44“ Es ist die Bedeutung, die einer Wahrheit zugemessen wird, die sie bedeutungsvoll macht. Dies entzieht den so genannten alten Wahrheitsidealen jede Berechtigung, ersetzt diese überkommene Konstruktion aber etwa nicht durch eine a priori bessere, sondern nur durch eine andere. Nicht länger mehr ist Wahrheit eine Sache, die mit Macht durchgesetzt werden kann, denn Macht wird nur so lange akzeptiert, wie dazu Commitment besteht. 44 Foerster, H. v.; Pörksen, B.: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Carl Auer, Heidelberg; 2003 43 Der Mensch ist ein Meister darin, die Wirklichkeit so hinzubiegen, dass widersprüchliche Gedanken, Wünsche und Handlungen zueinander passen45. Dies eröffnet der Lüge neue Chancen. Lügen, Märchen, Phantasien, Gerüchte, Mythen, Legenden strahlen einen Charme aus, der jeder kühlen Wahrheit entbehrt. Sie tragen die Möglichkeit in sich, wahr zu sein, für wahr gehalten zu werden, wahr zu werden. Die Wahrheit jedoch enthält eher die Vorstellung von Macht, denn wenn etwas als wahr verkauft wird, muss es ja so sein – unhinterfragt. Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Das Problem mit der Wahrheit ist, dass ihr Machtanspruch Machtstrebende hinter sich vereinigt und solche die mit Macht nichts am Hut haben wollen oder vom Zugangscode ausgeschlossen sind, nicht dazu gehören. Die Ausgeschlossenen werden also die Wahrheit potentiell torpedieren, ihr nicht Folge leisten… Damit wird Wahrheit privatisiert. JedeR hat seine/ihre eigenen Fixsterne, die ihn/sie leiten. Alle gehen in eine andere Richtung. Pluralismus nennt man das heute schöngeistig. Ich triumphiere, denn dies ist der Triumph der Lüge über die Wahrheit. Es gibt drei Möglichkeiten: 45 Respekt46 => Verlust der gemeinsamen Wahrheit; jeder geht seiner Wege und kümmert sich nicht um die Wege der andern. Krieg / Macht => Verlust von Menschenleben und Erzeugung von Misstrauen bei jenen Ohnmächtigen, die Die sogenannte kognitive Dissonanz wurde erforscht von: Festinger, L.: Theorie der Kognitiven Dissonanz, Huber, Bern, 1978, Wir denken nicht, wir fühlen nicht, wir nehmen nicht wahr, sondern wir rücken zurecht. 46 Das Wort „Respekt“ wird hier verwendet in der Bedeutung „etwas respektieren, aber auch nicht mehr“, also ein distanziertes sich nicht Berührenlassen – Gleichgültigkeit. Toleranz wäre bereits etwas mehr. Sich damit auseinandersetzen noch mehr. Heute wird der Begriff „Respekt“ im Gegensatz zum hier postulierten Gebrauch manchmal so verwendet, dass er mehr als „nur“ Toleranz ausdrückt. 44 nicht glauben wollen; letztlich aber die Wiedereinführung der Oligarchie (Herrschaft weniger). Lügen, was das Zeug hält => Jene Lügen, welche am meisten Sinn machen, werden sich verbreiten und eine gemeinsame Basis für Zukunft und Entwicklung von Welt, Ländern und Menschen darstellen; kreatives Potential entfaltet sich, denn die Phantasie ist frei von herrschaftlicher Tabuisierung; Lügengeschichten können immer wieder frei erfunden werden ohne Rücksicht auf verkommene Wahrheiten, welche aber geschützt werden „müssen“. Was sind die Kriterien für die Beurteilung, ob etwas allgemein als Leitlinie akzeptiert ist? Nutzen! Nun, Nutzen ist keine Ethik! Da gebe ich Ihnen recht. Ethik wird daraus erst, wenn der Nutzen offensichtlich für alle gegeben ist. Schauen Sie, wenn etwas wahr sein muss, muss es faktisch sein. Etwas, was faktisch ist, beruft sich auf die Vergangenheit, denn wie wollen Sie sonst die Fakten beweisen? Wir aber brauchen Phantasien für die Zukunft. Die können mit Wahrheit im faktischen Sinn nichts zu tun haben. Lügen sind die Gegenideen zu Wahrheiten. Geben Sie sich einen Ruck, befreien Sie sich endlich vom Rucksack, dass lügen unredlich sei. Machen Sie sich bewusst, wie viel Menschenleben auf dem Buckel der Wahrheit geopfert wurden und machen Sie die Güterabwägung, was wohl redlicher sei. Also lügen Sie, was das Zeug hält. Lügen wir uns eine bessere Zukunft vor. Wie sonst soll sie denn kommen? Es gibt leere Hoffnung, Lotteriehoffnung und tätige Hoffnung. 45 46 47 Bilder machen Leute – Leute machen Bilder Jede politische Theorie ist in der Praxis genau so viel wert wie ihr Menschenbild. 47 Menschenskinder, welche Bilder macht ihr euch, welches Faszinosum überhaupt geht von Bildern aus. Das sind doch schon bereits wieder zwanghafte Fiktionen, welche hier mit dem Siegel „Es kann gar nicht anders sein!“ aufrechterhalten werden und weitergebetet werden, als wären Litaneien als sinnlose Wiederholung gedacht und würden dadurch Sinn gewinnen, dass man sie wiederholt. Nachdem ich die Wahrheit entlarvt habe und das Gewicht sich zugunsten der Lüge verschoben hat, möchte ich über das Menschenbild hinter der Lüge sprechen, sonst wollen Sie mir erst recht, wie weiland vor hunderten Jahren, den Glauben an meine Lügen verweigern. Menschenbilder sind ein Teil des Graumarktes, welcher sich hinter der Wahrheitskolonialisierung verbirgt. Es werden verschiedene Menschenbilder gehandelt, ineinander verschachtelt und keineswegs offen gelegt. Sie stellen aber häufig genau jene Grundlagen dar, worauf dann so genannte Wahrheit aufgeklinkert wird. Hier eine Auswahlsendung von Menschenbildern – echt wahr: Der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Die Menschen sind vernünftig. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Die Menschen sind emotionsgesteuert. Was Menschen können und tun, oder unterlassen, ist genetisch bedingt. Menschen sind von Grund auf animalisch (gewalttätig, roh, unterjochend, besitzergreifend, lustbezogen, egoistisch). Menschen sind verantwortungsbewusst. Wahrheiten – Lügen? Unwesentlich! So sehen die Sätze jedenfalls aus, als ob sie Wahrheiten zu repräsentieren hätten. 47 Künzli, A.: Rettet die Freiheit vor ihren Beschützern. Z-Verlag, Basel, 1989 48 Wie machen Sie das: Sie nehmen ein zufällig geschnürtes Paket vergangener Erfahrungen und bauen darauf die Erkenntnis auf: So ist es. Sie gestehen keinerlei Veränderung oder Dynamik zu. Die Rigidität der Vorstellungen erscheint im Format: Erfahrung macht dumm48. Und sie haben vor allem eine verheerende Zukunftsperspektive, welche lautet: Wenn alle Menschen vernünftig sind, musst du es auch sein, sonst bist du es nicht würdig, Mensch genannt zu werden. Wenn Menschen animalisch sind (und nehmen wir genetisch noch dazu), dann muss man sich damit abfinden und wird am besten auch selbst angriffiger, egoistischer, sonst geht man unter. Wenn der Mensch die Krone der Schöpfung darstellt, so ist uns fraglos alles erlaubt und im Plan, was wir tun – wenn wir schon die Krone tragen, müssen wir auch herrschen. Sei gefälligst verantwortungsbewusst, bzw. verhalte dich so, dass ich gemäss meiner Vorstellung das als verantwortungsbewusst beurteilen kann, oder ich werde dir Verantwortungsbewusstsein schon noch einprügeln. Ordne dich gefälligst meiner Beurteilung unter! Hand aufs Herz: Ist es Ihnen in diesen Zukünften wohl? Ehrlich gesagt: Gelogen wäre es mir wohler. So nämlich, dass sich die Ideen nicht auf vergangene Tatsachen (welche, wie wir wissen, auch bloss auf potentiell brüchige Konventionen aufbauen) abstützen und deren Fortsetzung zum Gesetz erheben, sondern, dass wir echt so tun „als ob“, uns selbst damit herausfordern, den „Beweis“ anzutreten und den Realitätstest der Zukunft überlassen. Solche Menschenbilder sind gelogen, 48 Die sogenannten Kernrigiditäten (eingeschränktes Problemlösen, mangelnde Implementierung und Integration, fehlendes Experimentieren, Ausblenden externen Wissens) werden von Leonard-Barton (Leonard-Barton, D.: Core Capabilities and Core Rigidities: A Paradox in Managing new Product Development. In: Strategic Management Journal, Vol. 13, 1992. S. 111-125), die Verhinderung von Lernen durch Wissen von Willke (Willke, H.: Systemische Wissensmanagement. Carl Auer Systeme, Heidelberg, 2004), die Herstellung von Schulversagern von Jegge (Jegge, J.: Dummheit ist lernbar, Zytglogge, Bern, 2002) dargestellt. 49 üben jedoch eine deutlich grössere Faszination aus: Sie sind viel vorsichtiger formuliert, tönen verborgenes Potential an und legen Möglichkeiten offen. Die Darstellungsform als Lüge entzieht der Vorsicht jedoch jede Betonung, verdrängt sie in den Hintergrund, überdeckt sie durch Raum greifende Überzeugung und lässt jene die Überhand gewinnen: Die Menschheit kann auch anders. Im Innersten sind die Menschen gut. Mensch sein verpflichtet zum menschlich Sein. Das sei nur „allzu menschlich“, ist keine Entschuldigung. Menschliches Versagen und Fehler haben noch nie bedeutet, dass dies so sein muss und sich ständig und ohne Ende wiederholt. Nur weil etwas sich noch nicht zeigt, sollte man es nicht absprechen, sondern erst recht daran glauben, dass es da ist. Potential lüftet man nicht, indem man sich auf Fakten und fehlende Taten abstützt, sondern indem man positive Erwartungshaltung weckt – gegen die vermeintliche Realität. „Das ist menschlich“, ist eine Auszeichnung, nicht eine resignative Einschränkung. Die Wahrheitsfanatiker verlängern Erfahrungen nach vorne und setzen dadurch eine verheerende Fehlsteuerung in Gang. Es darf nicht sein, was nicht sein kann. Man sieht den Balken49 nicht, wenn er im eigenen Auge steckt. Wenn etwas nicht war und nicht ist, bedeutet dies nicht, dass es nicht sein kann. Ein Fehlschluss von deprimierender 49 Die amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham verdeutlichten in einem Vier-Felder-Diagramm, wie wichtig Selbst- und Fremdwahrnehmung und deren Verknüpfung sind. Häufig machen wir uns über uns, aber auch über andere Bilder, welche wenig zutreffend sind. Wir haben einen „blinden Fleck“. Das Diagramm nennt sich Johari Fenster. Die Idee ist, jenen Teil des Fensters zu vergrössern, der mir und andern bekannt ist. Luft J.; Ingham, H.: The Johari Window, a Graphic Model for Interpersonal Relations. Western Training Laboratory in Group Development, August 1955; University of California at Los Angeles, Extension Office. 50 Kleingläubigkeit mit dramatischen Auswirkungen. Solche Leute tun so, als ob es keine positive Zukunft geben kann, weil Menschen nicht anders können. Möglicherweise reicht ihnen dies als Lebenssinn bereits, was bedeutet: Wenn es nicht möglich ist, muss ich auch nicht – Entlastung von Verantwortung. Toll, wie man das einfach herstellt. Es kann sein, dass man diese Resignation nicht aushält und deshalb dagegen ankämpft, indem man Macht ausübt, welche auf der Grundlage von Negativzuschreibungen basiert. Fast jede Diktatur, viele Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion, das Dritte Reich und viele Machtsysteme in der so genannt „freien Welt“ waren und sind geprägt davon, dass derjenige, der am wenigsten daran glaubt, dass die Menschen gut sein können, auf dem höchsten Thron sitzt50. Menschen werden vom Bösen zum „Gut sein“ (will heissen angepasst und kadavergehorsam, unterordnend) vergewaltigt, befohlen und abgeordnet. Das kann nicht gut gehen und ist bisher auch nirgends zu einem Erfolgsrezept geworden. Aber überlebt hat es trotzdem und treibt immer wieder neu Blüten. Böses lässt sich nicht ausrotten, mit keiner Macht der Welt, es lässt sich nur wegloben, lenken und vermeiden. Lediglich eine Anhäufung von guten Taten lässt das so genannte Böse51 in den Hintergrund treten und an Einfluss verlieren. Derjenige, der gezwungen wird, obwohl man es ihm nicht zutraut, „Gutes“ zu tun, wird Widerstand leisten, wird verhaltensauffällig, wird radikalisiert und derjenige, der auf dem Thron sitzt, wird triumphierend ausrufen: Seht ihr, der Mensch ist böse. 50 Das Prinzip des Machiavellismus. Machiavelli ging von einem pessimistischen Menschenbild aus. Machiavelli, N.: Der Fürst, Insel, Frankfurt, 2001 (Erstausgabe 1532) 51 Lorenz, K.: Das sogenannte Böse, DTV München 1998; Watzlawick, P.: Vom Schlechten des Guten, DTV München, 1997; Watzlawick, P.: Die Möglichkeit des Andersseins, Huber, Bern 2002; Guggenbühl-Craig, A.: Vom Guten des Bösen, IKM-Guggenbühl, Zürich 1992 und sogar: Norem, J. K.: Die positive Kraft negativen Denkens, Scherz, Bern, 2002 51 Etwas bescheidener wäre es, darüber nachzudenken, wie einfach es doch ist, das herzustellen, was man selbst denkt – wie mächtig doch Leitideen sind. Etwas bescheidener wäre der Gedanke: Im Guten das Böse, im Schlechten das Gute? Ei der Daus! Wer den Paradigmenwechsel nicht vollzieht, wird buchstäblich vom Blut ertränkt, das sein Schwert fliessen liess oder vielleicht auch nur vom Wasser überflutet, wie in Goethes Zauberlehrling. Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los52. Dann gibt es noch die Gutmenschen, welche zwar nicht daran glauben wollen, dass der Mensch im Grunde gut sein kann, deshalb eine Bresche schlagen wollen und sich dafür aufopfern. Diese Gutmenschen haben zwar eine Engelsgeduld, üben aber trotzdem eine Macht aus, weil sie sich nicht sicher sind. Die Macht heisst: „Enttäusche mich nicht! Ich habe so viel in dich investiert. Deshalb darfst du dir keinen Fehler erlauben. Du bist mein Versuchskaninchen, an welchem ich ein Exempel statuieren möchte. Du musst gut sein, um meine persönliche Hoffnung zu nähren. Wofür sollte ich sonst noch leben? Und überhaupt womit hätte ich sonst einen Beweis meiner eigenen Güte, wenn du es mir nicht lohnst.“ Perfide. Da würde ich mir wünschen, vom Potentaten in offener Grausamkeit gefoltert zu werden, statt vom Gutmenschen zum Gegenbeweis seines eigenen Pessimismus’ missbraucht zu werden. Der Fehler ist, dass diese ungläubigen Thomasse eben auch nur unverbesserliche Realisten sind, welche nicht einer voraus geworfenen, selbst erfundenen Lüge genügend trauen, um ihr nachzulaufen und sich von ihr lenken zu lassen – ohne sich durch nicht vorhandene Beweise abschrecken zu lassen, nicht nach einem Schritt, nicht nach 20 und nicht nach 200. Trauen 52 Goethes Zauberlehrling; Goethe, J.W. v.; Schiller, F. v.; Eibl, K. (Hg.): Sämtliche Balladen, Insel, Frankfurt 52 Sie Ihrer eigenen Lüge mehr als der Realität und ehe Sie sich’s versehen, werden Überraschungen eintreten – nicht jene, welche Sie sich vorstellen konnten, sondern solche, die noch fantastischer sind. Sie sehen, Sie müssen wissen, wie Sie lügen, denn lügen ist nicht einfach; Lügengeschichten erfinden und sich von ihnen lenken zu lassen ist vielleicht noch gefährlicher als der selbst ernannten Wirklichkeit so zu trauen, dass man sich im Kreise dreht, ohne es zu merken. Wir stellen das her, was wir glauben und noch in höherem Mass das, wovor wir uns fürchten. Deshalb: Wenn es heute fast gang und gäbe ist, in unredlicher Manier Lügen zu erzählen und Wahrheiten vorzugaukeln, so sei es mir in ehrenhafter Absicht erlaubt, Wahrheiten so zu verzaubern, dass sie wie unglaubliche Lügen erscheinen. Sie wissen, wie viel Wert mir das Attribut Ehrenmann ist und wie abscheulich und verletzend ich das Urteil Lebemann empfinde. Ich kann Ihnen versichern: Wenn ich lüge, ist es mir ernst. Der Sturm, der Sie ereilt, währenddessen Sie auf ein Ziel hin segeln, ist ja auch kein Beweis dafür, dass Sie auf ein falsches Ziel hinsegeln. Er stellt lediglich eine Prüfung für Ihre Überzeugung und Ihre Ausrüstung dar. Vielleicht ist es sogar besser Sie streichen im Sturm die Segel, um nicht unterzugehen. Vielleicht haben Sie die Gnade bei aufkommendem Sturm die Richtung zu ändern, um nicht an Ihrem Ziel zu verzweifeln. Mit Prüfung meine ich nicht, dass Sie unter vollen Segeln dem Sturm trotzen und bei Mast- und Schotbruch dem Sturm dafür die Schuld geben, dass Sie Ihr Ziel ändern müssen, sondern ich meine, dass Sie sich und Ihre Möglichkeiten überprüfen. Vielleicht ist eine andere Strategie, als hartes Trotzen nach dem Motto „jetzt erst recht“ Erfolg versprechender. Wahrheiten muss man be- oder erkämpfen. Es geht um Tod und Leben. Lügen sind da etwas verspielter. 53 Der Gedanke enthält die Möglichkeit der Sachlage, die er denkt. Was denkbar ist, ist auch möglich53. 53 Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosphicus, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1963 54 55 56 Handlungstheorie und die Droge Entropamin „Das freut mich“, sagte der Baron, „entschuldigen Sie sich nicht Ihrer langen Rede wegen: ich werde noch länger reden.“54 Wir sollten wissen, wie Handlungen entstehen, eingeleitet, geplant und ausgeführt werden, um nachvollziehen zu können, wieso die Handelnden unter Drogen stehen und damit eigentlich zumindest in ihrer Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt sind, wenn sie handeln. Die Handelnden haben den Hang entropiesüchtig zu sein und dies meist in Überdosis. Sie haben noch nie etwas von Entropamin gehört? In der Tat: Sie sind auf dem Laufenden. Bisher wurde die weitverbreitete Droge noch nicht in Gehirnen von Menschen nachgewiesen – aber sie ist da. Warum? Es gibt viele Botenstoffe, welche dazu da sind, die Nervenimpulse zwischen Nervenzellen weiterzugeben. Diese kommen immer nur in kleinsten Dosen vor. Man hat deshalb nie nach grossen Büchsen geforscht, da man in kleinen Dosen das gefunden hat, was man suchte. Das ist der Nachteil von Suchprozessen. Man findet, was man sucht. Aber auch nicht mehr. Etwas beschränkt, finden Sie nicht auch? Einer der Süchtigsten ist Herr Murphy55 selbst. Nicht er, aber ein Mann gleichen Namens hat Murphys Gesetz erfunden, das besagt: Es kommt sowieso, wie es kommen muss. Und es muss schief gehen. Darum geht es auch schief. Wer wollte daran zweifeln? Es geht sogar dann schief, wenn es überhaupt nicht schief gehen kann. Na, sehen Sie: Alles Süchtige! Alles Anhänger! Alles Gläubige! Was sagen Sie: Sie glauben an gar nichts! Super. Damit sind Sie zum Hauptkonsumenten des Entropamins geworden. 54 Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden. Suhrkamp, 1987, Frankfurt, S. 15 55 Bloch, A.: Murphy’s Gesetz I, Der Grund, warum alles schief geht, was schief gehen kann; Goldmann, München, 1986 57 Entropamin ist ein Kunstwort, das aus dem Begriff Entropie und der Endung –amin56 zusammengesetzt ist. Der Gesamtbegriff soll bewusst Assoziationen an ein Medikament, bzw. eine körpereigene Droge auslösen. Tatsächlich wird man diesen Neurotransmitter chemisch nie nachweisen können, da er in den Bereich der psychologischen Handlungsforschung gehört und mehr mit einer Einstellung, (Be-)Wertung zu tun hat, als mit einem nachweisbaren Stoff. Der Begriff Entropie stammt aus der Thermodynamik57. Der zweite und dritte Hauptsatz der so genannten grundlegenden Wärmelehre besagt, dass alles, was physikalisch-chemischen Naturgesetzen entspricht, zu vermehrter Unordnung tendiert. Physikalisch definierte Ordnung im Sinne von höheren Aggregatszuständen entsteht nur durch Zufuhr von Energie. Die Thermodynamik kann als universelle Theorie auch allegorisch auf das Zustandekommen menschlicher Verhaltensweisen übertragen werden. Wenn wir eine gute, neue Ordnung schaffen wollen, so widerstrebt uns die Welt. Dies bedeutet, dass wir Energie investieren müssen, damit sich etwas verändert. Sie tut dies nicht alleine. Der einzige Vorgang, der ohne Zuschuss von Energie stattfindet, ist der Tod. Den Wortteil „amin“ kennen wir von den Aminosäuren. Eiweiss = amin Die Thermodynamik (auch Kalorik oder Wärmelehre) ist ein Teilgebiet der klassischen Physik. Sie entstand im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage der Arbeiten von James Prescott Joule, Nicolas Léonard Sadi Carnot, Julius Robert von Mayer und Hermann von Helmholtz. Sie ist die Lehre der Energie, ihrer Erscheinungsform und Fähigkeit, Arbeit zu leisten. Sie erweist sich als vielseitig anwendbar in der Chemie, Biologie und Technik. Mit ihrer Hilfe kann man z. B. erklären, warum bestimmte chemische Reaktionen „freiwillig“ ablaufen und andere nicht. Neben der exakten mathematischen und physikalischen Beschreibung von Entropie sind Menschen in der Lage, Entropie auch intuitiv zu verstehen: "Unmögliche" Verstösse gegen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sind Grundlage vieler Witze, Zaubertricks und Scherze (zit. nach: http://de.wikipedia.org/). Im ähnlichen Sinn wie hier, wird der Begriff der Entropie und der Negentropie auch verwendet von Mihaly Csikszentmihalyi: „… Entropie ist nicht das einzige Gesetz, das die Welt regiert. Es gibt auch Prozesse, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen“. Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Klett-Cotta, Stuttgart, 2005, S. 40 56 57 58 Gutes anzustreben ist nicht das Ziel, sondern der Inhalt. Der Begriff der Handlungstheorie wurde für das menschliche Verhalten unter anderem von Georg A. Miller, Eugene Galanter und Karl H. Pribram58 geprägt. Es geht darum zu verstehen, was in einem handelnden Menschen vorgeht, was ihn dazu bringt zu tun oder zu lassen, was er tut. Hier ein Versuch zu einer kurzen Darstellung: Wesentlich dabei sind neben der Selbsteinschätzung, ob man etwas tun kann oder will, auch die Einstellung und die Erfahrungen. Wenn man denkt, dass sowieso alles keinen Sinn hat, dass man sowieso nichts erreichen kann, wird man trotz oder gerade wegen der hohen Notwendigkeit den zu erwartenden Nutzen klein halten. Es könnte sein, dass man kleinlaut in der eigenen Handlung aber umso grossspuriger im Bereden der Notwendigkeit ist. Man minimiert so das Risiko des eigenen Scheiterns indem man nichts tut – was damit die Handlung ist. Natürlich ändert sich dann nichts. Aber was will man tun: Man sagt sich, dass die Unmöglichkeit grösser ist, als die Möglichkeit. Wenn man gar etwas im Sinn hat, dessen Nutzen sich nicht ausschliesslich auf einem selbst bezieht, so wird es Miller, G. A., Galanter, E., Pribram, K.H: Strategien des Handelns. Pläne und Strukturen des Verhaltens, Klett-Cotta, 1974. Argyris, C., Putnam, R., McLain Smith, D.: Action Science., Jossey-Bass, San Francisco, 1985. Fals Borda, O.; Rahman, M. A.: Action and Knowledge: Breaking the Monopoly of Power with Participatory Action-Research. Intermediate Technology Publication, London, 1991. Werbik, H.: Handlungstheorien, Kohlhammer, Stuttgart, 1978 58 59 ausserordentlich wichtig sein, ob man davon ausgeht, dass die Menschen „im Innersten gut sind“ und es sich lohnt, „Gutes zu tun“ oder ob man es besser lässt, um sich nicht potentiell lächerlich zu machen. Vielleicht kennen Sie das Gefangenendilemma59: Zwei sitzen wegen einer gemeinsam begangenen Straftat im Gefängnis. Die Höchststrafe beträgt 5 Jahre. Beide werden separat verhört ohne Gelegenheit zu bekommen, sich abzusprechen. Beide wissen: Wenn einer gesteht und den andern belastet, kommt er straffrei davon. Der andere kriegt die Höchststrafe. Wenn beide gestehen, so kommen sie mit je 4 Jahren davon. Wenn beide ableugnen, werden die Indizien trotzdem für eine Bestrafung in Höhe von je 2 Jahren ausreichen. Da die Höhe der Strafe nicht nur von der eigenen, sondern auch von der Vorgehensweise des andern abhängt, geht es darum, ob man kooperiert, ob man verantwortlich ist oder ob man nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, und dabei aber das Risiko eingeht, vom andern übervorteilt zu werden. Der Mensch ist gut, weil diese Haltung nützlich ist. Aufgrund der Analyse solcher und ähnlicher Theoreme hat John Forbes Nash60 bewiesen, dass Kooperation auf die Dauer lohnenswerter ist, als die Hochrisikostrategie des Siegens. Damit hat er mathematisch die Grundlagen eines neuen Wirtschaftssystems gelegt, das von Kooperation statt vom Wettbewerb profitiert und damit weniger risikoreich, dafür umso nachhaltiger ist. Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen eigentlich eine tierische Abart darstellen, die nach dem Prinzip fressen und gefressen werden funktionieren und die einzige Auszeichnung des Menschen ist, dass er das Ende der Nahrungskette 59 Es handelt sich um ein sogenanntes spieltheoretisches Paradoxon, das von Merrill Flood und Melvin Drescher entdeckt wurde und von Albert Tucker den Namen bekam. 60 Mathematiker, bekam 1994 den Wirtschaftsnobelpreis für die Entdeckung der regulierenden Dynamik, sog. Nash-Equilibrium. 60 darstellt, so wird man bezüglich altruistischer Handlungen eher abgeneigt sein. Ebenso gut kann man aber die Menschheit als prinzipiell des Guten würdig und ermächtigt betrachten. Handlungen, die aus dieser Einstellung heraus wachsen, sind qualitativ anders. Sie setzen voraus, dass sich gutes Tun lohnt. Sie setzen aber auch voraus, dass es für Gutes einen langen Energie-Atem braucht, der nicht schon dadurch zum Stöhnen wird, weil man doch nur den kurzfristigen Return of investment im Auge hatte. Dass Unmögliches nicht prinzipiell veranschaulicht folgende Geschichte61: unmöglich ist, „Sitzen Sie gerade an Ihrem Schreibtisch mit einer dampfenden Tasse Kaffee? Dann wünsche ich Ihnen, dass Folgendes nicht passiert: Sie stossen zufällig an die Tasse, diese fällt nach unten und zerbricht, wobei sich der Kaffee auf dem Teppichboden verteilt. So was ist ärgerlich, aber jederzeit möglich. Das kann leicht passieren und vielleicht ist es Ihnen auch schon selbst passiert. Ist Ihnen auch Folgendes schon passiert? Der heisse Kaffee auf dem Teppichboden kühlt sich plötzlich ab. Die dadurch frei werdende Energie nutzt der Kaffee, um in Richtung Tasse zu fliessen, welche sich ebenfalls abkühlt und mit dem Kaffee zusammen wieder auf den Tisch fliegt. Unmöglich, sagen Sie? Nun, energetisch gesehen keinesfalls. Gehen wir davon aus, dass sich sowohl Kaffee als auch Tasse um 70° C abkühlen, so entspricht – grob geschätzt – die dabei frei werdende Energie dem 1’000-fachen derjenigen Energie, die nötig wäre, um wieder auf den Schreibtisch zu "fliegen". Möglich wäre es also.“ Das Unmögliche ist also nicht wirklich unmöglich, sondern in diesem Beispiel nur unwahrscheinlicher. Wie unwahrscheinlich ist dies? Die Wahrscheinlichkeit einen 6er im Lotto zu erzielen, liegt bei 1:13'983’816. Trotzdem investieren viele Menschen viel 61 Sturm, G.: Warum die Tasse nicht nach oben fällt. Thermodynamik, Entropie und Qantenmechanik. quanten.de Newsletter Juli/August 2003, ISSN 16183770 61 Energie darauf, auf einen 6er zu vertrauen, als auf anderes Unwahrscheinliches oder Unmögliches. Unser Bewertungssystem hält Verschiedenes für unmöglich. So unmöglich, dass man es gar nicht versuchen würde. Anderes aber hält die Menschheit für unwahrscheinlich mit der Konsequenz, dass man es täglich versucht. Würde man das Unmögliche mit so viel Akribie und Ausdauer versuchen, wie das Unwahrscheinliche, so wäre es vielleicht wahr geworden. Die Raumfahrt, die Luftfahrt, ebenso die Alchemie hat Unmögliches erreicht. Nun gut: Man kann immer noch nur theoretisch Gold aus irgendeinem Material herstellen, aber man hat während man es unermüdlich versuchte, so viel interessante Entdeckungen gemacht, dass sich die Experimente gelohnt haben. Weshalb machen wir nicht das Gleiche auch mit unserer Menschheit und probieren aus, unermüdlich, bis wir sicher sind, dass der Mensch grundlegend gut ist. Wie viele Rückschläge hat der Alchimist, wie viele der Lottospieler weggesteckt und ist nicht vom Ziel abgewichen – gegen jede realistische Einschätzung? Diese Idee aufzugeben, weil man nicht glauben will, nenne ich die Droge Entropamin. Die Welt besteht aus süchtigen Junkies, die behaupten, dass der Mensch eine Fehlerfindung sei, die niemals in der Lage sein wird, mehr für andere zu denken und zu handeln, statt für sich selbst. Es ist die Angst, bei einer solchen Gesinnung unterzugehen und dem Andern zum Profit zu werden. Dieser Angst sagen wir Realismus. Ich sage: Entropaminsucht. Schauen Sie, was habe ich in der schieren Not gemacht, als mich der Wolf angefallen hat, während ich mit meinem Pferdeschlitten unterwegs war. Ich habe mich in wilder Fluchtfahrt gebückt, als er zum Sprung angesetzt hatte. Er flog über mich hinweg und verbiss sich wütend ins Zugpferd, das er in eilendem Galopp verzehrte, bis er schliesslich selbst im Zuggeschirr eingespannt war. So blieb ihm nichts anderes übrig, als meinen Schlitten zu ziehen. Was kann man daraus für Schlüsse ziehen? 62 Das Böse lässt sich mit seiner ganzen Kraft auch für etwas Gutes einspannen. Man muss es nicht wirklich ausrotten. Wie denn auch? Das Böse lässt sich nicht mit Bösem ausrotten. Es korrumpiert. Aber zähmen lässt es sich vielleicht – zu einem guten Zweck. Wir sind heute tatsächlich in der Lage, darauf zu schauen, was wir mit dem Entropamin geschaffen haben, so dass es uns beweist, dass etwas anderes ganz und gar unmöglich sei. Wir beweisen aber damit nichts anderes, als unsere eigene Einstellung, die zu kleinlauten Taten führt. Diese verzweifelten Taten sehen andere. Andere sehen vor allem die Einstellung, die dahinter steckt und sehen wiederum bewiesen, dass niemand anders funktionieren kann als so, dass alles schief geht, was schief gehen kann. Ist es denn wirklich der Weisheit letzter Schluss zu behaupten, nur weil einiges wahrscheinlicher ist als anderes, dass anderes unmöglich sei? Warum nehmen wir die wirklich grosse Herausforderung der heutigen Zeit nicht an? Warum lassen wir die Tassen im Schrank nicht fliegen? Entropamin! Nicht weil sie es verdient haben, sollte man Menschen lieben, sondern, damit es wirkt. An den Anfang zurück: Entropie ist Tatsache. Mit Energiezufluss wird sie verhindert. Wohin fliessen denn unsere Energien, wenn sie zur Verbesserung der Welt nicht mehr reichen? Es gibt genügend Beweise dafür, dass es auch anders geht. Sie sind in Märchen zu finden, in Lügengeschichten, in Wundern… Kinder glauben an Märchen, staunen ob Wundern. Wir sind froh, wenn sie eines Tages nicht mehr an das alles glauben, denn dann – so sagen wir – sind sie erwachsen geworden. Endlich erwachsen! – Verflucht! Entropaminsüchtig. Es gibt eine Gegendroge: Sie heisst Zuversicht, Mut und Gelassenheit. Wie schwierig es doch ist, von einer Sucht zu lassen. Ich möchte den zweiten Teil der Handlungstheorie wiederum anhand einer Grafik einleiten. 63 Wir handeln – und in Anlehnung an Watzlawick62 gilt: wir können uns nicht nicht verhalten – nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. Handeln ist ein Regelwerk, das auch darauf beruht zu schauen, was passiert ist, und dies die Grundlage der neuen Handlung darstellt. So wird Handeln rekursiv und findet in Regelkreisen – jenseits jeder Trivialität – statt. Defaitistische Menschen interpretieren sowohl ihre eigene Handlungskompetenz anders und nehmen ebenso eine andere Umwelt wahr, als jene, welche mutig, zuversichtlich und gelassen handeln aufgrund einer Annahme, dass die Welt gut sein kann und sie einen Beitrag dazu leisten. Währenddessen die einen bei Nichterfolg der Handlung bald aufgeben und entweder enttäuscht über sich oder andere sind, lassen andere das Ziel nicht aus den Augen, wenn die Handlung nicht erfolgreich ist, weil sie daran glauben, ohne einen Beweis dafür vorauszusetzen. Die einen scheitern vielleicht daran, dass sie den Glauben verlieren, andererseits aber doch den Glauben nicht aufgeben wollen, was zu einem unmöglichen Unterfangen wird, das belastet (ich kann nicht, aber ich muss – schöngeistiger Gutmensch). Sie geben nicht auf, handeln aber ständig auf der Grundlage des Misserfolgs. Bei so einer heldenhaften Winkelriediade63 kann der Heldenmut schnell 62 Watzlawick, P. et al.: Menschliche Kommunikation, Huber, Göttingen, 1990; Watzlawick schreibt dort den Satz: Der Mensch kann nicht nicht kommunizieren. 63 Winkelried ist ein eidgenössischer Held, der sich in die Speere der feindlichen Armee warf, um eine Bresche zu schlagen. Sterbend sagte er: 64 einem ausgewachsenen Burnout Platz machen. Das moderne Heldentum lebt von der Selbstdarstellung, vom Narzissmus. Wenn der Erfolg sich nicht einstellt, beginnen Zweifel zu nagen. Der Empirismus unseres Handelns spielt uns einen Streich. Genau das, was eigentlich eine Grundlage des Erfolgs wäre, nämlich, dass man Schritt für Schritt sich dem Ziel annähert, kann dann zur Katastrophe führen, wenn man unterdessen seinen Grundsätzen untreu wird, weil man zu zweifeln beginnt. Man ändert die Strategie und will beherrschen, gewinnen, bekämpfen, Recht haben, sich durchsetzen. Wer (scheinbare) Ohnmacht und (scheinbare) Wirkungslosigkeit nicht aushält, wird nie länger der Kooperationsstrategie Treue halten können. Warum? Weil die Rückmeldung über die Wirkung der Handlung uns einen Strich durch die Rechnung macht. Wir können zu heftig, zu schwach, nicht angemessen oder unpassend gehandelt haben. Dies kann man aber nie selbst wissen, weil man das Feedback der Handlungsschleife zu interpretieren gelernt hat. Das kann dazu führen, dass man zwar zielgerecht etwas in Bewegung gesetzt hat, dass man aber findet, o wenn das nur so wenig auslöst, lassen wir’s o man muss die Stärke korrigieren o ich bin unfähig o der andere will nicht o et cetera pp dass man meint, es sei gar nichts passiert, und o man lässt es o man verstärkt die Anstrengungen o et cetera pp Das alles geschieht auf der Grundlage tiefster Glaubenssätze. Ein solcher kann z. B. heissen: Die Welt meint es gut mit mir – oder eben das Gegenteil! Es ist eben gar nicht die Realität, die an unsere Sinne klopft, sondern es ist unser Innenleben, welches rumort. Sorgt für Frau und Kind. Ich nehme an, dass Winkelried Entropamin noch nicht kannte. 65 Wer zuversichtlich ist und gelassen, kann sogar die Strategie wechseln, ohne schlechte Gefühle zu bekommen. Wer aber unter Druck steht, wird exzessiv oder resignativ werden, statt kreativ. Aus solchen Prozessen kommt die verheerende Strategie des „Mehr Desselben“. Wenn etwas nichts nützt, tun wir, um die Ohnmacht zu kaschieren, mehr davon, statt etwas anderes. Solche Prozesse laufen spiralig ab. Sie wiederholen sich zeitlich gestaffelt. Man ist je nachdem in einer Glückssträhne oder in einem Teufelskreis gelandet. Andererseits - was würde wohl passieren, wenn einige wenige Menschen damit beginnen würden, eine Entzugskur zu wagen? Wie viele bräuchte es wohl, bis die kritische Masse erreicht würde und die gegenläufige Kettenreaktion in Gang käme? Übrigens: Wie viele gibt es schon davon? Entropaminabstinenzler. Vielleicht braucht es nur noch wenige, bis das Zünglein an der Waage sich bewegt… Vielleicht gibt es dann immer mehr altruide Endorphinproduzenten64. Das ist ein Mittel, das man aber ebenso wenig wird auf dem Markt kaufen können, wie das Entropamin. 64 Altruismus ist als das Gegenteil von Egoismus bekannt. Vielleicht ist es gar nicht nötig, sich selbst aufzuopfern, um altruistisch zu sein. Dann nämlich, wenn Altruismus das ist, was man tut, damit es allen gut geht, man also selbst auch davon profitiert. Endorphin ist jenes Hormon, welches der Körper herstellt, wenn man glücklich ist (oder vielleicht auch: …das das Glück herstellt, damit man es merkt). 66 Glück ist die einzige Droge, die man nicht zu kaufen braucht und die sich umso mehr vermehrt, je mehr man sie teilt. Unter dem Namen Strategeme65 wurden chinesische Lebensund Überlebenslisten bekannt gemacht. Warum sie Listen bezeichnet werden, ist mir schleierhaft, da dem Begriff List das Odium der Verwerflichkeit anhaftet. Die chinesischen Stategeme jedoch zeugen von einer tiefen Kenntnis der menschlichen Psyche und einem tief empfundenen Gerechtigkeitssinn. Man könnte sagen, dass sie nach dem Motto funktionieren: „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!“ Da sie aus Zeiten stammen, in welchen noch ethisch galt „Auge für Auge, Zahn für Zahn“, tönen sie zuweilen brutal und archaisch. Aber genau das Archaische und Grundsätzliche macht sie anpassungsfähig, menschlich und faszinierend. Die Strategeme gehorchen dem Grundsatz der äussersten Effizienz – also kleinster Einsatz bei grösster Wirkung. Sie verleiten deshalb wenig dazu, sich anstrengend überwinden zu müssen, weil es nicht funktioniert hat und es wieder und wieder zu versuchen. Insbesondere faszinierend sind die Geschichten, wenn sie nicht faktisch sondern im übertragenen Sinne (als Prozesse von Gedanken, und Gefühlen und nicht eine Abfolge von Taten) gedeutet werden. Eine der Geschichten, welche aber nur aus der Wiederholung die Wirkung holt und die doch leicht, amüsant und gerade nicht verbissen und verzweifelt wirken, ist folgende: Reichskanzler Zhuge Liang geht von der höchsten Kriegsmaxime aus, dass es besser sei, Herzen statt Städte zu erobern. In der Folge besiegte er König Menghuo mit seinem Heer siebenmal, bewirtete die Verlierer festlich, machte ihnen Geschenke und entliess die Kriegsgefangenen unbehelligt mit der Empfehlung, auf weitere Feindseligkeiten zu verzichten. Dies machte der König natürlich nicht, weil er es als Kriegslist deutete, welche eine Schwäche des Reichskanzlers überdecken soll. Zhuge Liang begegnet also den Rachegelüsten des Menghuo mit Gelassenheit und der Stärke des ethischen Grundsatzes. Er lässt sich nicht verleiten, davon abzuweichen – 65 Senger, H. v.: Strategeme, Scherz, Bern, 1996 67 umso weniger, als der so genannte Gegner sich scheinbar darauf einlässt. Erst als für den Feind offensichtlich erwiesen ist, dass Zhuge Liang keinen listigen Zwiespalt sät, sondern wirklich Barmherzigkeit und Güte meint, liess er sich erweichen und die beiden Völker lebten in Frieden. Aufgepasst: Wir ernten, was wir säen. Es braucht mehr Mut, Gutes zu säen und dabei nicht in stumpfsinnige Naivität zu verfallen. 68 69 70 (K)ein Staat zu machen66 „Das müssen ja furchtbar lustige Zustände in Europa sein. Ja – ja – ich hab's ja immer zu meiner Umgebung gesagt: Aus Europa kann noch mal was Gutes werden. ...“67 Einer der ersten Theoretiker, der sich systematisch mit Gesellschaft, also dem Zusammenleben von Menschen beschäftigte, war der Philosoph Platon. Er schrieb ein mehrbändiges Werk mit dem Titel „Politeia“, über den Staat68. Auch wenn einiges nicht mehr zeitgemäss und vor allem Grundlegendes aus heutiger Sicht geradezu grotesk anmutet, so muss man doch davon ausgehen, dass Platon die wesentlichen Elemente des menschlichen Zusammenlebens gut beschreibt und vor allem den Sinn, Ziel und Zweck eines gestalteten Zusammenlebens ins Zentrum stellt: Gerechtigkeit und Glück. Platon ist der eigentliche Erfinder der Spezialisierung. Für ein funktionierendes Zusammenleben braucht es Leute, die dafür sorgen, dass das Volk materiell versorgt wird (Bauern, Handwerker, Händler). Es braucht Leute, die die Sicherheit gewährleisten (Wächter) und es braucht Der Begriff „Staat“ wird hier im platonischen Sinn verwendet. Es handelt sich nicht um den verfassten und verbeamteten Staat, sondern um jene Elemente der Gesellschaft, welche zum Leben und Zusammenleben existentiell sind. Wenn hier im Folgenden davon gesprochen wird, was alles zum Staat gehört, geht es also nicht um die Diskussion „Mehr Freiheit, weniger Staat“ oder „Verstaatlichung“. Heute wird über Staat leider meist nur noch in dem Zusammenhang gestritten, ob er einem mehr oder weniger Geld abknöpfen darf. Der Staat verkommt zu einem Verwaltungsgebilde. Er ist keine Gemeinschaft mehr, die davon lebt, wie Menschen miteinander umgehen, einander wertschätzen und Aufgaben miteinander teilen und nicht einfach an die anonyme Verwaltung abgeben möchte. Die von Platon initiierte Spezialisierung treibt ihre Blüten: Dafür gibt es den Staat. Ich bin dafür nicht verantwortlich: Delegation des Vollumfangs der geistigen Kräfte und der Verantwortung. Ansonsten steht die platonische Philosophie dem Inhalt dieses Buchs möglicherweise diametral gegenüber. Der von Platon postulierten eindeutigen, ewigen und erkennbaren Wahrheit wird hier das kreative und dynamische Gegenkonzept der Lüge entgegen gestellt. 67 Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden. Suhrkamp, 1987, Frankfurt 68 Platon: Der Staat, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1998 66 71 Menschen, die den Staat lenken (Lehrstand). Interessant ist neben der Bedeutsamkeit, die Platon der „Wirtschaft“ (Nährstand) und dem Militär (Wehrstand) gibt, der Zusammenhang zwischen Lehrer, Philosoph, Regierendem, Kulturschaffendem und Priester, der sich in der Beschreibung des Lehrstandes zeigt. Der Staat hat die Aufgabe, vom vorhandenen „Mut“, der „Vernunft“ und der „Begierde“ (natürlich würde man dafür heute andere Begriffe verwenden), welche treibende Kräfte darstellen, Gebrauch zu machen und auf das Ziel hin zu orientieren, allenfalls zu zügeln und zu lenken. Dafür braucht es Struktur und Rollen. Wir beschäftigen uns hier nicht weiter mit Platon. Wichtig war mir jedoch Platons Grundgerüst, weil es darauf hinweist, was wichtig ist: Sicherheit, Wirtschaft, Politik, Bildung. Sie dienen alle einem Ziel: Gerechtigkeit und Glück für alle. Nicht etwa heisst es, dass der Glückliche gerecht ist, sondern der Gerechte glücklich. Es geht also um eine Verpflichtung gegenüber dem Ganzen, die einzulösen ist und nicht um eine Gnade, die einigen Ausgezeichneten zuteil wird. Von Platon und griechischen Philosophen übernehme ich für das weitere Vorgehen zweierlei: 72 Die Grundstruktur, worüber wir hier nachdenken, nämlich: Krieg, Geld, Wirtschaft, Politik, Soziale Wohlfahrt, Schule, Gesundheit, Wissenschaft, Religion, Ökologie, Ethik. Die Idee, im Dialog zu philosophieren. Ich werde jedes der folgenden Kapitel mit einer Unterhaltung zwischen einem Kind und seinen Eltern einleiten, da Kinder sich noch nicht so genau an die Konvention von Wahrheit und Lüge halten und deshalb erfrischend ungehindert das sagen, was ihr neugieriger Verstand als sinnvoll und wichtig erscheinen lässt. Die Grundidee der Dialektik, welche ebenfalls auf Platon zurückgeht. Hier wird sie allerdings in der Form einer Denkund Kommunikationsmethode angewendet, die aus der Exposition von scheinbaren Widersprüchen Erkenntnis in einer neuen Art gewinnt. Jedes Kapitel besteht aus These (Gespräch zwischen Kind und Eltern), Antithese (kritische Beleuchtung der Zustände) und schliesslich die Synthese (Erfindung der zukünftigen Möglichkeit). Die Synthese entsteht dabei nicht etwa durch die Verbindung von These und Antithese, sondern ist eine Neuschöpfung auf der Metaebene. Dahinter steckt die Idee, dass jeder Widerspruch nur scheinbar besteht und auf einer der konstruierbaren Metaebenen aufgelöst werden kann, wobei zugleich eine neue potentielle Wirklichkeit geschaffen wird. Es besteht also kein der üblichen Logik entsprechendes Verhältnis zwischen These – Antithese – Synthese. Die Synthese wird erfunden, um dem Dilemma auf einer nächsten Dimension auszuweichen und stellt damit – Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser werden es bereits ahnen – eine reine Erfindung oder eben wie hier gebräuchlicher eine Lüge dar. Ich nenne die Triade in Abänderung aber thematisch folgerichtig: Dialog, Antilog und Metalog, manchmal gar noch gefolgt von einem Epilog. So, genug der Logie. Zurück zum Anfang dieses Kapitels. Mit den heute üblichen Mitteln lassen sich die Probleme unseres Zusammenlebens zwischen Menschen und Völkern ebenso wenig lösen, wie jene zwischen Menschen und Natur. Ich glaube aber, dass der Staat eine wesentliche Struktur zu gestalten in der Lage ist, um diesen Themen eine neue Dimension der Lösbarkeit zu geben. Genauso wie der Staat ein grundsätzlich erfolgreiches Beispiel eines Bundes zwischen Menschen ist, kann dies natürlich ebenso auf der höheren Ebene der Staatenbündnisse angewendet werden. Ebenso kann ein Bündnis geschlossen werden zwischen Menschen und der Natur, welche ja den wahrhaftigen Nährstand darstellt. Mit der Anwendung der neuen Form der Dialektik soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Zukunft nichts mit einer empirisch-wissenschaftlichen Fortführung der Vergangenheit zu tun hat, sondern immer eine Neuerfindung ist. Lösen wir uns also aus den Fesseln der Empirie, der Sachzwänge und des Opportunismus und beginnen wir zu träumen. Lügen soll wieder gestattet sein. Glauben Sie also nicht jenen, die unabhängig von der Wünschbarkeit daran festhalten, dass die Zukunft eine Art lineare Fortsetzung der Vergangenheit sein müsse. Glauben Sie 73 also nicht jenen, die behaupten, dass dies sogar genetisch festgelegt, ethologisch bewiesen, naturgesetzlich und damit schicksalshaft festgelegt sei – in Stein gemeisselt für immer und ewig. Glauben Sie also nicht jenen, die die Lösung der Probleme darin sehen, das fortzuführen, was sich schon in der Vergangenheit nicht bewährt hat: Verbreiterung der Strassen, Teuerung, Wachstum, politische Polarisierung, Individualisierung, Aufrüstung, Klassengesellschaft, Staat als soziale Hängematte, Religion als Opium für das Volk (wenn es wenigsten nur das noch wäre), Reichtum als Gnade69 und schliesslich Ausbeutung der Lebensgrundlage bis zur Selbstzerstörung. Dafür, um diese Probleme lösbar zu machen, brauchen wir zweierlei: Die Frechheit eines gemiedenen Sonderlings, der als Lügenbaron desavouiert wurde: Er behauptete nämlich, dass es ohne weiteres möglich sei, sich am eigenen Schopf zum Dreck hinauszuziehen... Halt, ich bin es. Ich stehe vor Ihnen. Ich bin der leibhaftige Beweis, dass es möglich ist – sonst könnte ich nicht mit Ihnen plaudern. Ich wäre elendiglich im eigenen Sumpf ersoffen. So gerettet durch die beherzte Tat aber behaupte ich, dass es sogar möglich ist, sich am eigenen Schopf zum Dreck herauszuziehen, sodass der Dreck gleich mitkommt. Probleme sind Erfindungen von Menschen, die keine Lösungen parat haben. 69 Eine Struktur, die sich bewährt hat, Ideen zu verbreiten und sie umzusetzen: die Staaten mit ihren Grundverpflichtungen zum Schutz, zur Freiheit, zur Gerechtigkeit, zur Geschwisterlichkeit und zur Gleichheit. Sie hat sich deshalb bewährt, weil sie sich als wandlungsund anpassungsfähig gezeigt hat. Dies hat sie erreicht durch Gewaltentrennung in Bereiche wie Legislative (Erfindung der Rahmenbedingungen), Exekutive (Umsetzung, Verwaltung) und Judikative ...wie das scheinbar vom Calvinismus vertreten wird 74 (Beurteilung, Rechtssprechung) sowie die Bereiche des Zusammenlebens wie Produktion – Handel, Bildung – Wissenschaft, Religion – Kultur sowie des Sozial-, Arbeitsund Gesundheitswesens und des Naturund Bevölkerungsschutzes. Diese dienen der materiellen und geistigen Existenzsicherung und Entwicklung, insofern sie so zusammenzuspielen in der Lage sind, dass dialektische Metaebenen aufgebaut, erfunden und deren gewonnenen Erkenntnisse verwirklicht werden können. Unsere Gesellschaft ist ein komplexes System, das auf das Zusammenspiel verschiedener Teilsysteme angewiesen ist, die verschiedene gleichwertige, wichtige Funktionen wahrnehmen: Staat, Politik (Abstimmen, Ausgleichen), Bildung, Wissenschaft (Entwickeln), Wirtschaft (Versorgen, Ernähren), Religion, Ethik, Recht (Ausrichten, Aufrichten), Kultur, Kunst (Anregen, Musse)70. Dies passiert verschieden, gemäss unterschiedlicher Tradition und Entwicklung. Die Teilsysteme stehen in regem Austausch miteinander und zwar innerhalb und zwischen den Ländern. Eine bildhafte Darstellung könnte so aussehen71: 70 Wenn es darum ginge, das Sozial- und Gesundheitssystem als auch die Medien zuzuordnen, so würde ich meinen, dass diese eigentlich Zwischensysteme darstellen oder die Teilsysteme verknüpfen. Die Verantwortung darüber liegt nicht nur bei einem Teilsystem. Das Sozialsystem, das die Fürsorge, die Altersversorgung und die Gesundheit umfasst, gehört letztlich am ehesten in den Bereich Ethik; die Medien am ehesten in den Bereich Kultur, welcher anregt. Es kann nicht darum gehen, ein unabhängiges System aufzuziehen, welches ermöglicht, dass alle andern Teilsysteme diesem die volle und alleinige Verantwortung anlasten. Gesundheit, Soziales sollten weder verwaltet noch verkauft werden. Es geht um Aufmerksamkeit und Steuerung. Die Medien funktionieren nach Gesetzen der Wirtschaft, haben aber Elemente des ethischen und des kulturellen Teilelements in sich. 71 Die geografische Positionierung der einzelnen Elemente ist zufällig und hat keine Bedeutung. 75 Mit der Zukunft verhält es sich wie mit einem Streichholz, das angezündet72 wird oder unangezündet bleibt. In beiden Fällen jedoch wissen wir, wenn wir ein Zündholz in unseren Gedanken haben, dass es einen finalen Zweck hat, nämlich angezündet zu werden und zu brennen, ja anderes anzuzünden, damit es brennt. Wir reiben ein Zündholz an der Reibfläche der Zündholzschachtel, weil wir Zukunft gestalten, weil wir wissen, dass wir es können und das Zündholz uns dabei hilft. Wir würden nicht an uns zweifeln, wenn wir ein Zündholz nicht durch Reiben an der Zündholzschachtel zum Aufflammen bringen würden und in Zukunft die Finger davon lassen, enttäuscht über unsere eigene Unfähigkeit, sondern wir würden das Versagen unserem Werkzeug zuschreiben – und einfach ein neues nehmen, bis es zündet. So sehr glauben wir an unsere zukunftsgestaltenden Kräfte, dass wir ein Zündholz reiben, weil wir zu wissen glauben, dass es durch unsere Kräfte brennen wird. 72 Wie ein angezündetes Streichholz die Welt verändert, hat anschaulich der berndeutsche Liedermacher Mani Matter in seinem Lied „I han es Zündhölzli aazündt“ (ich habe ein Streichholz angezündet.). Es kommt allerdings immer darauf an, wozu und wofür... 76 „In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir frei, auf die Zukunft hin zu handeln, die wir uns wünschen. Mit anderen Worten, die Zukunft wird so sein, wie wir sie sehen und erstreben. Dies kann nur für diejenigen ein Schock sein, die ihr Denken von dem Prinzip leiten lassen, dass für die Zukunft nur die Regeln gelten sollen, die in der Vergangenheit befolgt wurden“.73 Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. (Pierre Laplace (1749 – 1827), Mathematiker) Nun, nach all der Vorrede, so höret, was ich erfahrener Kriegsherr, Diplomat, Globetrotter, Geschichtenerzähler, Staatsmann und Edler euch aus meinem gesammelten Fundus der letzten paar hundert Jahre in meiner Versenkung für die nächsten paar hundert Jahre zu erzählen habe. Da alle Themen zwar nicht hoffnungslos, aber wenig humorig sind, wird für manchen Leser das Folgende zur ernsthaften Tortur werden. Halt eben wenig lustig. Ich persönlich finde auch, dass die Lust nicht dem Lesen gehören soll, sondern dem Tun, dem daraus folgenden Verwirklichen der utopischen Zukunft. Wer es fassen kann, der fasse es. 73 Die Geschichte mit dem Streichholz und das anschliessende Zitat als Fazit daraus, verdanke ich Heinz von Foerster. Foerster, H.v.: Zukunft der Wahrnehmung, Wahrnehmung der Zukunft, in: Foerster, H.v.: Wissen und Gewissen, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993 77 78 79 Krieg „funzt“ 74 nicht mehr Ich will eine Welt ohne Kriege!75 Dialog: „Papa, warum machen Menschen Kriege?“ Papa: „Tiere bringen sich auch um.“ Kind: „Du sagst aber immer, wir sollten nicht tun wie die Tiere. – Papa, warum bringen die Menschen sich um?“ Papa: „Die Menschen möchten das Böse ausrotten, deshalb kriegen sie. Die Menschen, die im Krieg sterben, setzen sich für eine gute Sache ein und sind Helden.“ Kind: „Aber Papa, kann man denn das Böse ausrotten, wenn man selbst Menschen umbringt? Du sagst doch auch immer, wenn ich will, dass meine Schwester zu mir lieb ist, muss ich auch zu ihr lieb sein.“ Papa: „Ja, aber deine Schwester ist nicht böse. Sie tut nur manchmal so.“ Kind: „Wenn ich mich ärgere über sie, sehe ich aber keinen Unterschied. Für mich ist sie dann böse. Ich könnte sie dafür schlagen und wenn ich stärker wäre, umbringen. Aber ich möchte das nicht tun. Sie ist meine Schwester.“ Papa: „Du hast recht. Wir sollten uns vielmehr darüber Gedanken machen, wie wir Kriege vermeiden.“ Kind: „Irgendwie sind doch alle wie ich und meine Schwester, oder?“ Papa: „Dann wären Kriege überflüssig.“ Antilog: Krieg ist eine Wahrheit, welche uns weismachen möchte, dass mit roher Gewalt, der Gewalt zu trotzen ist, dass siegt, wer stärker ist. – Wie war denn das mit David und Goliath? Wer siegte wohl in der Vergangenheit? Diese Lüge, dass der Schwächere, der weniger Ausgerüstete, nicht verloren ist, lässt sich offensichtlich nicht ausrotten. Aber geglaubt wird sie eigentlich nicht. „Kanakisch“ (ursprgl. hawaiianisch bzw. polynesisch Kanake für Mensch; heute Bezeichnung für Multikulti – Jugendslang) für „funktioniert“, etwas despektierlich 75 Gruen, A.: "Ich will eine Welt ohne Kriege", Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 74 80 Um Wahrheit zu erzwingen, werden todbringende Kriege geführt. Lügen verbreiten sich, erobern Herzen und lassen schmunzeln. Die Folge ist, dass, wer Bedrohung ortet, mit Krieg antworten möchte, um die (vermeintliche) Bedrohung aus der Welt zu schaffen. Der Krieg, der daraus entsteht, kann manchmal die grössere Ursache des Schadens sein, als es die ursprüngliche Bedrohung darstellte76. Krieg wird in Gang gesetzt, um „höhere Interessen“ mächtig zu vertreten. Dabei ist es aber möglich, dass gerade diejenigen Interessen, welche vertreten werden sollen, aus Sicht jener, die bekriegt werden, mit Füssen getreten werden. Ein Beispiel dafür, dass die Mittel den Zweck nicht unbedingt heiligen müssen. Oder wie war das noch: Heiligt der Zweck die Mittel oder die Mittel den Zweck? Die Logik: Wenn du Frieden willst, mache Krieg, die 2000 Jahre alt ist, scheint nun doch etwas angefault zu sein. Warum könnten wir das alternde Paradigma nicht ersetzen durch die weisse Lüge: Wenn du Frieden willst, mache Frieden? Eigentlich sollte der Friede heilig sein, nicht der Krieg. Kriegerisches Denken hat in der heutigen Zeit keine Chance mehr. Sie wissen es vielleicht nicht, aber ich habe damals, als die Kubakrise sich zuspitzte, den beiden mächtigsten Herren der Welt, Chruschtschow und Kennedy, meine Gegenlügen aufgetischt: „Sie werden diesen Krieg nicht gewinnen, genauso wenig, wie Sie jeden Krieg gewinnen können, aber diesen erst recht nicht.“ Ich habe sie daran erinnert, dass ich damals aus lauter Abenteuerlust auf der Kugel über das Kriegsfeld geflogen bin, um mir aus der Adlerperspektive Übersicht zu verschaffen. Gott sei Dank kam mir – allerdings erst im Flug – der Gedanke, dass ich so nicht auf dem gegnerischen Feld landen konnte. So stellte ich mir kurz entschlossen ein Rückflugticket aus, indem ich auf eine gegnerische Kanonenkugel hüpfte und so die Möglichkeit hatte, meine Weitsicht unseren Leuten zum Besten 76 Pausewang, G: Die letzten Kinder von Schewenborn, Maier, Ravensburg, 1983; Birckenbach, H.-M.; Sure, Ch.: Warum haben Sie eigentlich Streit miteinander?, Leske + Budrich, Opladen 1988 81 zu geben. Was mir bei diesem Flug klar wurde: Krieg macht nur aus der Froschperspektive Sinn. Aus der grossen Übersicht über Gesamtzusammenhänge und –wirkungen beginnt man zu zweifeln. Die Kubakrise ist aufgrund meiner Assistenz beigelegt worden. Es braucht keinen gescheiten Mann. Die gleichen Ratschläge hätte auch Till Eulenspiegel erteilt. Es braucht nur eine gewisse Weitsicht, die darin besteht, dass Krieg nicht geführt werden kann, sondern dass Krieg eine unbeherrschbare Eigendynamik in Gang setzt, welche nicht zu zähmen ist. Deshalb ist es leichter, Kriege zu beginnen, als sie zu beenden. Manche bezeichnen einen andern als Schweinehund, aber kaum einer kann den eignen überwinden. Krieg beruht meist auf Zusammenhängen, welche auf Wut, Enttäuschung, Missachtung, Missverständnissen aufbauen. Sie sind es, welche das Gerechtigkeitsempfinden entarten lassen, so, dass jeder Krieg zum gerechten Krieg wird. Möglicherweise würde da eine kleine Portion Lautverschiebung bereits helfen zu erkennen, dass es sich nicht um einen gerechten, sondern um einen gerächten Krieg handelt. Vietnam konnte nicht gewonnen werden, weil die eine Seite einen Befreiungskrieg erklären wollte, die andere Seite aber gar nicht befreit werden wollte. Die Sache wurde lediglich dadurch komplizierter, dass sich eine fremde Macht in einen Bürgerkrieg einschaltete – und damit unbeherrschbar. Der zweite Weltkrieg war ein Versuch der Deutschen, endlich ihrem Unmut Luft machen zu können über die Demütigung durch die Versailler Verträge, die Hitler, welcher ganz andere Ziele verfolgte, dazu benützte, um das Volk zu verhetzen. Den dritten Weltkrieg gab es bisher deshalb von Deutschland aus nicht, weil es mit dem Marshallplan gelungen war, den Deutschen ihr Selbstbewusstsein wieder zurückzugeben und dem deutschen Volk verziehen wurde, dass es einem schlechten Führer Folge leistete und mit der Zeit auch kaum mehr wusste, wie es anders konnte. 82 Der Krieg der Serben im Balkan weist ebenfalls deutliche Zeichen eines gebrochenen Stolzes eines Volkes aus, welches immer wieder gedemütigt wurde, das deshalb zur Macht und zum Schwert griff, weil es glaubte ein „Führer“, ein Krieg könnte ihnen diesen zurückerobern. Es ist schwierig, mit dieser Geschichte aufzeigen zu können, welches Ursache und Wirkung war. Huhn und Ei lassen grüssen. Durch Tito wurde dies mit starker Hand während Jahren verhindert. Durch das Warten auf Befreiung wurden aber die entarteten Machtgelüste nur noch gesteigert. Das Ende der Gewalt wird nicht durch Gewalt erreicht.77 Zudem – und das ist neu, ging es früher um Machtgelüste, die vielleicht religiös verbrämt oder aufgeladen wurden. Heute geht es absurderweise vielmehr darum, welche Gene überlegen sind78. Die Zusammengehörigkeit wird nicht über die Kategorie „Mensch“ hergestellt. Dies ist insofern gefährlich, als diese Komponente wiederum geeignet ist, abzulenken von den wirklichen Lebensbedingungen. Die „Menschlichkeit“ zerfällt. Geht es dem ganzen Volk schlecht, so kann daraus ein Bürgerkrieg entstehen (z. B. Ruanda), wenn man sich als unterschiedliche Volksgruppen definiert. Statt das Elend gemeinsam anzugehen, will man die andere Volksgruppe auslöschen. Unterschwellig zumindest könnten solche Motive auch eine Rolle bei den sogenannten „Befreiungskriegen“ spielen. Genetik und Rasse eignen sicht scheinbar als Handlungsbegründung, ohne über andere Formen von Verantwortung und Zusammengehörigkeit nachdenken zu müssen. Ich halte dies für hoch brisant. Gefährlich, da es scheinbar eine sachliche Legitimation für Unterscheidungen 77 Saner, H.: Das Ende der Gewalt wird nicht durch Gewalt erreicht. In: Burgherr, S.; Chambre, S.; Iranbomy, S.: Jugend und Gewalt, Rex, Luzern, 2001. S. 105ff. 78 Chirot, D.; Seligman, M. E. P. (Hg.): Ethnopolitical Warfare. Causes, Consequences and Possible Solutions. American Psychological Association (APA), Washington, 2001 83 zwischen Freund und Feind, unterlegen – überlegen, böse und gut herstellt. Lassen Sie mich dies sagen: Ich verabscheue Krieg zutiefst und jedes Menschenleben, das geopfert wird, ist sinnlos geflossenes Blut – egal wer, wo und warum den ersten Schuss abgegeben hat, aber genau diese Interpunktion der Ereignisse79 stellt das Problem dar. Selten sind sich die Kriegsparteien darüber einig, sonst würde man eben andere Lösungen finden, die das Problem nicht der Schicksalsfrage ausliefern. Es würde nicht gelten, dass wer die bessere Tötungsmaschinerie hätte, letztendlich Recht bekomme. Da sind wir wieder bei der Wahrheit und beim Recht haben gelandet. Ich glaube, dass die Wahrheit mit „Recht haben“ und „sich Recht verschaffen“ (im gewalttätigen Sinne) nicht gefangen werden kann, ausser man betrachtet Wahrheit als etwas, was man sich wie Schmetterlinge mit dem Netz fangen, töten und in die Sammlung einverleiben kann. Wir hatten einen Krieg im Römischen Reich, der durch erfolgreiches Hinhalten des Feldherren Fabius Maximus Cunctator, der Zauderer, gewonnen wurde. Heute ist mehr Zuschlagen angesagt, man muss Stärke auch noch ausspielen, wenn man sie hat. Häufig gäbe es vor Kriegen genug Unkenrufe, aber man fürchtet, feige genannt zu werden, wenn man jetzt die vernichtende Maschine nicht in Gang setzt. Logik des Krieges. Es ist ein Lemmingphänomen. Auf ins Verderben – und erst noch mit wehenden Fahnen. Der Sieg winkt. Die Chancen stehen 50 %. Wagen wir es! – Gibt es denn so wenig Alternativen? 79 Das Konzept Interpunktion ist ein konstruktivistisches Konzept, das erklärt, warum bei der Suche nach Ursachen in sozialen, psychischen und politischen Zusammenhängen meist kein objektiver Tatbestand möglich ist, sondern nur subjektive Betrachtungen. Aus der einen Sicht ist dies die Ursache, aus der anderen Sicht jenes. Es kommt darauf an, wo man die Ursache setzt, bzw. wo der neue Satz beginnt – eben nach dem Punkt des letzten. Kinder machen dies gerne: „Du hast begonnen! – Nein, du hast damit angefangen!“ Was war nun Aktion und was Reaktion? Eine Interpunktionsfrage. Wie bereits im Erziehungsverhalten unkontrollierbare Eskalation vermittelt und gelernt werden kann, zeigt das so genannte „Coercion Modell“ (Patterson, G.R.: Coercive Family Process, Castilia, Eugene, 1982). 84 Krieg vernichtet Bruttoinlandprodukt (BIP)80 bei höchster Betriebsamkeit und geringster Arbeitslosigkeit – notabene, das des Angreifers und des Angegriffenen. Aber was ist, wenn man Krieg gewinnt? Das aktuellste Beispiel81 möchte ich nicht aufführen, nur erwähnen, dass es schon einmal einen gab, der früher sich gewünscht hätte, er hätte verloren, bzw. gar nicht angefangen: Es war Pyrrhus. Nach dem „Sieg“ über die Römer um 280 v. Chr. soll er zu seinen Getreuen gesagt haben: „Noch so ein Sieg und wir sind zerstört.“ Er schloss danach Frieden mit den Römern, hatte aber die Lektion nicht wirklich gelernt. Er wurde später von den Römern besiegt. Als er geschlagen in sein Heimatland zurückging, fand er es in ruiniertem Zustand vor, denn er hatte sich um den Krieg und nicht um sein Land gekümmert. Man kann kaum sagen, welches die grösseren Niederlagen waren, jene an der so genannten Heimatfront oder… Terrorismus gab es schon immer, weil unsere Zivilisation ihn fördert.82 Ich hatte vorhin erläutert, dass man echte Wahrheiten nicht aus vergangenen Fakten findet. Man muss sie schon selbst mühsam erfinden, wenn sie etwas taugen sollten. Sollen einem wirklich solche Geschichten glauben machen, dass der Mensch nicht anders könne, dass das alles in seinem Konstruktionsplan sei? Da glaube ich lieber freimütig an die Lüge, dass der Mensch sehr wohl anders kann, dass er gar anders muss, um der menschlichen Natur gerecht zu werden. Mir ist es gleich, wenn Sie mich sogleich wiederum einen Fantasten und Lügenbaron nennen. Die Geschichte lehrt uns schon, nur müssen wir nützliche Schlüsse daraus ziehen und nicht sich dem realpolitischen Schluss hingeben, dass Geschichte sich sowieso immerzu wiederholt. Ich nehme an, dass es nicht deshalb immer neue Generationen gibt, sondern, weil ihnen neue Möglichkeiten 80 Ich meine das wahre, das Wertschöpfung misst, nicht das realexistierende. Zur Kritik des Bruttosozialproduktes u. a. auch: Rifkin, J.: Der Europäische Traum. Campus, Frankfurt/M, 2004, S. 85ff 81 Irak 82 Gruen, A.: Der Kampf um die Demokratie, Dtv, München, 2004, S. 88 85 offen stehen würden, sonst könnte man ja fraglos auch die Geschichte beenden, denn sie hat nichts mehr Neues und braucht uns alle nicht. Sie kann sich auf ewig selbst reproduzieren. Aber einen Sinn würde ich darin nicht wirklich sehen. Da lüge ich mir lieber schönste und optimistischste Zukunftsbilder. Naher Osten: Soeben ist wieder eine Bombe explodiert. Krieg. Ein Selbstmordattentäter. Zweiundzwanzig Todesopfer. Alltag. Nächster Tag. Vergeltungsschlag auf ein Haus, in welchem Terroristen vermutet werden. Schrecken. Bilder von Begräbniszug und Gegenbegräbniszug. Seit Jahrzehnten. Worum geht es: Ums Lebensrecht zweier Völker, das eine einoder heimgewandert aus dem 2000-jährigen Exil, das andere heimisch seit mehr als 2000 Jahren, bekriegen sich nach wie vor, obwohl mittlerweile niemand mehr, auch die Kriegsparteien nicht, das Lebensrecht des andern Volkes im hier und jetzt in Frage stellt. Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit wäre ohne die ständigen Toten möglicherweise leichter zu ertragen. Vielleicht würden sich Hass und Rache sogar legen, aber wer legt zuerst die Waffen nieder? Nach altem Recht hat derjenige verloren, welcher die Waffen streckt. Noch brisanter: Das eine Volk strotzt vor Kraft, Macht, Reichtum. Das andere Land Armut, Trockenheit, Landwirtschaft. Nur Lebensrecht! Warum??? Glaubt mir: Hier ist eine Lüge angezeigt: Man kann diesen Konflikt lösen, gemeinsam, indem man gestaltet, statt Vergeltung zu üben. Verzeiht, wenn jemand noch nicht bereit ist für den Frieden oder nicht weiss, wie damit umzugehen ist. Man muss den Feind nicht gerade lieben – aber es vereinfacht die Sache ungemein, wenn man ihm Respekt und Verständnis entgegenbringt. Vor allem und gerade in einer so verfahrenen Situation. Ich mache euch einen Vorschlag. Ich war mal auf dem Mond. Es ist ganz leicht. Dort gibt es Menschen, die leben den Kopf getrennt vom Körper. Vielleicht macht’s dies leichter. Dort könnte vielleicht noch ein Schlachtfeld übrig sein, um die letzten Messer stumpf zu schlagen. Wölfe, wollt ihr ewig heulen? 86 Welche Lektion hat ein Volk zu lernen. Verfolgung und Unterdrückung dauern nicht ewig. Aber wenn sie beendet werden sollen, ist es einfacher, dass man sich daran erinnert, wie es war, als man unterdrückt und verfolgt war. Man könnte Rollen sehen, man könnte Reaktionen zuordnen, man könnte Muster finden. Klar haben wir Christen gemeint, dass Juden Feinde unseres Gottes seien. Klar haben wir damals Kreuzzüge im Namen Gottes gefochten. Klar gibt es eine Gruppe islamische Gläubige, die mit Holterdipolter verkünden, dass es auch heute noch einen heiligen Krieg gibt, aber müssen wir dieses Kriegsangebot eingehen? Und klar macht uns westlichen Ländern das Angst. Aber gibt es keine andern Lösungen, um Angst zu haben, als zuzuschlagen83 oder zurückzuschlagen? Führt das nicht dazu, dass die gleiche Radikalisierung der Religion sich auch unter christlichen Fundamentalisten breit macht und dass wieder gewaltig Recht geschaffen wird, wo weisse Lügen neue Möglichkeiten bieten würden. Liebe deine Feinde, denn sie zeigen dir deine Fehler. Ich habe früher im jugendlichen Übermut genug Kriegsherr gespielt, mit dem damals üblichen Abenteuergeist. Ich muss gestehen, ich bin reifer geworden. Die Kriegslust ist mir vergangen. Deshalb möchte ich mich auch nicht weiter in taktische Manöver und Manöverkritik einlassen, sondern Alternativen zu Krieg erfinden. Liebe deine Feinde, denn du entziehst Wut, Hass und Hinterlist ihre Berechtigung. Nur eines noch dazu: Wer einen Krieg beginnen kann, kann ihn nicht automatisch beenden. Für Krieg braucht es Generäle, für die Friedenskonversion jedoch Friedenspfeifen. Eines jedoch bleibt gleich: Die Antizipation der Reaktion und die Grösse zu wissen, dass man im Krieg sät, was man anschliessend erntet. 83 Lapide, P.: Wie liebt man seine Feinde?, Grünewald, Mainz, 1984 87 Das ist das Gebot der Stärke, welche im Krieg zelebriert wird. Wer die Reaktion dem „Gegner“ zuschreibt, hat schon verloren. Dies gilt noch vielmehr in der Beendigung des Kriegs. Am „einfachsten“ ist, wenn man einen Unterlegenen hat. Der muss sich fügen, wohl oder übel. Wenn aber Krieg einfach weitergeht, weil Unzufriedene neue Störmanöver, Anschläge und Sabotage durchführen, muss man in der Lage sein, Ursache und Wirkung als Kriegsmacht auf sich zu beziehen, damit man ein Ende findet. Je mehr man nämlich die Unterlegenen bekämpft, umso ungebrochener wirkt der Widerstand. Es ist ziemlich traurig zu sehen, wie ungebrochen dass der Glaube an den Krieg als endgültige Machtlösung ist – und zugleich, wie wenig es gelingt, Kriege zu beenden. Vielleicht ist die Zeit der Kriege beendet. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Waffengewalt und Menschenmenge (Heer) ein Mittel ist, Menschen davor zu bewahren, sich die Köpfe einzuschlagen. Dies dürfte aber nicht in eigenem Interesse und eigenem Auftrag geschehen und vor allem nur so, dass Waffen lediglich zur Durchsetzung dienen, aber nicht zur Anwendung gelangen. Die erste Lüge. Die zukünftige Welt wird ohne Krieg existieren. Sie werden staunen, das geht. Es gibt ebenso taugliche Mittel zur Vertretung der Interessen, zum Schutz des eigenen Guts, der eigenen Werte und der Würde, die ohne Tötungsmaschine gleiche Ziele erreichen. Sie sind nicht einfach. Aber Krieg zu führen und ihn zu gewinnen ist meines Erachtens ein grösseres Risiko. Das alles hat System. Das alles hat Hand und Fuss und ist mehr als Gesundbeterei. Es nennt sich „soziale Verteidigung“. Ich hab’ das nicht selbst erfunden, nur geklaut.84 Ich stelle es aber dar, als ob ich jetzt der Friedensheld wäre. Das möge man mir verzeihen. 84 Ebert, Th; Senghaas, D.; Steinweg, R.: Soziale Verteidigung, Haag, 2000 Johan Galtung: Friede mit friedlichen Mitteln, Leske und Budrich, Opladen 1998; Alinsky, S. D.: Anleitung zum Mächtigsein, Lamuv, Bornheim 1984; Stadtmann, U. et al.: Soziale Verteidigung, Internationaler Versöhnungsbund, Münster, 1987 88 Ich werde liebend gerne aufzeigen, dass die Strategie der sozialen Verteidigung ebenso tauglich ist, wie die Strategie des Kriegs. Auch sie ist nicht ohne Risiken und Gefahren, sie sind aber deutlich minimiert. Einige Prinzipien sind in Kriegsstrategien Kriegsvermeidungsstrategien gleich: wie in Man muss die Bedrohung analysieren. Man muss den „Feind“ verstehen. Man muss in der Lage sein, die gegnerische Partei zu Reaktionen zu veranlassen und auf diese vorbereitet sein. Man muss selbstbewusst auftreten. Man muss Recht und Gerechtigkeit schaffen! Nur bei der Kriegsstrategie wird mit diesen Prinzipien völlig anders umgegangen, als in der Friedensstrategie. Die Friedensstrategie nimmt nicht die Unterwerfung des Feindes ins Hauptblickfeld, sondern die Überwindung des Konflikts. Die soziale Verteidigung muss ebenso organisiert werden, wie eine Armee im Einsatz. Nur stellen alle Betroffenen die Armee dar und nicht nur eine geschulte Auswahl von Zivilisten, die durch eine Uniform nicht mehr als Zivilisten gelten. Es wird davon ausgegangen, dass mächtige Einflussnahme auch ohne Waffengewalt möglich ist. Da man darauf verzichtet Menschen zu töten oder zu verletzen, ist auch anzunehmen, dass in den eigenen Reihen das Verletztwerden und Getötetwerden in Grenzen gehalten werden kann. Auch in der sozialen oder zivilen Verteidigung hat man es mit einem Aggressor oder einer Macht zu tun, welche eine Gruppe, ein Volk oder ein Land unter die eigene Verfügungsgewalt bringen möchte. Dem steht man aber mit Mut, mit Offenheit, mit List, Lust und Selbstvertrauen gegenüber. Da man auf die Anwendung von militärischer Gewalt (bewaffnete Truppen) verzichtet, rechnet man damit, dass offene Gewalt von der Gegenpartei entsprechend weniger ausgeübt wird. Es gibt verschiedene praktische Widerstandsund Verhandlungsmethoden, die man aus der Geschichte lesen 89 kann oder aus der entsprechenden Literatur, die bewährt und erfolgreich sind. Obwohl viele Erfahrungen bestehen, ist bis jetzt noch kein Land dazu übergegangen, auf solche Strategien seine Verteidigung und ein Sicherheitskonzept aufzubauen. Offensichtlich traut man der alten Wahrheit „Si vis pacem para bellum“ aus Traditionsgründen immer noch mehr als „Wenn du Frieden willst, schaffe Frieden“ oder „Wenn du Recht willst, verbreite Recht“ oder „Wer Blut sät, wird Blut ernten“. Die Idee dahinter scheint zu sein: Nur ein toter Feind, ist ein guter Feind. Mir scheint dies ein bisschen gar heftig angstgeprägt und wenig selbstbewusst und veränderungsorientiert zu sein. Steckt denn dahinter die genetische Prämisse, dass der „Mensch des Menschen Wolf ist“ und es deshalb so sein muss und immer so bleibt? Mein passendes Lügenangebot wäre: Was früher richtig war, muss in der Zukunft nicht zwingend gleich gut funktionieren – und kann unter Umständen früher schon überholt gewesen sein. Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann. Mir geht es, wenn ich die zivilen Verteidigungs- und Handlungsstrategien darlege, nicht in erster Linie um eine radikale pazifistische Haltung, sondern darum aufzuzeigen, dass die alten Muster immer weniger funktionieren. Früher standen todesmutige Heere einander auf freiem Feld gegenüber und metzelten so lange, bis ein Sieger und ein Besiegter feststanden. Nur wer kämpfen wollte oder musste, war auch vom Kampf direkt betroffen. Was auf dem Feld erkämpft wurde, legitimierte anschliessend die Herrschaft über das besiegte Volk. So erkämpfte man auch nach Belieben Territorien. Später waren es dann in erster Linie maschinelle, technische Verfahren, die immer stärkere Feuerkraft zur Folge hatten. Dies führte in stärkerem Masse dazu, dass nicht mehr nur Armee gegen Armee kämpften, denn das Schlachtfeld war überall und die Waffen reichten weit. Die zivile Bevölkerung wurde zum Teil 90 des Krieges. Kollateralschäden – wie man, so glaube ich, euphemistisch sagt – wurden bewusst eingeplant oder zumindest in Kauf genommen. Dann kam die Weiterentwicklung, welche schon fast im Zusammenhang mit der Kriegsmaschinerie vernünftig schien. Man brauchte die immer stärker werdenden Waffen nicht mehr in erster Linie zur Anwendung, sondern lediglich zur Abschreckung – atomare Aufrüstung, kalter Krieg sind die Stichworte. Das „ging gut“ solange zwei Staaten in gegenseitiger hegemonischer Feindschaft den ungefähr gleichen Kodex predigten, entartete aber, sobald diese apokalyptischen Waffen von jederman zu bauen waren. Das Gleichgewicht der Kräfte war aus dem Ruder geraten. Zuletzt entwickelte man den Kleinkrieg, welcher bereits ein Vorläufer des Terrorismus war. Er nennt sich Guerilla. Keine organisierte Grossarmee, sondern kleine mobile Gruppen. Das führte dazu, dass nicht mehr klar war, wer siegt und wer verliert. Die Zermürbung wurde zum Prinzip. Der Krieg hat noch eine Weiterentwicklung erfahren – den Terrorismus. Er ist zur Waffe der Ohnmächtigen geworden. Er ist die Folge von Ungerechtigkeit in der Welt. Neueste Kriege nun können offensichtlich wieder mit hochtechnisierten Mitteln gewonnen und ausgefochten werden, sie können aber nicht mehr beendet werden, da der Krieg immer die Zivilbevölkerung mit einbezieht, ob sie nun Opfer im körperlichen Sinn oder im psychischen Sinn ist, macht keinen Unterschied. Die Zivilbevölkerung will zu ihrem Recht, ihrer Verbesserung, zu ihrer Erleichterung kommen und fordert das auch ein – wenn nötig ebenfalls mit Waffengewalt, Sabotage oder Anschlägen, so genannten Terrorakten. Da es aber die einige und einheitlich gleich gesinnte Bevölkerung in der Postmoderne nicht mehr gibt, sondern nur noch Gruppierungen, einzelne Interessenvertretungen, hat man keinen Partner, sondern nur noch Chaos, in welchem man selbst als Kriegsgewinnler zu versinken droht. 91 Die Strategie Krieg funktioniert nicht mehr!85 Das sollten nicht nur Pazifisten bejahen können, sondern auch und gerade Armeefunktionäre langsam merken. Lieber Lügen, für die es sich zu leben, als Wahrheiten, für die es sich zu sterben lohnt. Es gibt bessere Mittel, um ein bisschen mehr Recht und Gerechtigkeit, ein bisschen mehr Souveränität und Unabhängigkeit, ein bisschen mehr Wohlstand und Wohlsein herzustellen. Es braucht nur ein bisschen Mut, der darin besteht, das Alte kritisch zu beleuchten und die zukünftige Strategien nicht aus der Weiterführung des Alten abzuleiten. Es gibt keine Veränderung, wenn man davon ausgeht, dass die Welt sich in den zwei Sätzen: „das haben wir schon immer so gemacht“, und „das haben wir noch nie so gemacht“, erschöpft. Aber es kann auch sehr ermüdend und zermürbend sein, sich in diesen beiden Ruhekissen versinken zu lassen. Ich stelle mir vor, dass jedes Land nach und nach eine Umrüstung, eine Rüstungskonversion herstellt, nicht geprägt von Fatalismus sondern als Zeichen der Stärke. Ein Land nach dem andern löst die Armeen auf. Stelle man sich nur vor, wie viel produktive Arbeitskraft jedes Land gewinnt. Ein allgemeiner Zivildienst wird eingeführt, welcher obligatorisch für jeden Einwohner, jede Einwohnerin ist. Darunter wird ein Staatsdienst im Milizsystem von zirka 1 bis 3 Jahren Dauer in folgenden Bereichen verstanden: Naturschutz, Sozialbetreuung, Katastrophen- und humanitäre Hilfe und eben soziale Verteidigung. Die Grundausbildung in sozialer Verteidigung muss jede Person besuchen. Danach muss man sich für eine Dienstleistung nach eigenem Gutdünken in einem der drei Gebiete entscheiden – ohne Lohn aber für einen existenzsichernden Sold – gemeinnützige Arbeit im In- und Ausland zu leisten. 85 Dörner, D.: Die Logik des Misslingens, Rowohlt, Reinbek, 2003; Bloch, A.: Murphy’s Gesetz I, Der Grund, warum alles schief geht, was schief gehen kann; Goldmann, München, 1986 92 Bewaffnete Organisationen gibt es nur noch als Polizei oder als friedenssichernde Truppen, welche von internationalen Organisationen zusammengestellt und in Krisengebieten eingesetzt werden. Diese Truppen sind aber nur mit Handfeuerwaffen ausgerüstet und mit durch Panzerung geschützten Fahrzeugen. Die Umstellung hat bereits begonnen. Nur, es gibt noch kein erstes Land, welches den Mut hat. Man will ja nicht feige sein…!? Und wenn schon, soll lieber ein anderes Land zuerst auf die Nase fliegen. Nun, wie ist es mit den Lügen? Wenn man die Lüge nicht wahr macht, so bleibt es eine Utopie – ein Ort ohne Wirklichkeit. Nur dadurch, dass man sie umsetzt, begründet die weisse Lüge ihre Berechtigung. Man schiesst auf die Gefühle anderer Menschen, trifft dabei aber irrtümlicherweise ihre Körper. Einer der besten Lügner war meiner Meinung nach Martin Luther King. Kategorisch und fast imperativ formulierte er: „I have a dream!“ (Für den geneigten Leser muss ich hier vielleicht anfügen, dass damals das weisse Lügen noch nicht schicklich galt, weshalb Martin Luther King wohl das Wort „Traum“ verwendete.) Die Ideen, die ihm damals einfielen, waren schlichtweg unglaublich. Er predigte, ja forderte seinen Traum ein, als ob es nichts Wahrhaftigeres gäbe, als die Lüge. Er tat etwas dafür, hielt stand. Und wenn man den Traum liest und hört, so muss man sagen, einiges ist wahr geworden. Fairerweise muss man auch zugestehen, dass wir an einigen winzigen Details noch feilen müssten, um ganz zufrieden sein zu können. Apropos weisse Lüge und schwarzer Mann: Ein Weisser sagt zu einem Schwarzen: „Du schwarz!“ Dieser bestätigt: „Ich weiss!“ 93 Ideen für eine rosige Zukunft werden rar, wenn man glaubt man hätte keine! Ein zweiter, der die grosse Lüge wagte, war Mahatma Gandhi. Er setzte die Macht der Gewaltlosigkeit ein. Er gab damit den Recht- und Machtlosen eine neue Sprache und eine neue Handlungsperspektive. Und übrigens: Wenn wir schon von Krieg reden. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieg fanden über 200 Kriege statt. Nur ein Fünftel von diesen wurde kriegerisch beendet. Die Prozentzahl der getöteten Zivilbevölkerung steigt stetig. Opfer: 20 Millionen Tote und Verwundete, 20 Millionen Vertriebene, 20 Millionen Flüchtlinge (Schätzungen86). Es finden aber auch in so genannten Friedenszeiten alltägliche Kriege im Verborgenen mit Todesfolge statt: Strassenverkehr: jährlich 1,2 Millionen Tote weltweit87. Mehr noch als durch Unfälle sterben indirekt durch die Abgase88. Hunger: In jeder Sekunde stirbt ein Mensch an den Folgen von Unterernährung. Bis zu 100’000 Hungertote werden jeden Tag registriert89. Das sind täglich mehr als an einem Kriegstag des zweiten Weltkriegs. Und paradox: Nahrungsmittel gibt es genug. Ganz zu schweigen davon, was menschenverachtende Wirtschaft und Hegemonialpolitik vermögen90. Also selbst in Friedenszeiten ist der Mensch eine Tötungsmaschine. Soll das so bleiben? Wäre hier nicht eine schöne Lüge angebracht, dass das alles auch anders ginge? 86 http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege_archiv.htm http://www.pressetext.de/pte.mc?pte=040407023 88 http://www.wissenschaft.de/wissen/news/152425.html 89 http://www.jungewelt.de/2004/10-18/007.php 90 Chomsky, N.: Profit over People - War against People. Piper, München, 2006. Chomsky N.: Der gescheiterte Staat, Kunstmann, München, 2006 87 94 Nur wo eine zweiwertige Logik angewandt wird, gibt es Konflikte91. Das wäre doch echter Forschritt, wenn wir den schon immer so hochloben! Man muss allerdings auch wieder einwenden, so zynisch das ist, dass man froh sein muss, um jede Dezimierungsursache, wenn man die Zunahme der Weltbevölkerung anschaut. Ich nehme an, dass das mit ein Grund ist, wieso hier sich niemand wirklich einsetzt, um etwas zu ändern. Es passt so schön in die Rechnung, wenn der Sankt Florian bei den andern zündelt. Trotz allem: Wir wären fähig. Wir könnten, wenn wir wollten. Aber eben: Ich schon und der andere auch nicht. Deprimierend. Nie hätte ich geglaubt, dass die Zukunft morgen besser aussieht, als sie gestern war. Wir sollten die Grenzen des Möglichen, des positiv Vorstellbaren erweitern, nicht primär jene des technisch Machbaren, denn die Grenzen des Machbaren92 haben wir längst erreicht, wenn nicht überschritten. Machbarkeit orientiert sich in erster Linie daran, immer „Mehr Desselben“ herzustellen. Das Unmögliche, noch nicht Dagewesene ist etwas, was zwar im Zusammenhang mit lebenswerten Zukünften vorstellbar sein könnte, aber man vielleicht erst sieht, wenn man bereit ist, Zukünfte anders zu denken als in einfacher Fortführung der Vergangenheit. Nun, warum gibt es denn heute nach wie vor Krieg, der mit Waffengewalt gefochten wird, mit Leben bezahlt wird, kaum zu gewinnen ist – also eine schlecht beherrschbare Strategie darstellt, auch und gerade für Kriegsgurgeln? Weil der Krieg an 91 Simon, F. B.: Die andere Seite der Gesundheit. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2001. S. 162 92 Dazu vergleiche auch diverse Publikationen im Zusammenhang mit dem Club of Rome wie z. B.: Meadows, D. H.; Meadows D.L.; Randers, J.: Die neuen Grenzen des Wachstums, Rowohlt, Reinbek, 1993 (Originalausgabe: The Limits to Growth, 1972). Ausserdem ganz aktuell: UN-Klimabericht 2007 World Climate 2007 http://www.ipcc.ch/ oder Girardet, H. (Hg.): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos, eva, Hamburg, 2007 95 Arbeitsplätzen hängt und für Vollbeschäftigung sorgt (Armee und Waffenfirmen) und weil die Konzentration in der Wirtschaft allgemein auf die Ausschüttung an die Kapitalgeber starke Interessenvertretungen (Stakeholder) für den Krieg zur Folge hat und weil Zerstörung Wiederaufbau, also Arbeit generiert. Obwohl volkswirtschaftlich ganz klar Krieg nur ein Verlust sein kann und keine Investition, die sich lohnt, gibt es offensichtlich genug Gründe, es so weiter zu machen, wie es die Altvorderen gemacht haben. Es gibt zu wenig Anreize, etwas Neues zu versuchen. Man ist gerade dort, wo in der Regierung Machtkonzentration auf eine Person vorgesehen ist, in der Mut–Feigheit-, Schutz–Laisserfaire-Falle. Eine persönliche Überforderung für den Regenten und für ein Land, die dazu führt, etwas Falsches oder Gefährliches zu tun, es aber erklären und dafür sogar mächtige Interessenten anführen zu können. Menschen verhalten sich solange feindlich, als man nicht von gemeinsamen Zielen, Interessen ausgeht.93 Metalog: Als Graf verkehre ich gerne in gehobeneren Kreisen. Ich nehme an Dinners teil, an Arbeitslunchs, an tollen Events der „haute volée“. Meist lasse ich mir gerne etwas zu meinem Zeitvertreib einfallen. Letzthin war ich an einer privaten Einladung eines grossen Wirtschaftskapitäns. Da konnte man mit den Spässen deftig aus dem Vollen schöpfen. So legte ich mich also mit folgender Geschichte mit vier international operierenden CEO’s an: „Meine Herren, darf ich Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Ich bin Handlungsbevollmächtigter eines ungenannt bleibenden Handelsunternehmens. Wir operieren weltweit, sind sehr flexibel und können eigentlich ohne Übertreibung sagen, dass wir mit dem Artikel, den wir 93 Dies scheint zumindest die Grundidee zu sein, auf welcher die beiden Bücher erfolgreich aufbauen. Schlussfolgerung: Verhandeln ist meist die bessere Alternative als Krieg. Fischer, R.; Ury, W.: Getting to Yes. Negotiation Agreement Without Giving in, Penguin, New York, 1991. Fischer, R.; Kopelman, E.; Kupfer Schneider, A.: Jenseits von Machiavelli, Kleines Handbuch der Konfliktlösung, Campus, Frankfurt, 1995. 96 vertreiben, bisher nie Absatzsorgen hatten. Wir müssen trotzdem zugeben, dass es Gegenden gibt, in welchen der Vertrieb stockt und dies seit teilweise Jahrhunderten. In den meisten Gegenden der Welt jedoch braucht man unser Produkt immer wieder. Ich frage mich, ob Sie es mir abkaufen. Das Geschäft geht so: Zuerst brauchen Sie schweres Gerät und sehr viele Menschen. Damit erobern und zerstören Sie Dörfer, Ländereien, Städte und bringen Menschen um. Dann, wenn Sie gesiegt haben, dann gehört alles Ihnen und Sie können es wieder aufbauen.“ Da fährt mir einer der Geschäftleute in die Rede: „Sie gehen davon aus, dass wir siegen werden. Wie gross ist das Risiko zu verlieren?“ „Nun ja, mein Herr – natürlich, ich muss zugeben, ein Restrisiko bleibt, aber wenn Sie gut ausgerüstet sind? Sehen Sie vielmehr, wie viel Sie gewinnen und wie viel Arbeit geschaffen wird.“ Ein anderer Geschäftsherr erwidert: „Ja habe ich Sie richtig verstanden. Es wird zuerst abgerissen und dann wieder aufgebaut. Das würde ich, gelinde gesagt, als in der Geschäftswelt unüblich betrachten. Es ist zu kostspielig.“ „Ja, aber Sie haben dann Ländereien gewonnen und können sich ein Volk untertan machen.“ Da lachte ein weiterer: „Dazu brauche ich keine Zerstörungsmaschine laufen zu lassen. Ich kann eine Fabrik bauen, Leute anwerben und sie für Lohn arbeiten lassen. Damit stelle ich die Menschen mehr zufrieden, als indem ich sie untertan mache.“ Ein letzter meldet sich: „Wissen Sie, ich habe einen Riecher für gute Geschäfte, aber das was Sie da vorschlagen, ist ein miserables Geschäft: Erstens steckt es voller Risiken, zweitens verbraucht es zu viel Geld, drittens ist das Gleiche kostengünstiger zu haben und viertens bin ich mir gar nicht sicher, was die Eroberung für Spätfolgen hat. Menschen sind unzufrieden damit, dass andere, vielleicht geliebte sterben mussten. Das könnte sich gegen mich richten. Sagen Sie mal, um was für ein dubioses Geschäft handelt es sich eigentlich?“ „Das ist Krieg, meine Herren. Eigentlich bin ich erstaunt, dass Sie nicht auf das Geschäft eingestiegen sind. Denn wenn das so ist, wie Sie es beschreiben, wundere ich mich, dass Kriege nicht ausgestorben sind. Sie sind eine absolute Hochrisikostrategie. Was meinen Sie?“ Daraus ergab sich ein sehr ernsthaftes Gespräch, das 97 damit endete, dass man sich fragte, ob es denn nicht bessere Methoden gebe... Aber das alles zu berichten, würde Ihre Aufmerksamkeit zu lange in Beschlag nehmen. Aber vielleicht habe ich Sie ja zum Denken angeregt. Ich hasse den Krieg, ich fürchte ihn nicht. Epilog I: „Ich möchte, dass Sie jetzt lernen, nichts zu sehen: Schliessen Sie die Augen!“ „Ja, aber ich sehe doch etwas, ich sehe schwarz.“ „Das Schwarze ist das Nichts!“ „Aber ich sehe das Schwarze, also kann es nicht Nichts sein. Muss ich denn ab jetzt immer denken, dass alles was schwarz ist, Nichts sei? Wenn es Nichts ist, warum ist es dann schwarz und überhaupt, warum ist es da?“ „Sie sind schwierig. Es liegt einfach daran, dass Sie vom Gewohnten nicht loslassen können. Stellen Sie sich einfach vor, dass Sie nichts sehen.“ „Aber was muss ich mir denn vorstellen?“ „Nichts!“ „Das kann ich mir nicht vorstellen!?“ „Nichts ist eben zu ungewohnt für Sie!?“ Epilog II: „Das, was Sie jetzt sehen, ist Nichts.“ „Aber ich sehe nichts!“ „Eben, das ist es ja, was ich meine.“ „Ich kann aber nichts sehen.“ „Sie sehen das Nichts. Das haben Sie noch nie gesehen. Deshalb ist es neu für Sie.“ „Ich sehe einfach nichts. Das Nichts könnte ich gar nicht sehen. Ich weiss nicht mal, wie es aussieht.“ „Das ist es ja, was Sie sehen.“ „Nichts, ist es das? Enttäuschend. Das kann es doch nicht sein.“ „Ich möchte überprüfen, dass Sie wirklich nichts sehen. Beschreiben Sie es mir, damit ich es weiss, dass Sie richtig sehen.“ „Ich kann es nicht beschreiben. Es ist einfach zu wenig dafür. Es ist quasi nichts. Es lässt sich nicht sehen.“ „Das ist es ja, was ich meine. Sie sehen Nichts.“ „Nichts sehen ist mir unheimlich.“ „Es ist neu. Sie werden sich daran gewöhnen.“ „Ich möchte nicht Nichts sehen und mir nichts vorstellen können darunter. Ich möchte beim Gewohnten bleiben.“ „Schade, mit der Zeit könnten Sie sich ans Ungewohnte so gewöhnen, dass es nicht mehr Nichts wäre. Sie geben zu früh auf. Man muss die Angst überwinden.“ „Sie reden so, wie wenn Nichts nur die andere Seite von Etwas 98 wäre.“ „Es kommt auf das an, wie Sie das, was sie sehen, gestalten.“ Epilog III: „Was ist?“ „Ach, nichts!“ „Ah, so – na dann.“ „Lass mich in Ruhe!“ „Na gut, wenn nichts ist...“ Epilog IV: „Jetzt habe ich begriffen. Ist gar nicht schwer. Nur anders, als bisher vorgestellt.“ „Was war denn dein Problem?“ – „Ach, (N)nichts.“ Epilog V: Keine Macht der Welt kann sich der Kraft des zivilen Ungehorsams auf die Dauer erwehren, wenn die angewendeten Mittel den Zweck heiligen. Selbst wenn die Macht sanktioniert und tötet, so wird sie nicht siegen. Das beweist die Geschichte tausendfach. Der geheiligte Zweck ist die höchste Macht. Sie besiegt nicht, sie bestraft nicht, sie unterjocht nicht, sie gewinnt. Selbst dann, wenn der Widerstand lange dauert und bitter ist, so sind die Opfer, die zum Frommen der Sache gebracht werden müssen, immer noch bedeutend geringer, als jener Blutzoll, den eine gewalttätige Auseinandersetzung wie Krieg fordert. Besser gegen Windmühlen kämpfen, als gegen Menschen94. 94 Lebensmotto meines Bruders im Geiste, Sancho Panza, welcher begriffen hat, dass man eigentlich gegen Gedanken, Gefühle und Erfahrungen kämpft und diese mit einem Sieg über Menschen nicht beseitigt werden können. Der beste Beweis ist das Christentum, das eigentlich dadurch zu einer eigenständigen Religion wurde, dass Jesus getötet wurde... Man haut den Sack und meint den Esel, aber der Sack wird dadurch stärker. Das, was man ausrotten möchte, weil man Angst hat und in der wohligen Gewohntheit verbleiben möchte, wird meist stärker dadurch. 99 100 101 Bei Flut steigen alle Schiffe – auch Hänschens! Lehrer/in heisst dieser schöne Beruf, weil es darum geht, die Lehren zu ziehen. Dialog: „Mama, warum muss man in die Schule?“ Mama: „Das ist wichtig. Damit du etwas lernst.“ – Kind: „Aber Mama, ich lerne doch auch ohne Schule. Ich habe laufen gelernt, sprechen, essen, sogar Fahrrad fahren. Das hat mir aber nicht die Schule beigebracht. Muss ich wirklich in die Schule?“ Mama: „Ja weisst du: Alle Kinder gehen in die Schule.“ Kind: „Im Turnen und Zeichnen bin ich gut. Ich habe aber keine Lust zu rechnen und zu schreiben. Dann gibt das schlechte Noten.“ Mama: „Man muss das aber lernen. Es geht halt nicht allen gleich einfach.“ Kind: „Ja, aber wenn ich selbst ausprobieren könnte, hätte ich vielmehr Freude. Ich muss aber nachmachen, was der Lehrer sagt. Das macht keinen Spass.“ Mama: „Der Lehrer weiss das schon richtig. Du musst ihm vertrauen und folgen.“ Kind: „Ja, aber Kinder, die schlecht sind, müssen in Nachhilfe. Die werden verspottet, genauso wie jene, die besonders gut sind. Das finde ich nicht lustig. Plötzlich kann man Freunde nicht mehr aussuchen, weil man sie gern hat. Ich möchte nicht in Nachhilfe und auch nicht Streber sein.“ Mama: „Ich hab dich so lieb, wie du bist. Egal ob du gute oder schlechte Noten heimbringst.“ Kind: „In der Schule wird gelehrt. Ich möchte aber lernen. Das geht ganz anders. Das macht Spass. Wenn ich alleine entdecke, was zu tun ist und wie ich es kann. Das sind ganz andere Aufgaben.“ Mama: „Woher hast du das?“ Kind: „Das hat Papa gesagt.“ Mama: „Ach Papa. Ich dachte schon...“ Kind: „Warum wird man in der Schule bestraft, wenn man zu etwas keine Lust hat oder etwas nicht kann?“ Mama: „Man wird nicht bestraft. Man bekommt vielleicht eine schlechte Note...“ Kind: „Eben.“ Mama: „Das ist, weil ihr unterschiedlich seid...“ Kind: „Aber Mama – wir wissen, dass wir unterschiedlich sind. Aber müssen wir jetzt auch noch in besser oder schlechter eingeteilt werden?“ Mama: „Aber Kind – das ist doch nur ein Anreiz für diejenigen, die Mühe haben und eine Belohnung für jene, die es gut können.“ Kind: „Ich möchte so lernen, wie ich kann und nicht besser oder schlechter. Ich bin ich. Ich möchte 102 so sein. Es nützt mir nichts, verglichen zu werden.“ Mama: „Ich bin überzeugt, dass du es gut machst. Das andere ist für dich zu schwierig. Denk nicht mehr darüber nach.“ Kind: „Ist es wahr, dass viele berühmte Erfindungen von Menschen gemacht wurden, welche in der Schule nicht gut waren?“ Mama: „Nein, so geht das nicht. Du gehst in die Schule. Mir hat auch nicht alles gepasst. Papperlapapp.“ Kind: „Aber Mama: warum sind in der Klasse alle gleich alt? Zuhause sind wir doch auch alle unterschiedlich. Kann man denn nicht voneinander so besser lernen. Ich möchte mehr selbst entdecken können. Lernen ist lustig und manchmal traurig und manchmal ist es ganz schön anstrengend – weisst du noch, als ich Fahrrad fahren lernte und das Gleichgewicht nicht halten konnte. Ich habe es gelernt. Du hast mich nur gehalten. Du hast dich gefreut, wenn ich es ein bisschen weiter konnte, als das letzte Mal. Mama, warum darf man in der Schule keine Fehler machen? Warum werden Kinder traurig, die schlecht sind? Mama...“ Mama: „So, jetzt ist aber fertig. Ich weiss auch nicht alles. Aber jetzt musst du deine Hausaufgaben machen, sonst wirst du vor dem Abendessen nicht fertig. Lass es gut sein.“ Die Schule lehrt uns, dass Unterricht Lernen produziere95. Antilog: Diejenige Institution, welche professionell von unseren Gemeinwesen mit dem Lernen beauftragt ist, ist die Schule. Die Frage stellt sich heute mehr denn je, ob diese Institution überhaupt in der Lage ist, das zu tun, was sie tun soll, nämlich Kinder auf die Zukunft vorzubereiten. Wenn die Zukunft nicht mehr klar ist, wenn im Volk nicht mehr klar ist, worauf Kinder wohl vorzubereiten sind, wenn die Rede davon ist, dass das Wissen, das die Kinder sich im besten Fall in der Schule aneignen, dann schon veraltet ist, wegen dem beschleunigten Wandel, wenn es fürs Berufsleben zur Verfügung stehen müsste, so ist die Schule in einem 95 Illich, I.: Entschulung der Gesellschaft, C. H. Beck, München, 2003. S. 64 103 Dauerstress, da alle an ihr herumnörgeln und niemand eine Lösung dazu weiss, wie die Schule ihre Sache besser machen könnte. Ein wichtiges Paradigma ist ebenso beschwerlich wie fragwürdig geworden: Chancengleichheit. Wenn die Grundlagen des Lernens früher gelegt werden, als die Schule Zugriff auf die Kinder bekommt, so ist es potentiell schier unmöglich, etwas anderes zu reproduzieren, als das, was von den Eltern zugrunde gelegt wurde. Diese Grundlagen scheinen höchst ungerecht verteilt, sodass sie so wirken: Höhere Bildung, höherer Berufsstand und höhere gesellschaftliche Schicht reproduziert sich ebenso, wie tiefere Bildung, tieferer Berufsstand und die Zugehörigkeit zu tieferen gesellschaftlichen Schichten. Soziale Ungleichheit kann schulisch nicht ausgeglichen werden. Der Einfluss der Schule scheint fast darauf beschränkt zu sein, Bildung nach dem Muster herzustellen: Wer hat, dem wird gegeben. Eines der wichtigsten pädagogisch-emanzipatorischen Themen, nämlich die Chancengerechtigkeit, wird dadurch in Frage gestellt, dass Forschungen zeigen: Es gibt durch den Einfluss der Schule kaum Bildungschancen, die höher liegen, als jene, welche die Eltern realisiert haben. Die alten Bildungsideale sind nur noch Makulatur. Auch der Ersatz der verlorenen Ideale durch postmoderne Nachbauten, wie Chancenvielfalt, kann spätestens dann nicht mehr vollends überzeugen, wenn die Konjunktur der Möglichkeiten gerade Ebbe hat. So wird aus der versprochenen Vielfalt schnell etwas Ähnliches wie Einfalt. Dass einerseits die Schule dagegen alles zu unternehmen versucht, andererseits aber trotzdem die Gesellschaft die Schule als Institution immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik nimmt, sind scheinbar unabänderliche Prozesse, welche sich als Teufelskreis manifestieren. Die Folge davon ist, dass die Unzufriedenheit aufgrund der schwindenden Akzeptanz auch bei den Vertretern des Systems Schule um sich greift. Die Ideen spriessen wie Angsttriebe. Man muss etwas tun. Umso mehr und umso schneller, je besser, 104 sonst wird es immer nur noch schlimmer. Aber die Ideen polarisieren auch. Es gibt sie in allen Farbschattierungen und so verliert man sich möglicherweise in Grabenkämpfen darüber, was richtig, besser und gut ist. Zudem wird die Diskussion dadurch polarisiert, dass alle Veränderungen oder Verbesserungen nichts kosten dürfen, oder besser noch weniger. Dies stärkt selbstverständlich den andern Pol, welcher jede Veränderung mit Gold aufwiegen möchte. Reformen greifen um sich, meist unkoordiniert als Ansammlung mehrerer Ideenwelten, welche zu einem opportunistischen Sachzwangsbrei gemixt werden. Die einen bekämpfen Reformen, weil sie Entwicklung behindern, die andern entwickeln umso mehr Reformen, weil sie nötig sind. Lehrpersonen werden verständlicherweise unzufrieden, weil man ihnen die einst hohe gesellschaftliche Anerkennung versagt. Sie gehen in die (innere) Emigration, in die Rechtfertigung, ins Rechtmachenwollen, ins Kämpferische, ins Drop- oder Burnout oder was alles noch an Handlungs-, Empfindungs- und Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung steht. Daneben entwickeln Fachleute, Forschungsinstitute und Lehrstühle diverser Provenienz neue Theorien. Obwohl es nichts Praktischeres gibt, als eine Theorie, ist das Schulsystem theoriefeindlich. Gehandelt werden soll, nicht gedacht oder gehört. Kinder werden in Kategorien eingeteilt, so genannt beschult nach individuellen Bedürfnissen96, indem man für bestimmte Dass das so genannte „Entmischungsprinzip“, dem wir erst seit dem 19. Jahrhundert nachhängen, auch in anderen Zusammenhängen gesundheitsschädigende Wirkung hat, zeigt Klaus Dörner in seinem Buch „Die Gesundheitsfalle“ (Econ, München 2003). Er spricht in diesem Zusammenhang von „Ent-sorgung“. „So entstanden flächendeckende Netze sozialer Institutionen für Sieche, geistig Behinderte, Körperbehinderte, psychisch Kranke und Altersverwirrte. So unsichtbar gemacht, gehörten die Sorgebedürftigen und die Verantwortung für sie nicht mehr zu der als gesund empfundenen normalen Lebenswelt. Das führte zu einer Entwertung der institutionalisierten Bürger auf der einen Seite und der Instanzen der 96 105 Kategorien bestimmte Schulen oder Klassen entwickelt. Dies führt dazu, dass Eltern selbstverständlich die gemachten Unterschiede wahrnehmen und sich in wachsender Zahl gegen den darin enthaltenen Privilegien- bzw. Bildungschancenentzug wehren, wenn ihr Kind einer so genannten sonderpädagogischen Einrichtung zugeführt wird. Die Schule bietet vermeintlich Hilfe und Entlastung an, Eltern und immer mehr Fachleute aber kritisieren das alte überlieferte System der so genannten Separation, weil es gesellschaftspolitisch brisant ist und bekanntlich nicht im vermeintlichen und versprochenen Masse Erfolg erzielt. In der Schule macht sich ein Kulturpessimismus breit, der daraus erwächst, dass immer mehr Gewalt, immer mehr Verhaltensauffälligkeit, immer mehr und neue Leistungsschwächen und immer mehr Schulschwierigkeiten überhaupt wahrgenommen werden. Es ist wirklich und wahrhaftig nicht leicht. Nein, es ist zum Verzweifeln. Und trotzdem – eigenartig, wie sich die Sorgen verbreiten und wachsen, als ob es darum ginge, den Wert der Sorgen selbst zu steigern: Hochkonjunktur der Sorgen bei deren gleichzeitiger Inflation und rasender Verkürzung derer Halbwertzeit. Machen Sie sich Sorgen und Sie werden sehen, sie gehen in Erfüllung. Was will man mehr. Die Welt meint es gut mit uns. Sie schenkt uns gleichermassen verdient das, was wir befürchten, als auch die Früchte unserer Arbeit und unserer lustvollen Gedanken. Man kann nicht nicht lernen. Gerade nicht erfolgreiche oder störende Effekte stellen meist Resultate von Lernprozessen dar. Seit man durch die Schaffung der sonderpädagogischen Institutionen und des damit zusammenhängenden Berufsfeldes der Heilpädagogik der Idee nachging, dass früh erfasstes „heil“bar sei, wird die Früherfassung fast teilweise zwanghaft gefrönt. Es werden viele Dinge in der Schule an Kindern festgemacht und begrifflich etikettiert und damit fixiert, die man eigentlich bisherigen Sozialgesellschaft (Familie, Nachbarschaft, Kommune) auf der andern Seite.“ (ebda. S. 28f) 106 lieber nicht hätte. Vermeintlich sagt man dem Früherkennung und tritt damit eine Förder-, Therapie- und sonderpädagogische Welle los, die ihresgleichen sucht. Niemand fragt dann, wie es dem Kind dabei geht, ob es sich in der Rolle der „zu therapierenden Person“ wohl fühlt. Nein, in erster Linie muss das Gewissen beruhigt werden, das damit angeheizt wurde, was man selbst entdeckt hatte. Zweitens muss auf Teufel komm raus das Phänomen weg. Häufig verstärkt sich aber das Phänomen dabei, was dann erst recht auf die Mühle der Frühentdecker geht: Siehe da, es wird stärker. Gott sei Dank haben wir es noch rechtzeitig entdeckt. Ich würde mir unter Früherfassung und Prävention etwas anderes vorstellen. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Schule in einem solchen Fall in erster Linie nach dem Normalisierungprinzip97 verfahren würde? Müsste man sich dann Vorwürfe darüber machen, etwas verpasst zu haben, weil man es mit der Normalisierungsbrille gar nicht zu sehen trachtete? Ich glaube, nein. Denn auch die Heilpädagogik konnte damals die frühentdeckten geistigen Behinderungen nicht heilen und heisst darum heute mehrheitlich Sonderpädagogik. Heilen ist in diesem Zusammenhang eine Sirene98, eine falsche Verlockung, der man nicht erliegen sollte. Viel geeigneter scheint mir der Gedanke der Bewältigung, des Copings99 zu sein, ein Konzept, das sich unter anderem bei 97 Thimm, W.: Das Normalisierungsprinzip, Bundesvereinigung Lebenshilfe, Marburg. Vgl. auch die sogenannte Salamanca Erklärung der UNESCO von 1994: „Diese Dokumente sind getragen vom Prinzip der Integration, von der Erkenntnis, dass es notwendig ist, auf eine "Schule für alle" hinzuarbeiten – also auf Einrichtungen, die alle aufnehmen, die Unterschiede schätzen, das Lernen unterstützen und auf individuelle Bedürfnisse eingehen. … Das grundlegende Prinzip der integrativen Schule ist es, dass alle Kinder miteinander lernen, wo immer möglich, egal welche Schwierigkeiten oder Unterschiede sie haben. … Integrativer Unterricht ist das wirksamste Mittel, um Solidarität zwischen Kindern mit besonderen Bedürfnissen und ihren Mitschülern und Mitschülerinnen aufzubauen.“ (www.unesco.ch/bibliod/salamanca.htm) 98 Der Begriff der Sirene wird hier im ursprgl. Sinne von Homers Odyssee verwendet: Ein holder Klang, der so verlockend ist, dass man ihm kaum widerstehen kann. Angelockt, wird man aber verschlungen, getötet, etc. 99 Unter “coping” versteht man, dass man mit einer Herausforderung zurecht kommt, eine Belastung meistern kann oder einer Aufgabe gewachsen ist, sie bewältigen kann, sie als lösbar betrachtet, obwohl sie stresst. Lazarus, R. S.: 107 chronisch Kranken sehr bewährt. Die Frage ist: Traue ich dem Betroffenen zu, dass er damit selbst fertig werden oder damit umgehen lernen kann oder muss ich, um vornehmlich mein Gewissen zu beruhigen, in erster Linie etwas unternehmen und ist es darum auch nicht so wichtig, ob es nützt oder nichts nützt? Soweit die Standortbestimmung. Wir sind im Schoss des Sumpfes angelangt, der uns zu verschlingen droht. Muss das sein oder könnten wir es wagen, an unserem Schopf zu zupfen. Könnten wir es wagen, die Chancen, welche sich in dieser Krise offenbaren, zu ergreifen und sie ans Land zu ziehen? Oder ist das alles nur Illusion. Stellen Sie sich vor, in einer Klasse haben zwei die Note 2. Das bedeutet Repetition. Danach steigt die Durchschnittsnote der verbleibenden Kameraden natürlich an. Falls es jedoch gelingt, die beiden Klassenletzten von 2 auf 4 zu steigern, sinkt dadurch das Niveau der Klasse ab100. Sie wissen es bereits. Selbstverständlich versuchen wir es mit der Lüge. Wir tun so, als ob es anders wäre, wir erschaffen uns die Realität, die wir uns wünschen, jenseits jeder belastenden Realität. Wir lügen uns das Gute vor, dass uns die Schuppen von den Haaren fallen, sich die Balken biegen, die Herzen wehen und die Zukunft sich uns freundlich zuneigt. Lassen wir es also krachen! Lassen wir es zusammenkrachen, das belastende Gebilde der Schule, die immer mehr und immer Psychological Stress and the Coping Process, McGraw-Hill, New York, 1966; Bandura, A.: Self-Efficacy: The Exercise of Control, Freeman, New York, 1997; Jerusalem, M., Mittag, W.: Selbstwirksamkeit, Bezugsnormorientierung, Leistung und Wohlbefinden in der Schule. In: M. Jerusalem & R. Pekrun (Hrsg.), Emotion, Motivation und Leistung (S. 223-245). Göttingen, Hogrefe, 1999; Miller, J.F.: Coping fördern, Machtlosigkeit überwinden, Huber, Bern, 2003; Flammer, A.: Erfahrung der eigenen Wirksamkeit, Huber, Bern, 1990. 100 Noch wesentlich verrückter aber wird es, wenn wir zusätzlich noch davon ausgehen, dass die Note 4.5 als Klassenschnitt gilt. Dann nämlich werden alle Noten der besseren Schüler schlechter und zwar sowohl, wenn die zwei Schüler aus der Klasse ausscheiden, als auch, wenn sie sich steigern. Die Idee entnahm ich: Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 22f 108 schneller im Kreise der Interessen zu drehen hat, bis einem speiübel wird. Aber seien wir vorsichtig. Schon so viel Wahrheit ist in die Schule gesungen worden, dass wir sogar mit der Lüge scheitern könnten. Schule hat sich noch nie in den unheimlichen Untiefen der Theoriemeere, der Utopien, der Heilsversprechen wohl gefühlt. Schule ist kritisch. Gegenüber Prophetien erst recht und zu Recht natürlich. Ist da eine Lüge wirklich angebracht? Aber erst in jüngerer Zeit hat die Schule diese Vorsicht gelernt, gegen jede Art von Unkenrufen auf der Hut zu sein. Früher waren es gerade grosse Pädagogen, die die Vorstellungen von Wirkung, besserer Zukunft und weiterem Nutzen prophetisch begeistert und ausgestattet mit Kopf, Herz und Hand in die Lande geblasen haben. Seit es in der Schule frostig geworden ist, sind diese lauten, selbstsicheren und wohlklingenden Töne verstummt. Schule gibt sich kleinlaut oder rigide. Lassen wir doch das verstummte Horn, seine Betriebstemperatur wieder auf dem Ofen erreichen, sodass die früher geblasenen hohen Töne auf die Kunst der Pädagogik wieder freudig erschallen, so wie weiland die verfrorenen Töne meines Kutschers beim Abendessen in der wohlig warmen Gaststätte plötzlich fröhlich zur Mahlzeit erklungen sind und gar nett und klangvoll unterhalten haben. Wohlan denn! Gestützt darauf, dass in der Schule gesellschaftsverändernde Kraft steckt und dass die Schule nicht am Ende steht, sondern am Anfang einer neuen Entwicklung und im Vertrauen darauf, dass uns die Altväter der Pädagogik Comenius, Pestalozzi, Rousseau, Schleiermacher und wie sie alle heissen, mit ihren visionären Ideen beistehen mögen, machen wir den Schritt in die Zukunft, als ob dabei nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen wäre und noch mehr einem geschenkt würde. Die Schule der Zukunft stelle ich mir so vor, dass sie mehr ein Angebot darstellt, das innerhalb gewisser Möglichkeiten individuell passend gemacht werden kann, als dass sie in erster Linie ein einforderbares Recht darstellt. Das Angebot Bildung soll jeder Person, die sich im Land aufhält und steuerpflichtig ist, 109 als unbezahlbares Privileg zur Verfügung stehen. Selbstverständlich kann sich ein Angebot nur zur vollen Wirkung entfalten, wenn die Voraussetzungen zum Schulerfolg, welcher den Möglichkeiten eines Kindes möglichst nahe kommt, auch vom Kind selbst nach bestem Wissen und Gewissen angestrebt wird und seinen Teil dazu leistet. Ebenso wichtig ist, dass die Erziehungsverantwortung durch die Eltern im höchstmöglichen Interesse der Entfaltung des Kindes wahrgenommen wird. Eltern und Kinder sind als „Kunden“ (vielleicht ist dieser Ausdruck vorerst scheinbar problematisch) zu betrachten. Sie stellen Erwartungen an die Schule und es wird ausgehandelt, wie und ob die Erwartungen zu erfüllen sind und wer dabei welche Aufgabe und Verantwortung übernimmt und zu übernehmen hat, um die Wahrscheinlichkeit auf Zielerreichung zu optimieren. Dies ist in diesem Rahmen als Bildungsvertrag zu verstehen, der abgeschlossen wird, der als „Geschäft“ (deshalb Kunde) aus Leistung und Gegenleistung besteht und auf beides angewiesen ist. Bescheidwissenschaft101 Diese Betrachtungsweise gibt der Schule die Möglichkeit, sich selbst immer mehr zu optimieren und aus Erfahrungen pädagogisch richtige und eventuell neue Schlüsse zu ziehen und neue Richtungen einzuschlagen, ohne in die Gefahr zu kommen, von Verantwortung überlastet zu werden. Elternvereinigungen sind diesbezüglich unbedingt wichtig, einerseits um in der Bevölkerung als Interessenvertretung von Eltern die Unabdingbarkeit des Elternengagements klar zu machen und Hinweise für deren erfolgreiches Umsetzen zu verbreiten, andererseits dafür, dass Elternerfahrungen im Zusammenhang mit der Schule nicht nur im Einzelkontakt und damit potentiell konfliktträchtig eingebracht werden müssen. So wird Lobbyarbeit der Eltern für die Schule selbstverständlich. So wird für beide Parteien des Geschäfts klar, dass voller Erfolg und volle Passung nur in gemeinsamem und gegenseitigem 101 Beck, J.: Der Bildungswahn, Rowohlt, Reinbek, 1994. S. 148 110 Bemühen, in gegenseitigem Vertrauen und in gegenseitiger Zusammenarbeit möglich wird. Viele überkommene Ideologien, wenn nicht Irrtümer102, der Schule müssen neu beleuchtet, aufgeweicht und verändert werden, denn Flexibilität ist neben Stabilität eine äusserst wichtige Komponente. Es muss darüber nachgedacht werden, ob die Separation und damit Zuteilung oder Entzug von Bildungschancen nicht in erster Linie gesellschaftspolitisches Problempotential beinhaltet, welches dazu führt, dass gerade die emanzipatorische Funktion der Schule nicht mehr wahrgenommen werden kann. „Individualisierung sozialer Ungleichheit“103 Separation führt zu frühem Entzug oder Gewährung von Bildungschancen, da wissenschaftlich mehr oder weniger erwiesen ist, dass Kinder, welche in Sondereinrichtungen geschult werden, nicht grundsätzlich etwa mehr und besser lernen, auch mit hohem Anteil von Zusatzförderung verbunden nicht zwingend, als Kinder, welche zum Teil mit der eher negativen Vorstellung in Regelklassen „mitgeschleift“ werden104. Diese überraschende Tatsache ist noch nicht wirklich erklärbar und bleibt deshalb umkämpft. Es gibt aber durchaus Erklärungsmöglichkeiten, welche diese Feststellung aus dem Nimbus der falschen Tatsachenzuschreibung entlassen können. 102 Hartmeier, M.: Populäre Irrtümer der Schule, System Schule, 4/2004; Borgmann, Dortmund, S. 115f 103 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. S. 130 104 Bless, G.: Zur Wirksamkeit von Integration, Haupt, Bern, 1995; Kronig, W.; Haeberlin, U.; Eckhart, M.: Immigrantenkinder und schulische Separation; Haupt, Bern, 2000; Lanfranchi, A.: Schulerfolg von Migrationskindern, Leske und Budrich, Leverkusen, 2002 111 Es ist an der Zeit, ein Lob der Dummheit auszusprechen: Die „Dummen“ hätten es nie fertig gebracht, die Welt so zuschanden zu richten, wie die „Intelligenten“. Sind die „Intelligenten“ beschränkt? Die andern sind gar nicht in der Lage dazu. Eine der zentralsten Vorstellungen ist, dass das Kind seine Entwicklung in viel höherem Masse, als bisher angenommen, selbst steuert, dass dabei aber psychische Prozesse viel höheren Einfluss haben, als man pragmatisch immer wieder zulassen möchte. Kinder sind selten so unabhängig im Denken und Erleben, dass sie im Vorschulalter oder im Schulalter ihren eigenen gelegten Weg zu gehen imstande sind – und sich deshalb selbst verwirklichen. Kinder reagieren in erster Linie direkt und emotional – wie übrigens die meisten Erwachsenen auch. Emotion ist offensichtlich sogar überhaupt als die wesentliche Grundlage des Denkens anzusehen, wie neuere Hirnforschungen105 zeigen. 105 Spitzer, M.: Selbstbestimmen, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 2004; Roth, G.: Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp, 2003; Herrschkowitz, N.; Herschkowitz-Chapman, E.: Klug, neugierig und fit für die Welt, Herder, Freiburg, 2004; Spitzer, D.R.: Motivation: The Neglected Factor in Instructional Design. Educational Technology, 5-6, 1996, S. 45-49. „Emotion ist kein Begleiteffekt der Menschheit, sie ist vielmehr das Wesen der Menschheit.“ GDI Impuls Sommer 2006, Healthstyle, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon, S. 42. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1999 112 The brain runs on fun106 Unser Gehirn arbeitet nicht, wie wir denken107. Wenn nun eine Absonderung von den Eltern, der Gesellschaft, Kameraden oder der Schule selbst einen Zusammenhang mit Unvermögen, Schande, Entzug von Wertschätzung oder gar Strafe herstellt, ist dies eine Unsicherheit, die dem Kind eine wesentliche Komponente in der Wirklichkeitsdefinition darstellt. Neben der Unsicherheit, welche emotionsgeladen ist, werden Vorstellungen von Ungerechtigkeit wach, Sich-Wehren-Müssen, sich dem Schicksal ergeben, Gegenbeweis antreten, rechtfertigen, verteidigen und vielleicht weiteren Prozessen. Wenn ein Kind von keinem der äusseren Umstände in Zwiespälte gebracht wird, so wird es diese auch kaum erleben und damit ohne Bruch im Selbstvertrauen oder mit Änderung der emotionalen Grundlagen des Lernens reagieren. Die Veränderung führt nicht zur In-Fragestellung, sondern wird interpretiert wie eine Fortführung. Nur schon daraus folgt, dass das Verhalten, das aus den psychischen Prozessen heraus ermöglicht wird oder als untauglich und deshalb unmöglich betrachtet wird, Lernprozesse schon genügend beeinflusst, ohne dass weitere Einflüsse gewertet werden, dass der wissenschaftliche Streit mit rein quantitativen Studien nicht aus dem Weg zu schaffen sein wird. Geflügeltes Wort unter Hirnforschern; besser noch „….on emotions“. Lernen ist Emotionsmanagement, deshalb ist – altmodisch ausgedrückt – die Gemütsschulung nach wie vor zentral. Für die Verknüpfung von sinnorientierter Intelligenz mit so genannter emotionaler Intelligenz (Golemann, D.: Emotionale Intelligenz, Dtv, 1997) verwende ich gerne den Begriff der „Vernunft“. Zum Begriff der Vernunft im Zusammenhang mit dem „Guten“ und der Gerechtigkeit siehe auch Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2003. Relativ ähnlich den Begriff der „Vernunft“ ist auch das Konzept der „mindfulness“ Langer, E. J.: Mindfulness, Addison Wesley Publishing, San Francisco, 1990. 107 In Anlehnung an: Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, Unser Kopf arbeitet anders, als wir denken, DVA, München, 1997 106 113 Wenn der Mensch soviel Vernunft hätte, wie Verstand, wäre alles viel einfacher. (Linus Carl Pauling) Klar ist, nach dem so genannten Yerkes-Dodson-Gesetz108, dass es eine optimale Grundlage für die Lernentfaltung im mittleren Erregungsbereich gibt und dass somit etwa das als optimal betrachtet werden muss, was im heutigen Sprachgebrauch als „Herausforderung“ (soviel, dass der Stress, den die Aufgabe auslöst, als lustvoll interpretiert wird) bezeichnet wird. Suboptimal oder gefährlich oder gefährdend ist jedoch die Überflutung, emotionale Überforderung ebenso, wie die Lethargie und Ohnmacht, welche aus Langeweile und ähnlichen Situationsinterpretationen resultiert. Nur, nun ist es so, dass es keine objektive Vergleichsgrösse oder Norm gibt, welche förderdiagnostisch festlegen liesse, wann das eine oder andere gerechtfertigt ist. Je nachdem lassen wir uns in emotionale Zustände oder Zuschreibungen ein, welche hilfreich sind oder behindernd. Ich hatte im Rahmen einer Tafelrunde diesbezüglich eine prägende Erfahrung. Uns wurde eine Aufgabe gegeben, deren Anmutung es war, dass sie als unlösbar betrachtet wurde. So geschah es auch allen – ausser mir. Ich hatte die fixe Idee, dass letzthin mein Hofnarr mir genau die Lösung dieser Aufgabe erläutert hatte und sie deshalb lösbar sei, obwohl ich mich nicht wirklich an die Lösung erinnerte. Siehe da – ich fand die Lösung. Später allerdings fragte ich meinen Hofnarr, ob meine nicht wirklich vorhandene Erinnerung korrekt sei und die gefundene Lösung mit seiner berichteten übereinstimmte. Zu meiner Konsternation berichtete er überzeugend, dass das von mir eingebildete Gespräch zwischen uns gar nie stattgefunden habe. 108 Yerkes, R. M.; Dodson, J. D.: The Relation of Strength of Stimulus to Rapidity of Habit-Formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482, 1908. 114 You can’t push a rope, you have to pull it. Also lediglich meine Einbildung, dass das Problem lösbar sei, und nicht mal die Tatsache, dass ich gewusst haben könnte, wie es geht, hatte dazu geführt, dass ich die Aufgabe lösen konnte. Mir scheint dieser Effekt, der meines Erachtens genauso funktioniert in umgekehrter Richtung, möglicherweise der stärkste Effekt ist, welcher das Lernen ermöglicht und in Gang setzt oder für unmöglich erklärt. Aus meiner Sicht würde ich die ebenso wichtigen Ideen von Funktionsstörungen, Teilleistungsschwächen, Entwicklungsrückständen oder anderen Schwächen dem Effekt in ihrer Bedeutung unterordnen. Gerne erzähle ich meinem Gefolge folgende Geschichte: „Wisst ihr, wie Kinder laufen lernen?“ frage ich. Meist kommt ungläubiges Staunen über die Frage, gemischt mit Irritation und weil ich die Frage nicht als Prüfung, sondern eher humorvoll präsentiere, auch gemischt mit Erwartungslust, etwas Wichtiges zu erfahren. Wenige helfen sich vermeintlich über die Irritation hinaus, indem sie spontan antworten: „Sie stehen auf und laufen weg.“ Ich verneine: „Gerade eben nicht.! Soll ich es euch erklären?“ „Ja gerne!“ „So höret mir zu, wie ein Kind laufen lernt: Zuerst kriecht das Kind und bewegt sich so fort. Später versucht es sich aufzurichten. Dazu zieht es sich hoch und versucht zu stehen. Schon dabei fällt es oft um. Danach versucht das Kind, loszulassen und frei zu stehen. Dabei fällt es noch mehr um. Meist weint es heftig. Entweder, weil es sich wirklich dabei weh tut oder weil es so erzürnt ist, dass nicht gelingen will, was es beabsichtigt und versucht. Trotz der Schmerzen und der Enttäuschung, trotz des Weinens und des Misserfolgs gibt es aber kein Kind, ausser es sei aus andern Gründen dazu nicht in der Lage, das aufgibt. Es gibt kein Kind, das sich selbst sagt: Ich habe es so viel mal versucht. Ich habe mir soviel Mal den Kopf angeschlagen. Es tat mir so fest weh… Ich lasse es besser bleiben. Das, was ich erlebe, ist ja geradezu der Beweis, dass ich nicht in der Lage bin, es zu können, zu lernen, es zu tun. Es gibt kein Kind, das nicht laufen lernt. Ist das nicht erstaunlich?“ 115 Der Hofstaat beginnt meist zu lächeln. Das Fragezeichen auf ihren Gesichtern weicht. Ich fahre weiter „Jetzt schaut mal, wie viel anders öfters Lernen in unseren verstaubten Schulstuben stattfindet. Nachdem man es zwei-, dreimal versucht hat, lässt man sich bereits entmutigen oder entmutigt sich selbst. Man gibt auf, verzweifelt, fühlt sich wie der „Esel am Berg“. Versagen beginnt zu nagen. Vergleiche! Ein Kind, das laufen lernt und in der Lage wäre, solche Gedanken oder Gefühle zu entwickeln, würde nie laufen lernen. Schmerzen, Versagen, Irrtümer haben nichts damit zu tun, ob man etwas kann oder nicht kann. Sie gehören (leider) zum Lernen, zur Entwicklung und zum Fortschritt.“ Die Schule nimmt Kindern und Eltern die Verantwortung über das Wachsen ab und wundert sich anschliessend, wenn sie sich auch so benehmen. Meist haben die Zuhörer begriffen. Es herrscht meist so eine zuversichtliche, optimistischere Atmosphäre. Die Geschichte hat ihren Zweck erreicht. Die Frage bleibt, warum schulisches Lernen nicht gleich funktioniert, wie natürliches frühkindliches Lernen, das offensichtlich viel erfolgreicheren Strategien folgt. Vermutlich sogar deshalb, weil Kleinkinder noch nicht in der Lage sind, zu zweifeln und sich mit der Bedeutung von Versagen auseinander zu setzen, aber auch, weil niemand da ist, der den Vorgang dem Kind nicht zutraut und deshalb dem Weinen Trost und nicht Vorwurf folgen lässt. Deshalb, weil der Vorgang des Laufenlernens selbstverständlich immer zum Erfolg führt, besteht in der Wirklichkeit gar keine Möglichkeit, daran zu zweifeln. Deshalb spielt es auch gar keine Rolle, wie lange der Vorgang dauert, sondern lediglich das sicher stehende Ziel verleiht im Sturm des Nicht-Könnens oder NochNicht-Könnens den notwendigen Halt für die Begleit- und Bezugspersonen. Wie wäre es, wenn die Schule und Lernen überhaupt von dieser Gewähr, die zugleich den Unterschied ermöglicht, ohne ihn zu problematisieren, geleitet würde; wenn Sicherheit im Lernen vermitteln wichtiger wäre, als die Erwartung und der Anspruch? 116 Ich höre sie schon, gewisse Miesepeter, die brüllen: „Wenn Schule keine Leistungsziele hat…“ O.K. Wer hat denn solche in Frage gestellt? Ich finde es nur nicht sinnvoll, wenn die Schule ihre Wirksamkeit selbst in Frage stellt, indem sie unter dem Druck der Leistungsziele, welche nicht von allen Kindern gleichzeitig erreicht werden können, Druck dorthin weitergibt, wo er dazu führt, dass Leistungsziele als nicht erreichbar und damit unmöglich betrachtet werden müssen. Sicherheit schwindet. Leistungsziel kommt aus den Augen. Kind gibt auf. Lehrperson stellt Leistungsschwäche fest. Schulpsychologe stellt nolens volens Antrag auf Versetzung in Kleinklasse. Die Schlange hat den vollkommenen Kreis erreicht, indem sie sich in den Schwanz gebissen hat. Quod erat demonstrandum. Aber apropos Lernen. Die Schule vertritt heute eine – hoffentlich mehr gesellschaftspolitisch begründete – als pädagogische Position, dass ein Kind grundsätzlich von sich selbst aus nichts lernt und dass deshalb struktureller oder pädagogischer Zwang angesagt seien, um das Kind von seinen anderen Verlockungen abzuhalten und auf die Pflicht des Lernen zurückzuführen. Drohender Zeigefinger: „Wenn du nichts lernst, dann weiss ich schon, was ich mit dir mache…“ oder so ähnlich. Lernen als passiver Prozess nach dem Muster des Nürnberger Trichters. Die Lehrperson muss die mühsame Arbeit von Belehrung vornehmen, während dem die (meisten) Kinder die fröhliche Aufgabe der Ablenkung frönen können, wenn man sie nicht disziplinieren würde. Da stimmt doch etwas nicht. So kann die Bürde nicht sinnvoll verteilt werden. So muss es doch geradezu schief gehen. Ausgehend vom Konstruktivismus109, lassen sich jedoch andere Hypothesen zum Lernen bilden. Der Mensch kann gar nichts anderes oder in Abwandlung des fast schon geflügelten Wortes von Watzlawick110: Kein Kind kann nicht lernen. Die Aussage einem selbstverständlichen - weil anders unmöglich - Lerner 109 Neuere Erkenntnistheorie; Literaturangaben siehe S. 32 Watzlawick, P. et al.: Menschliche Kommunikation, Huber, Göttingen, 1990; Watzlawick schreibt dort den Satz: Der Mensch kann nicht nicht kommunizieren. 110 117 gegenüber geäussert: „Du lernst nicht.“ oder auch nur schon „Lerne!“ oder „Lerne besser!“ stürzt diesen in Zwiespälte und Abgründe, welche mit dem Phänomen des „Double bind’s111“ zumindest verwandt sind. Dummerweise nun kann die Schule das Lernen eines Kindes nicht oder nur in geringem Masse direkt beeinflussen (obwohl das Gegenteil als Schutzbehauptung nach wie vor aufrecht erhalten wird). Gemäss konstruktivistischen Vorstellungen ist Lernen in erster Linie ein autonomer, selbstgesteuerter Prozess. Radikale Konstruktivisten – und die meisten sind radikal – behaupten gar, dass Lehren gänzlich eine Illusion ist, dass im besten Fall irritieren, also das Auslösen einer Orientierungsreaktion möglich ist, aber nicht das Hineinpauken eines Gedankens oder gar stofflichen Ablaufs, wie bei einer Gans, die für Gänseleber gemästet wird. Die kausalattribuierende Idee, dass eine oberflächliche Störung durch eine tiefere bedingt sei ist trivialisierend. Sie ist meist das Denkmodell,. das zur Zuschreibung von Hilfsbedürftigkeit und Hilfe führt. Was nützt uns das? Wir haben eine gleichermassen geeignete Erklärung dafür, dass es Kinder gibt, die nach den Gesetzen, Vorgaben und Reglementen und der pädagogischen Idee funktionieren, als auch für diejenige Sorte von Kindern, die der Schule Probleme bereiten oder in und mit der Schule Probleme bekommen. Sie tun nichts anderes, als das Geforderte oder das Erwartete: Sie lernen. Sie versuchen zu erforschen und zu begreifen, wie die Umwelt funktioniert. Nur, die Welt hat noch einen geheimen Lehrplan. Häufig wird auf der einen Ebene das 111 Bateson, G. und Kollegen entdeckten das Phänomen des Double binds (Bateson, G., Jackson, D. D., Haley, J. & Weakland, J.: Toward a Theory of Schizophrenia. In: Behavioral Science, Vol.1, 1956, S. 251-264), das eine Situation beschreibt, welche so widersprüchlich ist, dass eine Person, welcher zum Beispiel gesagt wird: „Tu das, aber du kannst es nicht“, in Konflikte geraten kann, die sein Verhalten unvorhersagbar machen. Vergleichbar ist dies vielleicht mit einem Computer, der mit einer irrtümlichen Programmierschlaufe lahm gelegt wird, obwohl er wie verrückt arbeitet. 118 gesagt, aber auf der andern Ebene kommt etwas ganz anderes herüber. Es gibt sie also nicht die Kinder, die dadurch grundlegend verschieden sind, dass die einen lernen und die andern das nicht können, sich dagegen wehren oder denen das verwehrt ist. Nur: Sie tun das anders, manchmal so anders, dass es mit gängigen Vorstellungen nicht sinnvoll zu deuten ist. Deshalb bekommt die Lehrperson auch Schwierigkeiten, probiert und macht, bis sie schliesslich nicht mehr weiter weiss. Auch Lehrpersonen machen nichts anderes, als zu lernen. Lernen besteht darin, dass man sich Phänomene erklärt, Sinn sucht112, einordnet, handhabbar macht. Auch eine Lehrperson macht nichts wirklich Falsches, wenn sie sich zu erklären versucht, warum ein Kind nicht so funktioniert, wie es vorgesehen ist, abweicht davon. Nur, es gibt so viele Erklärungsmöglichkeiten, die auf dem Markt der Ideen verkauft werden, dass manchmal die Idee der Passung verschwindet und die offizielle Wahrheitssuche beginnt. Es ist manchmal erstaunlich festzustellen, dass es fast egal ist, was die gefundene Wahrheit für das Kind bedeutet und bewirkt. Ausdrücke wie leistungsschwach, verhaltensauffällig, blockiert, wahrnehmungsgestört, konzentrationsgestört, hyperaktiv, behindert werden schnell gefunden oder (um auch zu bezeichnen, dass es manchen sogar halbwegs bewusst ist, dass das „contre coeur“ abläuft) überfällt und überschwemmt einem. Sicher ist darin auch Angst verborgen, dass man eine Erklärung sucht, die entlastet. Man findet so vermeintlich den professionell distanzierten, kühl, sachlich, objektiven Zugang. Es 112 Frankl, V. E.: Theorie und Therapie der Neurosen, UTB Reinhardt Stuttgart, 1999. Frankl erklärt sich das Entstehen einer dysfunktionalen Deutung (damals Neurose genannt) aus dem Suchen nach Sinn. Z. B. kommt ein Mann in einen Fahrstuhl. Er schwitzt. Der Fahrstuhl ist kühl. Der Schweiss wird kalt empfunden. „Kalter Schweiss“ hat eine Bedeutung. Die Tür schliesst sich. Der Lift setzt sich in Bewegung. Der Mann fröstelt. Er möchte raus. Er fühlt sich ausgeliefert. Sobald die Tür öffnet, springt er erleichtert raus. Gerade noch geschafft. Von dieser Erfahrung gesteuert, vermeidet er die Benützung der Lifte. Er hat sich eine „Klaustrophobie“ erfunden, weil er dem Umstand, dass er im Lift schwitzte Sinn abzugewinnen suchte. Wäre dies Zufall gewesen, hätte er keine Angst bekommen müssen. Dummerweise verstärkt sich die Angst noch, indem man nie mehr Lift fährt... 119 ist die Erklärung, die häufig dazu gebraucht wird, um nicht selbst in nagende Zweifel zu verfallen. Kindreife der Schule oder Schulreife des Kindes? Die Prozesse, die in einer solchen Situation bei der geforderten, überforderten Lehrperson ablaufen, sind denjenigen so ähnlich, die das Kind entwickelt, dass es geradezu frappant ist, dass man die Ähnlichkeit in der Situation häufig gar nicht entdeckt. Beide verzweifeln daran, dass das, was sein soll, scheinbar durch eigenes Zutun nicht möglich wird. Unter dem Aspekt für jedes Kind, das scheitert oder sonst auffällt, die optimale Förderung zu suchen, wird unter dem Deckmantel „Diagnostizieren – Helfen“ dieses Spiel113 fast gezwungenermassen mitgespielt und mitunterstützt. Das Helfersystem sitzt häufig in der gleichen Erklärungs- und Beurteilungsfalle. Immerhin bekommt das Kind mit Hilfe der Diagnose (Etikett, Zuschreibung, Erklärung, eigentlich aber im ursprünglichen Wortsinn Erhellung, Durchblick) eine geeignete Massnahme (Therapie, Hilfe, Unterstützung, Klassenwechsel, Sonderschulung, etc.). Die Hilflosigkeit der Helfer114 besteht darin, dass man nicht ein geeigneteres Denksystem den bereits gefassten Fragestellungen gegenüberstellen mag, weil es so fremd erscheint und damit möglicherweise ein Problem für die Lehrperson darstellt – also lassen wir es. Die Aufgabe der 113 Berne, E.: Spiele der Erwachsenen, Rowohlt 2002; Eigen, M.; Winkler, R.: Das Spiel, Naturgesetze steuern den Zufall, Piper, München 1975; Hofstadter, D. R.: Gödel, Escher, Bach. Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 (17. Aufl.) 114 Schmidbauer, W.: Die hilflosen Helfer, Rowohlt, Reinbek, 1977. SelviniPalazzoli, M.: Der entzauberte Magier, Frankfurt, Fischer, 1991. Die Helfersysteme in der Schule haben Hochkonjunktur. Sie spriessen wie Pilze, vergrössern aber zum Teil nur die Hilflosigkeit, verkomplizieren die Helfersysteme und haben Erfolg in der Froschperspektive, welcher sich aber aus der Vogelperspektive ins Gegenteil verkehren könnte. 120 Schulpsychologie115 scheint es ja auch nicht zu sein, Anstösse zu einer andere Schule, einer andere Pädagogik zu geben, sondern nur und ausschliesslich sich innerhalb des Status quo die sinnvollsten Inseln auszuwählen. Es ist eine Gratwanderung. Man muss sich dem Denksystem des Klientensystems soweit anpassen, dass Verständigung möglich ist, aber soviel anderes damit verpacken, dass Veränderung möglich wird. Eine Diagnose im psychologischen Sinn ist etwas fast vollkommen anderes, als eine Diagnose im medizinischen Sinn. Ein gebrochenes Bein ist ein gebrochenes Bein, ist ein gebrochenes Bein. Eine Verhaltensauffälligkeit ist jedoch im einen Kontext eine schlimme Sache, weil einzigartig und unpassend, im andern Kontext eine Auszeichnung, weil anders als die andern, im dritten Umfeld unauffällig, weil alle so sind, im vierten Kontext gar… Im Kontext der Fragestellung „Wie ändern wir das?“ jedoch ist es erstmal nichts als: Es ist, was es ist. Zweitens ist es dann veränderbar, wenn wir eine Erklärung erreichen, die sowohl für die eine Seite, als auch die andere Seite klarmacht, dass das nichts Schlimmes ist, sondern lediglich das Resultat von Bemühungen darstellt. Veränderbar wird es erst, wenn beide Seiten (der Hersteller des Phänomens und der Beobachter des Phänomens, was die vice versa Betrachtung beinhält), in dem was sie machen, die volle Verantwortung über das, was sie herstellen, übernehmen können. Jemand der verzweifelt, weil er gestört wird, kann seine Störung erst zum Verschwinden bringen, wenn das Störende wegfällt. Jemand aber der in der Lage ist zu sehen, dass die Störung Ansichtssache ist, kann sich ein hilfreicheres Bild zurechtlegen und die Störung ist verschwunden. Jemand der stört, kann, Hartmeier, M.: Mit Pioniergeist in die Zukunft. Schulpsychologie – Standortbestimmung und Perspektiven. In: Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, Bern, 2005/01, S. 8-11. Hartmeier, M.: Positive Schulpsychologie – Seele der Schule. In: Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, Bern, Vol. 28 2007/01-02, S.6/7 115 121 wenn er als gestört bezeichnet wird, seine Störungsanstrengungen verstärken. Er tut dies aber als Verletzter, weil er sich wehren muss. Er könnte aber genauso gut darauf verzichten, wenn man ihm zeigt, dass die Störung in einen bestimmten Rahmen durchaus Sinn macht. Was glauben Sie wird mehr nützen, dem Störefried den Titel hyperaktiv zu geben und damit festzuschreiben, dass er für seine Störung gar nichts kann und sie damit schicksalhaft (körperlich bedingt) ist oder allenfalls, wenn man den Eindruck eines ADS116-Kindes nicht los wird, sich selbst, dem Kind, der Klasse, den Eltern eine Erklärung dazu abzugeben, die etwa wie folgt lautet: „Möglicherweise macht dein Körper mit dir etwas, das du scheinbar nicht unter Kontrolle hast und für uns wirkt deine Unruhe so, als ob du das nicht selbst steuern würdest. Wir wissen aber über diese schwierigen Dinge, dass du dann, wenn du unruhig bist, gerade die Bewegungen dazu brauchst, um dich konzentrieren zu können. Bewegung lässt zwischen deinen Nervenzellen Stoffe wandern, die machen, dass du besser denken kannst. Wir alle wissen nun, dass du dich dann besonders anstrengst, wenn du unruhig bist. Du machst also genau das Richtige. Wir fühlen uns durch diese Erklärung nicht mehr so gestört. Wir finden aber, dass wir gemeinsam eine Lösung finden müssen – weil, wenn jeder das machen würde in der Klasse, dann würde die Konzentration so laut und so unruhig, dass sich keiner mehr konzentrieren könnte. Was schlägst du vor? Was schlagt ihr vor?117“ Die Etikettierung, welche mit der Bezeichnung geschieht, löst häufig bei den Betroffenen die Schreckreaktion aus, dass dies 116 Dafür gibt es mittlerweile so viele Bezeichnungen, dass ich das Ganze nur noch als die Buchstabenseuche bezeichne. Kann etwas, das alle Momente wechselt, überhaupt eine Diagnose sein? 117 Angelehnt an Forschungsresultate, die davon ausgehen, dass unruhige Kinder den Neurotransmitter Dopamin, welcher konzentrationssteigernd wirkt, durch Bewegung zu vermehrter Ausschüttung zu bringen in der Lage sind und deshalb unruhig werden, weil sie sich konzentrieren wollen. Siehe auch: Voss, R.: Pillen für den Störenfried. Reinhard, München, 1999 122 unveränderbar ist und dem eigenen Zugriff vollkommen entzogen. Wer würde nicht bei einer solchen Zuschreibung sich entweder dagegen auflehnen (neues Phänomen bestätigt bisherige Meinung) oder sich dem geforderten Schicksal ausliefern nach dem Motto „Dann mach du Schicksal mal weiter. Ich habe ja keine Ahnung.“ Wenn wir Aktivität, Anstrengung erzeugen wollen, müssen wir imstande sein, sie in die richtige Richtung zu lenken. Sonst kann es sein, dass wir den bereits schwachen und verzweifelten Erklärungen noch eine weitere verheerende hinzufügen. K.O. Vorhang zu. Licht aus. Häufig sind die Vorgänge, die dazu führen, dass das Kind Hilfe beanspruchen kann, so verwirrend, dass die Hilflosigkeit des Kindes zunimmt, was wiederum dazu führt, dass es das Vertrauen in seine eigene Tätigkeit in Frage stellt, ja sich einstellen und sich ausliefern muss118. Die Hilfe hat nicht gegen das ursprüngliche Phänomen anzukämpfen, was mit Hilfe des Klienten noch anginge, sondern auch noch gegen die Hilflosigkeit, was fast ein unmögliches Unterfangen ist, weil die Hilfe, die Therapie, dem Kind im Erklärungskontext gerade darum gegeben wird, weil es es nicht kann. Die Schule könnte solche Minenfelder von Fallen überwinden, indem dies anerkannt würde und in der Didaktik, in Reglementen, in der Kultur, in der Professionalität, in der Schulstruktur Niederschlag finden würde. Das ist nicht so kompliziert, wie es hier vielleicht auf den ersten Blick tönen mag. In erster Linie ist der Auftrag der Schule, den Lehrplan zu erfüllen. Die Nichterfüllung des Lehrplans wird sanktioniert, sowohl gegenüber der Lehrperson, als auch gegenüber dem betroffenen Kind. Es ist quasi ein Sakrileg, die Lernziele zu verpassen. Wir führen fast überall so genannt altershomogene Klassen, die die Idee, dass es möglich sein muss, dass alle Kinder des gleichen Alters, das Gleiche im gleichen Zeitraum beherrschen müssen, stützen. Familien, das gewohnte Umfeld, funktionieren anders. Sie machen klar, dass alle Kinder, nur schon wegen dem Alter und 118 Seligman M. E. P.; Petermann, F.: Erlernte Hilflosigkeit; Beltz, 2000 123 Geschlecht, unterschiedlich sein müssen. Dies wird sogar von ihnen erwartet. Altersgemischtes Lernen würde solche künstlichen Hürden des Gleichseinmüssens begrenzen. Die „Verschiedenheit zu gestalten“, wäre das Ziel dieser Klassen. Es wäre gar nicht mehr möglich, weil es für die Lehrperson zu aufwändig wäre, eine Klasse als Ganzes zu belehren. Deshalb müsste die Lehrperson eine neue Rolle übernehmen, jene des Lernberaters, der Lernberaterin, des Lernbegleiters, der Lernbegleiterin. Jeden Tag würden die Kinder auf eine Lernreise geschickt, deren Resultat weitgehend offen ist, die Zielrichtung auch durch die verschiedenen Vorlieben (forschende Neugier) gesteuert würde. Da die Früchte des Lernens wieder zusammengetragen und die Kinder sich gegenseitig erzählen würden, was und wie sie es gemacht haben, wären Kinder diejenigen, die einander gegenseitig von Lernerfahrungen, Erfolgen und Misserfolgen berichten würden119. Ich bin keineswegs gegen Forderungen, Erwartungen oder gar Zwang. Nur es muss gesichert sein, dass dies entweder plötzlich oder schrittweise zum gewünschten Verhalten führt, da die Gefahr besteht, dass es sonst zu Disziplinarexzessen kommt, die beiderseits in die Verleugnung der Zuständigkeit führen können. Verschiedenheit muss belohnt werden, nicht eingeschränkt. Unterschiedliche Lerntempi und Vorgehensweisen zu entdecken und zu gehen, ergibt beim aktiven Lerner, bei der aktiven Lernerin mehr motivierende Erfolgserlebnisse und macht im Umgang mit Lernhemmnissen kreativer. Die Idee muss sein: Was du dir eingebrockt hast, kannst (nicht musst) du auch selbst auslöffeln. Ich kann dir nur Hinweise geben. Den Weg gehst du selbst. Es ist deine Erfahrung, die zählt. Meist sind es 119 Achermann, E.: Mit Kindern Schule machen. Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Zürich, 1995. Siehe auch: Kahl, R.: Treibhäuser der Zukunft Wie in Deutschland Schulen gelingen, Archiv der Zukunft, Beltz, Weinheim, 2006 124 Hoffnungsgeschichten aus dem eigenen Lernen, welche den „20iger fallen lassen“ – es braucht nicht mal eigentliche Hilfe120. In dieser Struktur von „Schule geben“, kann es gar nicht mehr von Bedeutung sein, dass es Kinder gibt, welche schneller an ein Ziel kommen, als andere. Die Schule selbst ist eine Institution, die Begabungsförderung an sich macht und diese nicht eingeschränkt auf jene fokussiert, welche scheinbar wertvolle Begabungen bereits schon zeigen. Früher hat man das so gemacht: Die Gesellschaft legte fest, was wertvoll und erwünscht ist, und das andere wurde ausgeblendet. Begabungen fördern heisst, diese zu sehen oder zu unterstellen, bevor sie bereits sichtbar sind121. Verbissen wird heute in der Schule neben Wissen angemessenes Sozialverhalten hergestellt. Durch die Verkleinerung der Klassen kippt aber die Bedeutung dessen, was erwünscht ist, deutlich immer mehr auf die Lehrperson und geht weg von den Schulkindern. Die Schulkinder werden immer mehr zum Objekt der Vorstellung von guten Manieren (statt zum Subjekt) und können sich somit aus der Verantwortung stehlen, da es nicht wirklich um sie geht. Wer hat denn meist die Konsequenzen zu tragen, wenn etwas nicht funktioniert, wenn ein Kind sich nicht im Zaum hält: die Lehrperson. Wieso soll in einer solchen Situation das Kind lernen, dass es wirklich bedeutungsvoll ist, wenn es keine Konsequenzen in der direkten 120 Ich möchte hier mal einflechten, dass die vielen Hinweise über die Problematik von Hilfe rein grundsätzlicher Natur sind und nicht etwa helfende Professionen in ihrer Bedeutung und ihrer Berechtigung in Frage stellen soll. „Hilfe“ kann auch, und das ist das Paradoxe, die geringe Selbstwirksamkeitserwartung Betroffener noch mehr reduzieren. 121 Wie könnte es also sinnvoll sein, als Voraussetzung für Begabungsförderung, zuerst Begabungen zu entdecken, bevor sie gefördert werden. Wie könnte es sinnvoll sein, unterscheiden zu wollen zwischen jenen, welche über keine förderungswürdigen Begabungen verfügen und jenen, welche gefördert werden müssen, dürfen, sollen... Vgl. auch: Meyer, W.-U.: Das Konzept der eigenen Begabung, Huber, Bern, 1984 125 Situation hat, sondern nur in der abstrakten Behandlung des Vorfalls. Deshalb gehe ich davon aus, dass im Zusammenhang mit der Beratungspädagogik wie geschildert weniger Bedeutung hat, wie viele Kinder in einer Klasse sind und dass deshalb druckfrei und flexibler mit der Klassengrösse umgangen werden kann. Dies lässt die Diskussion über die Grösse der Klasse etwas weg vom brisanten Politikum nüchterner betrachten. Eine etwas grössere Klasse kann nur funktionieren, wenn die Schulkinder das Funktionieren – mit Unterstützung, aber nicht in Hauptverantwortung der Lehrperson – herstellen müssen und dafür verantwortlich sind. So wird soziales Lernen zum Erfahrungslernraum und wird dadurch erfahrbarer, auch in der direkten Konsequenz von „bösen“ Verhaltensweisen. Soziales Lernen findet damit nicht im „Lehrplan“ statt, sondern im Alltag und wird effektiv wieder zu dem, was es ist, zum zwischenmenschlichen Sorgen, dass man nicht andern tut, was man nicht selbst wünscht, dass es einem geschieht. Das Phänomen Förderung möchte ich als nächstes beleuchten. Immer mehr wird Förderung im Volksmund – und wer gehört schon nicht im besten Wortsinn zum Volk – zu einem Begriff, der so verwendet wird, als ob Unterricht eine Notwendigkeit ist, aber keine hinreichende. Gewünscht wird immer mehr Förderung. Teilweise stimmt die Schule in diesen Sirenengesang ein und sucht durch die Verstärkung dieses Angebots darin Entlastung der Lehrperson und auch das Heil für unter- oder überforderte Schülerinnen und Schüler. Diese Diskussion scheint mir manchmal gar Dimensionen anzunehmen, als ob die Schule selbst ihre eigene Bankrotterklärung fördern würde. Unterricht, wie auch immer geartet, muss das zentrale Fördermittel sein, werden oder bleiben, sonst besteht zumindest die latente Gefahr, dass man Förderung und Unterricht gegeneinander ausspielen kann. Wenn Unterricht nicht fördert, kann man das auch nicht damit ausgleichen, dass Zusatzförderung angeboten wird. Zudem wird Förderung in diesem Gesamtzusammenhang auch scheitern. Ebenso geschehen im Zusammenhang mit der vor einigen Jahren in Gang geratenen Diskussion von Hochbegabung. Man 126 bot diesen ausgewählten Kindern separative Zusatzförderung. In der Zwischenzeit sind bereits leise Töne von jenen zu hören, welche dies vor Jahren lautstark als Menschenrecht eingefordert haben, dass diese Massnahmen nicht sehr viel mehr gebracht haben. Es muss Einkehr in die Pädagogik halten, dass neue Formen von Lernen so angeboten werden, dass sie es ermöglichen, schneller oder langsamer zu lernen, ohne dass Unterforderung oder Überforderung reklamiert werden kann und muss. Es ist nicht bestätigt, dass weniger starke LernerInnen stärkere LernerInnen blockieren müssen. Wir brauchen keine immer bessere Bildung, sondern eine gute. Eltern haben heute mehrheitlich das Gefühl, dass ihre Rolle darin besteht, von der Schule Dinge zu erwarten, die sie zu erfüllen hat, ohne sich darum zu kümmern, dass schulisches Verhalten sehr viel mit familiären Einstellungen und Erfahrungen zu tun hat122. Es ist nicht damit getan, dies als Bestätigung zu betrachten, dass der Lehrer eine untaugliche Person ist, wenn er nicht besser erreicht, dass die Tochter in der Schule aufpasst, als zuhause. Wenn sie zuhause gelernt hat, dass Nichtzuhören konsequenzenlos bleibt, so wird ihr kaum einleuchten, warum sie in der Schule andere Gesetze anzuerkennen hat. Andererseits werden aus der Anspruchshaltung heraus häufig die Eltern von der Schule als potentiell gefährlich betrachtet. Häufig kommt echte Partnerschaftlichkeit und gegenseitige Wertschätzung und Unterstützung nicht aus Unvermögen nicht „Erfolgreiches erzieherisches Verhalten vermittelt den Kindern ein grosses Mass gelassenen Selbstvertrauens sowie Beharrlichkeit und Optimismus. Die Kinder gehen in der Folge davon aus, dass fast alles von ihren Anstrengungen abhängt und von der Fähigkeit Frustrationen ohne Schaden überstehen zu können. Solches Erziehungsverhalten geht davon aus, dass die Kinder etwas Besonderes darstellen. Aufgrund dessen werden auch besondere Ansprüche an die Kinder gestellt. Das individuelle Verhalten der Kinder besteht eher in der mutigen Erprobung der eigenen Fähigkeiten statt dem ängstlichen Vermeiden von Fehlern.“ Simon, F. B.: Die Kunst nicht zu lernen, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2002, S. 140f 122 127 zustande, sondern aus Missverständnissen. So können gerade Eltern nicht neutral auf ihren Teil der Erziehung hingewiesen werden. Wie soll denn die Zuschreibung, dass Eltern unfähig oder überfordert sind, positive Möglichkeiten im Umgang mit dem Kind eröffnen. Diese Zuschreibung ist meist das Ende der Pipeline. An die Wand gespielt. Waffenstillstand oder Krieg sind die Möglichkeiten, die bleiben. Gerade diese beiden eröffnen jedoch dem Kind, das sich ändern soll, ungeahnte Freiheiten, dies nicht zu tun. Zuhause: „Der Lehrer sagt, aber…“ In der Schule: „Hähä, die Mutter meint, aber Sie seien auch nicht besser.“ Die Last, dass Beziehungs- und Lernprozesse misslingen können, nimmt für die Schule häufig titanisch-unmenschliches Gewicht an. Sie kann nicht ohne Gesichtsverslust sagen: Lass es uns anders probieren, lass es uns vorläufig beenden. Höchstrichterliche Instanzen legen fest, dass es sich bei der Schulpflicht um ein Grundrecht handelt, das niemandem aberkannt werden kann, auch dann nicht, wenn es nichts bringt. Ich wäre der Meinung, dass die festgefahrenen Positionen durchaus entkrampft werden könnten. Es muss Möglichkeit geben, solche Geschichten mit hohem Beratungs- und Überzeugungsaufwand zu überwinden (noch besser selbstverständlich zu verhindern). Oder es muss verschiedene Wege geben, die Schule ehrenvoll zu durchlaufen und abzuschliessen. Wem der Kopf raucht, aus welchen Gründen auch immer (vgl. Yerkes-Dodson-Gesetz, S. 114), dem ist definitiv der Lernkanal blockiert. Eine Pause macht Sinn. Ich meine mit Pause nicht, dass die Schule eine andere Beschulung suchen muss, sondern eine echte Pause: Von mir aus auf dem Bauernhof, zuhause, auf einem Schiff oder sonst wo. Klar wäre, dass mit der Finanzierung solcher Eskapaden sehr zurückhaltend umgegangen werden müsste und dass Eltern einen gewichtigen Beitrag zu leisten hätten. Es muss möglich sein, abgebrochene Schulkarrieren zu jeder Zeit des Lebens wieder aufzunehmen und zu beenden. Wichtige Voraussetzung ist nicht die Zeit, die verstrichen ist, sondern die Bereitschaft und der Wille, sich auf schulische Gepflogenheiten und das Lernen für sich selbst 128 einzulassen. Es darf auf keinen Fall sein, dass die Idee der Untragbarkeit eines Schülers eine hinreichende Voraussetzung für ein solches Time-out darstellt. Diese Feststellung ist (neben der ‚objektiven’ Feststellung, die vielleicht sogar zutreffen mag) in erster Linie eine existentielle Kränkung, die die Situation nur noch mehr emotionalisiert, als sie schon ist. „Wir sind gescheitert. Es tut mir leid. Nun müssen andere Wege gesucht werden. Es braucht eine Beruhigungs- und Nachdenkphase. Wenn du bereit bist, bekommst du selbstverständlich deine nächste Chance,“ wäre nützlicher, aber vielleicht auch schwieriger. Die Schule ist ein Angebot, das Privilegien verschafft. Wer in Genuss der Privilegien kommen will, muss auch das Gegengeschäft eingehen. Keine Rechte ohne Pflichten, sonst sind Lehrkräfte nur noch Sklaven und Marionetten. Auf der Schule lastet ein Nimbus, dass Fehler nicht geschehen dürfen. Das lässt sich aber mit der altbewährten Feststellung, dass man aus Fehlern lernt, nicht vereinbaren. Entweder – oder, würde ich sagen. Mir wäre „oder“ lieber. Wenn aber die Schule ein verständliches Beispiel dafür sein will, so muss sie in der Lage sein, mit ihren eigenen Fehlern selbstverständlicher umzugehen. Ich gehe davon aus, dass Entwicklung und Lernen geradlinig und ohne Abweichung völlig unmöglich und sinnlos sind. Gerade da sich etwas in ständiger Bewegung befindet, gibt es eben keine gleiche Gewähr und Sicherheit, wie etwas Stabiles. Die Schule kann, selbst wenn sie mit Steinen der Weisheit gebaut ist und Eier des Kolumbus füttert, nicht davor gefeit sein, ständig und immer wieder unermüdlich mit Schwierigkeiten zu dealen. Es ist das eigentliche Hauptgeschäft der Schule. Die Schule muss auch keine Angst vor Schwierigkeiten haben, auch nicht, dass sie damit keinen wirklich guten Umgang zu pflegen imstande ist. Sie sind schlicht und einfach unumgänglich und so selbstverständlich wie das tägliche Brot und die Pausenglocke. So gesehen sind es nicht die Schwierigkeiten, die uns Schwierigkeiten machen, sondern unsere Schwierigkeiten, die wir mit jenen haben. Im Umgang mit Schwierigkeiten ist immer auch eine existentielle Infragestellung enthalten. Deshalb ist Gelassenheit – was keinesfalls, und darauf lege ich Wert, gleichbedeutend mit Ignoranz zu setzen ist 129 – angezeigt. Schule hat das Know-how vielleicht im Zusammenhang mit dem einkehrenden Kulturpessimismus etwas verloren, da die Idee um sich griff, dass alles immer schwieriger werde und deshalb Lehrkräfte allein der Situation nicht mehr Meister würden. Die bisher durchgeführten Reformen im Bildungswesen sind genauso Augenwischerei wie die Gesundheitsreformen123. Man muss den Lehrern helfen und sie entlasten. Dieser Ruf schallt durch die Lande. Ich kann das nur zu gut verstehen. Wenn aber immer neue Berufsgattungen in der Schule immer neue Aufgaben übernehmen müssen zur Entlastung der Lehrpersonen, so geht das Verfahrensknow-how, worauf die Lehrerschaft früher stolz war, verloren und der Koordinationsaufwand erhöht sich. Resultat: Die Lehrerschaft ist nicht entlastet. Meines Erachtens ist vermehrt Supervision angezeigt, welche das Ziel hat, verlorenes Verfahrensknow-how zurückzuerobern und neues aufzubauen und in Schwierigkeiten nicht den Schwierigkeiten die Steuerung zu überlassen, weil man zu früh, zu wenig, zu spät oder ohne Erfolg eingegriffen hat. Solche Neuerungen muss die Schule selbst initiieren, weil bisher Supervision und Ähnliches stets mit der Idee verbunden war, als unfähig betrachtet werden zu müssen, bevor man so etwas zu beanspruchen hat. Schande. Supervision dient dem selbstverständlichen Umgang mit den alltäglichen Schwierigkeiten, die einem in Tat und Wahrheit auf die Palme bringen können. Man kann aber von der Palme herunter ebenso wenig Lehrer sein, wie man es vom Katheder her könnte. Selbstverständlich gibt es in der Lehrerschaft auch alles von jenem, der besser Handwerker, Politiker, Banker oder Akademiker geworden wäre, bis zu jenen, die mit Leib, Herz und Seele und Verstand einen absoluten Superjob tun. Meist sind es die letzteren, welche trotz der Unbillen der heutigen Zeit zufrieden und fröhlich, wenn nicht glücklich ihrem Beruf nachgehen. Es muss dem Lehrkörper ein Anliegen sein, 123 Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 195 130 denjenigen, die ihrem Amt nicht gewachsen sind, dies unmissverständlich klar zu machen und sie auf neue Berufswege zu schicken, manchmal auch dann, wenn es hart ist. Es kann und darf nicht sein, dass wir die Güterabwägung falsch machen, nämlich zugunsten einer Person und zuungunsten Hunderter von Kindern. Das ist eine heikle Frage. Sie muss aber gelöst werden, denn sonst sieht die Lehrerschaft untätig zu, wie das Ansehen des Berufs immer mehr schwindet, obwohl dies eigentlich nur einen kleinen Teil, so hoffe ich, betreffen würde. Im Zusammenhang mit der strukturellen Sicherstellung der Individualisierung ist natürlich auch die Frage der Promovierung und der Beurteilung neu einzuordnen. Es macht einfach meist keinen Sinn, und würde im neuen System überflüssig, dass jemand, der nach bestem Vermögen gelernt hat, vor den Promotionsrichter gestellt wird. Es gibt 9 Jahre offizielles Schulangebot. Die hat man zu durchlaufen und tritt altershalber danach in höhere Schulen oder ins Arbeitsleben ein. Jeder hat die Möglichkeit einmal eine Ehrenrunde zu drehen, auf eigenen Wunsch. Durch die Strukturierung der Schule nach dem Familienmuster ist auch die Grenze oder Grundfrage der Integration versus Separation aus dem Ideologieecken befreit. Es können neue Lösungen gedacht werden. Ich finde, der Wert von sozialer Integration ist deutlich über denjenigen der schulischen Separation zu stellen. Schulische Separation muss den Beweis für den positiven Effekt auf pädagogischer Ebene antreten. Die Situation der sozialen Separation, die damit im Zusammenhang steht, muss auf gesamtgesellschaftliche Folgen und Wirkungen untersucht werden und beides in einen Zusammenhang gebracht werden, damit eine sachliche Güterabwägung gemacht werden kann. Immer stärker leidet man in der Schule darunter, dass dem hohen Ideal der Chancengleichheit nicht mehr nachgelebt werden kann. Dafür hat man teure Hilfsprogramme, Therapien, sonder- und heilpädagogische Massnahmen integriert und separiert auf die Beine gestellt. Deren Erfolge sind zweifelhaft. Wir verwenden viel Geld und Liebesmüh’ darauf, Unterschiede auszugleichen, indem wir Problembeschreibungsbegriffe wie 131 Störung und Schwäche prägen, ohne zu sehen, dass in der Anerkennung der Verschiedenheit mehr kreatives Potential entstünde. Immer stärker setzt sich das Bewusstsein durch, dass erstens mit Unterschieden auf jeden Fall gerechnet werden muss und dass diese kaum nivelliert werden können. Es muss aber viel stärker daran gearbeitet werden, dass bei der frühen Entwicklung bestehende Unterschiede, vor allem auch auf sozialem Hintergrund nicht noch verschärft werden. Deshalb sollte eine frühere Einschulung bewerkstelligt werden. Die frühere Einschulung darf aber nicht eine frühere Verschulung bedeuten. Im Zusammenhang damit sind vor allem Elternschulen und -selbsthilfestrukturen aufzubauen. Es geht also nicht um die Übernahme der Erziehungs- und Förderpflicht der Eltern, sondern um deren Aufbau. In der heutigen Zeit der Chancenvielfalt ist möglicherweise das frühere Ideal der Chancengleichheit antiquiert und hat nur noch als fixe Idee Bestand. In diesem Zusammenhang ist auch zu überlegen, ob die Bildungselite nicht zu dünn gesät ist, dass die Bildungspyramide sich zu stark verjüngt. Es muss dafür gesorgt werden, dass nicht nur so genannt erkannte Hochbegabte speziell gefördert werden, sondern dass der Zugang zu höheren Bildungsangeboten etwas geöffnet wird. Im Moment ist davon auszugehen, dass sich auf dem Bildungsolymp wenige Menschen bewegen, die sich bewährt haben. Deren Ideen müssen alle einzeln durchschlagend sein, damit wir mit der Zivilisations- und Wirtschafts- und Wissenschaftsentwicklung mithalten können. Einfacher wäre ein Postulat zu verwirklichen, das Ideen mit durchschlagenden Erfolg nicht nur von einer engen Bildungselite erwarten liesse... Also die Bildungselite muss breiter werden. Der Zugang an höhere Schulen etwas (immer noch begrenzt) gelockert werden. Die Schule wird sich in Zukunft weniger darum bemühen, mehr zu nützen, als weniger zu schaden. Die Gesellschaftsfähigkeit der Schule insgesamt steht auf dem Prüfstand. Immer mehr Schülerinnen und Schüler benötigen Stütz- und Sondermassnahmen. Man spricht von 20 – 50 %. 132 Das sind zu viele. Wenn man von einer Normalverteilung menschlicher Eigenschaften ausgeht, muss es auch von der Schule aus möglich sein, diesen Normalitätsbegriff zu übernehmen. Mit diesem Denkmodell hätten höchstens 15 % der Schülerinnen grössere und allenfalls überdauernde Lernschwierigkeiten. Inwieweit man allerdings auch diese als „normal“ und damit gegeben beziehungsweise durch eigenen Antrieb veränderbar ansieht und ansehen möchte, hat mehr mit grundlegenderen Philosophien und davon abgeleiteten Gesellschaftstheorien zu tun. Förderalismus124 Metalog: Die Zukunft ist eingekehrt und mit ihr die Beruhigung. Das Schulsystem hat sich nun zu einem Lernsystem umgestaltet. Es dient nicht nur der Erziehung und Bildung von Kindern während einer vorgegebenen Schulzeit, sondern Schulhäuser wurden zum Zentrum des Quartierlebens und bieten Bildung mit und für alle an. Schulen und Klassen im üblichen Sinn gibt es nicht mehr. Es sind eher Lerngärten. Das Lernangebot, das Entdeckungs-, Gestaltungs-, und Entwicklungsfeld steht im Vordergrund. Alte lernen mit Jungen. Kinder lernen von Kindern. Unterricht existiert natürlich ebenfalls und ebenfalls existieren Prüfungen. Aber Prüfungen sind komplexe Aufgabenstellungen mit mehreren Lösungen. Es sind eigentliche Projektarbeiten – angepasst ans Alter. Sie fordern Kreativität, Wissen, Flexibilität sowie Ausdauer und soziale Kontaktfähigkeiten. Unterricht im Sinne von Stoffvermittlung wird am Morgen gegeben. Es gibt Kurse für Schreiben, Rechnen, Lesen, Zeichnen, Musik, Geometrie, Biologie usw. auf allen Fertigkeitsstufen. Zur Teilnahme an gewissen Kursen muss man Voraussetzungen erfüllen, andere sind frei. Freie Nachmittage gibt es nicht. Alle Nachmittage sind belegt durch frei gestaltbare 124 Druckfehler, unfreiwillig die überschiessende, lifestylebetonte Förderwelle konterkarierend in: Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 142 133 Aktivitäten im Sinne von selbstbestimmtem Lernen. Man kann eine Grundschule in kürzerer oder längerer Frist durchlaufen. Jedes Kind darf wählen – selbstverständlich zusammen mit seinen Eltern und Lehrpersonen, wie es die Lernzeit am besten gestaltet. Lehrpersonen sind Lernbegleiter, regen an und beurteilen, geben Rat, helfen und überprüfen. Die Schule der Zukunft geht von folgenden Grundprinzipien aus: Lernen erfolgt nach eigenen Wegen. Es gibt verschiedene Wege und verschiedene Tempi. Bildung ist ein erforderliches Grundprogramm, erfolgt aber zugleich interessengeleitet. Lernen hat keine Grenzen. Grosse lernen von Kleinen. Kinder von Erwachsenen. (Alters)-Unterschiede beflügeln. Soziales Lernen ist kein Fach. Schule ist das Lernfeld. Es gibt klare Regeln und Grundanforderungen. Sie müssen erfüllt werden. Alles ist durch individuelle Lernverträge geregelt, welche auch zur Kooperation anregen. Prüfungen sind nicht in erster Linie Stoffprüfungen. Es soll vielmehr eine Art Ritus sein, um in eine nächste Phase zu gelangen. Prüfungen werden streng gehandhabt. Es gibt eine Jury. Die Mitwirkung von Eltern und Kindern an der Gestaltung von Schule und Bildung ist selbstverständlich und verbrieft. Es gibt keine Sonderinstitutionen und keine nachhilfeähnlichen Stunden oder Personen, welche sich delegiert mit Lernschwierigkeiten befassen müssen. Dadurch, dass individuelle Wege den Grundsatz darstellen, entfällt der Begriff von Lernschwierigkeiten. Wer gegen Regeln verstösst, muss Konsequenzen tragen. Er wird der Schule verwiesen und muss einen Lernvertrag neu aushandeln, bevor er oder sie wieder aufgenommen wird. Dies kann aber grundsätzlich unbeschränkt oft geschehen. Jederman hat Anrecht auf 10 Jahre Beschulung und einen Abschluss. Man kann aber die Grundschule auch in höchstens 12 Jahren oder wenigstens 8 Jahren durchlaufen. Der Schuleintritt findet individuell statt und ist ab 3 Jahren möglich. 134 Es wird nicht mehr zwischen verschiedenen Stufen wie Kindergarten, Unterstufe etc. unterschieden. Natürlich werden die pädagogischen Mittel und Ziele sowie die Schulzeiten dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder angepasst. Das Lehrparadigma wird durch das Lernparadigma ersetzt125. Es wird der neuen Schule nicht mehr aufgebürdet, als sie kann. Schule wird nicht mehr als eine Institution angesehen, die gesellschaftliche Entwicklungen an einzelnen Kindern korrigieren soll. Insofern als gesellschaftliche Entwicklungen spürbar sind, werden intelligente Zusammenarbeitsformen und Feedbackschlaufen eingerichtet, damit auf der politischen, aber auch auf der Ebene der sozialen Dienste entsprechendes Wissen, aber auch Handlungsfähigkeit und Zusammenarbeit entsteht. Das Wichtigste aber ist, dass den Eltern in keinem Fall die Fähigkeit abgesprochen wird, ihre Kinder zu erziehen. Im Gegenteil: Sie sind so in die Beschulung eingebunden, dass sie gestärkt und gefordert werden und gegenseitig auch auf Stufe der Eltern Lerneffekte möglich gemacht werden. Die Schule hat auch nicht Betreuungsmängel der Eltern auszugleichen oder zu ersetzen. Sie kann jedoch aus pädagogischen Erwägungen Tagesschulangebote setzen, sodass eine Betreuung von Kindern möglich ist von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. Es soll jedoch unterschieden werden zwischen Betreuungs- und Unterrichtszeit. Es darf nicht sein, dass die beiden Aufgaben vermischt werden oder sich gar gegenseitig behindern. Der Betreuungsteil wird von Eltern mitgetragen, personell und finanziell. Pörksen, B.: Vom Lernen zum selbstorganisierten Lernen – zwölf Thesen. In: Lernende Organisation – Zeitschrift für systemisches Management und Organisation, Institut für systemisches Coaching und Training, Wien, 25/2005, S. 26 – 27. Nur unter dem Lehrparadigma hat sich der Diagnose-, Förder- und Therapiewahn breit machen können. Er ist eine Folge des Systems und dient nicht primär den Lernenden. 125 135 Epilog: „Was sollte denn der Titel des Kapitels: ‚Bei Flut steigen alle Schiffe’?“ „Jede Form von Lernangeboten nützt allen und erreicht alle. Alle profitieren davon.“ „Das ist nicht neu. Das ist banal.“ „Ja natürlich. Das Wesentliche dabei ist, das Banale zu anerkennen. Nicht alle Schiffe haben den gleichen Tiefgang. Die einen sind beladen oder liegen einfach tiefer im Wasser. Die andern ragen mehr aus dem Wasser. Trotzdem: Bei Flut steigen alle Schiffe gleichviel – nur die Unterschiede bleiben.“ „Obwohl alle gleichermassen Lernfortschritte machen, sind die Unterschiede nicht auszugleichen.“ „Ja, ausser wir wollen, dass es nur noch eine Schiffssorte gibt, welche nur in einem einheitlichen Ladezustand verkehren darf...“ „Und was hat das mit Hänschen zu tun?“ „Man sagt doch: ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.’ Das bedeutet, dass nur das gelernt werden kann, was man früh lernt. Oder anders gesagt, was man jetzt versäumt, wird man später nicht nachholen können. Eine defaitistische Meinung, die ich bekämpfe. Man lernt immer. Man kann gar nicht anders. Hänschens Schiff steigt genau so wie alle andern. Aber es ist nicht die Schule, die die individuellen Unterschiede ausgleichen muss. Das kann sie gar nicht. Wenn schon, dann sind es die Lernenden selbst, die durch Aufladen und Entladen ihre aktuellen Tiefgang ändern (können).“ Die Effizienz der Bildung hängt in Zukunft mehr von der „Intensivierung des Verlernens“ sowie dem „Vergessen des Vergessens“ ab, als von der Anhäufung des Wissens. Lernen Null und Lernen I126 haben ausgedient. Zum „Lernen 0“ und „Lernen I“ vgl. Bateson, G.: Die Ökologie des Geistes, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1981 126 136 137 138 Bombiges Pyramidenspiel Geld Gemeinschaften zerfallen, wenn einseitige Geldgeschäfte den Gabentausch ersetzen.127 Dialog: „Mama, warum wird das Geld immer weniger wert?“ Mama: „Kind, du fragst Sachen.“ Kind: „Du hast gesagt, dass das Geld immer weniger wert ist. Stimmt das? Ich habe mir überlegt, dass es dann irgendwann gar nichts mehr sein wird. Was können wir dann noch kaufen?“ Mama: „Du musst keine Angst haben. Das wird nicht passieren.“ Kind: „Ich habe keine Angst. Ich mache mir Gedanken.“ Mama: „Weisst du, das Geld ist einfach ein Tauschmittel. Der Wert eines Produkts wird durch den Markt festgelegt. Wenn Nachfrage und Angebot nicht übereinstimmen, erhöht oder senkt sich der Wert eines Produkts.“ Kind: „Ist denn der Wert und der Preis das Gleiche? Weisst du, Mama – wenn der Wert des Geldes immer geringer wird, dann muss Papa immer mehr Lohn verdienen, damit wir das Gleiche kaufen können.“ Mama: „Ja Kind. Der Lohn steigt jedes Jahr. Dafür streiten Gewerkschaften.“ Kind: „Ja, aber wenn der Lohn jedes Jahr steigt, dann werden die Produkte teurer und der Wert des Geldes sinkt. – Mama, kann man Geld kaufen.“ Mama: Ja, man kann Geld auch kaufen.“ Kind: „Dann ist es aber kein Tauschmittel, dann ist es selbst Ware.“ Antilog: 40 Prozent der durchschnittlichen Konsumentenpreise bestehen aus Kosten für Zinsen. Das bedeutet, dass die Konsumenten fast die Hälfte des Preises nicht für die Herstellung des Produkts bezahlen oder anders gesagt, dass der „Wert“ des Produkts nur halb so gross ist, wie der Preis, den sie bezahlen. Warum ist das so? Geld bringt Zinsen. Zinsen bringt es für jene, die Geld haben. Jene, die Geld brauchen, bezahlen dafür. Um Fabriken zu bauen und zu betreiben, braucht man Geld. Auch wenn man das Geld aus dem privaten Vermögen finanzieren könnte, tut man das nicht – aus 127 Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002, S. 307 139 steuertechnischen Gründen: Schulden machen, lohnt sich (selbstredend nur für jene, die Geld haben). Also um zu wirtschaften, holt man sich Geld von der Bank und bezahlt für das Ausleihen des Geldes. Die Kalkulation für den Konsumentenpreis des hergestellten Produkts enthält natürlich auch die Kosten für das geliehene Kapital. So kommt es dazu, dass Produkte teurer sind, als sie wären. Eigentlich ist es gut, dass die Menschen der Nation unser Banken- und Währungssystem nicht verstehen. Würden sie es nämlich so hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh. (Henry Ford) Die Zinsmaschine ist eine mathematisch hoch interessante. Wenn ich im Jahre 0 einen Euro gespart und gegen drei Prozent Zinsen ausgeliehen, das heisst zur Bank gebracht hätte, um es für mich arbeiten zu lassen, so wäre dieser Euro lange nicht viel wert geblieben, obwohl er wie verrückt „gearbeitet“ hat. Plötzlich hätte er aber seinen Wert sprunghaft bis ins Unermessliche gesteigert. 2000 Jahre später wäre der Euro auf rund 40 Quadrillionen angewachsen, das ist eine Zahl mit 24 Nullen128. Ich, beziehungsweise natürlich meine Nachkommen – und es würde für einige von ihnen reichen, wären mit Abstand die Reichsten der Welt. Unvorstellbar! Wie ist das möglich? Die Zinsrechnung verhält sich mit Zins und Zinseszins exponential129. Ihr Wachstum steigert sich plötzlich sprunghaft 128 Zu Zeiten Barbarossas, etwa um 1200, wäre das ganze Vermögen auf ca. 1 Erdkugel in Gold angewachsen. In der Zwischenzeit würde bereits die ganze Milchstrasse in Gold nicht mehr ausreichen. Machen wir eine andere Rechnung, welche mir deshalb glückt, da ich, Baron Münchhausen, ja als unsterblich gelte: Hätte ich zu einem Lohn von 4 Euro bei einer 40 Std.-Woche seit dem Jahr Null unserer Zeitrechnung gearbeitet, hätte kein Geld davon verbraucht und gäbe es andererseits keine Zinsen, so würde mein Vermögen lediglich auf eine Kugel Gold in der Grösse eines VW Käfers angewachsen sein – relativ überschaubar im Vergleich. (nach Binn, G.: Die Rolle des Kapitals bei der Wirtschaftswachstums- und Umweltproblematik, S. 30f in: Onken, W. (Hg.): Perspektiven einer ökologischen Ökonomie, Gauke, Lütjenburg, 1992) 129 Exponentielle Kurven kommen in der Natur nur im Zusammenhang mit Katastrophen vor, z. B. der Entwicklung einer Lawine; solche Entwicklungen sind aussergewöhnlich und gefährlich. Eine natürliche Wachstumskurve ist nicht einmal linear, sondern beginnt mit einem relativ steilen Winkel, flacht sich 140 bis ins Unendliche. Verzinstes Geld verschiebt sich so vom einen zum anderen. Es arbeitet nicht nur, sondern es wuchert regelrecht. Wer hat, dem wird gegeben. Beziehungsweise, um genauer zu sein: Wer hat und so tut, als bräuchte er es nicht, dem geben andere, die es brauchen. Oder um noch genauer zu sein: Wer hat, und das Geld nicht braucht, der verleiht das Geld, um etwas produzieren zu lassen, an andere, welche ebenfalls Geld haben. Die bezahlen ihm Zinsen für das Geld, das er selbst nicht braucht. Halt, da hat es doch einen Denkfehler drin: Warum braucht derjenige, der hat, das eigene Geld nicht für seine Fabrik? Risikoverteilung ist die Antwort. Er will das Risiko für seine Geschäfte nicht allein tragen. Umgekehrt lässt er am Erfolg auch andere teilhaben, indem er für das von ihnen ausgeliehene Kapital Zinsen bezahlt. Das alles wäre so schön inzuchtmässig, weil das Geld so unter seinesgleichen bleibt. Der Haken ist erst dort, wo der Konsument das ausgeliehene Geld zu bezahlen hat. Durchschnittlich bezahlt er für sein Produkt 40 % zu viel. Das ist aber nicht das eigentliche Problem. Wenn der Konsumentin das Produkt so viel wert ist und Produkte, die nicht als eigentliche Luxusprodukte gelten, für alle erschwinglich sind, so kann die Kalkulation des Herstellers doch egal sein. Nun hier ist nicht der Ort, uns über Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten im Welthandel und in der Entwicklungsstufe der Länder der Erde zu unterhalten. Es geht hier um eine andere Thematik. Warum gibt es Teuerung? Warum wohl? Wegen der Folgen der Zinswirtschaft. Sie zwingt uns die Teuerung auf. Damit das Gleichgewicht wieder hergestellt ist, wird eine Teuerung immer wieder durch Lohnanstieg kompensiert, den die Gewerkschaften in harten Verhandlungen erzielen oder durch Gesamtarbeitsverträge garantiert haben. Der Lohnanstieg führt natürlich wiederum zur Anheizung der Teuerung. Damit die Maschine Geldwirtschaft nun nicht kollabiert, wird die Sache nachher ab und bleibt über Ende zuneigt. (vgl. auch: Permakultur Publikationen, sieben Mal und siehe Sie Prozesse. längere Zeit auf einem Plateau, bis sie sich zum Kennedy, M.: Geld ohne Zinsen und Inflation, Steyerberg, 1990). Verdoppeln Sie ein Prozent erhalten 100 %. Das nennt man exponentielle 141 ausgeglichen, indem man die Inflation, also die Geldentwertung einsetzt. Eine ziemlich gewagte Geschichte, mit ziemlich viel Aufwand für unterschiedliche Sozialpartner, um einen allzu offensichtlichen Mangel des Geldsystems auszugleichen: Die Folgen von Zins und Zinseszins. Ohne dies bräuchte die Wirtschaft kein Wachstum, die Gewerkschaft keine jährlichen Lohnverhandlungen, die Wirtschaft keine jährliche, ausschliesslich strukturell bedingte Anpassung der Konsumentenpreise, der Staat mit den Nationalbanken keine entsprechende Anpassung der Geldwerte. Was käme dabei heraus: Natürlich kein stabiles Korsett des Geldes, das stur auf alle Veränderungen reagiert, sondern ein dynamisches Geldsystem, das weniger komplex und damit steuerbarer ist. Die Ablenkungsmanöver, die durch die Zinswirtschaft und die Teuerung im Kreise drehen, wären beendet und man könnte sich ums Wesentliche kümmern, nämlich um die Grundstruktur des Lohngefüges. ‚Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld’ wird dem Leser, wenn er es nachschlägt, die moralische Höhe Gesells130 zeigen. (John Maynard Keynes) Ist es wirklich nötig, dass der Faktor im Lohnunterschied mehr als 10 beträgt? Das heisst: Ist es wirklich nötig für das Funktionieren der Gesellschaft, dass ein Manager 20 Millionen verdient im Jahr (um eine vorsichtige Zahl zu nennen), währenddessen der Minimallohn bei 40'000 jährlich liegt (um von einer grosszügigen Annahme auszugehen)? Der Faktor des Lohnunterschiedes beträgt 500! Mit dem Faktor 10 wäre der höchste Lohn bei dem erfundenen Minimallohn immer noch 400'000. Ich gehe davon aus, dass dies in jeder Währung, mindestens der entwickelten Staaten, vollkommen ausreicht und man grundsätzlich weder mehr verdient (im eigentlichen 130 Gesell, S.: Die natürlich Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, Gauke, Lütjenburg, 2004. Siehe auch: Senf, B.: Der Nebel um das Geld. Gauke, Lütjenburg 2005 142 Wortsinn gemeint), noch grössere Verantwortung131 zu tragen imstande ist (welche einen höheren Lohn rechtfertigen würde) und dass auch niemand in der Lage ist, reell mehr Geld zu sinnvollen Zwecken auszugeben. Man kann sich nicht mehr als Luxus leisten und man kann nicht mehr als reich sein, wenn das eine oder das andere oder beides überhaupt als anstrebenswert betrachtet werden soll. Wenn man sich nicht immer um die Auswirkungen der sich im Veitstanz befindlichen Geldsystems kümmern muss, also um den Bart des Propheten kämpft in Lohnverhandlungen, so könnte man sich darum kümmern, dafür zu sorgen, dass man ein Lohngefüge erreicht, das gerechter ist. Sicher, es darf Lohnunterschiede geben. Es muss Anreize geben, sich in spezielle Positionen zu begeben. Diese sollen aber reell bleiben und nichts metaphysisch abstraktes oder gar märchenhaftes beinhalten oder auslösen. Es gibt sicher Verschiedenstes dabei zu bedenken, wie Mindestlöhne in unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen festgelegt werden und welche Bedeutung die Lohnskala überhaupt haben soll, welche Anreize zu welchem Zweck, mit welchem Ziel vom Minimallohn bis zum Maximallohn gegeben werden sollen. Geld macht nicht reich. (Seneca) Geld soll wieder das werden, was es einmal war: Ein Repräsentant für etwas, eine Vereinfachung des Tausches, nicht eine Ware selbst, mit welcher gehandelt werden kann. Geld bekommt man für eine Leistung, für eine Dienstleistung, für ein Produkt, für eine Arbeit. Verdienen kann man nicht, indem man Geld hat und es einsetzt, indem es für einem arbeitet. Zins wirkt letztlich, wie am Beispiel am Anfang gezeigt, exponentiell, also explosiv. Die Auswirkungen auf den Hierin, nämlich in der Logik „höhere Verantwortung rechtfertigt höheren Lohn“ liegt vielleicht sogar die Hauptfalle in diesen Thema. Wenn Bosse wirklich die einzigen Verantwortungsträger in einem Betrieb wären, dann müssten sie sich nicht wundern, dass alle Untergebenen verantwortungslos handeln würden. Verantwortung kann aber nicht einer Person delegiert werden. Diese ist auch nicht in der Lage, sie zu tragen. 131 143 Konsumenten, auf den Lohnempfänger, auf die Wirtschaft, auf die Staaten, auf das Management des Geldsystems sind so, dass man ständig Stabilisierungsmassnahmen ergreifen muss, um das System aufrechtzuerhalten, obwohl man eigentlich weiss, dass es explodieren oder implodieren muss. Die Schaffung eines Geldes, das sich nicht horten lässt, würde zur Bildung von Eigentum in anderer wesentlicherer Form führen. (Albert Einstein) Wie wäre denn die Summe zustande gekommen, welche sich in zweitausend Jahren von einem Eurocent angesammelt hätte? Ähnlich, wie in der Geschichte erzählt, wird vom Erfinder des Schachs, der vom indischen König, zirka im Jahr 500, eine frei wählbare Belohnung bekam, da sich der König am Spiel so ergötzte. Der weise Erfinder des Schachspiels, offensichtlich auch ein Meister der Mathematik, soll vom König lediglich gewünscht haben, dass dieser auf das erste Feld des Schachspiels 1 Reiskorn, auf das zweite Feld des Spiels zwei Reiskörner, auf das dritte Feld schliesslich 4 Reiskörner legen solle ... immer das Doppelte bis zum Feld 64. Der König, der erst böse wurde ob der Bescheidenheit des Weisen, konnte diesem jedoch den Wunsch schliesslich nicht erfüllen, da es sich um insgesamt 18'446'744'073'709'551’615 (das sind 18 Trillionen) Reiskörner handeln würde, die es auf der ganzen Welt nicht gab und nie geben wird. Intelligenz, Eigentum und Macht verpflichten!132 Diese Summe existiert nicht und würde sie existieren, so müsste das Geld für meinen Reichtum erstens erwirtschaftet werden, also müsste zweitens jemand dafür bezahlen, drittens würde das Geld dort, wo es verdient würde abgezogen und zu mir transferiert, viertens würde das alles ohne mein Zutun geschehen, fünftens wäre es vollkommen unmoralisch, sechstens unmöglich, siebtens aber ist dies genau die Realität dessen, was mit unserem Geld, mit der Zinswirtschaft geschieht. 132 Wussten Sie, dass sogar gemäss deutschem Grundgesetz Art. 14 Abs. 2 Eigentum verpflichtet? 144 Die einzige Möglichkeit, mir dieses Geld zu bezahlen, bestünde darin, dass man alle Geldmaschinen der Welt auf Hochtouren laufen liesse, um mir dieses Geld zu produzieren. Jedoch: Da dieses Geld keine eigene Wertschöpfung hätte, würde durch die Geldproduktion das Geld ständig entwertet. Irgendwie ist das tröstlich, dass man allein durch Liegenlassen des Geldes nicht zum Eigentümer der ganzen Welt werden kann, andererseits ist es doch beunruhigend zu sehen, dass die Zinsmaschine letztlich einem Pyramidenspiel gleicht, das nur so lange funktioniert, als neue Wertschöpfung (Wachstumszwang der Wirtschaft133) hinter dem Geld steht. Früher oder später, das ist vorauszusehen, muss die ganze Sache explodieren, oder sich selbst an der exponentiellen Entwicklung aufhängen, oder einfach kollabieren. Das eigentlich Schwierige am Zinssystem und daran, dass Geld damit zur Handelsware wird, ist, dass es nach dem MatthäusPrinzip134 funktioniert: Wer hat, dem wird gegeben (Wachstum des Vermögens ohne eigenen Verdienst). Umgekehrt bedeutet dies: Wer braucht, der muss geben (dafür Zins bezahlen). Da kann doch etwas Weiteres nicht stimmen. Solange wir aber die Geldwirtschaft nicht als Problem erkennen, ist keine ökologische Wende möglich. (Hans Christoph Binswanger) Was muss in der Produktion von Waren und Werten belohnt werden? Es müssen Anreize für Initiative und Einsatz gesetzt werden, für Geld, das in Umlauf gesetzt wird. Es müssen Anreize dagegen gesetzt werden, dass Geld gehortet wird und gegen Geld als eigenständige Handelsware. Jenes Geld steht so dem Kreislauf der Waren nicht zur Verfügung. Schliesslich macht der Verzicht die Wirtschaft produktiver. Es ist auch nicht wirklich nötig, für ausgeliehenes Geld eine Leihgebühr zu bezahlen. Denn beide Seiten profitieren: Die Geldgeber, weil sie mit ihrem Geld, das sie zu viel haben, etwas 133 Creutz, H.; Suhr, D., Onken, W.: Wachstum bis zur Krise?, Basis, Berlin, 1986; Noth, R.: Wer bezahlt die Rechnung? Die wirklichen Kosten unseres Wohlstands, Hammer, Wuppertal, 1988 134 Die gute Nachricht, Bibel in heutigem Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1982: Matthäusevangelium Kapitel 25, Vers 29 145 Sinnvolles anfangen können, die Geldnehmer, weil sie so ein Vorhaben realisieren können, wofür sie sonst zu wenig Geld hätten. Metalog: Ich stelle mir ein Geldsystem vor, das nicht schon vom Prinzip her die Reichen (jene, die Geld zur Verfügung stellen können) immer reicher macht und die Armen (jene, die zu wenig Geld haben) immer ärmer. Zudem stelle ich mir ein Geldsystem vor, das nicht durch Zins und Zinseszins eine Dynamik auslöst, welche die Herstellung und die Waren immer mehr verteuert und deshalb auf Gedeih und Verderb auf Wachstum angewiesen ist, um dies auszugleichen. Vor allem bei den armen Ländern sind ja wegen der Zinslast die Geldströme, welche mit Unterstützung und Entwicklungshilfe in diese hinein fliessen, oft deutlich geringer, als jene Gelder, welche herausgezogen werden: Eine Spirale welche durchbrochen werden muss. Das Wachstum der Wirtschaft soll dann und dort stattfinden, wo ökologisch sinnvoll Produkte hergestellt werden, die der Menschheit dienen. Wachstum soll aber nicht dazu dienen, der Zinsspirale immer knapp zu entrinnen und auch nicht dazu, die für die Erhaltung der Kaufkraft immer höheren Löhne bezahlen zu können. Löhne sollen in erster Linie aufgrund von Leistung angepasst werden sowie um mehr Wohlstand bei jetzt tieferen Löhnen gewährleisten zu können. Dies wäre aber keine irreale Entwicklung der Löhne, wie sie jetzt vom Grundsatz her abläuft. Mein Gärtner hat damals vor ca. 60 Jahren für 60'000 ein Mehrfamilienhaus gekauft, was zirka 3 Jahreslöhnen entsprach. Das gleiche Haus hat heute einen Wert von 400'000 bis 600'000, was auch heute in der vergleichbaren Lohnkategorie immer noch zirka 3 bis 5 Jahreslöhnen entspricht. Es hat also nicht seinen eigenen Wert gesteigert, sondern die Kaufkraft des Geldes ist zurückgegangen, was durch höhere Zahlen kompensiert wird. Eine Wirtschaft und ein Staat, die sich das Prinzip des zinsfreien umlaufgesicherten Geldes zunutze macht, hat Wettbewerbsvorteile, denn die Geldentwertung sinkt – im besten 146 Fall auf null. Je nachdem steigen so die Möglichkeiten für den Export, wo hingegen die Produkte, welche importiert werden, eher im Preis steigen werden – wenn man davon ausgeht, dass nicht gleichzeitig alle oder mehrere Länder dieses Prinzip anwenden. Damit wird der eigene Binnenmarkt geschützt. Die Produkte des eigenen Marktes, z. B. Ernährung und Bekleidung, also die notwendigen Alltagsprodukte, werden durchschnittlich bis zu 40 % billiger, da der Zinsanteil der Herstellungskosten wegfällt. Übereinstimmend mit ökologischen Kriterien, und damit meine ich nicht nur die Elemente des Begriffs, welche die Natur betreffen, sondern umfassender, dass die Welt als ein Haus (Oikos = gr. Haus) gesehen werden muss, auch jene Elemente der Rücksichtnahme auf Länder mit geringerer Kaufkraft des Geldes, macht es durchaus Sinn, dass Produkte, vor allem für den Alltagsgebrauch, welche aus andern und fernen Wirtschaftsräumen stammen, teurer sind, als jene vom eigenen Binnenmarkt. Ein Hochpreisland könnte sich gar erlauben, davon unabhängig die Löhne so zu senken, dass die selbst hergestellten Produkte erschwinglicher werden. Im gleichen Atemzug könnte man es sich sogar erlauben, wenn man so wollte, das ganze Lohngefüge und die dahinter steckende Philosophie, dass auch die Preise einer Arbeitsstelle dem Markt unterworfen sind, zu korrigieren135. Denn ausschliesslich unter dieser Prämisse ist es verständlich, warum man für bestimmte, weniger beliebte Arbeiten wenig Lohn bekommt, für jene aber, die beliebt sind, wofür es aber wenig geeignete Menschen gibt, dafür Unsummen. Das Lohngefüge muss nicht flatlinig nivelliert werden. Es soll Anreize geben, sich zu bewähren, so genannt aufzusteigen, sich weiterzubilden, aber diese sollen sozialverständlich und sozialverträglich sein. Wenn heute ein Universitätsstudium offensichtlich so teuer zu stehen kommt, dass der „return of investment“ im Durchschnittsfall während der Lebensarbeitszeit nicht mehr stattfindet, dann stimmt von einem Marktdenken im 135 Damit diese Idee funktioniert, müsste allerdings noch ein neues System angewendet werden, wie der Kurswert von Währungen festgelegt wird. 147 ökonomischen Sinn her sowieso einiges nicht mehr. Auch mit dem Aufsteigen ist es so eine Sache. Spätestens seit dem Peter-Prinzip136 wissen wir, dass man so lange befördert wird, wie man als fähig betrachtet wird, bis man auf jenem Stuhl sitzen bleibt, auf dem man sich nicht mehr so fähig benimmt, um weiter steigen zu können. Mehr Lohn kriegt man dafür aber allemal oder mindestens eine tolle Abfindung, wenn man im gegenseitigen Einvernehmen freigestellt wird. Jede Beförderung hat zur Folge, dass andere Fähigkeiten benötigt werden, als jene, aufgrund derer jemand auf der Ebene, aus welcher er befördert wurde und als fähig betrachtet wurde. Dass es auf jeder Ebene auch gute und fähige Leute hat, haben wir dem zu verdanken, dass das Schicksal nicht erbarmungslos zuschlägt. Neuere Forschungen zeigen, dass jede Chefposition nur so gut sein kann, wie es ihr gelingt, das Know-how der ihr Anvertrauten anzuzapfen. Also weshalb um alles in der Welt, wenn der Chef nur kraft seiner Mitarbeiter gut sein kann, soll er dann immense Summen verdienen? Ein bisschen Bescheidenheit wäre angezeigt… Fähigkeit ist eine Systemvariable, ebenso wie Intelligenz, kein individueller, originärer und universaler Wesenszug ist. Geld wird also wieder zu einem Mittel, das den Tausch erleichtert. Dafür wurde es früher erfunden. Geld selbst ist keine Ware, die gekauft und verkauft wird. Sie repräsentiert den Wert der Waren und nichts sonst. So kann Geld auch nicht selbst „arbeiten“, denn dass Geld arbeitet, kommt nur Teilen der Bevölkerung zugute. Es repräsentiert nicht Arbeitsleistung und damit reell erarbeiteten Verdienst. Gerechtes Geld repräsentiert nur eigentliche Wertschöpfung und stellt sie nicht virtuell selbst her. Dass sich mit solchem Geld tatsächlich arbeiten lässt, zeigen äusserst erfolgreiche Beispiele aus vergangenen Zeiten. Das bekannteste stellt die österreichische Stadt Wörgl137 dar, die in der schweren Wirtschaftskrise zwischen dem ersten und dem 136 Peter, L. J.; Hull R.: Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen, Rowohlt, Reinbek 2003 137 Das Geldwunder von Wörgl: Spiegel Spezial 5 (1996, S. 10 148 zweiten Weltkrieg ein entsprechendes Experiment mit zinsfreiem, umlaufgesichertem Geld wagte, das ausserordentlich erfolgreich war – offensichtlich zu erfolgreich, denn das Geld von Wörgl wurde am 15. September 1933 verboten. Solches Geld hätte zur Folge, dass die Abhängigkeit der armen Staaten von den Reichen reduziert würde, da der Schuldendienst nicht mehr so schwer drückt. Solches Geld hätte zur Folge, dass die sozialen Themen wieder vermehrt unter dem Aspekt Ziele und Ausgleich diskutiert werden könnten, denn das immer stärkere Auseinanderdriften von Arm und Reich, solchen mit und ohne Privilegien, ist eine Zeitbombe, welche entschärft werden muss, bevor sie explodiert. Wenn man dies auch auf dem Hintergrund einer Geldreform tun würde, so würde man auch das zwangswachstumsbestimmte Explodieren des Geldes mit all seinen spiraligen Folgen im gleichen Streich lösen. Banken werden selbstverständlich Schwierigkeiten mit dieser Reform haben. Allerdings zu Unrecht, denn diese Reform führt nicht zur Abschaffung der Banken, sondern lediglich zur Veränderung ihrer Tätigkeit. In den Anfängen des Christentums waren Geldzinsen höchst umstritten und wurden in Zusammenhang mit Wucher gestellt. Schliesslich liess man der Zeit ihren Lauf. Hingegen blieb im Islam diese Thematik länger kontrovers. Offensichtlich gibt es in islamisch dominierten Ländern trotzdem ein florierendes Bankensystem, denn Geld geliehen und verliehen, verteilt und umverteilt wird auch dort. Offensichtlich lässt sich davon auch leben. Eine zinsfreie Wirtschaft ist also keine Wirtschaft, welche gegen die Banken gerichtet ist. Natürlich wäre es in diesem Zusammenhang konsequent, wenn Spekulationen an Börsen, mit Aktien und ähnliche Bereicherungsversuche ohne eigentliche Wertschöpfung ebenso eingeschränkt würden. Ich gehe davon aus, dass diese Utopie (gr. = kein Ort) nicht für immer heimatlos bleiben muss, auch wenn es im Moment eher einer bodenlos brotlosen Erfindung gleicht, dies anzunehmen. 149 Wenn grüne Reiser allein die Kraft haben, eigene Wurzeln zu schlagen, warum soll das nicht auch mit Ideen geschehen? Geld, das dazu dient, Waren, die man zum Leben braucht, gerecht zu verteilen, ebenso, wie den Reichtum? Warum soll es das nicht geben? Warum soll es nicht Länder, ja eine Welt geben, die dies als sehnlichsten Wunsch in die Tat umsetzt und erst noch profitiert davon, dass dies geschieht? Warum soll es nicht ArbeitgeberInnen geben, die nicht mehr ständig mehr Lohn fordern müssen, nur um ihre Kaufkraft für das Lebensnotwendige zu erhalten und warum eine Wirtschaft, welche die Preise oder die Produktion zu erhöhen gezwungen ist, nur um mit dem Wachstum den Wohlstand zu erhalten, dabei aber die Natur mit Füssen zu treten oder sie gar untertan machen zu müssen. Die Natur des Menschen lässt viel mehr Möglichkeiten zu, als wir manchmal für wahr halten mögen. Übrigens: Wegen der dramatisch hohen Verschuldung der USA gehören bereits 46 % der Staatspapiere dem Rest der Welt. Wäre die USA eine Aktiengesellschaft, wäre die USA nicht mehr weit entfernt davon, den Besitzer zu wechseln.138 138 Vgl. Goff, S. z.B. auf www.fromthewilderness.com 150 151 152 Demokratur: Herrschaft des Volkes über das Volk Konsens ohne Zustimmung139. Dialog: „Mama, Mama, was ist Demokratie?“ Mama: „Demokratie ist die beste Staatsform.“ Kind: „Wieso die beste?“ Mama: „Das hat mal Churchill, ein englischer Staatsmann, gesagt. Demokratie ist die beste aller schlechten Staatsformen.“ Kind: „Aber ist sie gut?“ Mama: „Man kann sich keine bessere vorstellen.“ Kind: „Aber du beantwortest meine Frage nicht.“ Mama: „Du stellst auch schwierige Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind. Weisst du, man sagt, dass das Bessere der Feind des Guten ist. Warum wollen wir uns darüber Gedanken machen, wie man es besser machen könnten, wenn wir nicht mal wissen ob das, was wir jetzt haben, gut ist?“ Kind: „Also du weisst auch nicht, ob die Demokratie gut ist! Warum ist es denn gut, dass die Mehrheit gewinnt. Kann es nicht sein, dass ein einziger mehr weiss als das ganze Volk? Kann es nicht sein, dass die Mehrheit gar nicht recht hat? Kann es nicht sein, dass Meinungen bei Abstimmungen manipuliert werden? Warum gibt es Abstimmungspropaganda? Darf es sein, dass man als Minderheit nicht zum Recht kommt, nur weil es eine Mehrheit gibt?“ Mama: „Ich weiss auf deine Fragen keine Antworten. Ich weiss nur, dass ich nicht in einer Diktatur leben möchte.“ Kind: „Ich möchte auch keinen bösen Herrscher haben, der befehlen kann. Ich möchte nur wissen, ob es hinter der Demokratie vielleicht noch eine bessere Staatsform gibt.“ Mama: „Weshalb machst du dir so viele Gedanken darüber?“ Kind: „Wir haben in der Religion über Gerechtigkeit gesprochen, darüber was gut ist und festgestellt, dass vieles nicht genügt. Es gibt zu viele arme Länder. Wir zerstören unsere Umwelt und verbrauchen die Ressourcen unserer Zukunft. Wir haben Probleme mit Fremden, die in unser Land kommen. Wir haben viele Arbeitslose...“ Mama: „Das sind grosse Probleme. Die 139 So bezeichnet Noam Chomsky heute verbreitete demokratische Regierungsformen. Mit dem Effekt steigender Politverdrossenheit, -abstinenz und damit der Erhöhung des Effekts. Chomsky, N.: Profit over People – War against People. Piper, München, 2006. S. 54ff 153 brauchen Zeit. Das bedeutet nicht, dass die Demokratie nicht funktioniert.“ Kind: „Aber ich mag nicht warten. Mama, hat denn in der Demokratie die Mehrheit immer recht? Hat man als Einzelner nichts zu sagen? Du sagst doch auch immer: Nur, weil etwas alle tun, muss es noch lange nicht gut sein!“ … Ein einziger mutiger Mensch stellt eine Mehrheit dar. (Andrew Jackson140) Antilog: Demokratie ist eine Erfindung, die damals eine brennende Frage neu und revolutionär definierte: Wie kann Gottes Wille in der Welt umgesetzt werden? Wie kann dafür gesorgt werden, dass das, was Menschen tun und entscheiden, Gottes Wille am ehesten entspricht und damit – gottfrei ausgesprochen – gut ist. Weshalb kamen Philosophen damals, als es nur die Aristokratie gab, auf den verwegenen Gedanken, über so etwas Umstürzlerisches und Gefährliches nachzudenken? Man stellte fest, dass das Volk immer weniger bereit war, die Ungerechtigkeiten, Zwangsabgaben und Grausamkeiten zu tolerieren, welche Fürsten, Grafen, Kaiser und Könige für selbstverständlich hielten. Man hatte Verständnis dafür. Mehr noch, man sah, welche gesellschaftspolitische Sprengkraft sich in den unterdrückten Massen zusammenbraute. Man musste aber ein Problem lösen. Die Aristokratie stellte die Stellvertretung Gottes auf der Erde dar. Sie war in sich gut und damit unangreifbar, weil sie selbst den Willen Gottes verkörperte. Deshalb war es auch so, dass es keine Auswahl des Herrschers gab, sondern dass die Thronfolge an eine auserwählte Familie gebunden war. Nun erdachten die Philosophen und Theologen eine neue Theorie, wie das Gute auf der Welt hergestellt, gefunden, bewahrt und entschieden werden kann. Sie problematisierten flugs, dass eine einzige Person in der Lage sein könne, den vollen Willen Gottes zu erfassen. Zweitens konstruierten sie die 140 Andrew Jackson war der 7. Präsident von Amerika. Zit. nach Horx, M.: Anleitung zum Zukunftsoptimismus. Campus, Frankfurt/M, 2007. S. 262 154 Idee, dass es auch kaum möglich sei, den Willen Gottes herzustellen durch eine einzige Person, welche das Gute erkennt, wenn alle andern, also das Volk, dazu nicht in der Lage wären. Eine Titanenarbeit eines Diktators also oder eine Sisyphusarbeit eines grossmütigen Geduldsengels. Beides schien nicht zu funktionieren, umso mehr, als auch die Philosophen davon ausgingen, dass „Gutes nur durch Gutes“ gewirkt werden kann und dass für alle erkennbar ist, was gut ist. Nun, wenn also die Herrschaft eines Gottesvertreters entarten kann, so ist er nicht mehr gotteswürdig und damit geriet philosophisch die Institution der Aristokratie ins Wanken. Welche Alternative und damit welcher Ausweg bot sich also an in dieser schwierigen und verzweifelten Lage? Wie konnte dem Volk wieder Hoffnung gegeben werden ohne dass das Volk nun in Selbstherrschaft und Anarchie entartete? Damals, da das Volk ja nur als Mob, ungebildet und unwissend, roh und ungestüm, einfach und unselbständig galt, war diese Frage wesentlich. Die Lösung war: Das Volk selbst, also alle ohne Unterschied, vertreten Gottes Wille auf der Welt. Nicht alle gleich viel, aber alle zusammen ergeben schliesslich die Fülle von Gottes Ratschluss. Allerdings fehlte in dieser Konstruktion zuerst noch Folgendes: Man hatte in der dunklen Vergangenheit von der herrschenden Klasse viel dazu beigetragen, dass das Volk dumm und dümmlich gehalten werden konnte, indem man ihm die Bildung weder ermöglichte noch zutraute. Dies musste korrigiert werden, denn nur solche, die über Vernunft verfügen und die Möglichkeit besitzen, sich Wissen zu verschaffen, können vernünftig denken und handeln. Erst Volksbildung ermöglichte Partizipation, welche eine wichtige Säule der Demokratie darstellt. So kam es dazu, dass die philosophisch-theologische Neudefinition zur Entstehung einer Demokratie wesentlich beigetragen hat. Diese Grundlagen haben vor allem dazu geführt, dass die Demokratie als Verbesserung angesehen werden konnte, da dieses Vertretungsmodell von Gottes Willen und damit dem „Guten“ auf der Erde vertrauenswürdiger erschien, als sich auf die Launen eines Herrschers, bzw. im damaligen Ausnahmefall einer Herrscherin zu verlassen. 155 Gleichzeitig wurde diese Theorie jedoch in der französischen Revolution auch in die Tat umgesetzt. Ihr Motto war: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine erste Anwendung der philosophisch-theologischen Grundlagen, die bis heute in ihrer Einfachheit und Klarheit ihre Gültigkeit nichts eingebüsst hat. Heute würde man einfach politisch korrekter von Geschwisterlichkeit sprechen. Man muss aber heute auch wieder genauer überlegen, was eigentlich damals gemeint war, denn sonst erfasst man den eigentlichen Sinn nicht. Freiheit bedeutete in erster Linie Freiheit von Herrschaft, Geschwisterlichkeit bedeutet, dass man fürsorglich und altruistisch mit andern umgehen soll und die Gleichheit bedeutet, dass es nicht solche gibt, welche mehr wert sind oder mehr zu sagen haben, als andere. Diese drei Forderungen sind gleichzeitig auch ethische Verpflichtungen. Die Freiheit des Einzelnen hört bei der Freiheit des andern auf. Die Gleichheit bedeutet nicht, dass wirklich alle gleich sind, sondern dass trotz der Vielfalt der Eigenarten und des Potentials kein Mensch vor dem andern vorgezogen oder aus dem gleichen Grund niedrig geschätzt werden darf. Sie funktionieren eben nur im gegenseitigen Dreispiel, wenn alle bereit sind, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Zünde lieber ein Licht an, wenn es andern ablöscht. Damit war die Grundlage der Demokratie gelegt. Und wer will schon zweifeln daran, dass sie sich bewährt hat und wirklich die beste aller Staatsformen darstellt? Ist die Demokratie universell die beste Staatsform? Dann müsste sie überall, in jede Kultur, in jede Religion und zu jedem Volk passen. Ist die Demokratie wirklich jene Staatsform, der es gelingt, das „Gute“ auf der Welt einzufangen, zu behüten und zu pflegen, sodass es sich vermehrt und zwar zugunsten aller des Landes und zugleich nicht zuungunsten anderer, welche nicht im gleichen Land wohnen, auswirkt? Eine Demokratie, wenn das Prinzip ernst zu nehmen ist, ist keine Möglichkeit dafür, es sich hinter abgeschotteten Grenzen in einem umschriebenen Territorium möglichst wohlig 156 einzurichten, denn die Demokratie ist grenzenlos. Es geht um das Wohl der Menschheit, nicht um dasjenige bestimmter Länder, bestimmter Rassen, bestimmter Völker oder Nationen. Das Prinzip besagt, dass die Menschen selbst über ihr Wohl und Wehe im Rahmen ihrer Vernunft bestimmen können. Niemand hat davon etwas gesagt, dass es bestimmte Länder gibt, welche mehr Recht oder Macht haben, als andere. Wenn dem nicht so wäre, so hätten wir nun das Prinzip der Monarchie oder Oligarchie (ein Mensch oder wenige beherrschen alle Menschen in einem Land) ersetzt durch die Aristokratie (edle und auserwählte Länder herrschen über andere) zwischen Ländern. Daran muss die Demokratie gemessen werden. Setzen wir sie also auf den Prüfstand und warten gespannt auf die Resultate auf der Anzeige. Dafür werden wir verschiedene Themen streifen und beleuchten. Am Schluss werden wir im folgernden Metalog zwar nicht Bilanz ziehen – diese möchte ich der geneigten Leserschaft überlassen – aber dafür vielleicht einige lose Ideen, selbstverständlich geschüttelt und nicht gerührt, präsentieren. Natürlich sind diese Gedanken reine Kopfgeburten, Ausgeburten der Phantasie. Aber vielleicht gibt der eine oder die andere ihnen Gelegenheit Wurzeln zu fassen und zu wachsen. Wohlan! Weise und Alte: Früher gab es den Rat der Alten. Heute gelten Alte häufig als verknöchert, senil und eigenbrötlerisch. Man sollte natürlich keine falschen Schlüsse ziehen. Damals, als man das Alter ehrte, wurden die Leute vielleicht 40 bis in Ausnahmefällen 60 Jahre alt. Heute würde man dazu sagen, dass die Menschen im besten Alter sind. Das Alter führt häufig dazu, dass man beginnt, sich zu beschränken, das Leben en passant vor dem inneren Auge zu betrachten, und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden beginnt. Natürlich kommen die Alten in einer so schnelllebigen Welt wie der heutigen nicht mehr nach. Dies könnte aber gerade ein beachtenswertes Zeichen darstellen. Weisheit besteht meist aus einer Mischung von emotionaler Gelassenheit und Filtervorgängen, welche die Erfahrungen gewichten. Warum sollte eine Staatsform, die sich gerecht und die Beste nennt, nicht verstärkt von solchen 157 Prozessen genährt und vielleicht gemässigt werden? Natürlich gibt es auch die Idee, dass „Erfahrung dumm macht141“ und sie ist nicht von der Hand zu weisen, denn wenn jemand dauernd immer die gleiche (schlechte) Erfahrung macht, traut er sich, der Umwelt und dem Schicksal nicht mehr und wird argwöhnisch. Dies ist keine taugliche Grundlage für die Verbreitung einer aktiven, zuversichtlichen Stimmung. Jugend: Die Jugend wurde schon immer kritisiert. Bereits aus der Zeit der alten Griechen existieren Zitate, welche darauf hinweisen, dass die Jugend verwerflich, gefährlich usw. sei. Die Jugend reagiert mit rebellischem Verhalten. Sie nimmt die Gesellschaft entweder in aktiver Konfrontation aufs Korn, zieht sich schmollend zurück oder gründet Subkulturen. Was uns weitgehend nicht gelingt, ist, die darin enthaltene Kritik für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Meist lehnen wir extreme Verhaltensweisen und Kulturen ab und verpassen damit den Anschluss. Wir können uns nämlich so oder so nicht gegen die Stabübergabe zu einem späteren Zeitpunkt an die heutige Jugend, die dannzumal allerdings bereits schon arriviert ist, zur Wehr setzen. Sie findet statt. Viele der extremen Vorgänge stecken in gemässigter Form auch in breiten Kreisen der Jugend. Wir täten also gut daran, uns vermehrt mit der Bedeutung und dem Sinn auseinander zu setzen, statt in Unverständnis, Agonie und Ärger zu versinken. Den Bock zum Gärtner machen, lohnt sich insbesondere darum, weil der Bock später sowieso zum Gärtner werden wird. Heutzutage wird viel unternommen, die Jugend wieder für politische Themen zu gewinnen. Die angebotenen Formen (Jugendparlamente, Jugendparteisektionen) sind jedoch meist jene der Alten und erfassen deshalb vornehmlich jene Jugendlichen, welche nicht mit Sprengkraft neue Wege gehen. Natürlich muss nicht jeder jugendlich vorlaute Eiferer zum Prophet werden und jede Spinnerei und Spintisiererei gleich zum Volltreffer hochstilisiert werden. Aber die Jugend ist das Ideenreservoir für die Zukunft. Natürlich sollten wir die Jugend 141 Dt. Filmemacher R. W. Fassbinder, vgl. auch: Jegge, J.: Dummheit ist lernbar, Zytglogge, Bern, 2002 158 wieder vermehrt auch zu den traditionellen Formen der Politik wie Abstimmungen und Wahlen (aktiv und passiv) hinführen, jedoch sind leider diese Vorgänge weit getrennt von jeder Jugendkultur – seit längerem. Minderheiten: Die Demokratie ist ein Mehrheitssystem. Wer die meisten Stimmen hat, kauft, fängt, wirbt oder durch andere Machenschaften gewinnt, siegt. Das ist gut so, denn wenn es Möglichkeiten gäbe, wie die Minderheit siegt, so wäre das unerträglich und es würde bereits wieder etwas nach Oligarchie (wenige herrschen über viele) schmecken. Aber eben mit dem Thema Sieg sind wir nicht in der demokratischen Sprache gelandet, sondern in der martialischen des Kriegs. In der Demokratie geht es um Einheit und um Konsens. Die Mehrheit wird deshalb respektiert, weil es eine Art ungeschriebenes Gesetz gibt, das von einem geteilten Konsens ausgeht. Die Einigkeit und damit die Zustimmung zu einem Mehrheitsresultat eines Landes steht nicht auf dem Spiel, solange man bereit ist Zugeständnisse zu machen. Dazu sollten Minderheiten jedoch nie zu Verlierern gestempelt werden. Schon gar nicht sollten Minderheiten verunglimpft werden, welche vom politischen Prozess formell ausgeschlossen sind oder aus andern Gründen bereits unterprivilegiert sind. Gerade in einer Demokratie muss es möglich sein, dass sich Minderheiten bemerkbar machen können, gehört und nicht ausgegrenzt werden. Viele Nachteile unserer Gesellschaft sieht man tatsächlich erst aus der Sicht vom Rand her. Eine gerechte solidarische Gesellschaft nimmt auf die Mitmenschen am Rand Rücksicht, darf allerdings daran auch bestimmte Erwartungen knüpfen, was nicht unbedingt in Richtung von unterwürfiger Dankbarkeit, also Abhängigkeit gehen sollte. Ideen entstehen meist nicht in einer Eingebung des kollektiven Unbewussten über Nacht bei einer Mehrheit, sondern sie schlummern vielfach in den Herzen und Köpfen Einzelner. Selten ist eine bahnbrechende Entdeckung sofort bekannt und erkannt worden. Da hat die Demokratie als Mehrheitensystem noch Nachholbedarf. Unpopuläre Entscheide: Die politisch Verantwortlichen in der Exekutive und die Mandatsträger in der Legislative müssen aus Systemgründen darauf achten, wieder gewählt zu werden oder 159 dies mindestens abwägen. Deshalb ist es häufig so, dass nötige, wichtige Entscheide nicht gefällt werden, weil sie dem einen oder anderen wehtun könnten oder zumindest nicht in den Kram passen würden. Das ist richtig so. Wer hat denn in einer Demokratie das Sagen? – Wohl das Volk! Das hat aber auch gewichtige Nachteile. Wenn irgendetwas Einschränkendes aus guten Gründen beschlossen werden muss, so ist einem doch das eigene Portemonnaie und der eigene Kittel am nächsten. Eine Demokratie kann sich also immer nur so langsam und so schnell bewegen, als sich bestimmte Einsichten im Volk verbreiten – und das ist manchmal zu langsam, vor allem wenn es um grundlegende Veränderungen geht, welche zur Erhaltung des Planeten notwendig und unabdingbar sind und die auch eine bestimmte Agenda benötigen. Da bräuchte es doch zusätzliche Entscheidungsprozesse, welche mehr von Vernunft, Wissen und Daten geprägt sind, als vom Kalkül. Es bräuchte zusätzliche Meinungsbildungs- und -änderungsprozesse, welche auch Unliebsames gegen den Willen der schweigenden oder aufbegehrenden Mehrheit beschliessen lassen. Demokratie ist mehr als das Vertreten von Partikular- und Eigeninteressen, von Füssen, Stimmen, Pfründen unter gleichzeitiger Einhaltung von Status (quo) und unter Wahrung des (Besitz)standes. Wenn Sie etwas verändern wollen – müssen Sie etwas ändern. Zukunft: Wenn wir unsere Zukunft in Angriff nehmen wollen, müssen wir die Demokratie reformieren. Es besteht die Gefahr, dass die Entwicklungen verschlafen, welche sich auf der Welt anbahnen und am eigenen Ast sägen, auf welchem uns die Natur die Aussicht geniessen lässt. Das was ich hier schreibe, soll alles andere als Panikmache sein. Es ist verständlich, wenn die Menschen dann insbesondere gegen Einwanderung rebellieren, wenn von der Wirtschaft nicht mehr genügend Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden. Es ist verständlich, wenn die Menschen böse werden, wenn Flüchtlinge die Gastfreundschaft missbrauchen. Es ist verständlich, wenn man nicht aufs Auto verzichten will, wenn die Industrie oder der Staat keine umweltfreundlicheren Transportmittel zur Verfügung stellt. 160 Es ist verständlich, dass Menschen ihren verdienten Wohlstand nicht einschränken möchte, wenn sie sehen, dass andere im Luxus prassen. Es ist verständlich, wenn Menschen mit allen Mitteln um Privilegien kämpfen, umso mehr, als man sie ihnen nicht gewähren möchte. Es ist verständlich, dass Menschen aus einer trostlosen Zukunft in ein hoffnungsvolleres Land ziehen möchten. Es ist verständlich, dass Menschen dann, wenn das erwählte Migrationsland sich nicht als Paradies herausstellt, in Agonie verfallen oder sich durch (illegale) Machenschaften bereichern wollen. Es ist verständlich, wenn die Wirtschaft im harten Konkurrenzkampf, welcher offensichtlich zur heilsamen Grundregel des Ökonomismus gehört, ihre Kapitalgeber nicht verdriessen wollen und deshalb nur insofern an nachhaltiger Sanierung der Ökobilanz interessiert sind, als andere dazu gleichermassen verpflichtet werden. Trotzdem bleibt all dies ein gefährlicher Ritt am Rande des Abgrundes. Kommunismus: Der Kommunismus war ein später Versuch, das zweite Mal das zu wagen, was sich mit der französischen Revolution angebahnt hatte. Eine Reformation, wie Luther sie mit dem Christentum initiierte. Die Reformation ging schief. Sie reformierte nicht die Demokratie, gebrandmarkt als Kapitalismus. Lediglich das zaristische Russland hatte umsturzhalber Musikgehör. Die Theorie Kommunismus vollzog nur nochmals auf anderer Grundlage das, was Demokratie eigentlich bedeutete, nämlich, dass alle Menschen gleich viel wert sind, dass deshalb niemand mehr verdienen sollte, dass deshalb niemand mehr Befugnisse haben sollte, dass alles dem Volk gehören sollte. Nun, weshalb ging der Kommunismus schief? Nicht etwa wegen der hohen Ziele und Werte, sondern wegen derer menschenverachtenden Umsetzung. Leider war der real umgesetzte Kommunismus meist eine Art Materialismus, der alles, was nicht zählbar war, ablehnte. Gefühle störten. Leid gab es nicht – nur verordnete Begeisterung. Aussenseiter durfte es nicht geben – es sei denn als psychiatrisch diagnostizierte staatsfeindliche Elemente. Der Kommunismus zerbrach an seinem Menschenbild, das das Gegenteil dessen war, was die eigentliche Botschaft darstellte. Alles musste verwaltet und versorgt werden, alles musste geplant werden. Da alles stimmen musste, musste vieles 161 geradegebogen werden, was krumm war. Dazu brauchte es die verborgene Ebene. Man wollte ja das Volk nicht betrügen, also liess man das Volk von den Machenschaften nichts wissen. Die Parteilinie war rigide: Eine Meinung und das bittschön mit wehenden Fahnen. Dissidenten und Kritiker waren Staatsfeinde, obwohl vielleicht der Kommunismus tatsächlich erfolgreich hätte werden können, wenn er von seinen Kritikern gelernt hätte, statt sie in Gulags zu stecken. Am allertollwütigsten jedoch war das Abschotten der Grenzen, wie Klostermauern gegen die böse Welt. Eigentlich hätte ja dies dazu dienen sollen, dass niemand aus dem bösen kapitalistisch ignoranten Umland in die Freiheit des Kommunismus hätte kommen können. Es war aber umgekehrt, schliesslich die Einkerkerung der Sträflinge. Niemand ist frei, ausser er ist im Kommunismus eingesperrt. Alles Gehabe des Kommunismus diente dazu, selbstherrlich Wahrheiten aufstellen zu können, ohne dass jemand das Recht darauf besass, diese einer Nagelprobe zu unterziehen. Abschliessend ist nur zu fragen: Wem traute der Kommunismus weniger: Den Menschen, die er vom Joch befreien wollte oder der befreienden Botschaft, die er vertrat? Man wird es nie wissen. Der Hauptfehler von Marx war, dass er den Kapitalismus eigentlich gar nicht ändern, sondern nur dem Staat übergeben wollte. (Michael Ende) Nun, worauf ich hinaus will. Eifrig ging man daran, von westlichkapitalistisch-demokratischer Seite, nach dem Zusammenbruch des real existierenden Kommunismus, dies als Überlegenheit und Endsieg des westlichen Systems über den Feind darzustellen. Einverstanden: Statt menschenfreundlicher Systeme hat der Kommunismus fast nur heuchlerische Diktaturen erschaffen. Die Idee, meine Damen und Herren, ist aber mit der schlechten Ausführung nicht gestorben und beerdigt. So einfach geht das nicht. Kommunistischökonomisch-philosophisch-soziologische Elemente sind längst selbst zu einem Teil unserer Kultur geworden, aber immer noch suspekt. Es ginge darum, das Prinzip des Gleichvielwertseins in einer universaleren Dimension mit unserer demokratischkapitalistischen Welt zu verschmelzen, ohne die Vorteile 162 unseres Gesellschaftssystems aufzugeben. Man soll doch nicht bei lautem Siegesgebrüll die leisen Töne des Kindes, das man mit dem Bad ausschüttet, überhören. Gelebte Demokratie … schafft Macht142. Befreiungstheologie: Die Bewegung der Befreiungstheologie wurde vom Machtapparat der katholischen Kirche unterdrückt – oder zumindest deren Sprachrohre zu leiseren Tönen ermuntert, was etwa denselben Effekt hat. Was wollte diese Bewegung? Etwas, was uns in unseren Ländern sehr gefallen würde und was zugleich Not täte: Selbstverantwortung. Mit Hilfe religiöser Bilder gab sie in erster Linie der armen, Not leidenden Bevölkerung die Würde zurück, zeigte ihnen, dass weder Armut noch Not Schicksal oder gottgewollt sei. Gab ihnen Selbstwert. Zeigte ihnen gar, etwas überhöht, dass ja sogar ihr religiös bewunderter Retter geschmäht wurde, leiden musste, dass er von der herrschenden Klasse als Umstürzler abserviert wurde. Diese Geschichten gaben den Armen und Notleidenden in Lateinamerika Mut und Hoffnung. Wir können etwas zur Verbesserung unserer Lage tun. Wir haben Fähigkeiten. Wir sind jemand. Wer sagt in unseren Landen solches? Die Kirche hat zu wenig Kraft dazu. Der Staat zeigt, dass die Sozialhilfeempfänger, egal welcher Provenienz, ihm eine Last sind. Es müsste doch möglich sein, gerade jenen, welche unter ihrer Randständigkeit leiden, eine Heilsgeschichte zu erzählen, welche vielleicht nicht unbedingt religiös sein muss. Es könnten auch solche z. B. von einem Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen – 142 Lappé, F. M.: Was für eine Art von Demokratie? S. -283-336 In: Girardet, H. (Hg.): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos, eva, Hamburg, 2007, S. 292. Er führt dazu aus: In diesem Sinne schafft die gelebte Demokratie Macht (power), indem sie mehr Menschen in die Lage versetzt, gemäss ihren Wertvorstellungen und Interessen zu handeln. (a. a. O.) Wohlgemerkt: Dahinter steckt genau die Feststellung, dass eine Hauptproblematik der heutigen Demokratie darin steckt, dass sie eine sogenannte magere Demokratie darstellt, weil die konkrete Ausgestaltung meist zur Zunahme privater Macht durch Machtkonzentration führt. Dies ist selbstverständlich demokratiefeindlich. 163 ach, das bin ja ich – sein. Warum nicht eine Heilsgeschichte, an der man sich wie am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf herausziehen kann. Man kann etwas tun. In jeder Situation. Um die Lage zu verbessern. Man kann das tun, wenn man das Gefühl hat, man sei aus eigener Schuld in die missliche Lage geraten oder wegen andern. Man kann etwas tun, unabhängig davon, ob man die Lage als Strafe oder als Prüfung des Schicksals betrachtet. Ein bisschen davon täte unserer Gesellschaft gut. Wir versorgen zwar in der Regel die „Armengenössigen“, wie man etwas beschönigend aber gleichzeitig leicht säuerlich sagt, bestens, tun aber gleichzeitig wenig dafür, dass sie bis zum 1001. Versuch sich aus der Notlage zu befreien den Mut und die Würde nicht verlieren und dann, wenn die Zeit gekommen ist, den nötigen Eifer, die Sicherheit und die Kraft dafür aufbringen können. Hat dies vielleicht sogar System? Möglicherweise könnte hier das Konzept „Beratung im Zwangskontext143“ und Einsatz von Gemeinwesenarbeit etwas dazu beitragen, dass die Demokratie nicht nur „belastet“ wird und sich auch so erlebt, sondern zugleich sich entlasten kann, als auch verschüttete Hoffnung wieder in Eigenaktivität ummünzen kann. Freiheit: Der Begriff der Freiheit wird heute in der staatspolitischen Diskussion häufig in pervertiertem Zusammenhang verwendet. Das Gemeinwesen, die Gesellschaft, der Staat soll durch Deregulation und Privatisierung dafür sorgen, dass jedeR tun und lassen kann, wie ihm beliebt. Freiheit wird zum egoistischen Selbstzweck. Wenn wir auf die Ursprünge des demokratischen Freiheitsbegriffs zurückgehen, so war dieser im Zusammenhang mit der Befreiung von Herrschaft gemeint und trug zugleich auch die Verbindlichkeit in sich. Freiheit kann nie grenzenlos sein. Dort wo die Freiheit des andern beginnt, dort hört meine Freiheit Conen, M.-L.: „Unfreiwilligkeit“ – ein Lösungsverhalten, Familiendynamik, 1999, 3, S. 282-297; dieser und weitere Artikel sind auch im Internet abrufbar unter: http://www.context-conen.de/artikel/. Der Beratungskontrakt besteht im Wesentlichen in der Frage: Wie können wir dafür sorgen, dass Sie mich wieder loswerden? 143 164 auf. Freiheit lässt sich also nur sinnvoll im Rahmen einer ethischen Gesamtschau definieren. Freiheit um jeden Preis gibt es nicht zu haben – auch auf dem freien Markt nicht. Heute scheint es so, dass man sich eben gerade nicht durch die andern einschränken lassen will und schon gar nicht durch ein unpersönliches Gebilde wie ein Gemeinwesen. Demokratie verspricht scheinbar Freiheit. Es ist aber nicht die „Freiheit, die ich meine144“. Fremde: Früher riefen wir Fremde als Arbeitskräfte in unsere Länder. Heute kommen sie von selbst. Sie kommen in Scharen, einzeln und in kleinen Gruppen, bitten um Aufenthalt, um Aufnahme, um Arbeit, um Schutz und sind doch nicht glücklich, fühlen sich doch fremd und heimatlos. Wir haben etwas in Gang gesetzt, dessen wir nun immer stärker überdrüssig erscheinen. Wir diskutieren darüber, Grenzen zu verschärfen und verstricken uns in ein Dilemma, da aus anderen Gründen die Grenzen aufgehoben werden sollen. Wir fordern vermehrte Integration, setzen aber eher Zeichen der Versorgung, als der Eigeninitiative. Mir scheinen die Bestrebungen diesbezüglich höchst eigenartig zu sein und auf Misstrauen uns und den Fremden gegenüber zu basieren: Wir wollen eigentlich die Integration gar nicht wirklich und gehen zugleich davon aus, dass auch die Fremden, die Integration entweder nicht wollen oder dazu nicht in der Lage sind. Damit sind Erwartungen gesetzt, die so zwiespältig erscheinen, dass sie niemand erfüllen kann, auch wenn er/sie noch so wollte. Woher kommt das? Wir, das Volk, sind uns nicht einig, was wir wirklich wollen! Wollen wir, dass niemand die Grenzen mehr überwindet? Wollen wir, dass nur Bestimmte hinein dürfen? Wollen wir, dass jene, die kommen, hier bleiben oder wieder gehen? 144 In Anlehnung an ein deutsches Volkslied; Text von Max Schenkendorf (1818); Melodie von Karl Gross. 1. Strophe: „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm mit deinem Scheine, süsses Engelsbild! Magst du nie dich zeigen der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen nur am Sternenzelt?“ (Ob es sich allerdings dabei um die Freiheit handelt, die ich meine? Auf jeden Fall – die Sehnsucht, die ist gross.) 165 Wollen wir, dass Fremde bei uns arbeiten und für ihren Lebensunterhalt aufkommen oder wollen wir, dass sie uns das bisschen Arbeit, das noch für uns übrig bleibt, nicht auch noch wegnehmen? Wollen wir Fremde aus humanitären Gründen aufnehmen oder „benötigen“ wir sie aus wirtschaftlichen Gründen? Die Fragen werden zwar diskutiert, meist aber emotionalisiert, rechthaberisch, mit wenig Sachlichkeit, Faktizität und klarer Zielvorstellung. Mehrheiten lassen sich so nur zufällig überzeugen. Einmal so, einmal so. Populistische Argumente haben häufig Tiradencharakter, die Gegenargumente hingegen gleichen Schalmaientönen. Die Themen gehen bis an die existentiell-emotionale Schmerzgrenze, bis zur ethischen Fragwürdigkeit: Werden wir durch Überfremdung ausgerottet? Hat Darwin überhaupt recht? – Und wer verdient es dann, als „fittest145“ mit dem „survival“ belohnt zu werden? Wir können das Thema auch anders beleuchten: Wenn wir uns nach aussen mit attraktiven Begriffen schmücken wie Wirtschaftswachstum, Humanität, Wohlstand, Demokratie, Toleranz, Sicherheit, so müssen wir uns über die ausgelöste Attraktivität (Anziehung) nicht wundern. Wieso soll jemand, dem es aus diversen Gründen schlecht geht, nicht auf den Gedanken kommen, er könnte in einem attraktiveren Land nicht bessere Zukunftschancen haben? Warum sollte jemand, dem die Trostlosigkeit des Daseins so in die Knochen fährt, nicht ein Wagnis eingehen, bei welchem er nichts zu verlieren hat, auch wenn seine überhöhten Phantasien nur ein Trugbild darstellen? 145 Darwin, Ch.: The Origin of Species, Wordsworth Edition, 1998. Darwin meinte mit dem „Survival of the fittest“ nicht das Überleben der Schnellsten, der Besten, der Grössten, der Mutigsten, der Mächtigsten, sondern der ausdauernd Anpassungsfähigsten. (oder wie es etwas neuer und komplexer eingeordnet wir: Dasjenige, dessen Beziehung zwischen Nische und Art sich am stabilsten erweist.) Nun bleibt nur noch die Frage offen: Wer sich woran anpassen muss – die Realität dem Menschen oder der Mensch der Realität, wobei wir bei der Frage sind, was Realität ist und gleich auch die Antwort dafür haben, weshalb diese Fragen nicht trivial sind. Sie drehen sich im Kreise, sind zirkulär. 166 Unsere Demokratie hat sich in dieser Thematik zu bewähren. Sie muss zeigen, ob sie das ist, was sie vorgibt. Es geht um die Universalität des Demokratieprinzips zwischen den Ländern und Völkern. Es geht darum, dass Demokratie auf Partizipation aufbaut, dies aber deshalb auch zu den Pflichten aller Bürgerinnen gehört. Es geht darum zu prüfen, ob „Bürger“ und „Aufenthalter“ die gleichen Pflichten, aber andere Rechte haben und ob dies die erwünschte Wirkung zeitigt oder zumindest unterstützt. Dazu muss aber die Demokratie es schaffen, aus dem Teufelskreis der Suche nach dem Sündenbock auszubrechen und auf die progressive Idee der Lösung umschwenken, denn Suchen und Finden sind zwei verschiedene Tätigkeiten. Das eine kann ewig dauern. Währenddessen wird sich die Situation jedoch bedeutend komplizieren. Träume und Vokabeln: Amerika war lange das Einwanderungsland par excellence. Amerika machte dies ausserordentlich geschickt. Es präsentierte sich als Land der ungehinderten Freiheit (eine Illusion, die es sich zuerst aufgrund der geografischen Weite lange leisten konnte), ein Land, wo alles möglich ist und ein Land, das jede Person willkommen heisst, unabhängig davon, welchen Standes, welcher Rasse und welcher Herkunft sie sei. Dieser Traum machte im eigentlichen Wortsinn und dessen Folgen Amerika attraktiv. Der amerikanische Traum wirkte so anziehend, dass es eine absolute Selbstverständlichkeit war, dass jeder Immigrant zuerst und zumeist ein besserer Amerikaner werden wollte, ohne dass man dies explizit von ihm verlangen musste. Die Aussicht auf Erfolg und Aufstieg oder Reichtum wirkte wie eine Self-Fulfilling-Prophecy146 – ein Selbstläufer. Viele brachen 146 Dieser Effekt wird auch als Pygmalion-Effekt (Rosenthal-, Placebo-Effekt; dieser Effekt wird mittlerweile auch in der Physik diskutiert) bezeichnet. Pygmalion verliebte sich so in eine Statue, dass diese für ihn zum Leben erweckt wurde. Der Effekt wurde im schulischen Zusammenhang erstmals erforscht von Rosenthal und Jacobson. Nach einem Klassentest wurden den Lehrkräften willkürlich bestimmte Resultate über die Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen mitgeteilt. Und siehe da: Die als intelligent bezeichneten wurden „intelligenter“, jene als weniger intelligent bezeichneten 167 aus und auf. Amerika wurde (auf Kosten der Urbevölkerung) bevölkert und umso mehr Erfolgsgeschichten es verbreitete, umso attraktiver wurde es. Das Ziel Amerikanerin zu werden wurde billig feilgehalten. Nach wenigen Jahren konnte man den amerikanischen Pass erhalten. Man war, wie dies heute vielfach ausgelegt wird, nicht nur äusserlich Einwohner des Staates, sondern hatte innerlich Heimat gewonnen und Wurzeln geschlagen – der Pass als Ausdruck einer tiefen emotionalen Bindung. Amerika hat es gelernt, in einem Volk Erfolgsdenken so zu verankern, dass Kritik und Hinterfragen des Traums obsolet oder verpönt waren und sind. „Man ist glücklich und ok“ als vernebelnd-glückselige Volksdroge, mit einem leichten Schuss Überheblichkeit verabreicht, welche zugleich den Gesinnungspreis darstellt. Eines ist klar. Amerika ist ein Erfolgmodell, so stark, dass viele davon träumen, fast alles Amerika nachzumachen, was geht (und Geld bringt). Nun: Wenn Amerika dank der Einwanderung und Integration von Fremden zu einem Erfolgsmodell wurde, und es sind beileibe nicht nur Qualifizierte gekommen, sondern offensichtlich viele Tellerwäscher, dann warum in aller Welt meint man im „alten Europa“ (Entschuldigung, Herr Rumsfeld), dass Immigration das Ende eines Landes oder zumindest eine Bedrohung darstellt? Was ist besser: Autonomie: Selbstverantwortung oder Heteronomie: Fremdbestimmung – die andern sind schuld? Neuerdings behaupten Berufene in plausibler Darstellung, das Amerika ein Auslauftraummodell sei147. Im Kommen sei hingegen Europa! Das hören wir gerne. Was macht nun plötzlich wurden „dümmer“. Wir stellen her, was wir erwarten, auch wenn wir meinen, dass wir nur beurteilen. Erwartungen, die wir an andere Personen haben, können im sozialen Miteinander dazu führen, dass am Ende genau das eintritt, was wir von anderen erwartet haben. Bedenkenswert und bedenklich insbesondere im Zusammenhang mit Sozialfürsorge und Ausländerthematik. Wir stellen möglicherweise ständig zuerst das her, was wir anschliessend bekämpfen. Das kann teuer werden und vor allem lange andauern. Rosenthal, R; Jacobson, L.: Pygmalion im Unterricht. Beltz, Weinheim, 1983 147 Rifkin, J.: Der europäische Traum, Campus, Frankfurt/M, 2004 168 Europa zum Erfolgsmodell? Die Idee, vom territorialen Landesmodell abzukommen, eine Idee zu gebären, welche viel von einem Vereinsmodell hat: Jedes Land, das unsere Ethik annimmt, kann auch teilnehmen an unserem Markt und am friedlichen Zusammenleben. Europa kann sich ohne Territorialanspruch über die ganze Welt als Idee verbreiten. Dazu braucht es keine Eroberung, keine Kriege, sondern lediglich die Überzeugung, dass Menschlichkeit in aller Dimension der Bedeutung erfolgreich ist. Europa kann also nicht nur von Amerika lernen, womit wir uns in der Vergangenheit abmüssigten, sondern neuerdings auch von Europa selbst, aber das ist noch nicht alles. Wir können noch viel mehr lernen, von Russland, bzw. der ehemaligen Sowjetunion zum Beispiel. So, wie eine zentrale Idee des dritten Reichs, leicht vereinfacht und mit ironisierendem Unterton präsentiert „Vollbeschäftigung um jeden Preis“ auch nach dem Zusammenbruch überlebt hat, so muss auch die zentrale Botschaft des Kommunismus nicht mit dem Zusammenbruch des Territorialreiches gestorben sein „Gleichheit verpflichtet“. Um gut zu sein, zu werden und zu bleiben, muss man auch in der Lage sein, aus schlechten Erfahrungen zu lernen. Europa kann das. Es ist der Phönix aus der Asche. Auch von so genannt gottesstaatlichen Ländern, obwohl sie wahrlich in der real existierenden Form kein Erfolgsmodell darstellen, lässt sich lernen. Wäre es nicht toll, wenn Ethos148 wirklich weltumspannend zur eigentlichen Triebkraft der Menschheit würde und nicht wirtschaftlicher und politischer Opportunismus allein? Schliesslich lässt sich von den so bezeichneten Entwicklungsländern lernen149. Es steckt schon im Begriff, den wir nur leicht ändern müssen, indem wir die despektierliche Konnotation entfernen. Es handelt sich um 148 Küng, H.: Projekt Weltethos, Piper, 1990. Das Projekt Weltethos orientiert sich an 4 Verpflichtungen, nämlich: zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit, einer Kultur der Solidarität und Gerechtigkeit, einer Kultur der Toleranz sowie einer Kultur der Gleichberechtigung. Das Parlament der Weltreligionen plädiert für „eine Umkehr der Herzen. Gemeinsam können wir Berge versetzen.“ Erklärung zum Weltethos. www. weltethos.org S. 15 Vgl. auch Charta der Weltethik. www. charta-der-weltethik.de 149 Burton, M.; Kagan, C.: Liberation Psychology: Learning from Latin America. In: Journal of Community and Applied Social Psychology 15/1, 2005, S. 63-78 169 entwicklungsfähige Länder. Sie können noch Ziele anstreben – wenn sie nicht nur westliche Assimilation suchen – welche aus ihrer Kultur entstehen und völlig neue Möglichkeiten offenbaren. Bescheidenheit, Improvisationstalent, (notgedrungene) Genügsamkeit, Ressourcen schonende handwerkliche Produktion, Konzentration aufs Lebensnotwendige. Die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“150, mag ein Element davon anklingen lassen: Kurz zusammengefasst beschreibt Heinrich Böll hier eine zirkuläre Geschichte. Der Anfang ist gleich wie das Ende. Ein Tourist macht einen am Strand dösenden Fischer darauf aufmerksam, wie der Fischer grösseren Fang einbringen könnte, wie er darauf eine wachsende Firma gründen könnte, sodass er schliesslich zum Chef eines Fischerei- und Reedereimperiums avancieren würde. "Dann", sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, "dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken." "Aber das tu' ich ja schon jetzt", sagt der Fischer, "ich sitze beruhigt am Hafen und döse, …." So das Ende dieser Geschichte. Partizipation: Demokratie lebt von der Beteiligung des Volkes, ja vom Leben und Zusammenleben des Volkes. Dies ist sozusagen der Lebensnerv. In der Postmoderne haben die traditionellen Beteiligungsformen (Parteien, Wahlen, Abstimmungen) bei Vielen an Anziehungskraft verloren. Nicht etwa die Äusserungsvielfalt, die Gedanken sind zurückgegangen, sondern nur jene, welche sich in den traditionellen Formen wohl fühlen. Die Demokratie aber tut sich schwer damit. Sie beklagt die zunehmende Abstinenz und Gleichgültigkeit, hat aber dabei selbst den Anschluss an die Entwicklung verpasst. Wenn das Hörrohr fehlt, kann man aber nicht mehr Demokratie machen. Es wird daraus eine Gesellschaft nach dem Vorbild „unter den Blinden ist der 150 Böll, H.: Werke, Band: Romane und Erzählungen 4, 1961-1970, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, S. 267-269. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 170 einäugige König“ oder „wer nicht hören kann, muss fühlen“ Statt Demokratie nur noch Idiosynkrasie151 und Majokratie152. Die Institutionalisierung von Werten lässt die Werte verkümmern (Ivan Illich) Werte: In der Demokratie der Postmoderne gilt der Pluralismus. Alles ist erlaubt und weil alles erlaubt ist, ist grundsätzlich alles möglich, nichts verwerflich. Es kommt lediglich auf die Position darauf an, ob etwas einem eher entgegenkommt oder man sich distanziert, ob etwas passt oder nicht passt. Pluralismus: Jede Meinung, und sei sie auf den ersten Blick noch so abwegig, wird angenommen, geprüft, abgewogen, „die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen“. Toleranz wird grossgeschrieben und eingeübt. Im Pluralismus herrscht Goldgräberstimmung. Es könnte ja sein, dass…!? Demokratisch folgerichtig dabei ist: Jede Meinung ist wichtig, jede Äusserung zählt, Gedanken sind frei. Die Gefahr dabei ist, dass wir in Beliebigkeit verfallen, alles, was machbar und denkbar ist, gelten lassen, Toleranz üben, um des Respekts willen. Natürlich wird damit nicht einfach alles gleichermassen von allen Seiten Wert geschätzt, aber jede Seite ist in der Lage, Strömungen, Moden, Gedanken und Interessen opportunistisch für ihre Zwecke und ihre Interessen zu benützen, zu instrumentalisieren und löst dabei gleich den Entrüstungssturm im anderen Lager aus. Gerade in einer Zeit, wo Nützlichkeit Thema ist, Toleranz wegen der Meinungsvielfalt und der Gedankenfreiheit zum Grundwerkzeug des Zusammenlebens gehören muss, kann es doch nicht sein, dass die Metaebene der Werte ganz verloren geht und die Meinungsvielfalt statt dem dynamischen Konsens zum Prinzip erhoben wird. Die ethische Diskussion, die Diskussion über Sinn ist umso zentraler, je toleranter die Gesellschaft Gott sei Dank wird. Toleranz ist kein Ziel, kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, Werte gemeinsam aufzubauen. So ist die Grundlage der Einheit 151 Idiosynkrasie: gr. idios, synkrasis, Eigenmischung, eine Art Selbstaufschaukelung durch innere Reize, ein eitles Drehen um sich selbst; schlimmstenfalls eine Selbstbeweihräucherung 152 Majokratie hat nichts mit Mayonnaise zu tun, vielmehr aber mit dem lateinischen maior: grösser, mehr. Es bedeutet: die Herrschaft der Mehrheit. 171 der Menschheit Verständnis und hohe Werte. Wir haben zugunsten der Toleranz die Einheit, den Konsens auf „höherer“ Ebene strapaziert, wenn nicht fallen gelassen. Wir haben Nachholbedarf. Dass diese Ebene von Menschen auch als Halt gewünscht ist, zeigt – nach dem anhaltenden Kirchenschwund – die Zunahme der Faszination durch allerlei Bewegungen, seien sie esoterisch, metaphysisch, heilsversprechend oder einfach beruhigend, sinnstiftend oder in anderer Form ermutigend oder aufmunternd. Realpolitik allein kann keinen Sinn schaffen. Parteien: Was ärgere ich mich über Parteiengeplänkel, über Gehässigkeiten, über Misstrauen, über schlechte Manieren. Es scheint, als ob die Parteien die Hauptaufgabe hätten, der andern Seite beizubringen (übrigens schön, dass das Ganze ja immer noch auf einem eindimensionalen Kontinuum von links bis rechts stattfindet, was es erleichtert, immer genau zu wissen, wer der wahre Gegner ist), wie falsch, gefährlich und abstrus ihre Meinung sei. Aus Prinzip wird jemandem aus dem andern Lager misstraut. Lösungen kommen nicht zustande, weil es Parteien und damit fixe Ideologien gibt. Parteien wären doch wohl dazu da, bestimmte Werte hochzuhalten, welche, wenn sie nicht gleichzeitig mit Füssen getreten werden sollen, auch auf dem Weg dorthin zu beachten sind. Parteien hätten doch die Aufgabe Menschen- und Ideenpools zu sein, damit öffentliche Diskussionen in Gang kommen. Die öffentlichen Diskussionen sollten nicht schon durch Kampagnen seitens der Parteien „vorentschieden“ sein, denn sonst ist eine Diskussion nicht mehr möglich, sondern nur noch gegenseitige Rechthaberei. Manchmal werde ich den Eindruck nicht los, dass Parteien dem Volk gar nicht trauen, obwohl das Volk ja, wie immer betont wird, der eigentliche Souverän darstellt. Warum wohl muss man dümmliche Propaganda machen, warum wohl bis zur Schmerzgrenze pointieren: Das Volk versteht es sonst nicht. Aha! Ein grosser Staat regiert sich nicht nach Parteiansichten. (Otto von Bismarck) Vergessen wir doch nicht, dass Propaganda noch nie dazu gedient hat, sondern immer schon für Interessenvertretung, manchmal sogar zur Verschleierung da war. Kann denn ein 172 Gespräch mit dem Volk nicht sachlich sein, nur schon dazu, dass das liebe Volk begreift, dass es nicht um Rechthaben sondern um die Sache geht? Kann denn eine Partei, egal welcher couleur, nur schon deshalb eine böse und grundfalsche Idee vertreten, weil sie aus einem andern Lager kommt? Muss denn Opposition gleich Hetze sein? Es wäre doch schön, wenn Parteien Ideengeneratoren wären und nicht engstirnige Ideologiebonzenhochburgen. Dann käme vielleicht auch mal etwas Neues heraus dabei. Vielleicht würden verbindende Töne auch eher betonen, dass wir ja nicht so viel Welten haben, wie es Parteien gibt, sondern nur eine und dass es in der Demokratie um Einigkeit und nicht um rechthaberische Macht geht. Vielleicht hätten Parteien wieder Zulauf, wenn es wieder um gemeinsames Wahrnehmen von Verantwortung ginge, um Sorgfalt. Es zeigt sich ja auch, dass das eindimensionale Parteikontinuum nicht mehr taugt, wenn es um mehrschichtige Themen geht. Etwas mehr Dimensionen könnten nicht schaden. Wir könnten wegkommen von schwarz-weiss. Grautöne würden sich mit Farben zu mischen beginnen. Emulgationen (Milch ist ja auch nicht nur Fett und Wasser) und chemische Reaktionen (aus den Gasen Wasserstoff und Sauerstoff ergibt sich Wasser) wären sinnvoll. Parteien bleiben Parteien. Sie reagieren nicht miteinander. Sie grenzen sich ab, könnten ja Profil verlieren. Das Gefährlichste wäre ja, wenn man sich einig würde. Was sollen die Wähler denken? Ängste von Parteien, vom Volk verlassen zu werden. Ängste führen häufig dorthin, wo man nicht wollte. Populismus: Populismus scheint zum Rettungsinstrument für Politikverdrossenheit des Volkes zu werden. Meiner Meinung nach hat dies allerdings nicht die gewünschte Wirkung. Entweder ist das Volk dumm, dann ist es aber nicht statthaft, es noch mehr zu verdummen oder es ist vernünftig, dann wird es den Schwindel früher oder später aufdecken. Der Schwindel besteht darin, dass die Dinge meist nicht so einfach sind, wie sie dargestellt werden und es nicht nur eine Lösung gibt, bzw. diese Lösung meist nicht die erwartete Wirkung hat. Populismus macht das Volk verdienter- oder unverdientermassen zu Lemmingen oder zu Ratten, welche dem Rattenfänger in verzückter Trance zu folgen haben, ob sie wollen oder nicht. Um 173 es klar zu sagen: Populismus ist eine gleiche „Krankheit“ wie Fundamentalismus und Ideologismus. Obwohl vor allem Rechtsparteien diese Klaviatur virtuos bedienen, sind auch andere nicht gefeit davor. Polarisierung: Wenn man von einem eindimensionalen Kontinuum ausgeht, sind zwei Pole als Enden des Kontinuums die notwendige und logische Folge des Konstrukts. Zwei Pole als Extreme wahrzunehmen, führt zu Schwierigkeiten, wie sie Buridans Esel153 hatte. Wenn der eine Pol mit dem andern nichts zu tun hat, muss man sich entscheiden oder bleibt hungrig. Könnte es nicht sein, dass es gerade zur Wahrheitsfindung beide Pole und den Zwischenraum braucht, weswegen die Polarisierung vollkommen kontraproduktiv ist, aber eine offensichtliche Folge des eindimensionalen Denkens, die die Politik, das Parteiensystem dem Volk vorgaukelt. Polarisierung bedeutet Zerfall und Zerwürfnis der Gesellschaft, wenn die Pole nicht entweder zirkulär, spiralig oder als Prozess verbunden sind. Die Zuspitzung und Extremisierung macht eine Wahrheit nicht glaubwürdiger, sondern eher leerer. Aber je sinnentleerter sie ist, umso heftiger wird sie vertreten. Polarisierung führt zu Rigidisierung, zu Fixierung und damit zur Extremisierung. Ob wir das wirklich wollen? Ob wir das noch aufhalten können? Wir könnten zum Opfer des eigenen „Erfolgs“ werden. Zauberlehrling lässt grüssen. Konsens: Selbstverständlich können wir uns alle frei entscheiden, ob wir eine Konsens- oder eine Streitkultur pflegen wollen. Das eine muss nicht zwingend und von Beginn weg schlechter sein wie das andere. Faule Kompromisse nützen ebenso wenig, wie eskalierende Tiraden. „Es schleckt aber keine ‚Geiss154’ weg“, dass Demokratie nicht von der Polarisierung lebt, sondern von der Konsensfähigkeit. Wenn 153 Ein Johannes Buridan (1304-60), Philosoph, zugeschriebenes Gleichnis: Ein häufig in der Psychologie zitiertes Entscheidungsdilemma. Ein Esel verhungert zwischen zwei Heuhaufen, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er fressen soll. Man kann natürlich – und das ist das perfide – noch besser zwischen zwei unliebsamen Alternativen „verhungern“, die man lieber beide vermeiden möchte. 154 Helvetismus für Ziege 174 dem nicht so ist, zerfällt ein Volk immer mehr in aufteilende distanzierte Subkulturen. Diese Ghettoisierung lässt sich, einmal begonnen, kaum mehr aufhalten. Konsens ist aber nur bei verschiedenen Meinungen möglich, wenn man sich gegenseitig Wertschätzung entgegenbringt, wenn die eigenen Gefühle während der Verständigung nicht den Inhalt ersetzen, sondern dazu da sind, die Begleitumstände zu verdeutlichen. Streitkultur ist letztlich Konsenskultur, wenn sie nicht entartet. Aber Konsens braucht manchmal mehr Entgegenkommen, als uns allen lieb ist. Wir sind nur in der Lage, diese emotionale Parforceleistung immer wieder zu bringen, wenn wir dies als Geben und Nehmen, ein Geschäft, ein bilanziertes und balanciertes Ausgleichsspiel ansehen können. Konsensfindung lebt von klaren Positionen, aber man muss ja nicht gleich festwachsen. Meist ist es ja nicht so wichtig, ob die Meinung richtig oder falsch ist, sondern viel mehr was sie beabsichtigt, was sie bewirkt, was sie nützt, was sie (neu)schafft. Damit aber ist die ganze Sache sowieso dynamisiert und es nützt wenig, auf einer Position eisern zu (be)stehen, bis man rostig wird. Wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse: Das Volk hat seine Vertreter, die Wirtschaft hat ihre Vertreter und ihr Lobbying. Mir scheint, dass die Wissenschaft, immerhin eine ständige Quelle neuer Erkenntnisse, sich bisher im Rahmen demokratischer Prozesse zu wenig Bedeutung verschaffen konnte. Vielleicht ist Wissenschaft auch entweder zu akademisch, zu insiderhaft oder da meist der wissenschaftliche Diskurs ein Prozess ist, meist nicht so hieb und stichfest oder zu vorsichtig, etwas zu behaupten, dass sie nicht als hilfreich wahrgenommen wird. Wissenschaftlerinnen warnen eifrig vor diesem oder jenem – die Tagespolitik geht darüber hinweg. Wissenschaft findet – so nimmt es die Öffentlichkeit wahr – in einem Elfenbeinturm statt. Es ist der Wissenschaft ein Gräuel, Dinge so zu vereinfachen, dass sie allgemeinverständlich werden, da damit die notwendige Differenzierung auf der Strecke bleibt. Die „erfolgreiche“ Forschung ist jene, welche von der Wirtschaft selbst unterhalten wird und zur Produktentwicklung dient – sie ist aber häufig auf einem Auge blind und damit instrumentalisiert. Jene 175 wissenschaftlichen Fragen, welche von der Öffentlichkeit zur Beantwortung in Auftrag gegeben werden, sind nicht Legion, sondern eher selten. Lieber diskutiert man frei und ohne erhärtete Fakten. Diese fraktalen Weltbilder, die dabei entstehen, müssen konfligieren. Es wäre an der Zeit, einen ständigen Brain pool zu unterhalten, welcher umfassende Gutachten erstellt, damit auch diese Stimme zum Wohl des gesamten Volkes gehört werden kann. Wirklichkeitsmodelle: In der politischen Auseinandersetzung werden häufig Wirklichkeitsmodelle verwendet, welche linear, und trivial155 erscheinen, obwohl unsere Welt häufig in Kreisläufen stattfindet. Probleme werden mit Rede und Gegenrede versucht greifbar und entscheidbar zu machen. Eine Metaebene, deren Betrachtung dazu führt, dass sich vermeintliche Widersprüche auflösen oder vereinbar werden, gibt es in der trivialen Weltsicht nicht. Die triviale Weltsicht besteht aus unmittelbaren „Wenn-dann-Beziehungen“, aus Ursache-Wirkungsmodellen, enthält aber Phänomene wie der „Schmetterlingsflügelschlag156“ nicht, weshalb vielfach nach dem Prinzip „Mehr Desselben“ entschieden wird. Das ist teuer. Wenn etwas nicht funktioniert, dann gleicht ein „Mehr Desselben“ in der Hoffnung, dann sei die Wirkung ein Vielfaches davon, meist einer Lotteriehoffnung. Es braucht Mut, dann etwas anderes zu tun. Die Chaosforschung lehrt, dass man auch auf nichttrivialen Klaviaturen virtuos spielen kann. Unsere Situation der Menschheit dünkt mich alles andere als trivial, aber um so wichtiger ist es, keine Angst vor dem Unvorhersagbaren zu haben. Übrigens, manchmal gelingt es der Satire, dem Kabarett, einen Hauch dieses stetig stärker werdenden Eiferns ohne jede 155 Der Physiker Heinz v. Foerster (z.B. Foerster, H. v.: KybernEthik, Merve, Berlin 1993) verwendet diesen Begriff zur Beschreibung einfacher technischer Geräte, wie dem Auto, bei welchen die Folgen eines Eingriffs immer vorhersagbar sind. Gaspedal drücken heisst mehr Sprit, Drehzahl und damit Geschwindigkeit erhöhen. Wenn dem einmal nicht so ist, wissen wir automatisch, dass das Auto kaputt ist – und nicht unser Fuss. 156 Ein Begriff aus der Chaostheorie (Lorenz, E. u.a., dargestellt z.B. in: Breuer, R. (Hrsg.): Der Flügelschlag des Schmetterlings. Ein neues Weltbild durch die Chaosforschung. DVA Stuttgart 1993), allerdings eben alles andere als trivial. 176 nachhaltige Wirkung erlebbar zu machen – die Haare stehen zu Berge. Demokraturfalle: Wir befinden uns in der Falle. Die Nachteile dieses Systems sind offensichtlich. Diese werden aber durch die Vorteile mehr als aufgehoben. Dies wiederum führt dazu, dass man die Demokratie so verteidigt, als wäre sie in Stein gemeisselt. Die Demokratie muss ihre Fitness und damit Anpassungsfähigkeit immer wieder neu in Bewährung setzen. Wir wollen etwas Bewährtes behalten, das können wir aber nur, indem wir es verändern, erneuern oder neu erfinden. Die Demokratie ist gleichzeitig träge und stabil. Es gibt nichts Beständigeres als den Wandel. Metalog: Allen Ernstes und in aller Zuversicht stelle ich mir vor, dass neue Gemeinschaften, welche den Menschen Geborgenheit und Anerkennung vermitteln, Bedeutung und Einfluss verleihen, wieder entstehen werden. Es wird eine Gegenbewegung zur Individualisierung, zur Gettoisierung, zur Vereinsamung geben. Aufgehobenheit kann man in Zukunft wieder verstärkt in Vereinen, Verbänden, Glaubens- , Denkzirkeln, politischen Gruppierungen, als auch im wiedererstarkten familiären bzw. Freundeskreis sowie am Arbeitsplatz erleben. Sie alle werden als Kernprozesse der zukünftigen Gesellschaft deshalb an Bedeutung gewinnen, weil irgendwann der Mensch die Leere und die Orientierungslosigkeit satt hat. Die Postmoderne und der fast zum sinnvollen Prinzip erhobene Pluralismus hat dazu geführt, dass der Halt und die Einheit unterminiert wurden. Der Staat, welcher nicht mehr auf Gemeinschaftserfahrung und -erlebnis basierte, wurde zu einem Verwaltungsgebilde, zu einem Moloch. In Zukunft wird der Staat wieder mehr Bedeutung erhalten, als Gemeinschaft von Menschen guten Willens, denn nur so lässt sich ein „Staat machen“ – wenn wir selbst der Staat, also die Demokratie sind. Wir werden uns in Zukunft intensiv damit auseinandersetzen, wie wir trotz oder besser gerade wegen unterschiedlicher Vorstellungen, gemeinsame 177 Zielvorstellungen entwickeln können, wie wir unsere Form des Zusammenlebens weiter entwickeln können und wie wir aus der Demokraturfalle heraus finden. Wir haben uns als Menschheit enormen Herausforderungen zu stellen, welche wir nur im Verbund lösen können, da sie sonst sowohl unsere materiellen, unsere geistigen, als auch unsere emotionalen Mittel übersteigen. Es wird also darum gehen, Lösungen für Weltprobleme zu suchen, welche nach dem Prinzip „Sieben auf einen Streich“ funktionieren, wobei der Unterschied lediglich darin besteht, die Probleme nicht zu erschlagen, sondern zu lösen. Es wird in Zukunft zur Selbstverständlichkeit, dass alle Menschen an der Gesellschaft und damit an der Demokratie teilhaben, egal welchen Status sie haben. Es muss auch vermehrt darauf geachtet werden, alle „Intelligenzen“ der Gesellschaft für die Lösung zu aktivieren, unabhängig davon, ob sie aus fremder, neuer, junger, alter, unerfahrener, armer, reicher, mächtiger Provenienz stammen. Es wird wieder eine blühende Kultur der politischen Betätigung geben. Diese wird sich allerdings wenig in die Strukturen von politischen Parteien einzwängen lassen. Sie ist freier, hat viele Ausdrucksformen, Orte und Gruppierungen. Es wird eine Kultur von (Mit-)Sprache entstehen, welche provokativ, aber Konsens erzeugend ist. Es wird zu wechselnden Allianzen zwischen inner- und ausserstaatlichen Organen, Personen und Gruppierungen kommen, welche nicht nur formellen, sondern kreativen und damit eben kulturellen Charakter haben. Alles zwischen Happening, Hearing, Ausstellung, Theater, Essen, Sitzung und Demonstration oder Performance wird politisch sein (das ist es jetzt schon und war es immer) und auch so wahrgenommen werden. Weil alle Formen von Äusserung beachtet und erwünscht werden, wird sich die Demokratie verändern, dynamisieren. Sie wird in der Lage sein, Fehler zu machen, diese aber auch wieder zu korrigieren. Sie wird risikobereiter werden, aber auch experimentierfreudiger. Das Volk wird zwar nicht der Souverän als homogene politische Masse sein, welche bestimmt, was das Volk zu tun hat, sondern Menschen werden miteinander tragen und entscheiden helfen, was notwendig ist. Toleranz wird eingeübt, nicht weil alles gleich-gültig ist, sondern mit dem Ziel, sich anzunähern und zu verständigen. 178 Ein neuer Gesellschaftsvertrag wird ausgehandelt werden, der langfristig verbindliche Ziele festlegt: Minderheitenschutz, Bevölkerungssteuerung, Ausgleich von sozialpolitischen Spannungsfeldern, Welternährung, Autonomie und Würde des Menschen, Schutz der Biosphäre. In diesem neuen Gesellschaftsvertrag – solche Dinge werden üblicherweise Charta genannt – wird vor allem die Entwicklung und die Zukunft beleuchtet. Die Charta geht davon aus, dass das Leben Sinn macht, wenn wir daraus etwas Sinnvolles machen und lässt uns Menschen zu einem Teil des Ganzen werden. Diese Charta geht weit über die Menschenrechte hinaus. Sie stellt eine Vision dar, welche Menschen fasziniert und deshalb deren Entwicklung zu kanalisieren und koordinieren imstande ist. In der neuen Weltordnung sollen Begriffe Ost/West und Nord/Süd nicht mehr mit Gefälle assoziiert werden, mit Unterund Überentwicklung oder Dekadenz. Welt wird zur Einheit, zur gegenseitigen Verpflichtung und Verbindlichkeit. „Eine Welt“ wird zum Imperativ, denn wir haben keine zweite im Keller – und sie hat auch keinen doppelten Boden. Vielleicht könnte man wortschöpferisch tätig werden, damit der griechische Begriff der Herrschaft (gr. kratos) aus dem Wort getilgt wird. Es könnte ein Konglomerat von zusammen, gemeinsam, arbeiten, leben, gegenseitig, geben und nehmen, sorgen, schützen sein. Es müsste dynamischen, aber soliden Charakter haben und es müsste eine Dimension von Zukunft als auch Vergangenheit beinhalten. Vor allem dürfte der Begriff von Zuversicht, Kraft und Solidarität strotzen. Wenn das alles umgesetzt ist, wird es so sein, dass jeder Mensch, seinen Teil beitragen darf, aber nicht muss und so oder so zufrieden sein darf oder pragmatischer ausgedrückt, dass alle gleich unzufrieden sind. Da man aber die Plattform gemeinsam gefunden hat, auf welche die hehren Ziele gehören, gehört der Unterschied zwischen Ziel und Weg zu den grundlegend verselbständlichten Erfahrungen des Alltags, welche weder resignativ noch frustriert zur Kenntnis genommen werden, sondern grossräumig und grosszügig. Dieser grosszügige Umgang mit langfristigen Zielen ist vor allem deshalb möglich, weil Notsituationen ebenso pragmatisch, 179 nachbarschaftlich und unbürokratisch überbrückt werden und Solidarität dafür vorhanden ist. Struktur wird in einer „nachhaltigen Solidargemeinschaft“ selbstverständlich weiterhin notwendig sein, denn es sollen ja gerade Ideen zerstörende und vorschnelle „Wahrheiten“ erzeugende egozentrische Staatsformen wie Anarchie und Diktatur verhindert werden. Demokratie ist noch nicht das Ende (der Entwicklung). 180 181 182 Wertschöpfung: Wirtschaft für Werte und Arbeit Damit diese Wirtschaft gesund ist, braucht es emotional kranke Menschen.157 Dialog: „Papa, wem gehört die Wirtschaft?“ Papa: „Die Wirtschaft produziert das, was wir brauchen. Ohne sie hätten wir nichts.“ Kind: „Nein, du verstehst mich nicht. Ich möchte wissen, wem sie gehört!“ Papa: „Wieso möchtest du genau das wissen?“ Kind: „Die Wirtschaft entlässt Arbeiter, erhöht die Gewinne, muss jedes Jahr Wachstum produzieren und fusioniert zu Grosskonzernen.“ Papa: „Woher hast du das?“ Kind: „Das hat die Lehrerin erzählt. Papa, kannst du auch entlassen werden?“ Papa: „Unserer Firma geht’s gut, ich glaube nicht...“ Kind: „Also ja. Weisst du, ich frage mich, wozu die Wirtschaft da ist. Gehört sie eigentlich der Gesellschaft oder gehört sie Reichen und Mächtigen?“ Papa: „Weisst du, ohne Reiche und Mächtige ging’s uns noch schlechter. Sie bauen die Fabriken. Sie haben das Geld dazu. Sie stellen Leute ein. Sie produzieren, was wir brauchen...“ Kind: „Sie entlassen aber auch Menschen in die Arbeitslosigkeit. Sie machen Werbung, damit man ihre Produkte kauft. Vieles würde man sonst gar nicht kaufen.“ Papa: „Was möchtest du später mal werden?“ Kind: „Ich möchte nichts werden. Ich möchte nicht arbeiten.“ Papa: „Du wirst schon noch etwas finden, das zu dir passt.“ Kind: „Ich meine das nicht so. Ich möchte nicht von einem Arbeitgeber entlassen werden. Das kann ich nur vermeiden, wenn ich nicht arbeite.“ Papa: „Aber du musst arbeiten, um deinen Lebensunterhalt und jenen deiner Familie zu verdienen...“ Kind: „Warum kann mich dann die Wirtschaft entlassen? Wer bezahlt eigentlich die Kosten der Arbeitslosigkeit?“ Papa: „Der Staat hat dafür eine Versicherung. Gott sei Dank. Als Arbeitsloser wird man nicht gleich armengenössig.“ Kind: „Weil der Staat die Arbeitslosigkeit bezahlt, kann der Wirtschaftsboss entlassen, ohne sich ein Gewissen zu machen. Papa, wem gehört die Wirtschaft?“ 157 Zitat von Erich Fromm zit. nach: Senf, B.: Die blinden Flecken der Ökonomie, DTV, München 2004. S. 147 183 Wenn jemand Hunger hat, aber kein Geld (keine Kaufkraft), muss für ihn auch nicht produziert werden, da ja der Bedarf fehlt. Begriffsdefinition Bedarf in der herkömmlichen Volkswirtschaftslehre: „Wenn Bedürfnisse mit Kaufkraft befriedigt werden können, spricht man von Bedarf.“ (Cora Leroy) Antilog: Ursprünglich war die Wirtschaft nicht eine eigenständige Kraft in der Gesellschaft, sondern sie diente dazu, die lebensnotwendigen Güter für sie, durch sie und in ihr herzustellen und diese zu verteilen. Sie tat dies, indem jedeR seinen/ihren Teil an der Produktion hatte und auch wahrnahm. Die Grundzüge der modernen Wirtschaft waren und sind es, mit beschränkten Ressourcen sparsam umzugehen, sie nicht zu verschwenden, sondern die Artikel zum Gebrauch möglichst ökonomisch herzustellen, also möglichst günstig zu produzieren. Der Grenznutzen der Güter nimmt mit der zur Verfügung stehenden Menge ab.158 Wenn man diese Ansätze in die postmoderne Zeit übersetzt, so stünden nach wie vor drei Elemente im Zentrum: Produktion lebenswichtiger Güter und Güter des alltäglichen Gebrauchs Nutzung des vorhandenen Humanpotentials Schonung der vorhandenen ökologischen Ressourcen Dies alles hat mit der Absicht und dem Ziel für die Gesellschaft, also für die Menschen etwas Gutes zu tun, zu geschehen. Heutzutage jedoch scheint die Wirtschaft zunehmend eigene Interessen zu verfolgen und nicht mehr in erster Linie der Gesellschaft zu dienen. Es geht offensichtlich mehr darum, mit allen möglichen Mitteln den Shareholdervalue zu maximieren, als einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. 158 Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006, S. 3 184 Ist Ökonomie noch ökonomisch?159 Es scheint so zu sein, dass man immer mehr automatisiert, um billiger produzieren zu können, dass man Produktionsstätten von teuren Produktionsstandorten nach Billiglohnländern verlagert. Zudem scheint ein ungebremster Trend da zu sein, zu wachsen, indem man auf der ganzen Welt Konkurrenten aufkauft und sie damit ausschaltet. Arbeit als Berufung160 Natürlich könnte man sagen, dass die Konsumentin immer billigere Produkte kaufen möchte. Natürlich könnte man sagen, dass man damit in entwicklungsfähigen Ländern (damit sind die sogenannten Schwellenländer und Entwicklungsländer gemeint) Arbeitsplätze schafft. Insofern diese Arbeitsplätze vergleichsweise gut bezahlt werden, könnte man dies sogar gerechterweise als Entwicklungshilfe bezeichnen. Man könnte sogar sagen, dass damit das Überleben des Betriebs gesichert wird, indem man die Arbeitsplätze verlagert. Unter diesen Umständen ist es auch nicht verwunderlich, dass man die Verantwortung für das Wachstum dem Staat überträgt.161 Trotzdem bleibt ein schales Gefühl betreffend der damit verbundenen strukturellen Veränderungen. Die Arbeit scheint in 159 Begann die Geschichte der modernen Ökonomie mit Walras' Publikationen zu "Paradoxes Economiques" im "Journal des Economistes" um 1860, so sind wir trotz vieler diesbezüglicher Theorien nicht viel weiter und reiben uns immer noch verwundert die Augen ob den eklatanten Paradoxien der Ökonomie. Inkonsistenzen haben leider die unangenehme Gewohnheit sich selbständig zu machen zu verbreiten und sich gegen die Sache zu wenden. Léon Walras (1834 – 1910) kann als Vater der modernen Ökonomie verstanden werden. 160 Motto der „Neuen Arbeit“ oder „was Sie wirklich, wirklich tun wollen“ als Alternative zur Lohnarbeit. Bergmann, F.: Neue Arbeit, Neue Kultur. Arbor, Freiamt, 2004 161 Zit. nach: Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006, S.4f. 185 unseren Gefilden immer mehr unbezahlbar zu werden, da Produkte immer billiger werden sollen. Das ist an sich ökonomisch gedacht. Auch die Arbeit selbst gehört zu jenen Ressourcen, mit welchen sparsam umgegangen werden soll. Aber: Wenn immer alles billiger werden muss, damit immer mehr dessen gekauft wird, was die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs erhöht, so wird automatisch die Arbeit zum Teuersten der Produktion. Schliesslich muss die menschliche Arbeit aus zwei Gründen wegrationalisiert werden: Weil sie zu teuer ist und weil sie gegenüber Maschinen zu langsam und zu fehleranfällig ist. Psychologische Faktoren spielen bei wirtschaftlichen Entscheidungen eine zentrale Rolle. Einige Autoren behaupten gar, dass Wirtschaften zu 50 % Psychologie sei162. Das Ziel wäre dann: Produktion ohne menschliche Arbeit. Die Verlagerung der Arbeit in Billiglohnländer ist ja auch nur eine vorübergehende Massnahme. Je mehr sich diese dem Zivilisations-, Technisierungs- und Bildungsniveau der westlichen Industrienationen annähern, umso mehr werden auch dort die Produktions- und Lohnkosten ansteigen. Nun könnte man mutmassen, dass der Preisniveauunterschied zwischen Noch-nicht-Industriestaaten und Industriestaaten bestehen bleiben wird. Dies wiederum würde bedeuten, dass unsere Löhne weiterhin im gleichen Masse steigen werden, wie die Löhne in jenen Staaten steigen, in welchen wir produzieren lassen. Dies würde wiederum darauf hinweisen, dass wir gerade nicht am Ausgleich der unterschiedlichen Entwicklungsstände interessiert sind, sondern diese damit umso mehr fixieren. Agrarstaaten (wiederum ein Bezeichnungsversuch, nicht einen quantitativen Unterschied, sondern einen qualitativen als Unterscheidung zu nehmen zwischen 1.- bis 3.-Welt) werden Industriestaaten unterlegen bleiben, obwohl deren Produktion 162 Rogall, H.: Volkswirtschaftslehre für Sozialwissenschaftler, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006. S. 70 186 lebensnotwendigere Güter herstellt, als die Industrie es je können wird. Im Wachstumsprozess wird Arbeit durch Energieeinsatz substituiert.163 Es würde ja grundsätzlich Sinn machen, jene Güter, die alle brauchen, möglichst günstig auf den Markt bringen zu können, damit niemand hungern oder sonst wie darben muss. Wenn aber der zunehmende Reichtum der Industrieländer daraus resultiert, dass strukturell bedingte Unterschiede zementiert werden, so ist dies sicher nicht sinnvoll und hat mit Entwicklungshilfe nichts zu tun. Wir geben den andern nicht Arbeit in neu aufgebauten Industrien, damit sie leben können, sondern damit wir noch reicher werden. Die moderne Bedürfniswirtschaft ersetzt die ursprüngliche Bedarfswirtschaft.164 (Durch die Modernisierung hervorgebrachte; Erg. M.H.) Zivilisationsrisiken sind ein Bedürfnis-Fass ohne Boden.165 Somit haben wir einen Selbstläufer-Moloch erzeugt. Gehen wir den gedanklichen Weg der fast zwangsweise so ablaufenden Entwicklung noch etwas weiter, so wird in den Industriestaaten Arbeit als knappes Gut behandelt – verknappt – damit anderswo billiger produziert werden kann. Offensichtlich aber geht es meist darum, dass das höhere Know-how als Management, Engineering und Marketing am Ursprungsstandort gehalten und nicht verlagert wird. Also Arbeitsplätze, welche hohes Bildungs- und Kompetenzniveau benötigen, werden gehalten und ausgebaut, jene welche primär handwerklich bzw. 163 Zit. nach: Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006, S. 360 164 Ziegler, L.: Sinn und Ziel des Wirtschaftens, In: ders., Zwischen Mensch und Wirtschaft, Darmstadt, 1927. S. 126-162. Zit. n.: Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006 165 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt / M, 1986. S. 30 187 repetitiv sind, werden ausgelagert. Industriestaaten sind mitten in der Entwicklung „Eierköpfe mit Bodensatz“ zu werden. Es wird je länger je mehr eine Entwicklung geben, dass nur noch die teuersten Jobs und die absolut billigsten Jobs am ursprünglichen Standort gehalten werden. Es wird in den Industriestaaten eine Veränderung geben, dass sie nicht mehr in erster Linie produzieren, sondern Produkte entwickeln und deren Produktion steuern und finanzieren. Ebenfalls werden wir noch stärker zur Dienstleistungsund Kommunikationsgesellschaft allgemein. Wer aber bezahlt die sozialen Kosten dieser Veränderung, dass es in den traditionellen Industriestaaten sich immer weniger lohnt, Produzenten (Arbeiter) anzustellen? Nun, wir haben ja ein gut ausgebautes Sozialsystem. Es gibt die Arbeitslosenkasse und das existenzsichernde „Grundeinkommen“166 der Sozialfürsorge. Seien wir beruhigt – oder nicht? Es wird doch für alle gesorgt. Extreme Konzentration von Reichtum und mangelnde Flexibilität angesichts veränderter Bedingungen sind die Ursachen des Untergangs aller grossen Kulturen167 Nein, eben gerade nicht. Wer bezahlt die Arbeitslosenkasse168? Wer bezahlt die Fürsorgeleistungen? Die verbleibenden Arbeitnehmer und die verbleibenden Betriebe als Steuerzahler und als Beitragszahler. Erstens werden die Jobs und die 166 Grundeinkommen für alle in anderem Sinne, bzw. Lohn ohne Arbeit scheint wieder als Thema aufzukommen, umso mehr als „nicht mehr genug Arbeit für alle da“ ist. Im Rahmen der sog. Latte-Macchiato-These wird dargestellt, dass verblüffenderweise das Grundeinkommen nicht nur ein Postulat ist, sondern sich ökonomisch durchaus rechnet. Als Beispiel: Löpfe, P., Palumbo, D.: Das neue Paradies. In: Facts 09/07, Tamedia, Zürich, 2007, S. 16-21. 167 Toynbee, A.: Der Gang der Weltgeschichte. Bd. 1. Aufstieg und Verfall der Kulturen, DTV, München, 1970 zit. n. Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002, S. 360 168 Manchmal habe ich das Gefühl, dass es die Arbeitslosenversicherung mehr für die Wirtschaft als für die Arbeitslosen gibt. Je besser sie ausgerüstet ist, umso mehr Betriebssanierungen werden mit Entlassungen bewerkstelligt. Die soziale Verantwortung wird dem Staat übertragen. 188 Produkte damit noch teurer. Zweitens steigt damit der Druck, auch diese Arbeiten zu verlagern, da sie nicht mehr renditefähig sind. Irgendwie und irgendwann landen wir auf dieser Spirale dort, wo wir konsterniert feststellen müssen: Wir können uns die Arbeit nicht mehr leisten. Aber das ist nur das eine. Das Proletariat ist tot. Es lebe das Prekariat.169 Was tun denn die vielen Arbeitnehmerinnen, welche nicht mehr benötigt werden, weil sie dem Profil (kreativ, hoch gebildet, führungsstark, gut verdienend [Eierkopf] versus karg gebildet und ebenso bezahlt [Bodensatz]) nicht mehr entsprechen? Sie lassen ihr Leben an sich vorbei ziehen, geniessen es, dass sie am Sozialtropf hängen dürfen, während die Saubermänner und die Drecksmänner arbeiten? Wohl kaum. Der Mensch will tätig sein170. Motto der Zweiten Moderne. Zum Begriff „Zweite Moderne“ und zum Begriff „Prekariat“ konsultiere www.wikipedia.org 170 Einen guten Beitrag zu einer neuen Sozialpolitik leistet die Stadt Köln. Mit dem Konzept „Fordern und Fördern“ sparte sie 100 Mio Euro in den letzten drei Jahren durch Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser in der Arbeitsprozess. Beitrag im WDR am 6. April 2005: Das Wunder von Köln 169 189 Es gibt offenbar einen Fehler in der Ökonomie: Die Annahme, dass eine Gesellschaft ihre Bürger glücklich macht, wenn sie ihnen mehr Konsum ermöglicht. Menschen sind glücklich, wenn sie eine Arbeit machen können, die sie für sinnvoll halten und die sie herausfordert171. Die Arbeit ist kein Produktionsmittel, sie ist überhaupt kein Mittel es sei denn eines zur Verwirklichung der Menschenwürde.172 Wahrscheinlich wird es damit eine Auswanderungswelle in die unterentwickelten Länder geben, die nach dem Motto geht: Lieber weniger verdienen, als ohne Arbeit sein Leben als Almosenempfänger fristen zu müssen. Dies erinnert mich daran, als die alte Welt aus Gründen der wirtschaftlichen und ideellen Depression ihr Schärfchen packte, das Bündel aufschnallte und ihr Glück in der neuen Welt versuchen wollte. Wollen wir dies ein zweites Mal versuchen? Nein, wir würden damit nämlich nicht das leere (Entschuldigung: Die Indianer, die eigentlich ja Amerikaner waren, haben wir übersehen und deshalb einfach tabula rasa gemacht) Land Amerika erneut bevölkern, um dort Tellerwäscher zu werden, sondern wir würden eine erneute, diesmal aber nicht neugierig-überhebliche Kolonisation, sondern eine verzweifelt-überhebliche Kolonisation vom Stapel laufen lassen – weil dort, in den ehemaligen Agrarstaaten, mehr Jobs der normalen mittelständischen Art angeboten werden. Eine Völkerwanderung, welche die so genannte Migrationswelle in umgekehrter Richtung absolut in jeden Schatten stellen würde. Also: Die Auslagerung der Arbeitsplätze kann es nicht sein. Um im bisherigen euphemischzynischen Jargon zu bleiben, würden wir, statt nur Arbeit zu exportieren, letztlich die Arbeitenden exportieren… 171 David Bornstein in einem Interview in Zeitpunkt, Nr. 87, Januar/Februar 2007, S. 7. Bornstein, D.: Die Welt verändern. Social Entrepreneurs und die Kraft neuer Ideen, Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 172 Spieler, W.: Demokratischer Sozialismus als regulative Idee. S. 136. In: Mäder, U.; Saner, H. (Hg.): Realismus der Utopie. Rotpunkt, Zürich 2003. S. 131-148 190 „Arbeitslosigkeit führt in einen circulus vitiosus, durch den der Wohlfahrtsstaat sich selbst unterminiert173.“ Das andere, das damit zusammenhängt, ist: Wir retten mit der Verlagerung der Arbeitsplätze nur die Produktion, aber nicht die Arbeitsplätze, und langfristig gesehen weder die Firma und damit die Existenz einiger Arbeitsplätze, noch, was gewissen Leuten wichtiger wäre, das Kapital. – Denn, die Arbeitslosigkeit ist strukturell bedingt und nimmt zu. Dies verteuert die Arbeitsplätze, was wiederum Druck auf die Auslagerung der Arbeitsplätze geben würde. Erwarten ... Investoren ... eine Krise ... dann halten sie sich mit ihren Investitionen zurück und lösen gerade dadurch die Krise aus, die sie vorher befürchtet haben.174 Wie nun geschieht die Schonung der natürlichen Ressourcen im heutigen Wirtschaften? Sie geschieht in dem Sinne, dass billige Produktion das oberste Ziel ist. Solange die natürlichen Ressourcen billig genug sind, hat die Wirtschaft sie nicht zu schonen. Sie wehrt sich erfolgreich dagegen die (Ver)Nutzung der natürlichen Ressourcen zu verteuern, auch wenn alle immer mehr zu begreifen beginnen, dass die natürlichen Ressourcen endlich und nicht unendlich sind. Nun gut, es gibt nachwachsende Rohstoffe. Die müssen wir hegen und pflegen, denn die gehen uns nicht aus. Wir haben die Natur jedoch dadurch, dass wir sie uns untertan gemacht haben, eher gefährdet und damit unser eigenes Überleben, als dass wir sie gehütet und gepflegt haben. Irgendwann wird es soweit sein, dass die Natur nicht mehr wächst, denn sie benötigt Wasser, ein angemessenes Klima, eine ausgewogenes Luftgemisch aus 173 Ganssmann, H.: Politische Ökonomie des Sozialstaats, Westphälisches Dampfboot, Münster, 2000, S. 90. Anm. d. Verf.:… und damit zur Gefährdung des sozialen Friedens und letztlich zur sozialen Spaltung und zum Konflikt. Dabei wäre doch gerade die Wirtschaft die Spezialistin dafür, knappe Güter gerecht zu verteilen (Grundsatz der Ökonomie). Entropie geschieht von selbst. Dafür brauchen wir die Wirtschaft nicht. 174 Senf, B.: Die blinden Flecken der Ökonomie. DTV, München 2004. S. 207 191 Sauerstoff, Stickstoff und Kohlendioxid, einen Humus voller Mikroorganismen und eine Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten, welche in einem dynamischen Gleichgewicht aufeinander angewiesen sind. Wenn dem nicht mehr so ist, verweigern sie das Wachstum. Also fertig mit Nachwachsen. Unsere industrielle Produktion stellt eben nicht nur Konsumgüter her auf Teufel komm raus, sondern sie stellt auch Nebenwirkungen175 her, wie bei Medikamenten üblich: Abfall, Abgase, Gifte, Verdichtung und Abdichtung sowie Überdüngung von Boden, zunehmende Erosion, Veränderung des Klimas, Abholzung von Sauerstoff produzierenden und Kohlendioxid umwandelnden Pflanzen und Wäldern. Auch die hergestellten Produkte dienen vielfach dazu, diesen Prozess zu beschleunigen. Diese Nebenprodukte sind vermehrt zu beachten. Dafür wurden mit der ökologischen Buchhaltung176 die entsprechenden Mittel zur systematischen Erfassung und Lenkung entwickelt und stehen zur Verfügung. Darf ich – mit Verlaub – nochmals daran erinnern: Es geht in der Wirtschaft darum, einen Beitrag zum Wohl der Menschen zu leisten. Es geht darum, für ihr kurzfristiges (mit Produkten) und langfristiges Überleben (durch sorgfältiges, ethisches Wirtschaften) zu sorgen. Die Wirtschaft ist ein Teil der Gesellschaft und hat dieser zu dienen und nicht umgekehrt. Wir werden es nicht zulassen, dass die Wirtschaft, wenn es einmal soweit kommen sollte, uns eine Welt hinterlässt, auf der man nichts mehr pflanzen und wachsen lassen kann. Wenn wir das wirkliche Ziel, uns ernähren und dafür arbeiten zu können, ohne die Industrie, ohne industrialisierten Ackerbau und automatisierte Massenviehzucht besser bewerkstelligen können, sollten wir jetzt auf sie verzichten. Wenn uns die Wirtschaft aus wohl nachvollziehbaren Sachzwängen nicht mehr eine „…zu Nebenwirkungen konsultieren Sie den Arzt oder Apotheker.“ Wer ist der Arzt der Wirtschaft? 176 Braunschweig, A., Müller-Wenk, R.: Ökobilanzierung für Unternehmungen. Eine Wegleitung für die Praxis, Haupt, Bern 1993. Diese Idee wurde weiterentwickelt. Jetzt spricht man vom ökologischen Fussabdruck. 175 192 lebenswerte und existenzsichernde Arbeit anbieten kann, welche Vorteile bringt sie denn noch? Die Sozialkosten können in Schädigungen der menschlichen Gesundheit, in der Vernichtung oder Verminderung von Eigentumswerten und der vorzeitigen Erschöpfung von Naturschätzen zum Ausdruck kommen177. Metalog: Ich stelle mir eine Wirtschaft vor, welche die gesellschaftliche Aufgabe wahrnimmt Arbeit, Güter und Wohlstand herzustellen und gerecht zu verteilen. Ein Teil dieser Aufgaben könnte auch, nach Massgabe des Volkes, dem Staat treuhänderisch übergeben werden, sodass er lenkend und unterstützend eingreift. Grundsätzlich soll aber die Wirtschaft möglichst effizient, autonom, ethisch und verantwortlich ihren Spielraum wahrnehmen können. Die Ideen der gesellschaftlichen Teilsysteme Staat / Politik (Abstimmen, Ausgleichen) und Wirtschaft / Anbau / Kommunikation (Versorgen), Bildung / Forschung / Wissenschaft (Entwickeln) sowie Ethik / Religion / Recht (Aufrichten, Ausrichten) und Kunst / Kultur (Anregen, Musse) sollen miteinander in regem Kontakt sein, einander gegenseitig überwachen, aber auch und in erster Linie anregen. Jeder dieser wichtigen Teilbereiche ist unabdingbar für die Entwicklung der Menschheit, einerseits autonom, andererseits aber im Verbund, denn nur so lernen wir von dem, was andere Bereiche erfinden, tun oder fehlen. Der Mensch – oder als Gemeinschaft das Volk – ist Teilhaber, Gestalter, Motor, Investor und Profiteur zugleich. Wenn das alles ist, glaube ich lieber an das, was (noch) nicht ist. Damit die Wirtschaft ihren Beitrag in Zukunft leisten kann, gelten folgende Regeln: 177 Kapp, K. W.,: Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Fischer, Frankfurt/M., 1988 193 Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt.178 Freiheitsprinzip: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Eine weniger umfangreiche Freiheit muss das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken. Vielfaltsprinzip: Jeder Mensch hat das Recht, spezifisch eigene Eigenschaften wie Begabung, Lebensstil und Lebensplanung zu pflegen, zu erhalten und sie im Sinne eigener Selbstverwirklichung zu nutzen. Autonomieprinzip: Jeder Mensch hat das Recht auf die Früchte der eigenen Arbeit (die Idee des Selbsteigentums). Das Eigentum des einen darf nicht dauerhaft auf Kosten desjenigen anderer besessen werden. Zugangsfreiheitsprinzip: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Zugang zu natürlichen Ressourcen und zu sozialen Positionen. Eine Einschränkung dieses Rechts muss zur Stärkung desselben sowohl für alle in der Gegenwart lebenden Menschen wie auch für künftige Generationen führen. Fürsorgeprinzip: Jeder Mensch ist zur Fürsorge für benachteiligte und abhängige Menschen verpflichtet. Die dabei in Kauf genommene Einschränkung der Autonomie muss das Gesamtsystem der Autonomie für alle stärken.179 Ergänzen möchte ich, dass diese Prinzipien selbstverständlich nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Staaten, Völker und Mächte gelten. Ein paar weitere Rahmenbedingungen müssen dafür aufgestellt werden: 178 Negt, O.: Arbeit und menschliche Würde. Steidl, Göttingen, 2002. S. 10 Diese 5 Prinzipien der Chancengleichheit verdanke ich Massarat, M.: Chancengleichheit als Ethik der Nachhaltigkeit. In: Widerspruch, 40/2001, Zürich, S. 55-69 179 194 Hersteller produzieren Nachfrage und Produkte. Das Wachstum, insofern es nötig und sinnvoll ist, hat sich dem Prinzip der Zukunftssicherung in allen Bereichen unterzuordnen. Man sollte bedenken, dass Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung nicht dasselbe bedeuten und das eine nicht das andere bedingt. Insbesondere dürfen folgende Formen des Wachstums nicht stattfinden: Wachstum ohne neue Arbeitsplätze, Wachstum ohne Skrupel (die Reichen werden reicher, die Armen ärmer), Wachstum ohne Mitspracherecht, Wachstum ohne Wurzeln (die kulturelle Identität von Menschen verkümmert) und Wachstum ohne Zukunft (da übermässiger Verbrauch von Umweltressourcen)180. Der Lohn einer Arbeitskraft (100 %) muss im Minimum die gängigen Lebenshaltungskosten eines Menschen decken. Wenn diese Person Kinder hat, muss der Lohn für die Familie (in ihren verschiedensten Formen) ausreichend sein, um die Lebenshaltungskosten der ganzen Familie zu decken. Die erwachsenen Partner, welche die Familie führen, sollen sich die Arbeit in der Familie und die Arbeit für die Familie nach freiem Ermessen aufteilen können, dass sowohl für das Einkommen als auch für die Erziehung, Betreuung und Förderung der Kinder gesorgt werden kann. Es soll verboten sein, dass mehr Lohnarbeit als 100 % pro Familie geleistet wird, wenn dies auf Kosten der Kinderbetreuung geht. Selbstverständlich ist es möglich, diese Familienarbeit geschlechtsneutral aufzuteilen. Damit wird die gesellschaftliche Funktion der Familie und der Kindererziehung aufgewertet. Will ein Paar mit Kindern mehr Lohnarbeit als 100 % leisten, obwohl diese zum Lebensunterhalt nicht nötig ist, hat es zuerst den Nachweis zu erbringen, dass für die Betreuung der Kinder 180 Gemäss Global Human Development Report, United Nations, 1996 (http://hdr.undp.org/reports/detail_reports.cfm?view=546) 195 181 professionell gesorgt ist181. Betriebe, welche Menschen mit Kindern einstellen, die über das Grundmass hinaus Lohnarbeit leisten wollen, haben für die Betreuung der Kinder zu sorgen. Grundsätzlich soll Doppelverdienst verpönt sein, da damit die ursprüngliche Idee der Gesellschaftszeit (soziales Engagement) verloren geht. Für Familienarbeit und Gemeinschaftsengagement sollen Vergünstigungen und Zeitgutschriften möglich sein. Ebenso sollen Wiedereinstiege ins Berufsleben nach Ablauf der Schulzeit des letzten Kindes erleichtert werden. In erster Linie werden die Güter für den Binnenmarkt (des Landes, der Region) produziert und auf diesem vertrieben. Dies bedeutet, dass Effizienz – im Sinne von höchste Stückzahl möglichst billig – zweitrangig ist gegenüber der Passung an die hiesigen Bedürfnisse. Natürlich ist Handel darüber hinaus, also Import und Export absolut möglich. Er ist aber für die Konzeption von Verbrauchsgütern und Lebensmitteln als Surplus zu betrachten und nicht primäres Ziel. Vermehrt sollen in einem solchen Fall Produktionslizenzen vergeben werden, damit dezentrale, regionale Produktion gefördert wird. Damit werden kulturelle Eigenarten geschützt und internationale RisikoAbhängigkeiten vermieden. Jedes Land soll von seiner Wirtschaft in die Lage versetzt werden, sich primär autonom zu versorgen. Der Weltmarkt stört dabei nicht, dessen Verlockungen führen aber auch nicht dazu, dass alles zu jeder Zeit und überall zu haben ist und sein soll. Zudem führen regionale Strukturen auch dazu, dass das Know-how für die Produktion spezieller Güter in der Welt besser verteilt wird und nicht wirtschaftliche Giganten dazu führen, dass regionale Strukturen, Eigenheiten und Produkte aussterben. Primär ist die Versorgung darauf auszurichten, dass lebenswichtige Grundgüter zu Preisen erzeugt werden, Kinder zeugen und erziehen, gerade wenn deren Zahl weniger wird, gilt damit als vornehme Sozialaufgabe der Gesellschaft. Eltern werden entlastet. Dafür sollen andere, welche keine Kinder wollen, in anderer Form sich gemeinnützig engagieren. 196 welche jederman sich leisten kann, aber nicht zu Dumpingpreisen, die wiederum zur Gigantisierung, Automatisierung und Verschwendung führen. Was unter Grundgüter zu verstehen ist, soll ideologiefrei, regional und relativ breit ausgelegt werden. Diese Güter und deren Herstellung werden steuerlich dann entlastet, wenn der Nachweis erbracht wird, dass sie unter nachhaltiger Ressourcennutzung produziert werden. Luxusgüter werden steuerlich stärker belastet, denn zuerst soll es darum gehen, für alle Erdenbürger das gegenwärtige und zukünftige Überleben zu sichern. Offensichtlich lässt sich nicht klar genug sagen, welche langfristigen Effekte die ökologische Besteuerung, über welche in Europa diskutiert wird, in Entwicklungsländern zur Folge hat. Möglicherweise leisten sie dort sogar einem weiteren Raubbau und Dumpingpreisen (und damit Löhnen, die regional den Lebensunterhalt nicht genügend sichern) Vorschub. Eine Steuer- und Abgabereform, bzw. Umlagerung ist aber nötig, damit die Arbeit selbst für die Wirtschaft entlastet wird. Es ist ja komisch, wenn der einzig produktive in der Wirtschaft, nämlich der Mensch, nur noch als Kostenfaktor zählt und man sparen und sanieren kann, indem man den Produzenten entlässt. Ein Element der Steuerreform müsste meines Erachtens sein, dass man Maschinen besteuert, die dem Menschen Arbeit abnehmen. Ebenso sollte die ökologische Steuerreform neben der Verbilligung der Arbeit, die regionalen Märkte dadurch schützen, dass der Transport und die natürlichen Ressourcen teurer werden, damit man sich ihrer mit Bedacht bedient. Die Wirtschaft hat die Aufgabe, wie geschildert, Arbeit für alle zur Verfügung zu stellen. Wer soll denn dies sonst tun, wenn nicht sie? Sicher nicht die Staatsverwaltung, indem sie sich aufbläht, um Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. 197 … in order to make people ‚want’ things they never previously desired, they had to create ‚the dissatisfied consumer’.182 182 Der Markt bewirkt offensichtlich, dass die Mächtigen wachsen, die Kleinen untergehen, die Armen hungern, die Arbeitslosen keine Arbeit mehr finden. Dabei wäre in der Urform der freie Markt jener, welcher das Gegenteil sicherstellt. Zudem ist es nicht so linear, wie in der Theorie vorgesehen, dass Nachfrage Angebot schafft, sondern Angebot schafft auch Nachfrage. Leider hat man in der eindimensionalen und linearen Theorie vergessen, dass es nämlich eine Rückkoppelungsschlaufe gibt. Damit werden die Marktprozesse statt linear chaotisch. Diese in der Fachwelt etwas kleinlaut als Marktparadoxien183 bezeichneten Phänomene sind zu korrigieren. Jene Rattenfänger, welche immer mehr „Markt“ rufen, in der Hoffnung, dass der zügelloseste Markt mehr Gerechtigkeit herstellen kann, möchte ich entgegenhalten, dass wenn er es bisher in unvollendeter Form nicht konnte, so wird er es in der Reinform auch nicht können – theoretisch und praktisch. Soziale Marktwirtschaft besteht ja nicht darin, dass der Markt als sozial bezeichnet wird, sondern darin, Rifkin, J.: The End of Work. New York, Tarcher/Penguin, 2004. S. 20 Und es gibt so viele dieser so genannten Marktparadoxien – und es werden täglich mehr –, dass das eigentliche Paradox darin besteht, dass immer noch so viele an das Marktprinzip glauben und es rechfertigen, als ob es eine heilige Kuh, statt ein Funktionsmechanismus sei, dessen Funktionieren gleichzeitig seine einzige Rechtfertigung sei. Richtigerweise bezeichnet man dieses Anomalien allerdings als Marktversagen (Rogall, H.: Volkswirtschaftslehre für Sozialwissenschaftler, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006. S. 115ff). Jeremy Rifkin, bekannter Ökonom und Publizist beschreibt Verschärfung der Verteilungsungerechtigkeit, Machtund Vermögenskonzentration sowie Ausgrenzung der Ärmsten als direkte Auswirkungen des Kapitalismus, der Marktwirtschaft und der Ökonomie. Rifkin sieht die Marktwirtschaft als nicht zukunftsfähiges Modell. (Rifkin, J.: Europa, wir brauchen dich. In: Die Zeit vom 9.6.2005, zit. nach Rogall, H. 2006 (s.o.). Siehe auch: Soros, G.: Der Globalisierungsreport. Rowohlt, Reinbek, 2003. Er spricht von Marktfundamentalismus und dass der totale Markt ein falsches und gefährliches Versprechen sei. 183 198 dass dem Staat die soziale Verantwortung abgetreten wird. Das Marktprinzip wird so leider zuschanden geritten. Wir müssen lernen, Weltbürger zu werden und über den Tellerrand hinaus zu fühlen, zu denken und zu handeln. Die Wirtschaft macht uns dies vor. Leider in unvollkommener Art und Weise. Ein Geschäft ist quasi das Gegenteil eines Kriegs: Es gibt zwei Sieger. Offensichtlich kann man auch anders geschäften. Dann gibt es einen Hauptsieger und einen andern, der nicht merkt, dass er verloren hat. Wie sollte es sonst gehen, dass die Geldströme, welche in die traditionell als unterentwickelte Staaten bezeichneten Länder hineinlaufen drastisch geringer sind, als jene, welche man herauszieht? Entwicklungshilfe soll auf Gegenseitigkeit beruhen und nicht auf dem Almosenprinzip. Die armen Länder mögen zwar nicht so industrialisiert sein, was aber noch lange nicht heisst, dass sie entwickelt werden müssen. Voneinander lernen und einander gegenseitig unterstützen wäre ein funktionierendes Modell des Zusammenlebens. Dafür braucht es auch ein offizielles Mass für gegenseitige Anerkennung, aber auch Ansporn, das anders funktioniert als das (dis)qualifizierende Bruttoinlandprodukt. Das Wettbewerbssystem basiert im wesentlichen auf einem falsch verstandenen Darwinismus. Marktwirtschaft ist angewandter Sozialdarwinismus. The survival of the fittest heisst eben nicht, dass der Grösste, der Mächtigste und der Stärkste überlebt, sondern derjenige, der anpassungsfähig ist. Wäre der Darwinismus so verstanden, so würden wir heute bloss noch mammutbäumefressende Dinosaurier haben. Die Natur hat eben im Gegensatz dazu komplexe Kooperations-, Anpassungsund Vielfaltssysteme entwickelt, die sich gegenseitig regulieren und dynamisch ausbalancieren. Diese funktionieren eher nach dem Kinderspiel „Schere, Stein, Papier“184. 184 Die Schere schneidet das Papier, das Papier kann aber den Stein umhüllen. Der Stein wiederum kann die Schere unscharf machen. Gegenseitige Interdependenz statt einseitige Überlegenheit. 199 Es braucht eine Vielfalt der Wirtschaftssysteme ohne Ideologieverdacht. Je vielfältiger die Wirtschaftssysteme sind, umso mehr kann man voneinander lernen. Deshalb braucht es auf der Welt auch keinen missionarischen Kapitalismus und keinen konformen Marktglauben, ebenso wenig wie einen bornierten Kommunismus. Die Wirtschaft muss in der Lage sein – dies ist möglicherweise ein Alternativkonzept zur ökologischen Steuerreform – die sozialen Kosten zu internalisieren. Unter sozialen Kosten sind alle jene Auswirkungen, monetär erfasst, gemeint, welche durch wirtschaftliches Handeln über die reinen Herstellungskosten hinaus verursacht werden: Schäden an der Natur, am Menschen. Die Bildung und Forschung muss in engem Kontakt mit der Wirtschaft stehen. Auch wenn das Bildungssystem berechtigte Ängste hat, von der Wirtschaft vereinnahmt und versklavt zu werden, so ist es doch entscheidend für den Erfolg der Wirtschaft, welche Bildung die Berufseinsteiger mitbringen. Ich vermute, dass in Zukunft soziale Fähigkeiten, die Fähigkeit, sich Wissen selbst in Echtzeit anzueignen und anpassungsfähig zu sein, selbständig und kritisch zu denken, sowie Kreativität, noch wichtiger werden wie bis anhin. Jedoch wird der Bedarf an Konservenbildung abnehmen: Alles steckt fertig zubereitet drin und ist, bis man es öffnet, lange haltbar... Es darf keinen Profit ohne echte Wertschöpfung geben. Das Kapital gehört in die Wirtschaft. Es soll produktiv sein, aber nicht fiktiv, sondern real. Alle Börsen und anderen Spekulationstempel werden geschlossen. Sie haben keinerlei steuernden Wert. Die Werterhaltung oder Vermehrung von Kapital soll lediglich über Arbeit zu erzielen und legitimiert sein. Epilog: Nun, können Sie die Anfangsfrage des Kindes im Dialog beantworten? „Papa, wem gehört die Wirtschaft?“ 200 201 202 Soziale Buchhaltung: Hilfe oder Fürsorge? Da antwortete der Baron: Ja, ich muss heute noch einmal nach Potsdam; ich will da die soziale Frage lösen.“ Alles lachte.185 Dialog: „Papa, was ist ein Freumd?“ Papa (unwirsch): „Das weisst du doch, lass mich lesen.“ Kind: „Nein, hör mir genau zu – ein Freu-m-d! Was ist das?“ Papa: „Das ist ein Druckfehler, nichts mehr.“ Kind: „Ich kenne das Wort „fremd“ und ich kenne das Wort „Freund“. Es ist aber keins von beidem.“ Papa: „Eben deshalb ist es ein Druckfehler. Lass mich jetzt in Ruh’. – Schau auf den Zusammenhang, dann findest du es raus.“ Kind: „Aber gerade der Zusammenhang hilft nicht. Es passt beides rein. Es könnte ein „Freund“ sein oder ein „Fremder“. Papa: „Es muss ein „Freund“ sein, denn ein Druckfehler besteht darin, dass ein einziger ‚Wechstaben verbuchselt’ ist.“ Kind: „Ich bin doch nicht blöd. Das weiss ich auch. Aber hier steht es so, als ob ein Fremder ein Freund sein könnte.“ Papa: „Aber Kind, habe ich dir nicht immer gesagt, dass du mir den Fremden anständig sein musst.“ Kind: „Darum geht es doch überhaupt nicht. In der Zeitung steht aber, dass die Fremden uns auf der Tasche liegen.“ Papa: „Das stimmt so nicht. Es sind nicht die Fremden, die unser Sozialsystem ruinieren. Es sind die Menschen aus den tieferen sozialen Schichten. Die meisten Fremden bei uns leben in diesen Schichten.“ Kind: „Was ist eine soziale Schicht?“ Papa: „Es gibt eine Oberschicht, eine Mittelschicht und eine Unterschicht.“ Kind: „Was bedeutet oben und unten?“ Papa: „Das bedeutet, dass die in der Oberschicht mehr verdienen und deshalb mehr soziale Verantwortung tragen. Die in der Unterschicht haben meist weniger Bildung und sind Arbeiter.“ Kind: „Wieso können nicht alle Menschen zur gleichen Schicht gehören?“ Papa: „Das hat sich so entwickelt.“ Kind: „Aber wenn die aus niedrigen Schichten mehr Bildung erhalten, können sie dann auch aufsteigen?“ Papa: „Ja, aber es gelingt meist nicht.“ 185 Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden. Suhrkamp, 1987, Frankfurt, S. 33 203 Kind: „Ach so. – Die aus tieferen Schichten haben weniger. Beziehen sie deshalb mehr Sozialhilfe?“ Papa: „So ist es.“ Kind: „Warum dürfen sie das nicht?“ Papa: „Jetzt lass mich in Ruh’. Du störst.“ Kind: (Denkt für sich:) „Ich bin wohl hier Freumd186.“ Man kann die Argumente gegen einen guten Sozialstaat auch in ihr Gegenteil verkehren. Wir haben etwas davon, wenn die Mühseligen und Beladenen unsere Hilfe bekommen. Das ist gleichzeitig gemein- und eigennützig. Antilog: Es wird gespart. Das Sozialsystem überbordet. Es muss eingedämmt werden, wird gesagt. Nun gut, warum kostet es denn immer mehr? Wird das auch gefragt? Und wozu dient ein Sozialsystem denn, wird das auch gefragt? Wir alle sind doch „Freumde“. Deshalb wäre es zu überlegen, ob nicht grundsätzlich die Aufenthaltsmöglichkeit in der Welt flexibler und einfacher daran geknüpft wird, ob jemand eine Bleibe vorzuweisen hat, einen Arbeitsplatz und den Lebensunterhalt selbständig bestreiten kann, statt dass man sich dieses Recht erstreiten oder erschwindeln muss, indem man darlegt, dass man bedroht oder verfolgt wird. Ich finde diese Verwaltung der Berechtigung und Verknüpfung mit der Opferthematik weniger humanitär, sondern mehr entwürdigend. Überdies hat sie eine immense Bürokratie zur Folge. Lassen wir die Menschen selbst bestimmen, soweit es geht. Schaffen wir aber in Notsituationen unbürokratisch Platz. Überdies: Eigentlich würden diese Menschen ihrem Land und ihrem Volk mehr nützen, wenn sie dort wirken könnten, wo sie herkommen. Sie könnten zur Entwicklung verhelfen, sie könnten Gerechtigkeit schaffen, sie könnten die Diktatur beenden, wenn sie nur Hilfe bekämen. Es geht letztlich nicht um Aufnahme oder Nichtaufnahme, sondern um Idee, Wirkung und Ziel. Was soll erreicht werden mit dem Asylstatus? Wie kann man das vertiefen? Wie kann man es verhindern? Wie kann man es verbessern? Wäre es denn nicht besser, bei Verletzungen von Menschenrechten, die zu Flucht aus einem Land führen erstens dafür zu sorgen, dass die Bedrohung beendet wird und zweitens jenen Zuflucht in einem Anrainerstatt zu geben, als es als humanitär zu betrachten, dass diese flüchtenden Personen sich für teures Geld in die ganze Welt zerstreuen müssen. Wäre es nicht besser bei Unterdrückung und kriegerischen Konflikten Auffangstätten um dieses Land als humanitären Kordon zu ziehen? Würde dies nicht mehr moralischen Druck machen und die humanitäre Katastrophe besser zum Ausdruck bringen? 186 204 Überfürsorglichkeit entwürdigt und entmündigt. Nehmen wir nur mal als Denkfigur an, dass es eine gerechte Welt gäbe, in welcher alle lebenswichtigen Güter (materiell und immateriell) gleichmässig verteilt wären: Dann würde also niemand eine bessere Bildung haben; es wäre niemand in seiner Entfaltung unterdrückt; es hätten alle Arbeit nach ihren Fähigkeiten und ihren Vorstellungen; es hätten alle einen Verdienst der ausreichend ist, um sich das, was man zum Leben braucht, zu beschaffen und sich Rücklagen zu machen für die Pension; es besässen alle ein ähnliches Mass an Vernunft; es würden Werte als gültig betrachtet, welche zur Aufrechterhaltung dieses Systems dienen, die Wirtschaft würde Güter produzieren, die allen zur Verfügung stehen, die sie benötigen. Ich vermute, dass dann zumindest potentiell jedeR eher danach trachten würde, diesen Zustand aufrechtzuerhalten und dessen Grundlagen nicht zu verletzen, im eigenen Interesse. Was wären die Folgen: Eltern würden ihre Kinder auf diese Werte „einschwören“ Alle würden sich so verhalten, dass ihr Engagement wichtig ist Man hätte genug, um andern, welche vom Schicksal geschlagen würden, wieder auf die Beine zu helfen Es bräuchte kein Sozialsystem Man würde dann aber darauf kommen, dass es vielleicht billiger und vor allem einfacher ist, als dass jeder sich seine Pension, seine Rücklagen für Krankheiten und für Unvorhergesehenes am Mund abspart, ein Versicherungsprinzip einzurichten. Denn dort müsste nur soviel Geld verwaltet werden, wie nötig ist. Dies liesse sich besser rechnen und steuern. Es wäre einfacher, als wenn dies jedeR für sich macht, zumal vielleicht der eine mehr und der andere weniger gut planen könnte und das Glück und Pech im Leben sich trotz menschengesteuerter Gerechtigkeit nicht gleichmässig verteilen würde. 205 Dies würde man nicht aus herablassender Barmherzigkeit tun, sondern durchaus in vernünftigem Eigennutz für sich selbst und damit für alle. Denn die Gefährdung der heutigen Menschheit entspringt ... ihrer Ohnmacht das soziale Geschehen vernünftig zu lenken. (Konrad Lorenz) Man würde damit ein Werk schaffen, das zwar nicht sozialen Charakter im herablassenden Sinn, sondern im bewahrenden Sinn hat. Man würde vielleicht staunen, wie viel den einen das Pech verfolgt, aber man würde den Ausgleich darin sehen, dass die anderen Glück haben und damit nicht alle gleichviel an diesem grossen Geldpot knabbern müssten. Man würde es geniessen, wenn man nicht auf den Fond angewiesen wäre. Man würde auch nicht eine Rechnung machen, dass jeder nur gleichviel Anrecht auf Unterstützung habe und Glück und Pech mit technischen Mitteln steuern wollen, sondern man würde es geniessen, wenn man eben nur Beitragszahler wäre. Man würde diesen Fond GsG (Gerechtigkeit spart Geld) nennen. Gerechtigkeit würde Grossmütigkeit schaffen und diese würde Neid und Missgunst klein halten. Allen wäre dieser Zustand wichtig, weil alle davon profitieren. Gerade weil allen dies so wichtig wäre, würde man ein Monitoring und Controllingsystem darauf aufbauen – nicht nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Controlling ist besser – sondern in der festen Überzeugung, dass dieses System anzeigt, wo es Ungerechtigkeiten gibt. Man würde Interessen daran haben, diese aus der Welt zu schaffen, weil sie zu ungerechtfertigten Kosten im GsG führten. Man hätte damit ein Warnsystem aufgebaut, das wie ein Thermometer anzeigen würde, sobald sich irgendwo etwas ereignen würde, das das stabile Gleichgewicht aus den Fugen zu bringen droht. 206 Hilfe wird mit der Funktionalisierung der Gesellschaft „erwartbar“ und ist nicht mehr eine „Sache des Herzens, der Moral oder der Gegenseitigkeit“.187 Nun, das bringt mich auf eine Idee: Das heutige Sozialsystem könnte ja auch ein gesellschaftliches Thermometer sein. Dieses System spart grundsätzlich Geld, denn es bewahrt die Gesellschaft vor sozialen Unruhen, welche weit grösseren materiellen und seelischen Schaden anzurichten im Stande sind, als der ganze Fond an Geld enthält und verwaltet. Interessant. Heutzutage wachsen die Sozialausgaben allenthalben. Was könnte dies wohl bedeuten? Wie reagieren wir darauf: Wir versuchen die Fenster und Türen zu schliessen, wir dichten ab, wo es geht und wir verstopfen gar die Ventile. Wir stellen fest: Wir können zwar das eine Teilsystem dicht machen, aber es gibt im andern Kessel einen Überdruck. Wir müssen die Ventile wieder entstopfen, damit es keine Explosion gibt. Aber die Ventile werden zu Quellen und die Quellen werden zu Strömen. Haben wir das eine System wieder im Griff, reagiert das nächste. Statt Kosten zu sparen, machen wir eine interessante Finanzschieberei nach dem Motto „Schwarzer Peter“. Wir sanieren das eine Kässeli auf Kosten des andern. Ich habe mal ein Kind gesehen, das in einem Sandkasten eine grosse Burg gebaut hat mit einem Graben drum herum. Dann hat es den Graben mit Wasser gefüllt. Das Wasser versickerte. Es hat den Graben abgedichtet. Als der Graben voll war, überlief er an einem Ort. Er hat sofort an diesem Ort Sand aufgeschüttet. Da überlief das Wasser an einem andern Ort. Am Schluss zerstörte das Kind das ganze Bauwerk und liess regelrecht am Sand seine Enttäuschung über das Misslingen aus. Es war eine schöne Burg, ein schöner Graben. Es hätte funktioniert. Es war mit Inbrunst gemacht. 187 Nach: Hafen, M.: Soziale Arbeit in der Schule zwischen Wunsch und Wirklichkeit, interact, Luzern, 2005, S. 32f. 207 Was fehlt, ist eine gesellschaftlich anerkannte Gesamttheorie, ein Monitoring-, Controllingsystem sowie eine Prozessvorstellung über die Funktionsmechanismen. Es war mal vor einiger Zeit, als man über die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen erst leise Töne hörte, da machte sich ein St.Galler188 Gedanken darüber, ob man nicht eine Prozesstheorie und ein Erfassungssystem über die verbrauchte Energie und Rohstoffe sowie die Emissionen bei der Produktion und die Auswirkungen durch die Verwendung und Entsorgung erfinden könnte. Damit würden diese am Endprodukt sichtbar. Er bezeichnete dies als die ökologische Buchhaltung. Das System der Ressourcenverwendung würde durchsichtig und damit steuerbar und veränderbar. Dies alles wären nicht mehr einfach nur hinzunehmende und damit scheinbar unveränderlich Fakten. Ein Sozialsystem ist nichts anderes, als der Umtausch des Matthäus-Prinzips in das Münchhausen-Prinzip189. Was wir im Zusammenhang mit Welt umfassender Energiebilanz auch noch bedenken sollten, ist, dass umso mehr Energie verbraucht wird, je mehr Menschen es gibt. Dies bedeutet, dass, nebst der Zunahme der Friedfertigkeit, die bei zunehmender Bevölkerung erreicht werden muss, auch der Energieverbrauch pro Person gesenkt werden oder das Bevölkerungswachstum auf einer „optimalen“ Stufe auf null übergehen muss. 188 Müller-Wenk, R.: Die ökologische Buchhaltung. Ein Informations- und Steuerungsinstrument für umweltkonforme Unternehmenspolitik, Campus, Frankfurt, 1978 189 Wer nicht hat, dem wird gegeben! Man möge sich erinnern: - Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben (Mt. 25; 29) - Münchhausen-Prinzip: Münchhausen gibt einem Frierenden seinen Mantel, obwohl er selbst nur leicht bekleidet ist. Gemäss der Legende soll es früher bereits einen Martin gegeben haben, der für das Selbige heilig gesprochen wurde. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Barmherzigkeit. Ich finde aber, es sollte mehr eine vorauszusetzende Selbstverständlichkeit darstellen, als eine auszeichnungswürdige Ausnahme. 208 Offensichtlich ist es möglich, das Bevölkerungswachstum mit der Zunahme der Bildung und der Zunahme der Gerechtigkeit sehr effizient zu steuern. Während bisher Kinder unter anderem den Zweck erfüllten, im Alter für die Eltern zu sorgen, wird diese Aufgabe durch ein funktionierendes Sozialsystem von den direkten Nachkommen gelöst190 und virtuell verwaltet. Zudem führt Bildung dazu, dass man sich einerseits über die Gefahren der Überbevölkerung – und damit der Zukunft – bewusst wird, aber auch lernt, wie Familienplanung überhaupt möglich ist. Bildung und damit Entwicklung (oder umgekehrt) ist also jene emanzipative Kraft, die im Zentrum jeder weltumspannenden Bevölkerungssteuerung stehen muss. Natürlich darf Bildung nicht als Mittel zum Zweck errichtet werden, denn sonst ist sie missionarisch und ideologisch statt emanzipativ. Man nennt es sozial, dafür zu sorgen, dass alles, was die Reichen sich leisten können, auch den Armen und weniger Reichen zusteht. – Damit wird reich sein zur Tugend und nicht reich sein zur Untugend. Zudem muss Entwicklung wiederum so sein, dass das Wachstum in den entwicklungsfähigen Staaten nicht unmöglich und schon gar nicht von den so genannt entwickelten Staaten einseitig dekretiert wird. Wenn jedoch das Bevölkerungswachstum insgesamt auf null hin tendiert, so werden einige Länder und Gegenden ein 190 Übrigens ein interessanter Ansatz, um darüber nachzudenken, woher die Idee der Altersvorsorge ursprünglich stammt, wie sie weiterentwickelt wurde und was sie jetzt für Auswirkungen hat. Zudem: Unsere Altersvorsorge scheint bei sinkender Geburtenrate aus den Angeln gehoben zu werden. Entweder wir entwickeln für dessen Finanzierung Partnerschaften mit Ländern mit hoher Geburtenrate oder wir lassen Immigration zu (wie es heute passiert, ohne dass dies aber in der Öffentlichkeit so zur Kenntnis genommen und gedeutet wird) damit die Zugewanderten uns helfen, dass mit ihrer höheren Geburtenrate unser Land nicht ausstirbt sowie sie uns auch sonst helfen, die steigende Belastung für die Altersvorsorge zu tragen. 209 Minuswachstum haben, währendem andere Länder weiter wachsen. Diejenigen Länder mit sinkendem Bevölkerungswachstum müssen die Altersvorsorge umstellen, weil diese von der Grundannahme des Bevölkerungswachstums ausgeht. Metalog: Sozialwerke würden missbraucht, haben wir am Anfang gehört. Nun, ich habe versucht aufzuzeigen, dass diese Idee eine Versuchung ist, der viele tranceartig erliegen: Die einen, indem sie dies in Kadavergehorsam nachbeten, die andern, indem sie dagegen ankämpfen, als ob es darum ginge, das Ganze zu Fall zu bringen – obwohl man damit, dass man die Konstruktion bekämpft, sie eigentlich nährt. Schlicht und einfach die Fragestellung ist falsch. So falsch, dass es sich nicht lohnt, sich damit zu befassen. Sie insinuiert, dass damit der Kernpunkt des Sozialsystems getroffen wird. Sie richtet die Anhänger und die Gegner dieses Themas schliesslich auf die Frage aus: Braucht es ein Sozialsystem oder nicht? Jedoch: Wir haben ein Sozialsystem eingerichtet, weil es billiger und einfacher ist, als dass jede Erdenbürgerin selbst und allein dafür sorgt. Dass das Sozialsystem auch noch die so genannten Marktparadoxien der Wirtschaft auszugleichen hat, stellt nicht eigentlich den Zweck des Sozialsystems dar, ist aber leider im Moment nicht zu vermeiden. Es führt aber dazu, dass die Wirtschaft die sozialen Kosten externalisieren kann, was wiederum im Denken und Handeln einen verheerenden Irrungsund Wirrungskreislauf in Gang setzt. Wo die Not am grössten ist, da wächst das Rettende auch.191 Ebenso wie die Arbeiter langsam zur eigentlichen Last der Wirtschaft werden, statt zur eigentlichen Produktivkraft, werden die Armen und Bedürftigen zu jenen, die es auszuschalten und 191 In Anlehnung an Friedrich Hölderlin 210 auszutricksen gilt, statt dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr arm und bedürftig sind. Dafür hätten wir die Wirtschaft. Sie hat Kompetenz im Verteilen von knappen Gütern oder gibt diese wenigsten in der Theorie vor. Ein Sozialsystem ist ein wirksames Frühwarnsystem für Ungerechtigkeiten. Wenn die Kosten hochschnellen, stimmt etwas nicht. Es muss analysiert und korrigiert werden. Es hat etwas zu bedeuten. Dazu braucht es den Diskurs der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Ethik. Übrigens: Selbst ein gut funktionierendes Sozialsystem kann Graubereiche in ihrer Benützung nicht ganz ausschalten und es wäre auch vollkommen falsch und nutzlos dies zu versuchen und zu tun. Es gibt die so genannte Pareto-Optimalität192. Sie stellt eine Art Grösse für den Wirkungsgrad dar und enthält Kriterien dessen optimale Einstellung. Betroffene zu Beteiligten machen ist menschlicher und wirkungsvoller als der Ausbau des Versorgungssystems. Angenommen man würde erreichen wollen, dass es keinen „Schwarzfahrer“ mehr gäbe, so müsste der Verwaltungsaufwand, entweder um ihn zu vermeiden oder ihn nachträglich zu finden, ins Unermessliche gesteigert werden. Dies wiederum bedeutet, dass zu viel Geld in die Verwaltung und Bürokratie des Sozialsystems gesteckt werden muss, so viel, dass das Geld dort – beim Endverbraucher – fehlt, wo es eigentlich hingehört. Indem man den Wirkungsgrad vergrössern möchte, verkleinert man den Wirkungsgrad. Und aufgepasst: Würde man Jagd auf Mäuse machen, könnte man sie locken, aber ihnen auch den 192 Vilfredo Pareto, italienischer Ökonom, Ingenieur und Soziologe, wurde unter anderem durch das Pareto-Prinzip (sog. 80:20 Regel) bekannt. Eines seiner Zitate: „Die Menschen handeln nicht, weil sie gedacht haben, sondern sie denken, weil sie gehandelt haben.“ zit. nach: www.wikipedia.org, die freie Online Enzyklopädie. 211 Zugang verwehren. Sie kennen aber die Mäuse, sie finden immer wieder einen Weg. Mäuse sind intelligent. Es geht also nicht darum, das Ganze statisch anzusehen, sondern dynamisch. Dadurch wird es allerdings immer noch komplexer. Machen wir uns doch daran, statt das Sozialsystem als Makel an einem perfekten Wirtschaftssystem zu betrachten, das wie Sand im Räderwerk wirkt, es als Diagnose zu betrachten und erwarten wir die Remedur nicht von jenen, die betroffen sind. Verwechseln wir nicht die Ursache mit der Wirkung! Deshalb: Sozialsysteme sind eine Hilfe. Sie sind eine Erkenntnishilfe. Sie haben nichts mit Fürsorge in dem Sinne zu tun, dass wir jenen Geld in die Tasche stecken, die sowieso hilflos sind. Da aber die Gefahr besteht, dass die Sozialkosten in einem flotten Schwarzpeterspiel herum geschoben werden, sollten wir uns dringend daran machen, eine Art Controlling- und Monitoringsystem im Sinne der sozialen Buchhaltung zu entwickeln. Solange wir nicht verstehen und darüber Konsens erzielen können, was hier eigentlich passiert, werden wir nur versuchen Löcher zu stopfen, aber immer im Zauberlehrlingsstadium bleiben. Statt Löcher zu stopfen und darüber zu schimpfen, dass die Ventile dem Druck nicht standhalten, statt den Funktionsmechanismus zu verstehen und schliesslich steuern zu können. Früher hiess es, man sollte nicht Hungrigen Fische geben, sondern sie Fischen lehren. Ich meine: Lasst sie einfach nur fischen und anerkennt, dass sie fischen können, aber es vielleicht anders gelernt haben. Oder noch besser: Lernt von Ihnen eine neue Art zu fischen, nicht zu fischen, Fische oder Nicht-Fische kennen. Bevor wir den Funktionsmechanismus nicht verstanden haben, müssen wir mit Sparund so genannten Optimierungsvorschlägen immer scheitern. Wir sollten auch 212 keine vorschnellen Schlüsse ziehen und Sanierungswellen anlaufen lassen. Selbstverständlich sollten Anreize so gesetzt sein, dass sie nicht dafür sorgen, dass jemand sich ohne Not sozialhilfeabhängig macht und wenn jemand es ist, so schnell wie möglich danach trachtet, sich wieder daraus zu befreien. Wir müssen diesbezüglich auch uns davon befreien, ein Fürsorgeprinzip anzuwenden. Fürsorge heisst letztlich, dass es eine Voraussetzung darstellt zum Bezug der Leistungen, dass jemand als unfähig betrachtet wird. Dies kann zwar sein. Es bleibt aber trotzdem eine Haltung, die auf Dauerhaftigkeit von Sozialabhängigkeit angelegt ist. Sie entzieht dem Abhängigen quasi per Dekret die Zurechnungsfähigkeit und muss sie ihm zur Erzeugung von neuer Unabhängigkeit wieder mit Druck aufoktroyieren. Das muss schief gehen. Man muss auch bedenken, dass es neben einem Attraktor (Anziehungskraft) auch einen Repulsor (Abstosskraft)193 gibt. Beide Kräfte zusammen können damit erst erklären, dass etwas mehr angestrebt wird und etwas anderes zu vermeiden getrachtet wird. Soziale Buchhaltung: So könnte das Sozialsystem einen Beitrag leisten zur Lösung der sozialen Probleme, anstatt sie nur verwalten zu müssen. Ja, natürlich stimmt etwas nicht. Aber wozu nur jammern? Stellen wir unser Sozialsystem als Zusammenfassung von Fürsorge, Krankenkasse, Unfall- und Invalidenversicherung, Altersvorsorge194 auf neue Beine. Entwickeln wir eine Konzeption, die es ermöglicht systematisch so einzugreifen, 193 Dies, zusammen mit einer dritten Kraft, der Fugaldynamik (Ausweichen, egal wohin), kann dazu führen, dass man scheinbar in Hysterese (Überhangstabilität) verharrt. 194 Um die Arbeitslosigkeit, insofern als hier das Verursacherprinzip gelten soll, hat sich die Wirtschaft zu kümmern, deshalb würde diese „Vorsorge“ nicht im engeren Sinn zum Wohlfahrtssystem gehören. 213 damit nachhaltige Verbesserungen und Veränderungen erzielt werden können. Lösen wir uns davon, das soziale Problem lediglich vom Einzelnen her zu betrachten, der uns scheinbar unbegründet auf der Tasche liegt. Betrachten wir den Betroffenen als fähig, seinen Teil dazu beizutragen, die eigene Unabhängigkeit wieder zu erreichen, falls das System selbst stimmig ist und damit auch die entsprechenden Anreize setzt. Die Zeiten, da das Helfen noch geholfen hat, sind unwiderruflich vorbei195. 195 Gronemeyer, M.: Wo geholfen wird, da fallen Späne, S. 170. In: Sachs, W. (Hg.): Wie im Westen, so auf Erden, Rowohlt, Reinbek, 1993. S. 170 - 194 214 215 216 Wissenschaft: Empirie genügt nicht! Seit Heisenberg196 wissen wir, dass wir entweder sehr genau über Unwesentliches oder sehr vage über Wesentliches berichten können. Wir müssen uns also entscheiden! Dialog: „Dieses Mikroskop ist kaputt.“ Mama: „Es ist neu.“ Kind: „Es funktioniert nicht.“ Mama: „Was hast du denn schon darum herum gemacht? Du hast es sicher kaputt gemacht. Dabei hast du es eben erst geschenkt bekommen. Ich hab dir immer gesagt, dass du mit solchen Dingen sorgfältig umgehen sollst. Sie sind wertvoll und das Mikroskop ist ein Geschenk.“ Kind: „Ich habe doch gar nichts Schlimmes gemacht. Ich möchte hier nur schauen.“ Mama: „Du musst die Schärfe eben einstellen. Du kannst oben beim Okular und auf der Seite drehen, damit du es scharf siehst.“ Kind: „Das mache ich ja dauernd.“ Mama: „Was möchtest du denn betrachten?“ Kind: „Ich habe da eine tote Fliege gefunden und unters Mikroskop gelegt.“ Mama: „Zeig mal, warum sollte das nicht gehen?“ Schaut durchs Mikroskop, dreht an den Rädchen. „So jetzt kannst du die Augen scharf sehen. Ich hab’ darauf scharf gestellt. Schau mal, da.“ Kind: (betrachtet die Facettenaugen) „Ja, das habe ich auch schon hingekriegt.“ Mama: „Warum bist du denn nicht zufrieden?“ Kind: „Ich möchte die ganze Fliege scharf sehen.“ Mama: „Ja, das geht natürlich nicht.“ Kind: „Warum nicht? Das Mikroskop ist kaputt.“ Mama: „Das Mikroskop ist nicht kaputt. Du kannst nur Teile scharf sehen. Immer wieder andere, auf die du scharf Werner Karl Heisenberg (1901 – 1976) war Physiker. Er entdeckte, dass in der Quantenphysik scheinbar andere Gesetze gelten, als in der Welt, die wir uns vorher vorgestellt hatten. Die Unschärferelation bezeichnet das theoretische Phänomen, dass wir unter einem Mikroskop den Ort eines Teilchens umso unschärfer sehen könnten, je genauer wir den Impuls bestimmen wollten. Dadurch, dass Photonen, also Licht zum „Sehen“, auf das Teilchen prallen, verändern wir das zu erfassende Teilchen. Wir wissen nicht, was wir sehen. Wir tappen im Dunkeln. Wir sind Veränderer und nicht wertfreie Entdecker. Wir können nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen, aber nichts Genaueres. Wir müssen immer etwas ausblenden und auslassen, um etwas anderes „festzustellen“. 196 217 stellst.“ Kind: „Warum kann ich denn nicht die ganze Fliege sehen?“ Mama: „Das Mikroskop eignet sich nur dazu, dass du flache Dinge ganz betrachten kannst.“ Kind: „Du meinst, ich muss die Fliege flach drücken, damit ich sie betrachten kann?“ Mama: „Ja, mein Kind.“ Kind: „Aber dann ist die Fliege kaputt. Dann kann ich sie nicht mehr betrachten.“ Mama: „Das ist aber so bei einem Mikroskop.“ Kind: „Ich muss also etwas kaputt machen oder zerschneiden, damit ich es sehen kann?“ Mama: „So ist es. Du kannst immer nur Teile scharf sehen.“ Kind: „Wenn ich die Dinge kaputt machen muss oder nur Teile sehen kann, dann nützt mir das Mikroskop nichts.“ Mama: „Lass es gut sein. Viele wichtige Entdeckungen der Wissenschaft sind unter dem Mikroskop gemacht worden.“ Kind: „Bezieht die Wissenschaft ihre Entdeckungen daraus, dass sie Dinge kaputt macht oder nur Teile davon sieht?“ Mama: „Ja, man kann sie sich dann im Kopf wieder ganz vorstellen.“ Kind: „Ich möchte nicht Wissenschaftler werden. Ich möchte die Dinge ganz sehen lernen.“ Es ist dringender denn je nötig, dass Wissenschaft dem immer stärker werdenden Auseinanderdriften von Gesellschaft und Wissenschaft entgegenwirken.197 Antilog: Die Wissenschaft leidet unter einem Empirismuszwang198. Alles muss erforscht werden, noch genauer, noch tiefer, noch besser. Es ist zu einer Art Spitzensport geworden, mit allen entsprechenden Auswirkungen, den andern zu überflügeln, noch schneller, noch höher, noch weiter... Die Neugier ist dabei vollkommen 197 Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S. 10 198 Als Begründer des naturwissenschaftlichen Empirismus gilt Sir Francis Bacon (1561-1626). Er kritisierte die Täuschung unserer Wahrnehmungen durch Ideale, hat sich aber in seinem Werk New Atlantis, in welchem er die Segnungen der technischen Entwicklung im Voraus pries, ziemlich verspekuliert. Bacon, F.: Neu-Atlantis, Reclam, Ditzingen, 1982 (engl. Erstausgabe 1624) 218 ungezügelt: Forschen um des Forschens willen, nur weil man es kann. Es wird eine Geschichte erzählt. Es war verpönt, den König von Bayern bei seinen Kutschenfahrten zu überholen. Der Lohnkutscher Krenkl, der ausserordentlich stolz war auf seine schnellen Pferde, konnte es nicht lassen, überholte den König und rief ihm respektlos199 zu: „Tja, Majestät, wer ko, der ko!“ (Der Ausspruch bedeutet: Wer kann, der kann. – Er wollte damit sagen, dass seine Pferde eben schneller seien, als jene des Königs.) Sicher ist die Forschung ein wesentliches Element der Wissenschaft und sicherlich ergibt sich aus der Forschung ein grosser, unverzichtbarer Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft und deren Entwicklung. Aber: Immer stärker zeigt sich auch, dass die Wissenschaft mit diesem Ansatz an Grenzen der Erkenntnis stösst, die sie dazu zwingt, von der Spezialisierung weg zur Integrierung und Interdisziplinarität zu finden. Solche Entwicklungen sind insbesondere in der theoretischen Physik immer stärker zu entdecken: Physik und Metaphysik beginnen sich zu vermischen. Die Physik stösst an den Grenzen der jetzigen Forschung auf Fragen, welche sich mit Physik und Naturwissenschaft nicht ergründen, erklären und verstehen lassen. Bisher waren, wie Heinz von Foerster200 sagt, die „Hard sciences (Naturwissenschaften)“ so erfolgreich, weil sie sich mit den „soft problems (triviale Fragen)“ beschäftigten. „Soft sciences (Sozial- und Geisteswissenschaften)“ jedoch hatten grosse Schwierigkeiten, weil sie sich mit den „hard problems (existentiellen, nicht-trivialen Problemen)“ beschäftigten. 199 Selbstverständlich steht in meiner baronesk-demokratischen Gesinnung nicht die Respektlosigkeit gegenüber dem König im Zentrum, sondern der zwanghafte Drang, alles, was man kann, auch zu tun und sich dafür zu brüsten (Machbarkeitswahn). 200 Foerster, H. v.: KybernEthik, Merve, Berlin, 1993 219 Ich erkenne nur innerhalb dessen, was ich vorher erfunden habe. Die Wissenschaft hat sich vor lauter Analytik und Akademik in einen Elfenbeinturm zurückgezogen oder sich der Wirtschaft angedient. Sie hat sich vor lauter analytischem Vorgehen, Denken und Entdeckerdrang – der immer auch ausliess, dass es eigentlich keine Entdeckungen sind, welche man macht, sondern Erfindungen – vergessen, dass es mehr dafür braucht als Intelligenz und Neugier um von den grossen Fragen her zu forschen, welche lauten: Wohin? Wozu? Wofür? Die Zeit der rohen Machbarkeit ist vorbei. Nun geht es wieder um die Sinnfrage. Wir können es uns nicht mehr leisten, der Forschung und der Wissenschaft jene Narrenfreiheit zu geben, welche die Kunst hat. Sie muss vermehrt zu jenen Fragen Forschung treiben, welche wirklich brennen. Synthetik, Synergetik, Emergenz, Kreativität und vor allem Ethik sind gefragt. Die Wissenschaft stellt quasi die Intelligenzia der Gesellschaft dar, die zu den „hard problems“ Ideen- und Möglichkeiten-Lieferant sein sollte. In der falschen Richtung („Effektivität“) wird man auch mit Akribie („Effizienz“) nicht fündig. Wir optimieren die Effizienz.201 Dazu braucht es allerdings die Überwindung des vom Kleindenken geprägten reinen Empirismus, welcher wie ein Sakrileg gehütet wird und seit jeher gegolten hat. Weshalb soll diese heilige Kuh geschlachtet werden? Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie zeigt uns, dass es keine Erkenntnis gibt, ohne dass wir das, was wir erforschen, auch verändern. Im schlimmsten Fall entdecken wir ständig Artefakte, also Dinge, welche wir selbst bewirkt oder beeinflusst haben – und dies unter dem streng gehüteten Mantel der Wahrheit, der 201 Wir optimieren ständig die Effizienz und wundern uns, wenn die Richtung dieselbe bleibt. Hohe Geschäftigkeit heisst noch gar nichts. Vgl. den Spruch zum Strom der Lemminge auf S. 8 220 Wirklichkeit, der Empirie und der Objektivität202. Dies bedeutet, dass Wissenschaft und Forschung keine Entdeckungen machen, sondern Erfindungen. Was auf jeden Fall gehütet werden muss, ist die Unabhängigkeit der Forschung. Sie soll in der Gesellschaft einen ähnlichen Stellenwert haben wie die Kunst, die Religion, das Recht und die Wirtschaft. Bereits Kant postulierte, dass die Geisteswissenschaften in Zukunft einen Auftrag zur „Beratungen der Machthabenden 203“ (der Regierung) haben werden. Ich postuliere dies heute nicht. Ich stelle fest, dass dies dringend notwendig ist. Diese Unabhängigkeit erst ermöglicht der Gesellschaft die volle Nutzung der Forschung und Wissenschaft und die Kooperation. Die Wissenschaft muss sich nicht mehr im Elfenbeinturm verstecken, sie kann sich bewusst werden, dass letztlich jede Forschung Gestaltung ist, dass letztlich jede Forschung nicht wertfrei ist und sein kann und dass somit jede Forschung Aktions- und Praxisforschung und somit angewandte Forschung ist. Metalog: Wesentlich ist, dass zuerst und im Vordergrund die Idee steht, vor jeder empirischen Tätigkeit, welche wiederum nur die Relevanz der Idee, bzw. die Anwendung der Idee beweisen soll. Wenn wir die Empirie in den Vordergrund stellen, dann können nur jene einen Forschungsbeitrag leisten, welche einen 202 Nehmen Sie nur zum Beispiel die Intelligenzforschung. Früher glaubte man, dass dies eine stabile Eigenart von Menschen sei. Deshalb konstruierte man Testverfahren, die auf der Idee aufbauten, dass bei zwei Messungen in grösserem oder kleinerem zeitlichen Abstand am gleichen Menschen, das gleiche Resultat heraus kommen muss. Heute weiss man, dass die Intelligenz plastisch ist. Man hat aber noch keine Testverfahren entwickelt, die dieser neuen Erkenntnis entsprechen. Vielleicht ist es sogar so, dass es gar nicht mehr möglich und sinnvoll ist, Testverfahren zu entwickeln, die eine instabile Eigenschaft stabil zu messen versuchen. 203 Reich, K. (Hg.): Kant, I.: Der Streit der Fakultäten. Meiner, Hamburg 1959, S. 30 221 Forschungsapparat zur Verfügung haben, also das Geld und die Macht. Dies wiederum führt dazu, dass nicht der gesamte Korb an Ideen, welche im Volk schlummern, genützt wird. Im Klima der Berechenbarkeit spriesst das Unberechenbare prächtig. Denken ohne Fühlen ist irrational204. Die meisten grossen Erfindungen unserer Zeit sind Gedankenblitze, glückliche Zufälle und Eingebungen: Galileo erfand die Schwerkraft, als ihm ein Apfel auf den Kopf fiel. Archimedes erfand das spezifische Gewicht, als er in die Badewanne stieg und sah, dass das Wasser überschwappte. Galvani erfand die Anwendung der Elektrizität, als er dummerweise in seinem Laboratorium für seine Frau Froschschenkel zubereitete. Kekulé erfand die Struktur des Benzolmoleküls, als er von einer Schlange träumte. Natürlich sagte Thomas Alva Edison, dass hinter solchen Erfindungen 99 % Transspiration stecke und nur 1 % Inspiration, das schmälert aber die Bedeutung der Idee an sich nicht im Geringsten. Ein Freund aus dem wissenschaftlichen Adel wollte einst vor Zeiten einen Artikel veröffentlichen, der neue Ideen enthielt. Diese wollte er in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen. Der Artikel wurde mit der einleuchtenden, aber lapidaren Begründung abgelehnt, dass er nicht empirisch sei. Später erhielt er für die gleiche Idee den Nobelpreis205. Ich meine, dass die Inspiration der Motor der Wissenschaft sein muss und nicht, dass eine Idee nur dann wichtig ist, wenn man gleichzeitig den ganzen Apparat dazu zur Verfügung hat, um sie zu erforschen. Ideen darf man offensichtlich nur in philosophischen Zeitschriften veröffentlichen. 204 Simon, F. B.: Der Prozess der Individuation. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen, 1984, S. 79 205 Es handelt sich um Albert Einstein 222 Wir forschen immer mehr ins Detail und vergessen dabei, dass die grossen Entwürfe fehlen206. Ich meine damit, dass wir wohl ins Weltall fahren können, aber diese Möglichkeit langsam dazu verwendet wird, um eine Ausweichlösung zur Verfügung zu haben, falls das mit der Erde schief geht. Sollten wir da unsere Kräfte nicht besser darauf konzentrieren, eine Gesellschaft aufzubauen, die wieder ehrfürchtig voreinander und vor der Natur ein Zusammenleben übt, das das Überleben sichert. Psychologie als Seele der Wissenschaften. Sollen wir wirklich unsere Intelligenz darauf richten, die Teflonpfanne (so genanntes Abfallprodukt der Raumforschung) zu erfinden – damit nichts mehr klebt – oder den genetischen Code des Lebens zu entziffern, damit wir unsterblich werden? Hand aufs Herz: Wie viele Forschungsgelder fliessen in die Friedensforschung, in die ökologische Forschung, in die soziale Forschung im Vergleich zur technischen Forschung? Warum ist das so? Offensichtlich lassen sich aus den ersteren Forschungsbereichen weniger käufliche Produkte entwickeln. Deshalb entsteht scheinbar der Eindruck, es lohne sich nicht. Ist das nicht eine monetaristische, materialistische und damit reduktionistische Einschränkung lohnenswerten Handelns? Klar, diese Forschungsgebiete stellen keine Eindeutigkeit und keine Linearität her. Man ist auf Wahrscheinlichkeiten angewiesen. Man denkt in komplexen Wirkungskreisläufen, welche einander gegenseitig bedingen. Man kann nur Empfehlungen davon ableiten und keine Gewissheit. Trotzdem würde die Forschung helfen, Schritte nicht von Beginn weg in die falsche Richtung zu lenken, sie könnte begleiten im Sinne von Prozessforschung. Die Erkenntnisse entstünden, während man geht. Man wäre nicht darauf angewiesen zu warten, bis man ins letzte Detail herausgefunden hat, „was die Welt im Im Jahre 1990 fand in Heidelberg ein Kongress mit dem Thema „Das Ende der grossen Entwürfe“ statt. Sicher, Bescheidenheit ist angesagt, aber Mutlosigkeit wäre übertrieben. Fischer, H. R., Arnold Retzer, A., Jochen Schweitzer, J. (Hg): Das Ende der grossen Entwürfe. Suhrkamp, Frankfurt, 1992 206 223 Innersten zusammenhält (Goethe, Faust)“. Aber es wäre fahrlässig zu warten, bis die Welt im Innersten zusammenfällt. Es braucht Mut, zu ändern, was zu ändern ist, Gelassenheit, zu ertragen, was nicht zu ändern ist und Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden207. Mittlerweile stossen aber andere Wissens-, Forschungs- und Wissenschaftsgebiete auch an ähnliche Grenzen, sodass die Grenzen zwischen „hard“ und „soft sciences“ fliessend werden und das gegenseitige Verständnis für die Schwierigkeiten wächst, was eine unabdingbare Voraussetzung für die notwendige Interdisziplinarität darstellt. Statt immer mehr eingeschränkte und genau kontrollierte Experimente über isolierte Fähigkeiten … , sollten wir lieber komplette Systeme studieren.208 Konstruktivistische Wissenschaftstheorie legt den Fokus weniger auf Erforschung, sondern mehr aufs Gestalten, weniger aufs Suchen, sondern aufs Finden, weniger aufs Machbare, sondern mehr aufs (Un)mögliche, weniger auf Materielles, sondern mehr auf Existenzielles. Die neue und kontroverse Wissenschaftstheorie hält fest: „Das Nervensystem ist so organisiert (bzw. organisiert sich selbst so), dass es eine stabile Realität errechnet.209“ Der Buchtitel „What you can change and what you can’t“ von Martin Seligman, dem Begründer der positiven Psychologie, lehnt sich am so genannten Serenity Prayer (dt. Gelassenheitsgebet) an, auf welches sich der obige Sinnspruch bezieht. Seligman, M. E.: What you can change... and what you can’t (learning to accept who you are), Fawcett, New York, 1995. Das Serenity Prayer wurde verbreitet von Reinhold Niebur, wird aber fälschlicherweise auch Franz von Assisi, Niklaus von Flüe, Friedrich Christoph Oetinger, Dietrich Bonhoeffer u.a. zugeschrieben. 208 Vorschlag des japanischen Psychologen Toda als Alternative zum traditionellen Weg der akademischen Psychologie, zit. nach: Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S. 238 209 Foerster, H. v.: Wissen und Gewissen, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1993 zit. nach: Lutterer, W.: Starre Selbstbilder als Barrieren beim Umgang mit komplexen Situationen In: Lernende Organisation – Zeitschrift für 207 224 Was bedeutet dies? Ein komplexes System (Mensch) kann kein komplexes System (Welt, Universum) erkennen. Es kann es nur anregen und sich von ihm anregen lassen und hoffen, dass sich das erkennende System und das zu erkennende System einander gewogen sind und statt Rauschen Zuverlässigkeit (Wiederholbarkeit und Eindeutigkeit) erzeugen. Wir befinden uns dabei aber weit jenseits des Kausalitätsparadigmas. Wir befinden uns damit im Münchhausen Trilemma210. Es ist so schaurig schön, dass ich ihm gerne meinen Namen geliehen habe. Wenn ich behaupte, dass ich mich am eigenen Schopf zum Sumpf herausziehen kann, so wird es Menschen geben, die mehr davon haben wollen, als nur die Belustigung über den rettenden Einfall und heiteren Vorgang. Sie wollen Erkenntnis, es verstehen, es begreifen. Diese und ich als jener, der erklären muss, landen dann aber unweigerlich in nachstehenden Abfolgen: Unendliche Begründungskette: Sie kennen dies von fragenden Kindern, die nicht mehr aufhören, bis einem der Schnauf ausgeht. Es könnte unendlich weitergehen. Zirkelschluss: Sie retten sich dann häufig, indem sie die Unendlichkeit abkürzen und in etwa sagen, dass es so ist, weil es so ist. Behauptung: Oder sie greifen zum zweiten Rettungsanker und sagen. Es ist so, basta. Es gibt keine Erkenntnis. Es gibt nur Konstruktion von Sinnzusammenhängen. Darüber lässt sich keine letztgültige Erkenntnis211 gewinnen – Sie können es drehen und wenden wie sie wollen. Gründet systemisches Management und Organisation, Institut für systemisches Coaching und Training, Wien, 24/2005, S. 25 210 Begriff ursprgl. von Gottlob Frege (1848-1925) Mathematiker. Weiter vertieft in: Albert, H.: Traktat über die kritische Vernunft. UTB, Stuttgart, 1991 211 Bereits Jean Piaget, der bedeutende Schweizer Entwicklungspsychologe sagte darüber: „… wir geraten so in einen Zirkel, ohne jemals wissen zu können, ob unser Abbild des Vorbildes diesem entspricht oder nicht.“ Piaget, J.: (1970, S.22 zit nach: Rusch, G.; Schmidt, S. J. (g.): In Piaget und der 225 Erkenntnis letztlich in einer Glaubensfrage? Sind es die Ideen, welche Erkenntnis auslösen und nicht die Wirklichkeit? Der Wahrheitsgehalt, die Bedeutung und die Gestaltungskraft von Tendenzen und Potentialen ist grösser als jene von Tatsachen. Offensichtlich werden wir daraus positive Zukunftsentwürfe ableiten müssen, dass wir anerkennen, abhängig zu sein, in Zirkeln gefangen zu sein und das „Aha-Erlebnis“ immer nur einen Augenblick des Innehaltens in der Abfolge der Interpunktion212 der Ereignisse darstellt. Wenngleich es auch manche … nicht … wahrhaben wollen, so wird die physikalische Forschung … von philosophischen Grundsätzen geleitet.213 Das dazu passende Bild der Entwicklung ist die Spirale. Sie verleiht dem unablässigen im Kreis Drehen und unermüdlichen Bemühen eine Dimension mehr, die uns aus der vermeintlichen Sinn- und Hoffnungslosigkeit zu befreien im Stande ist. Gerade weil es kein Ende gibt, müssen wir uns weder ereifern, noch auspowern, noch konkurrenzieren. Das beruhigt. Das wiederum adelt. Und wie Sie wissen: Adel verpflichtet. Rätsel: Was ist das? Sie brauchen es zum Leben? Kaum jedoch will man es fassen, entwischt es einem zwischen den Fingern. Es ist die Luft. Einatmen, ausatmen. Es ist ein Kreislauf. Fühlen Sie sich darin gefangen? Seit zirka 400 Jahren ist eine Frage noch ungeklärt: Das GalileiProblem214. Wer hat in der Erkenntnis Vorrang: Die Religion Radikale Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1994. Vielleicht geht es aber auch weniger um wahre Erkenntnis, sondern mehr um Lernen und Kreativität. 212 Zur Interpunktion vgl. S. 85 213 Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, DVA, Stuttgart, 1997, S. 65 226 oder die Wissenschaft. Offensichtlich schlug Galilei die Wissenschaft dafür vor. Der Papst jedoch forderte Galilei auf, dieses Weltbild als Hypothese zu vertreten. Es blieb unentschieden, obwohl Galilei sein Versprechen brach. Ich wäre ein Kamel, wenn ich diese Frage, über die Gras gewachsen ist, jetzt entscheiden würde. Jedoch kann ich mich dessen kaum erwehren: Mich deucht gewiss, dass das Eine zentraler sein könnte, als das Andere. Sie mögen dies der Grafik auf S. 76 entnehmen. Sinn schaffen kann die Wissenschaft alleine nicht. Sie kann Wege und Möglichkeiten vorschlagen und ihre Wirkung überprüfen. Wissenschaft ist wichtig, aber sie schafft nicht alleine Sinn. Ebenso wenig ist wissenschaftliches Handeln bereits in sich ethisch und damit wertvoll. Dafür braucht es den interdisziplinären Diskurs. Der Ursprung der Wissenschafts- … kritik und –skepsis liegt … in dem Versagen der wissenschaftlich-technischen Rationalität angesichts wachsender Risiken und Zivilisationsgefährdungen.215 Auch ohne Wahrheit lässt sich Wissenschaft betreiben, vielleicht sogar besser, ehrlicher, vielseitiger, frecher, mutiger.216 Forschung um der Forschung willen nach dem Motto: „Wer ko, der ko,“ ist nicht mehr zeitgemäss. Wir können es uns nicht erlauben, die Kräfte zu verzetteln. Wir müssen sie bündeln. Die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft müssen nicht um Macht oder Vorherrschaft buhlen. Sie sind alle nötig und aufeinander angewiesen, um Ideen zu generieren und Konsens zu schaffen. Der Wissenschaft steht nach wie vor eine wichtige 214 Nach: Lütz, M.: Der blockierte Riese, Psycho-analyse der katholischen Kirche, Knaur, München, 2001, S. 146ff. 215 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. S. 78 216 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986. S. 272 227 Rolle zu. Vielleicht muss ihr gesellschaftlicher Auftrag sogar noch an Bedeutung gewinnen.217 Die offizielle Forschung verkürzt sich ... auf ein Unternehmen zur Prüfung von A-priori-Hypothesen. Was deren Begründung und Herleitung betrifft, scheint es oft so, als würden sie vom Himmel fallen oder vom Klapperstorch gebracht werden.218 Blosse Tatsachen-Wissenschaften machen blosse Tatsachen-Menschen.219 217 Zu diesem Kapitel vgl. auch: Luhmann, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1992 218 Prinz, W.: Wahrnehmung und Tätigkeitssteuerung, Springer, Berlin 1983. Auch Dietmar Hansch schreibt: „Nicht ganz zu Unrecht macht man der akademischen Psychologie oft den Vorwurf, mit sauberen wissenschaftlichen Methoden an den eigentlich relevanten Problemen ‚vorbeizuforschen’.“ Hansch, D.: Psychosynergetik, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1997, S. 7 219 Husserl, E.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag, 1954, S. 4. Neudruck: Meiner, Hamburg, 1996 228 229 230 Gesundheit: Lebenseinstellung statt Versorgung Die medizinische Versorgung hat nur geringe Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung eines Landes220. Dialog: „Mama, Mama, das ist ja schrecklich!“ Mama: „Was beunruhigt dich so? Komm mal zu mir. Lass dich in die Arme nehmen.“ Kind: „Mama, in der Tagesschau221 haben die gesagt, dass 50 % der Schweizer krank sind.“ Mama: „Ja, ich habe es auch gehört. Das macht mich auch nachdenklich. Aber schau, wir sind gesund.“ Kind: „Ja aber Mama, 50 % sind sehr viel. Werde ich jetzt auch krank?“ Mama: „Nein mein Kind, wir leben gesund.“ Kind: „Aber es könnte doch sein, dass wir eine Krankheit haben, aber sie gar nicht merken! Das ist mir unheimlich.“ Mama: „Warum hast du Angst? Wenn es dir gut geht, so bist du gesund.“ Kind: „Aber mir geht es gar nicht gut. Gestern hatte ich so Durchfall. Jetzt habe ich so einen Druck im Kopf. Mein Bein schmerzt.“ Mama: „Gestern hast du etwas zu viel Süssmost getrunken. Jetzt ereiferst du dich, deshalb spürst du einen Druck im Kopf. Das Weh im Bein kommt vom Wachsen.“ Kind: „Du nimmst mich nicht ernst. Morgen musst du mit mir zum Arzt gehen.“ Mama: „Wir gehen sicher nicht zum Arzt.“ Kind: „Wovor hast du Angst, wenn wir zum Arzt gehen.“ Mama: „Ich habe keine Angst. Du bist gesund. Dann geht man nicht zum Arzt.“ Kind: „Andere tun das aber auch. Der Arzt könnte vielleicht doch etwas finden, wer weiss.“ Mama: „Eben.“ Kind: „Ich fühle mich krank.“ Mama: „Siehst du, wie aus 220 Überraschender Schluss eines Forschungsberichts des Canadian Institue for Advanced Research. Den grössten Einfluss haben die Arbeitsbedingungen. Zit. n. Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft, Riemann, München, 2002, S. 233f 221 Meldung Tagesschau SF DRS, Winterhalbjahr 2004/2005. Als krank wurde jemand operationalisiert, der mehr als ca. CHF 1’500.-/Jahr von der Krankenversicherung bezieht. Eigentlich hat dies wenig damit zu tun, wie hoch der allenfalls kranke Prozentsatz der Bevölkerung ist, sondern vielmehr damit, wie stark es üblich geworden ist, sich alles mögliche bezahlen zu lassen, statt es selbst zu bezahlen und zu verantworten. Man schlägt möglichst hohen Profit aus der immer teurer werdenden Krankenversicherung. Wem wäre dies wirklich zu verargen – auch wenn es natürlich ein wesentliches und damit ernst zu nehmendes Element der verheerenden Dynamik darstellt? 231 Beunruhigung Krankheit entsteht. Deine Beunruhigung kann dir der Arzt nicht nehmen, ausser er verschreibt dir etwas. Bist du dann beruhigt?“ Kind: „Nein, dann bin ich krank.“ Mama: „Wie 50 % der Schweizer.“ Im Unterschied zur krankenorientierten, patientenzentrierten Medizin steht eine krankheitsorientierte Medizin in der Gefahr, dass der medizinisch-technologische Fortschritt zum Selbstzeck wird.222. Antilog: „Sie erwähnen das Münchhausensyndrom. Dieses ist zwar ein verbreiteter Ausdruck, aber ein sehr seltenes Phänomen. Ein Münchhausensyndrom zeigen Patienten, die gewohnheitsmässig körperliche oder psychische Störungen vortäuschen, um dadurch die Aufnahme in Krankenhäuser zu erwirken. Beispielsweise können Nachahmungen von Schmerzen oder das Bestehen auf das Vorhandensein anderer Symptome so überzeugend und hartnäckig dargestellt werden, dass wiederholt Untersuchungen oder gar Operationen in verschiedenen Krankenhäusern oder Ambulanzen durchgeführt werden, trotz mehrfach negativer körperlicher Befunde. Die Motivation für dieses Verhalten ist fast immer unklar. Heute nimmt man an, dass dieses Zustandsbild als eine Störung im Umgang mit Krankheit und der Krankenrolle interpretiert werden kann.223“ Körtner, U. H. J.: „Lasset uns Menschen machen“ C.H. Beck, München 2005. S. 123 (Hervorhebungen vom urspgr. Verfasser) 223 Kurmann, J., Chefarzt Psychiatriezentrum Luzern-Stadt, als Antwort auf eine Leserinnenfrage in der Neuen Luzerner Zeitung; Ratgeber, Ausgabe 10.09.2002 222 232 Die unendliche Maximierung der Gesundheit wird mehr Schwierigkeiten nach sich ziehen, als die Linderung von Krankheiten224. Immerhin komme ich da relativ prominent, wenn auch in fragwürdigem Zusammenhang, zum Zuge. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass dies mein Schicksal ist, für erfundene Krankheiten hinhalten zu müssen und so die Kosten des Gesundheitssystems zu belasten. Immerhin befinde ich mich in bester Gesellschaft mit dem griechischen Arzt Galenios von Pergamon, der den Begriff des Hypochonders225 prägte. Dieser Begriff ist sattsam bekannt durch das Theaterstück von Molière: Der eingebildete Kranke. Um der bedenkenlosen Medikalisierung und Pathologisierung von im Grunde natürlichen Vorgängen und Diversitäten Einhalt zu gebieten, ist es notwendig, einen Begriff von Nicht-Krankheiten zu entwickeln.226 Eigentlich sollte dies genug sein, um zu illustrieren, woher die Krankheiten, die heute das Gesundheitssystem ad absurdum treiben, kommen. Sie kommen aus der Enttäuschung darüber, dass man sich nicht so wohl fühlt, wie man es sich vorstellt, dass aber unserem Gesundheitssystem so hohe 224 Als Alternative dazu empfiehlt Walter Krämer das Motto: (Lieber) früher zu sterben, aber dafür besser zu leben. Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens, S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 253. (Hinzufügung vom Autor). Ein anderer Vorschlag stammt von Ivan Illich. Er formuliert fünf Freiheiten das Leben zu feiern, u.a. auch „die Freiheit, ohne Diagnose zu sterben“ Illich, I.: Health as one’s own Responsibility – no. Thank you. Rede gehalten am 14. 09. 1990 in Hannover. 225 Übrigens: Wussten Sie, dass selbst diese „Krankheit“ Eingang gefunden hat in die international anerkannte Klassifikation der Krankheiten? Z. B.: Schulte-Markwort, M., Marutt, K.; Riedesser, P. (Hg.): Cross walk ICD-10 – DSM IV: Klassifikation psychischer Störungen: eine Synopsis, Bern, Huber, 2002. Es macht keinen Sinn, dass man Pseudokrankheiten als Krankheiten bezeichnet. Auch den Betroffenen ist man durch diese Pseudolegitimierung wenig behilflich. 226 Körtner, U. H. J.: „Lasset uns Menschen machen“ C.H. Beck, München 2005, S. 126 Vgl. auch Smith, R.: In Search of Non-Disease, British Medical Journal 342, 2002, S. 883-885. 233 Reparaturkompetenz unterstellt wird, dass man mit „sich nicht Wohlfühlen“ schon bereits Anspruch auf solche Pflege hätte. Wohlbefinden hat nichts mit Abwesenheit von Krankheit zu tun. Sie lässt sich auch nicht erzeugen durch Steigerungsformen von Gesundheit. Überdies wird uns weis gemacht, dass man unbedingt alles ausschliessen muss. Deshalb macht man Vorsorgeuntersuchungen. Dabei wird häufig etwas entdeckt. Oder ein Risiko führt zu einer Behandlung. Lieber wäre es mir allerdings, dass Risikoverhalten ähnlich akribisch festgestellt und „behandelt“ würde. Scheinbar ist die Industrie, die das Risiko zur Krankheit und die Prävention zum Gebot erhoben hat, mehr am Finden von Krankheiten interessiert, als an deren Vermeidung. Sonst würde man Prävention nicht als Kostenfaktor und damit als Krankheitsfaktor, sondern als Sparfaktor und damit als echte Gesundheitsförderung rechnen. Offensichtlich führt aber die Risikovermeidungshaltung nicht etwa zur Kostenverringerung, sondern im Gegenteil: Sie leistet einen Beitrag zur Kostensteigerung. Gesund ist heute nur noch, wer noch nicht genügend untersucht wurde227. Offensichtlich gibt es auch genügend entsprechende Bestrebungen der Medizinal- und Pharmaindustrie, die solches induziert, wie das Buch „Die Krankheitserfinder228“ streitbar, pointiert und polemisch festhält. 227 Die Idee, Krankheiten zu vermeiden und früh zu erkennen, ist ad absurdum geführt worden, sodass es schwerer ist, zu sagen dass jemand gesund ist, als dass jemand dies oder jenes hat. Ein Arzt, der dem Patienten sagen muss, er sei vollkommen gesund – vielleicht trotz Klagen – wird als unfähig betrachtet. Man hüte sich also geflissentlich davor, professionell dem Patienten die Last der Gesundheit aufzuladen. Er trägt leichter an der Krankheit. Immerhin wird er dadurch bedürftig. Damit muss er die Last nicht mehr alleine tragen. Einem Patienten die Gesundheit anzuraten, ist aber viel schwieriger. Der nächste könnte eine Krankheit finden. Da steht man dann schön blöd da. Es ist einfacher zu beweisen, dass etwas ist und schier unmöglich, dass nichts ist. 228 Blech, J.: Die Krankheitserfinder. Fischer, Frankfurt, 2003 Vgl. auch: Engelbrecht, T.; Köhnlein, C.: Virus Wahn, emu, Lahnstein 2006 234 Durch die indirekten Effekte (der Prävention229) wird das Gesundheitswesen im Gegenteil oft nur noch teurer230. Eine nicht seltene Krankheit heisst: Iatrogenie231. Dafür gibt es eine Therapie: Sie heisst Udenustherapie232. Ich mag nicht glauben, dass das Gesundheitswesen daran krankt, dass unser Lebensalter immer höher wird, ausser die Krankheitserfinder haben uns bereits erfolgreich beigebracht, dass alt werden eine Krankheit ist. Es ist grundsätzlich egal, ob man mit 60 oder mit 80 oder mit 100 an Altersschwäche stirbt. Es ist lediglich ein grosser Unterschied, wie man mit den sich selbstverständlich einstellenden Gebresten umgeht. Es hat nie jemand behauptet, dass Gesundheit ein Anspruch ist, den die Medizin einzulösen hat. Heute reicht offensichtlich die Abwesenheit von Krankheiten nicht mehr, man muss auch noch glücklich sein und sich wohlfühlen: Healthism, Gesundheitswahn233. Kein, selbst das beste 229 Hinzufügung durch den Autor Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 101. Die nächste, auf die soeben geheilte Krankheit folgende ist in der Regel teurer. 231 Iatrogenie: Mit diesem Begriff bezeichnet man Krankheiten, die durch Behandlung entstanden sind. 232 Udenustherapie (auch Oudenotherapie und Udenotherapie), ein Begriff des Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler. Er bezeichnete damit das Heilen durch nichts tun. Der Begriff stammt möglicherweise aus einer Anlehnung an einen gleichnamigen buddhistischen Mönch. 233 Lütz, M.: Lebenslust. Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult, Knaur, München 2005. Hier muss auch wieder einmal daran erinnert werden, dass Glück kein messbarer Umstand, sondern in erster Linie ein Gefühl ist, das man selbst produziert. Man kann also durchaus in verschiedenen Umständen glücklich oder in denselben Umständen unglücklich sein. Also sind für das Glück oder Pech nicht nur die Umstände massgeblich. Die persönliche Verantwortung, der persönliche Einfluss, das persönliche Coping bleibt. Der Anspruch auf Glück besteht nur insofern, als man ihn auch selbst einlöst. Eine Geschichte, die mit diesem Begriff dealt, ist folgende: Einem Bauern lief einmal sein Pferd weg: „Du bist sicher sehr traurig,“ sagten die Nachbarn. Der Bauer erwiderte: „Wir werden sehen.“ Eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wiederum kamen die Nachbarn und bemerkten: „Jetzt hast du Grund glücklich zu sein.“ Der Bauer 230 235 Versorgungssystem, wird dies je herstellen können, weil es eine Konsum-Mentalität, eine Anspruchshaltung darstellt. Das Leben ist eine garantiert tödliche, sexuell übertragbare Krankheit234. Damit wir uns richtig verstehen: Ich gehe davon aus, dass die Vorstellung von ungerechtfertigten Entbehrungen und Prüfungen sehr viel mit dem sozialen Stand zu tun hat. Es ist davon auszugehen, dass folgende Grafik etwa zutrifft235: Die einen sind schon zufrieden, wenn sie gesund sind. Je höher die soziale Stellung ist, umso wichtiger wird das Glück und das Wohlbefinden. Es werden sich also körperliche Krankheiten und Abnutzungserscheinungen mehr in den unteren Schichten finden, als in den oberen. Jedoch das Anspruchsniveau auf Reparatur, auf entsprechende Versorgung ist unabhängig von der sozialen Stellung durchgehend hoch. Die höhere Schicht scheint sich tendenziell nicht mit der Gesundheit zufrieden zu geben, was selbstverständlich Nachahmungsgelüste bei den antwortete: „Wir werden sehen.“ Am nächsten Tag verletzte eines der Wildpferde den Sohn des Bauern. Wiederum die Anteilnahme der Nachbarn: „So ein Pech.“ Die lakonische Antwort: „Wir werden sehen.“ Kurz darauf wurden alle Männer vom Militär eingezogen. Der Sohn des Bauern wurde nicht als kriegstauglich befunden. 234 Skrabanek, P.; McCormick, J.: Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin, Mainz 1985 235 Walter Krämer schreibt: Wer als krank gilt, hängt also davon ab, wo man wohnt und wie viel Geld man hat. Krämer, W.: Lügen auf ökonomischen und wissenschaftlichen Informationsmärkten. S. 163. In: Hettlage, R. (Hg.): Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen, UVK, Konstanz, 2003, S. 159-172 236 bescheideneren tieferen Schichten zur Folge hat. Selbstverständlich sollte diese vermutliche Tatsache auch dafür sorgen, dass obere Schichten nicht etwa denken, dass tiefere Schichten krankheitsanfälliger wären. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Fähigkeit, mit Störungen oder Behinderungen zu leben. … Die Kostbarkeit des Lebens liegt … nicht in seiner ewigen Verlängerung, sondern in seiner Begrenzung.236 Wir sind in eine Sackgasse geraten. Man erhebt einen Anspruch auf Heilung bei Krankheit und Linderung von Schmerz. Man konstruiert einen berechtigten Anspruch auf ewige Gesundheit und Wohlbefinden, kann diesen aber nicht einlösen. Erst Antonovsky237 hat aufgezeigt, dass „Gesundheit hergestellt wird“, aber nicht vom Gesundheitssystem, sondern von den Personen, welche gesund sind238. Es ist auch beileibe nicht einfach, sich als Arzt damit zurecht zu finden, dass man um jeden Preis Leben erhalten, verlängern und verbessern soll gemäss dem Hypokrates Eid. Man will ja keinen Meineid schwören, umso weniger als dieser einem in der Folge die Einkünfte schmälern würde. Nicht einfach ist es, weil nicht mehr die ärztliche Kunst mit ihrer natürlichen und selbstverständlichen Begrenzung im Vordergrund steht, sondern 236 Körtner, U.: Lasset uns Menschen machen. C.H. Beck, München, 2005 zit. nach GDI Impuls, Sommer 06, Healthstyle, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon S. 44f. Vgl. auch: Schneider-Flume, G.: Das Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei gelingenden Lebens, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004. Huber betont das Recht darauf, nicht perfekt zu sein. Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 55 237 Antonovsky, A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit, dgvt, Tübingen, 1997. Antonovsky erforschte die sogenannte Resilienz. Wie können Menschen erreichen, dass sie gesund bleiben, wobei andere unter den gleichen Umständen krank werden? Er begründete und regte damit die so genannte Gesundheitspsychologie an. 238 Damit widerspreche ich Klaus Dörner, aber nur scheinbar. Gesundheit kann nicht produziert werden. Sie ist damit kein Konsumprodukt. Sie ist aber auch nicht Vorsehung. Wir haben Einfluss. Selbstverständlich ist und bleibt Gesundheit letztlich ein Mysterium, das dem Gerechtigkeitsempfinden nicht zugänglich ist. Dörner, K.: Die Gesundheitsfalle, Econ, München, 2003 237 weil der Anspruch des Patienten mit ethisch noch nicht ausgereiften Grundsätzen abgeglichen werden muss: Heute kann man als Arzt nie genug getan haben, weil die medizinische Kunst keine Grenzen mehr hat. Damit hat der Arzt ein unlösbares Dilemma auszutragen. Wenn es keine klaren ethischen Grenzen gibt, so wird der Arzt immer ein schlechte Gewissen haben müssen und deshalb grundsätzlich mehr tun, als nötig, nützlich und sinnvoll wäre. Die medizinisch-technische Entwicklung gefährdet die Fähigkeit des Menschen, Schmerzen, Krankheit und den Tod anzuerkennen. Andernorts haben wir bereits vom Marktparadox gesprochen. Leider schafft auch hier das Angebot die Nachfrage. Je weniger hoch die Ärztedichte ist, umso mehr verbreitet sich eine andere Vorstellung von Gesundheit – eine die auf einem tieferen Anspruchsniveau und auf mehr Selbstheilung, Selbsttätigkeit und Resilienz basiert. Diese Vorstellung ist keineswegs im dem Sinne technisch, dass etwas durch Beanspruchung kaputtgehen muss und dass man es dann reparieren muss, sondern man hütet die Gesundheit und ist zufrieden, wenn einem dies einigermassen gelingt. Je höher und besser ausgebaut das medizinische Versorgungssystem ist, umso mehr „Krankheiten produziert“ es. Die Maschinerie muss ja ausgelastet sein, denn es war teuer genug, sie anzuschaffen. Medizin nach wirtschaftlichen Grundsätzen. Allzu oft verlängert die Medizin nicht das gesunde Leben, sondern allein die Zeitspanne zwischen Erkrankung und Tod239. Selbst der Arzt hält für notwendig, was machbar ist. Wenn die medizinische Forschung immer weiter solche „Fortschritte“ macht, so dürfen wir bald nur mehr gesund und schön sterben oder gar nicht mehr. Man lässt uns ja nicht, denn tun kann man technisch immer noch irgendetwas. Diejenigen, die dafür sind, argumentieren gleich, wie diejenigen, die dagegen sind. Das 239 Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 25 238 Leben ist heilig. Es wurde uns geschenkt, wir dürfen es nicht (Achtung: Multiple choice) von Menschenhand beenden von Menschenhand verlängern Ein ethisches Dilemma! Früher konnte die Ärztin noch bedauern, dass sie nicht in der Lage ist, etwas zu tun. Heute kann sie selbst dies nicht mehr, da alle Welt weiss, dass dem nicht so sein darf. Wenn der eine Arzt sagt, dass man nichts tun könne oder dass es nichts behandlungswürdiges sei, so wechselt man die Ärztin. Früher stand dafür die menschliche Anteilnahme und Hilfe im Vordergrund und nicht der technische Heils(/ungs)anspruch. Unser Umgang mit der Gesundheit ist ungesund. Wohlbefinden wird zum einklagbaren Grundrecht240. Grundrechte stehen nicht auf Pflichten und sind auch keine Verdienste. Sie stehen allen nach Belieben zu. Man darf sie nicht verweigern. So aber wird Wohlbefinden delegiert und technisiert. So wird Wohlbefinden externalisiert und perpetuiert. Ich muss, selbst bei der kleinsten Abweichung vom Wohlbefinden, gleich den Arzt konsultieren. Ich möchte lieber in einer Gesellschaft leben, die die Konsequenzen zieht aus Krankheit, Leid und Unheil statt sich an der individuellen Heilung gütlich zu tun. Der Arzt ist verpflichtet zu helfen und die Medizinal- und Pharmaindustrie rüsten ihn so aus, dass er helfen kann. Eine verschworene Schicksalsgemeinschaft. Jene, deren Wohlbefinden auch mal eine Schwankung erträgt ohne sich gleich krank zu fühlen und in eine fordernde Anspruchshaltung 240 Dabei scheint ja Glück eher eine unerwartbare Begleiterscheinung von Hingabe (Anstrengung und Leidenschaft) zu sein, als dass es sich mit einem Lotteriegewinn oder dem Erfolg einer Anspruchshaltung vergleichbar wäre. vgl.: Csikszentmihalyi, M.: Flow: Das Geheimnis des Glücks, Klett-Cotta, Stuttgart, 1993. 239 zu fallen, fühlen sich verschaukelt, was dazu führt, dass sie das Gesundheitssystem auch zu belasten beginnen. Was auf der einen Seite produktivitätssteigernd wirkt, macht auf der andern Seite krank.241 Früher ging man Sport treiben, weil es Spass machte und gesund war. Heute treibt man Fitness in einem stickigen Raum, weil es präventiv ist und Krankheiten vermeidet. Weil die Krankenkasse, welche sich heute Gesundheitskasse nennt, diese Bestrebungen unterstützt – wohlgemerkt scheinbar aus Kostenspargründen – zahlt sie das Jahresabonnement für den Fitnessclub. Krankheit ist eine unbeliebte Spielform der Gesundheit. Sie kann nicht ausgerottet werden. Wir haben Anspruch auf Gesundheit, nein, das ist zu wenig, auf Wohlbefinden. Dafür gibt es die Gesundheitsindustrie. Ich bin weniger wert, wenn ich nicht fit und zumindest gesund, also braungebrannt bin. Das zeigt die Werbung. Ich muss alle Segnungen des Lifestylesaniererei voll ausnützen. Jenen sei ins Stammbuch geschrieen: Es gäbe dann noch Wichtigeres, als sich zwanghaft wohl zu fühlen! Es gäbe noch: Dafür zu sorgen, dass sich auch unsere Nachfahren noch wohlfühlen können, wenn nötig unter Mut, Schweiss und Tränen – also ohne wirklich vollkommene Wellness aber dafür mit mehr Sinn und weniger Wahn. Wenn der ganze Gesundheitswahn mal schief geht, weil ich das falsche Pülverli genommen habe, doch zu viel getrunken habe, nach dem Fitness oder beim Wellness in der Badewanne voll Heilschlamm ausgerutscht bin, dann gibt es die Gesundheitshängematte. Quasi der Arzt verbündet sich mit der Krankenkasse und gegen die wirklich Gesunden. 241 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1986, S. 80 240 Blutjung wollen sie sein, wenn sie uralt sterben. Metalog: Bekenntnis eines ins Leben verliebten, der Gesundheit als Selbstverpflichtung242 in Verantwortung eingehen möchte: Ich möchte das Vorrecht haben, mich auch mal unwohl fühlen zu dürfen, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen zu bekommen! Ich möchte dem Arzt widersprechen dürfen, wenn er mir ein Medikament zur Heilung, eine Operation zur Reparatur anbietet. Die eklatante Wirkungslosigkeit des Gesundheitssystems zeigt sich gerade in dessen Wachstum243. Ich möchte, dass Menschen alt werden dürfen, ohne dass die perfekte Gesundheit bis zum letzen Atemzug aufrecht erhalten werden muss. Ich möchte vom Arzt eine Schandpredigt erhalten, wenn ich meine Gesundheit zu fest auf ihn delegiere244. 242 Jene in Not, jene vom Unglück Gezeichneten, mögen mir verzeihen. Ich wünsche jeder Person, die krank ist, Behandlung und bin auch bereit dafür solidarisch zu sein. Was ich hier streitbar versprechen möchte, ist auf einer andern Ebene. 243 Je besser ihr Gesundheitssystem funktioniert, desto mehr Kranke gibt es in einer Gesellschaft. Simon, F. B.: Die andere Seite der Gesundheit. Carl-AuerSysteme, Heidelberg, 2001. S. 192. Es scheint sich dabei um ein systembedingtes Problem zu handeln, denn wie Walter Krämer darlegt, ist es grundsätzlich so, dass je gesünder wir alle individuell sind, umso mehr nimmt der kollektive Gesundheitszustand ab. „Was dem einzelnen nützt, macht die Gesellschaft krank.“ Krämer W. Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 23 244 „1005 Medikamente habe ich auf Wunsch der Patienten aufgeschrieben. Von diesen 1005 Patientenwünsche waren 291 gerechtfertigt. Gemäss dem Art Paul Mössinger, zit. n. Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 166 241 Früher war das Ziel des Gesundheitssystems die Linderung der Krankheit. Heute geht es um die Vermarktung der „Gesundheit“. Ich möchte im Krankenhaus oder zuhause im Bett liegen dürfen, ohne das Gefühl zu haben, der Apparat tue alles für mich. Ich möchte, dass mein Lebenswille wieder zählt und meine Zuversicht, wieder gesund zu werden, nötiger ist, als die Pille, die ich auch noch nehmen muss. Ich möchte sein dürfen, wie ich bin, gesund, krank, agil, handicapiert, klein, gross, stark, schwach, dick, dünn, dumm, gescheit. Daran soll nicht herumgedoktert werden, weder präventiv, noch kurativ, noch palliativ-lebensverlängernd. Das Martinshorn eines Ambulanzwagens kann die Bereitschaft zur Samariter-Hilfe ... zerstören245. Ohne Krankheit, ohne Prüfung, ohne Tiefs, ohne Leiden und ohne Gebresten ist das Leben einförmig und schal. Ich möchte, dass das Leben wieder ein Geschenk ist und kein mit Plastik, Technik, Chemie und Lifestyle angereicherter Vegetationszeitraum. Ich möchte mich am schier unerschöpflichen Ersatzteilarsenal nicht bedienen. „Fürsorgliche Belagerung“246 Ich möchte sterben, wenn es soweit ist, und nicht wenn entschieden wird, dass meine Maschinen abgestellt werden dürfen. 245 Illich, I.: Die Nemesis der Medizin, Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, C. H. Beck, München,1995, S. 15 246 Dieser Begriff wurde geprägt von Ute Frevert. Frevert, U.: „Fürsorgliche Belagerung“: Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, 11. Jhg., Heft 4, 1985, S.420446 242 Ich möchte, dass die Medizin nicht nach wirtschaftlichen und Marktprinzipien247 geführt wird, sondern wieder erzieherisch, verantwortungsbewusst, emanzipatorisch, entwicklungsfördernd, Trost spendend und fordernd hilft. Ich möchte, dass psychische Leiden nicht medizinisch und nicht mehrfach behandelt werden. Ich möchte auch nicht vom unerschöpflich boomenden Therapiemarkt248 als Kunde 247 Den Kern heutiger Gesundheitspolitik stellen die so genannten WZWKriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit) dar. Sie stellen die Grundlage dar für das boomende Gewerbe der Gesundheitsökonomie. Diese hat die Aufgabe zu quantifizieren und damit berechenbar zu machen, was sich eigentlich dem entzieht. Z. B. wird heute der Wert eines Menschen auf etwa Euro 5 Mio. (pers. Mitteilung) veranschlagt. Die Vorgehensweise ist immer noch in etwa die gleiche wie 1912 beim Untergang der Titanic. Damals wurde der Preis eines menschlichen Lebens so festgelegt: Preis der „eingesparten“ Rettungsboote – eigene Schadenssumme bei Schiffsuntergang x Wahrscheinlichkeit des Schiffsuntergangs = Preis des Menschenlebens x Zahl der zusätzlichen Toten bei voller Auslastung (Kreutz, H.: Das Überleben des Untergangs der Titanic. In: Angewandte Sozialforschung. Heft 1 / 2 2001/2002, Institut für angewandte Soziologie, Wien, S. 10 - 20). Dies gemahnt auch an den „body-count“ im Vietnam-Krieg. Ein Toter Vietnamese stand in der Kriegsrechnung Amerikas mit $ 450'000.- zu Buche. Interessant auch, dass hier einmal mehr Wert, Preis und Kosten durcheinander gebracht werden, als ob Äpfel und Birnen dasselbe wären. Vgl. auch die Ausführungen zum Wert eines Vogels auf S. 275. Man scheint der klassischen Verwechslungsfalle von Effizienz und Effektivität, Wirkung und Wirksamkeit anheim gefallen zu sein. Zur Problematik des konkreten Umgangs mit WZW siehe auch: Slembeck, T.: Kostentreiber im Schweizer Gesundheitswesen – Eine Auslegeordnung. Santésuisse, Solothurn, 2006. Dort findet man auch Ausführungen über die Auswirkungen des sog. moral hazard. 248 Die Wirkung von qualifizierter Psychotherapie („lernen, sich selbst zu helfen) ist sattsam erwiesen, in vielen Bereichen auch deren Überlegenheit gegenüber medizinischen Mitteln. Durch deren Einsatz könnten etwa jährlich Franken 1.1 Milliarden an Gesundheitskosten eingespart werden (Frei, A.; Greiner, R.-A.: Sparpotenzial: eine Milliarde. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Psychotherapie, Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer PsychologInnen FSP, Nr. 5/2001, S. 14-17). Vgl. auch: Grawe, K.: Psychologische Therapie, Hogrefe, Göttingen, 2000. Grawe, K. / Donati, R. / Bernauer, F.: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession, Göttingen, Hogrefe, 2001. Diese Tatsache soll hier auch nicht in Frage gestellt werden. Etwas anders sieht die Bilanz aber aus, wenn man die Therapiewirkung der Produktion psychischer Leiden gegenüberstellt. Psychotherapie allein leistet quasi als Nebenprodukt der Individualisierung des Leids Vorschub. Wenn der Auslöser weiter bestehen bleibt, wird das 243 umworben werden, ebenso wenig wie von der sozialen Fürsorge. Ein Gesundheitssystem, dessen Patienten zu Konsumenten werden pervertiert zum Gesundheitsjahrmarkt. Ich möchte dann ein funktionierendes Gesundheitswesen ohne Reue beanspruchen dürfen, wenn es wiederherstellen kann, mit vertretbaren Mitteln. Ich möchte, dass nur jene Phänomene als Krankheit gelten und damit Krankenkassengeld auslösen, welche als (wirklich) behandelbar gelten. Der Arzt soll mir beistehen, damit zu leben zu lernen oder zu sterben, wenn ich andere „Krankheiten“ habe. Ich möchte nicht eine Zweit- oder Drittmeinung einholen müssen, nur weil ich glaube, es mir schuldig zu sein, oder Bedenken haben muss, dass mein Arzt zu viel oder zu wenig tut. Ich möchte, dass Gott zur Dauer meiner Gesundheit und meinem Ableben wieder bedeutend mehr zu sagen hat, als die Medizin – selbst auf Kosten meines Leids (und demjenigen meiner Lieben), wenn ich vom Pech verfolgt werde. Ich möchte, dass die Alternativmedizin den Gesundheitswahn der Menschheit nicht noch mehr pervertiert, als die Schulmedizin es schon tut. Ich möchte mutig durchs Leben gehen, auch wenn ich mühselig und beladen bin. Ich möchte nicht neidisch oder verärgert sein wollen über jene, welche das Gesundheitssystem in extenso ausreizen. Ich Vergrössern des Therapieangebots nicht dazu beitragen, dass es ein bisschen weniger Leid auf dieser Welt gibt. Im Gegenteil: Sie würde zu einem Instrument der Zivilisationsfolgenkorrektur. Dies ist die Achillesferse der Psychologie. Sie entfaltet trotz ihrem immensen Zusammenhangs- und Veränderungswissen zu wenig gesellschaftskritische und gesellschaftsgestaltende Kraft. 244 möchte niemandem die Heilung vergönnen und niemandem die Krankheit gönnen. Das gesellschaftliche Streben nach Gesundheit ist zum vorherrschenden pathogenen Faktor geworden249. Ich möchte, dass krankheitsschädigendes Verhalten sich nicht lohnt, dass aber gesundheitssteigernde Luxusmassnahmen nicht auf dem Buckel der Solidarität durch alle bezahlt werden, welche sie nicht in Anspruch nehmen. Ich bin für das unantastbare Lebensrecht allen natürlich gezeugten Lebens, das aus eigenem Antrieb lebensfähig ist, auch wenn es auf menschliche – nicht technische – Pflege und Obhut angewiesen ist, auch dann, wenn dieser Minimalgrad an Unabhängigkeit durch vorübergehende technische Unterstützung wieder erreicht werden kann. Ich möchte, wenn mich das Schicksal schlägt, eine solide Medizin antreffen, eine, die ihre Wirkung und ihre Grenzen kennt, nicht eine, die alles versucht. Ich möchte sicher sein, dass jenen in Not – seien es Einzelne, Gruppen, Völker – mit angemessenen Mitteln geholfen wird. Ich möchte, dass sich die Medizin damit auseinander setzt, womit sie so erfolgreich war. Mit dem Fortschritt. Ich möchte, dass man sich ethische Beschränkung auferlegt. Ich möchte sichergestellt haben, dass die Medizin nicht alles noch besser kann und können wird, und dadurch nur die Dilemmata ins Unermessliche gesteigert werden. Ich möchte, dass man ein Fortschrittsmoratorium eingeht, bis diese Fragen geklärt sind. Ich möchte, dass die Medizin sich nicht so weiter entwickelt, dass man nicht mehr zwischen Kunstfehler und Kunst unterscheiden kann. Illich, I.: „Und führe uns nicht in die Diagnose, sondern erlöse uns von dem Streben nach Gesundheit“, Vortrag in Bologna 24. 10. 1998. Abdruck in: Le Monde diplomatique, dt. Ausg. 4/5. April 1999 249 245 Krankheitswertsteigerung! Ich möchte, dass die Kunst und Notwendigkeit der Gesundheitsförderung vor der Krankheitsverhinderung und Heilung an die erste Stelle gelangt. Erforscht werden muss: Was hält uns gesund? Daraus abgeleitet werden soll ein altes, vergessenes Geschäft der Medizin, die Gesundheitserziehung. Gesundheitsförderung250 als ideeller Bruder der kostenwuchernden „Prävention“ soll über die Reparaturmedizin gestellt werden. Ich verspreche, dass ich nicht zwanghaft alles tun werde, um nicht krank zu werden. Ich verspreche, dass ich auch ungesund leben und Sünden begehen werde, weil es mir Spass macht. Darüber und über die Folgen möchte ich aber auch Verantwortung übernehmen. Die Diagnose macht die Krankheit erst „wirklich“251. Epilog: Ein Dilemma besteht darin, dass man zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen hat, sich aber nicht entscheiden kann. Wenn die Medizin für alles zuständig ist, was Gesundheit und Krankheit betrifft so kann und dies dazu führen, dass die 250 Gesundheitsfördernd in dem Sinn wäre auch, dass man nicht alles, was mit Gesundheit zu tun hat, verabsolutiert und medizinisiert, sondern auch und gerade die Ursachen im sozialen, im wirtschaftlichen, im Bildungs- und im ökologischen, im ethischen und im religiösen Zusammenhang sieht und sie von dort her angeht. Es könnte billiger und vor allem sinnvoller, würdiger und nützlicher sein. 251 Nicht zuletzt deshalb mehren sich die kritischen Stellungnahmen gegenüber den immer umfangreicher werdenden diagnostischen Klassifikationssystemen wie ICD und DSM. Es kommt nicht von ungefähr, dass es erst seit Kurzem den ausgleichenden Fokus gibt, nämlich ein eine akribische Aufreihung dessen, was gesund ist und gesund macht. Peterson, C. and Seligman, M.: Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford University Press, Oxford, 2004. Vgl. auch: Hartmeier, M.: NFA, ICF, ICD und andere Buchstabensalate – genüsslich angerichtet, In: Psychologie und Erziehung P & E, Zeitschrift der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, 1/2007 246 Verantwortung beim Einzelnen abnimmt. Gleichzeitig aber steigt der Anspruch, denn der medizinaltechnische und pharmazeutische Fortschritt führt dazu, dass man alles kann. Also kann man dessen Anwendung einfordern. Die empfundene und logisch abgeleitete Gerechtigkeit besagt, dass auch selbstverständlich Spitzenmedizin allen zur Verfügung stehen muss. Wenn aber selbst Risikofaktoren bereits Behandlungen auslösen, wenn man nicht mehr sterben darf, dann sitzen wir in der Tat in der Falle. Die Determinanten von Gesundheit liegen zum grössten Teil ausserhalb des medizinischen Versorgungssystems.252 Dilemmata kann man lösen, indem man die Ebene wechselt oder die Gedanken und Gefühle aus der Problemkatatonie befreit. Gerade weil man nicht kann und nicht darf, muss man wohl die unliebsamen Themen entscheiden – oder um es mit Heinz von Foerster zu sagen: „Nur prinzipiell unentscheidbare Fragen können entschieden werden.“ Es sind gesellschaftliche Entwicklungen, die neu wieder in Gang gesetzt werden müssen. Offensichtlich werden diese mit politisch einschneidenden Entscheidungen eher angeregt, als mit akademischer Diskussion. Wir kommen nicht umhin, uns Einschränkungen aufzuerlegen, sonst werden wir eines Tages nicht mehr unterscheiden können zwischen Leben und Tod. Wenn etwas nicht kaputt ist, mache es nicht ganz. (Steve de Shazer, Psychotherapeut) Die jetzige heftige Diskussion um immer mehr Hilfe und immer mehr Anspruch hat mit der drohenden sozialen Spaltung, dem Verlust der Solidarität (leider schürt, wie das eben in Kreisläufen ist, das eine das andere) zu tun. Je mehr sich die einen etwas 252 McKeown, Th.: Die Bedeutung der Medizin, Suhrkamp, Frankfurt, 1979, S. 238, zit. nach: Engelbrecht, T.; Köhnlein, C.: Virus-Wahn, emu, Lahnstein, 2006 247 leisten können, je mehr es technisch möglich ist, umso mehr fordern es auch die andern. Daraus könnte es sogar sein, dass die Gesundheitsthematik, neben der Bildung, der Arbeit und dem Geld, zum dritten voranschreitenden Hauptfeld der Ungleichheit wird, welche die zunehmende Spaltung oder Polarisierung anheizt. Möglicherweise stellt die Gesundheitsthematik sowohl den Brückenkopf als auch die Nagelprobe dieser Entwicklung dar. Wir werden es nie schaffen, den Tod und die Krankheit zu besiegen. Wir müssen hingegen diesen beiden wieder einen Sinn und eine Bedeutung geben, damit unsere Besessenheit, sie zu überwinden, abnimmt. In einem Zustand der gerechten Verteilung von Gütern und Macht und im Frieden kann mit dem Thema Glück und Unglück (sowie mit der natürlichen Verschiedenheit) viel sachlicher umgegangen werden. Wir brauchen kein Versorgungssystem, das jede Krankheit zu heilen hat und den Tod beliebig hinauszuschieben im Stande ist. Wir brauchen wieder vermehrt Menschen, die der Bedeutung der persönlichen Gesundheitsförderung mehr Gewicht beimessen, statt sich auf die Rettung danach zu verlassen. Dies kann nur individuell geschehen und kulturell sozialisiert werden. Wir alle werden nie imstande sein, die Gesundheit perfekt zu managen, müssen aber andererseits in der Lage sein, persönliche Konsequenzen unseres Lebensstils zu tragen, ohne diese durch ein medizinisch perfekt funktionierendes Versorgungssystem jederzeit reparieren lassen zu können. Leben auf Probe geht nicht, es findet live statt.253 Sterben ist keine Krankheit. Wie könnten wir ein Diagnosesystem entwickeln, das nicht immer mehr Krankheitsbilder auflistet und deshalb in seiner Komplexität geradezu verleiten muss, dass eher Krankheit als Gesundheit diagnostiziert wird, das Ausschlussdiagnosen von 253 Zu diesem ganzen Kapitel siehe auch: Bauch, J.: Gesundheit als sozialer Code, Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Juventa, Weinheim, 1996 248 Krankheit immer ausschliesslicher werden lässt? Wie könnten wir es schaffen, dass nicht die Krankheitskosten ins Unermessliche steigen, sondern der Mehrwert der Gesundheit? Wie könnten wir es schaffen, dass der Gesundheitsmarkt, der an Krankheit verdient, eingedämmt wird? Es darf doch nicht sein, dass es erstrebenswerter und einfacher ist, eine Krankheit zugeschrieben zu bekommen und zuzuschreiben, als für gesund gehalten zu werden. Wie situativ Diagnosen sind und wie stark sie vom gesamten Deutungshintergrund beeinflusst werden, zeigt das Rosenhan-Experiment.254 Die Krankheit entsteht im Auge des Betrachters. Was oder wer ist hier krank oder krankmachend? Wie viel schwerer muss es sein, jemanden als gesund zu bezeichnen, wie ihn krank zu schreiben? Es gibt im psychosozialen Bereich keine Krankheit und ebenso keine Heilung, sondern nur Schwierigkeiten und Veränderung. Die moderne Medizin bedroht uns nicht durch ihre Fehler, sondern durch ihre Erfolge255. Die „Ethik des Heilens“ ist das Ende der Ethik256. Rosenhan – Experiment: Einige gesunde Versuchspersonen wurden von psychiatrischen Kliniken aufgenommen und benahmen sich dort wie gewohnt. Ihre Verhaltensweisen wurde mehrheitlich als krank gedeutet. Rosenhan, D. L.: On Being Sane in Insane Places, Science, 179, 1973, S. 250-258. 255 Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989. S. 7 256 Lütz, M.: Ethik des Heilens – Ende der Debatte. In: WOZ, Zürich, Nr. 23/07. S. 21 254 249 250 251 Eine Religion: Sinn, Einheit und Zuversicht stiften Die zeitgenössische Psychologie hat sich in ihren Erkenntnissen nicht sehr weit von den alten Religionen entfernt.257 Dialog: „Hallo. Bist du überhaupt da?“ – „Was meinst du damit?“ – „Ich denke, dass es gut wäre, wenn es dich gäbe.“ – „Wieso meinst du das?“ – „Weisst du, manchmal bin ich so allein, manchmal bin ich so unsicher und manchmal ist alles so schwierig. Ich weiss nicht, ob ich es richtig und gut mache. Manchmal wissen auch meine Eltern keine Antwort auf meine Fragen.“ – „Du meinst, dass ich dir da helfen kann. Das sind ja die ganz schwierigen Sachen, die du von mir verlangst. Meinst du, dass ich das kann?“ – „Wie heisst du eigentlich?“ – „Die Menschen haben mir ganz verschiedene Namen gegeben. Mir ist der Name nicht so wichtig.“ – „Die verschiedenen Religionen sprechen also alle mit dir und von dir?“ – „Ja, ich glaube, dass ich mit all jenen, die mit mir sprechen wollen, ins Gespräch komme.“ – „Religion, Kirche ist langweilig.“ – „Das alles macht mir so viel Sorgen. Heute wird es missbraucht oder ist tot.“ – „Ich glaube aber, dass die Menschen deswegen nicht schlechter geworden sind.“ – „Das glaube ich auch.“ – „Bist du zuständig für das Gute und das Böse, das hier geschieht?“ – „Die Welt und das Leben nimmt seinen Lauf. Da geschehen Dinge, die mir gar nicht recht sind. Ich hoffe immer noch, dass die Menschen lernen, immer mehr Gutes in die Welt zu tragen und zu verwirklichen.“ – „Du klingst nicht gerade begeistert. Weisst du, ich bin nur ein Kind. Aber wenn du mir hilfst, so werde ich tun, was ich kann.“ – „Ich auch.“ Sucht nicht, ihr Kleingläubigen, findet. 257 Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. KlettCotta, Stuttgart, 2005, S. 214 252 Antilog: Die Religion lässt sich im Volk nicht ausrotten, selbst dann nicht, wenn die Kirchen nicht mehr deren Hauptträger sind und vom Volk in unseren Breitengraden zunehmend verpönt werden. Das zeigen neuere Forschungsresultate. Wir gehen auf eine Wiedergeburt des Religiösen hin, nachdem man es schon verloren glaubte. Ob das wohl gut ist? Wofür könnte das gut sein? Wer ausser der Religion, sollte nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus in der Lage sein, den dritten Weg zu entwickeln? Es muss nicht erstritten werden, ob es eine richtige Religion gibt. Ob es einen Gott gibt, mehrere oder keinen258 ist Ansichtssache. Der Monotheismus geht mehr davon aus, dass es eine Repräsentation gibt, in welcher die verschiedenen Erfahrungen des Lebens zusammenlaufen, währenddessen der Polytheismus postuliert, dass es unterschiedliche Kräfte und Themen gibt, die aber letztlich alle in göttlicher Natur aufgehoben sind. Das muss kein Widerspruch sein, sondern offenbart das gleiche Denken, nämlich, dass es eine ordnende höhere Macht gibt, die Sinn verleiht. Es erklärt und meint beides das Gleiche, die Bilder, die die Erfahrungen überhöhen, sind aber anders gemustert. Seit dem Einbruch der Säkularisierung (das Volk nimmt sich des Guten an und lässt es nicht allein durch die Kirche verwalten) und der Aufklärung (Das „Gute“ und das „Vernünftige“ werden gleichgesetzt) besteht die Chance, dass die neuen Zugänge zur Religion zur Völkerverständigung dienen können, statt sich gegenseitig zu bekriegen. Das Problem dabei ist, dass Religion 258 In der so genannt gottfreien Religion des Buddhismus oder im so genannten Atheismus. Der Buddhismus geht davon aus, dass das Ziel des Lebens darin besteht, das Leid dieser Welt zu lindern. Weder als Ursache, noch sonst wird im Buddhismus die Konstruktion eines Gottes benötigt. Damit soll hier auch gleich klar werden, dass Religion hier nicht als Gegenteil von Atheismus gilt. Kein Mensch kann leben, ohne auf Glauben angewiesen zu sein und darauf zu vertrauen. 253 von politischen Machtträgern ebenso missbraucht werden kann. Religion kann sich nur machtfrei sinnvoll weiterverbreiten – durch Verständigung, gegenseitiges Lernen und Hochachten, statt in der Rechthaberei. Die Religion, die dem Volk gehört, die vom Volk gepflegt wird, ist aber auch eine Verpflichtung. Man kann sich so nicht mehr nur an einen Schriftgelehrten oder Mächtigen anlehnen, der vorgibt, was gut ist und was böse. Man muss ein eigenes Instrumentarium entwickeln, es abgleichen mit andern und es ständig überprüfen und verbessern. Es gibt ein Leben vor dem Tod259. Ein Gott schafft die Vorstellung von Einigkeit, währenddem die Vorstellung von Vielfalt zweitrangig wird. Viele Götter schaffen die Vorstellung eines Biotops der Vielfalt, in welchem die Einheit dynamisch hergestellt wird. Ob wir den Göttern nun Heilige sagen oder ob wir sie Propheten nennen: Sie sollen uns eine Richtung, eine Orientierung geben, im Guten, wie im Bösen. Seien es drei oder Hundertschaften. Es geht ums Ideal. Es geht um die Nachfolge und nicht um die Verstrickung. Ob nun Gott260 den Namen Jahwe, ???261, Allah, Shiva oder ein Mehrfaches davon heisst, spielt doch keine Rolle, wenn wir voraussetzen, dass dies sprachliche und kulturelle Spielformen des Gleichen sind, welche verstanden, gedeutet werden können und uns etwas Wichtiges zu sagen haben. Wir sollten weder warten bis die „beste“ Religion als einzige überlebt hat, noch bis die Religion überhaupt im Volk bedeutungslos geworden ist, noch bis wir kriegerisch oder im Disput herausgefunden haben, welche Religion die wahre ist. Wir können uns dies nicht leisten. 259 Wolf Biermann, ostdeutscher Liedermacher Wenn jemand anderer Religion dieses Buch liest, so möge er/sie mir verzeihen, dass ich im folgenden unbeirrt von Gott spreche, als ob die andern Namen mir nicht geläufig wären oder minderwertig. Es ist nur eine Gewohnheit. 261 „???“ steht stellvertretend für jene Religionen oder Weltanschauungen, die gottfrei, gottfern sind oder jene, die in absoluter Vollkommenheit keinen stellvertretenden Namen für das Unbenennbare erfunden haben. 260 254 Religion ist dazu da, uns zu Einheit, Sinn und Zuversicht anzustiften und dazu, über den Alltagstrott hinaus, weitere Dimensionen des Lebens zu entdecken und auch dazu, einerseits uns die Angst vor dem Tod zu nehmen, aber auch gerade deshalb uns auf das Leben zu verpflichten. Religion muss beides beinhalten und hegen: Einheit und Vielfalt. Das eine um der Gegenwart, das andere um der Zukunft willen. Religion darf nicht zum Mittel des persönlichen oder verfassten Machtegoismus verkommen. Fundamentalisten sind, so gefährlich sie sich, sei es im christlichen, aber auch in andern Glaubensbekenntnissen gebärden, kein Grund dafür, nicht weiterhin an die positive Kraft der Religion zu glauben. Sie sind eher eine Glaubensprüfung. Begegnen wir ihnen mit Milde, aber fordern wir sie heraus. Fundamentalismus ist keine Religion. Religion ist keine Krankheit, derer man sich zu schämen braucht, und keine Obsession, die jeder Vernunft abträglich ist. Religion ist der Kristallisationspunkt jener tiefen Sehnsucht, die sich selbst durch intensive Liebe und hingebungsvolles Geliebtwerden nicht stillen lässt. Religion ist für die Welt, für die Menschen da, nicht für Gott. Religion ist universal. Es geht nicht darum, dass wir in die Kirche gehen, dort Gottesdienst tun, um diesen, sobald wir wieder an der frischen Luft sind, in den Wind zu schlagen. Dort beginnt der Gottesdienst ja. Wenn schon, wäre die Zusammenkunft in der Gemeinschaft jener, die aus dem Glauben Kraft schöpfen, eine Feier des Gelingens, ein Trost fürs Misslingen oder eine Ermunterung für das Weitermachen sowie dafür, dass es möglich ist, wieder Tritt zu fassen, nachdem man ihn verloren hat. Gott selbst – so nehme ich, wohl etwas vorwitzig, zumindest an – hat gar nichts davon, dass wir uns 255 einmal die Woche in einem kalten, dunklen, muffigen Raum262 aufhalten, wenn darauf nicht ein Leben fusst. Glaubhaft wird man durch die Tat, nicht durchs Gebet. Das Sprechen mit oder darüber kann eine Hilfe sein, aus der Ruhe Kraft zu schöpfen und nicht in Resignation zu verfallen und daran zu verzweifeln. Wie es in so vielem geschieht. Es fällt mir leichter, meinen Glauben zu leben, wenn ich weiss, dass andere dies auch tun. Es ist spannend, von der Erfahrung anderer zu lernen, als sich um sein eigenes Universum zu drehen. Das Gemeinschaftserlebnis ist keine conditio sine qua non, aber ein erleichternder Faktor und einer, welcher die Wirkung des Glaubens zu potenzieren im Stande ist. Es braucht ja nicht viel, zwei oder drei reichen… Nur, wenn ich davon ausgehe, dass jeder Mensch für solche Dinge im Prinzip ein Sensorium hat, bin ich nicht darauf angewiesen, eine Trennung zwischen gewöhnlicher Gesellschaft und religiöser Gemeinschaft zu machen. Ich halte dies sogar im gewissen Sinne für überheblich. Es gibt nicht zwei Welten, ausser wir seien schizophren. Glauben heisst: Trotz der erdrückenden Last des Faktischen das Potential der Möglichkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Mir scheint die Diskussion darüber, ob es Gott gibt, in welcher Erscheinungsform und welchem Vokabular auch immer, obsolet. Erstens: Wenn es um Glaubensfragen geht, so sind Beweise das Ende des Glaubens. Zweitens: Wenn Gott die Vorstellung des Guten repräsentiert, so hat die Menschheit etwas davon, wenn wir versuchen, dies im Leben umzusetzen. Dafür brauchen wir den Beweis nicht. Wir gestalten sein Antlitz selbst, wenn wir versuchen, eine menschlichere und lebenswertere, gütigere Welt zu entwickeln. 262 Eine Geschichte von Gott, in: Veen, H. van: Seine besten Lieder, Universal, 1988, Audio CD 256 Aufpassen müssen wir nur, wenn Theorien, Bücher, Riten, Gewohnheiten, Gewänder, Mythen und Messen unsere Sehnsucht nach Sinn, Einheit und Zuversicht bereits erschöpfen. Wenn wir in dieser Konstruktion nur die Empfänger sind, dann sind wir ein weiteres Mal Opfer unserer Gewohnheit geworden, etwas zu geniessen oder über uns ergehen zu lassen und uns lediglich am Nachhall der Sinneserfahrung in unserem Hirn zu laben. Wenn sich unser Glaube darin erschöpft, so ist dies mit Verlaub „autoerotisches brainfucking“, eine Form der Entropaminsucht: Wir sind uns selbst genug. Wir stehen im Zentrum. Wir wollen befriedigt werden. Wir bestehen auf Anspruch darauf. Wir sind selbstgerecht. Metalog: Gläubige sind jene Unverbesserlichen, welche selbst dann vom Silberstreifen am Horizont sich lenken lassen, wenn der Nordstern schon längst untergegangen ist. Gläubige sind jene, welche deshalb in der Dunkelheit noch wandern, weil dies kein Gegenbeweis dafür ist, dass es kein Ziel und keinen Sinn gibt. Ich wünsche mir Kirchen, welche in der Welt stehen, sich mit deren Problemen auseinandersetzen und nicht mit sich selbst und dem Mitgliederschwund, denn Religiosität und damit Engagement für die Einigkeit der Welt, für tätige Rechtschaffenheit und Zuversicht ist nicht an eine Vereinsmitgliedschaft gebunden. Kirche muss dorthin schauen, wo Not, Hoffnungslosigkeit und Zerwürfnis stattfindet und mit jenen zusammenarbeiten, welche sich für deren Linderung einsetzen, über alle Grenzen hinweg. Wahre religiöse Gemeinschaft findet dann statt, wenn diese nicht konfessionell und bekenntnismässig trennt. Es gibt zwei Wege Einheit herzustellen, auf dem theoretisch-theologisch, kirchenrechtlichen Weg und auf jenem der praktischen Zusammenarbeit und dem gesellschaftlichen 263 Zusammenleben . Der eine soll den anderen unterstützten und 263 Die praktisch gelebte Ökumene scheint bisher sehr viel erfolgreicher zu sein, als die theoretisch kirchenrechtliche. Viele Probleme der Verständigung 257 nicht hemmen. Beide Ebenen, die gemeinschaftliche und die verfasste Religion, sollten jedoch den Diskurs trotz aller Unzufriedenheit nicht abbrechen lassen. Wir können es uns nicht leisten, dass die Frage der Religion zur individuellen Konstruktion von Heilserwartung264 reduziert wird. Wir können es uns nicht leisten, dass Religion allein durch Kirchenapparate verwaltet wird. Wir können es uns nicht leisten, dass die existentiellen Anregungen der Religionen verstummen. Wir können es uns ebenso wenig leisten, dass Religion in lebensferne Bewunderung entartet, wie in pietätlose Rechthabereien aber auch nicht in kadavergetreuem Gehorsam und marketingmässiger Dressur erschöpft. Es muss Dinge geben, die uns heilig sind, aber gerade deshalb nicht tabu. Sie gehen uns alle an. Übrigens: Den Streit um die Weiblichkeit Gottes – so gut ich ihn verstehen kann und auch unterstütze – finde ich überflüssig. Insofern als (unsere Vorstellung von) Gott die Transzendenz unserer Hoffnungen und Werte darstellt und ausgehend von dem, dass der Mensch kein Sensorium hat, mit welchem er die Gottheit wirklich und vollumfänglich erfassen kann (geschweige denn empirisch), stellt unsere Vorstellung der Gottheit sowieso Projektion unserer Konstruktionen dar und repräsentiert selbstverständlich ebenso stark den weiblichen wie den männlichen, den körperlichen wie den geistigen, den erwachsenen wie den kindlichen Teil. Andere Religionen spiegeln einfach noch vielfältiger die Qualitäten, aber auch die Risiken, Zwickmühlen und Fragen sowie Fehler des Lebens in Gottheiten. lassen sich in der Praxis viel einfacher lösen, als in der Theorie. Es kann so auch sein, dass die Theorie einmal nicht der Praxis vorauseilt, sondern ihr folgt. Die Religionen sind als Mischformen (Synkretismus) verschiedener Einflüsse entstanden. Eine Überbetonung der Orthodoxie (einzig wahre Lehre) kann dergestalt schnell in einen Absolutismus einmünden. Moral kann Ethik nicht ersetzen. 264 …nach dem Motto: Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt. Gott behüte! 258 Der Positivismus hat uns veranlasst, den Glauben an Gott durch den Glauben an den Tod zu ersetzen – eines der schlechtesten Geschäfte, das Menschen je gemacht haben.265 Gotteserkenntnis ist nicht anders möglich und sie ist auch richtig so. Es ist auch gut und notwendig, dass es dazu die entsprechende Wissenschaft und Struktur gibt. Sie macht die Welt und die Menschen immer wieder auf neue Überlegungen aufmerksam. Wie in der Wissenschaft üblich, löst dies zuerst den Diskurs aus, bis der Nebel des Umherirrens sich auflöst und durch eine vorübergehende Übereinkunft ersetzt wird – bis zum nächsten Diskurs266. Dieser Diskurs kann in der heutigen Zeit nicht mehr wirklich durch eine formale Festsetzung der Wahrheit gehemmt werden, schon gar nicht einer ewigen. Dabei ist gar nicht zwingend daran zu zweifeln, dass es so eine gibt. Jedoch daran, dass der Mensch sie sich in dieser Form je wird aneignen können. Unser Suchen besteht in Irrungen und Wirrungen, aber auch in Erleuchtungen, Erkenntnissen und Eingebungen, mit vorübergehender Faszination und Halbwertszeit. Glauben heisst sehen. Heinz von Foerster267 Gerade daran, dass dieser Diskurs nicht endet, dass er auch Zerwürfnisse und Auseinandersetzung sowie Unmut und Enttäuschung, aber auch Mut und unverzagte Beharrlichkeit 265 Hansch, D.: Evolution und Lebenskunst, Grundlagen der Psychoenergetik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2002 266 Churchill wird der Satz „Planung ist der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum,“ zugeschrieben. Ich meine, dass es immer noch besser ist, sich systematisch von Irrtum zu Irrtum (Halbwertzeit der Wahrheit) zu hangeln, als einem Defaitismus anheim zu fallen. 267 Das hat auf den ersten Blick zwar nicht viel mit religiösem Glauben zu tun, auf den zweiten jedoch möglicherweise sehr viel. Heinz von Foerster ist ein Konstruktivist (siehe S. 32) und meint dies erkenntnistheoretisch: Erst wenn man den Rahmen (bzw. Theorie) geschaffen hat, ist man fähig, innerhalb dessen wahr zu nehmen. Erkennen heisst annehmen, glauben, voraussetzen, tasten, bestätigen, also auch: Sehen heisst glauben! 259 auslöst, zeigt sich ja das anhaltende Interesse an diesen Themen und wie wichtig Menschen diese nehmen. Gerade die Religionen tragen trotz ihre Missbrauchs und häufigen historischen Versagens die Verantwortung dafür, dass solche Hoffnungen, Ziele, Ideale und Massstäbe wachgehalten, begründet und gelebt werden können268. Alle Religionen befassen sich mit dem Schicksal. In einigen wird es als entrinnbar, in anderen als vorbestimmt beschrieben. Glaubt mir: Es gibt keine Vorbestimmung, die es dem mit Glück gesegneten Menschen erlaubt, sich zurückzulehnen und jenem, der von Pech verfolgt wird, mutlos zu werden. Wie hätte ich mich, der Graf Münchhausen, denn erfolgreich zur Wehr setzen können, mehrfach meinem Schicksal zu entrinnen. Es gibt kein Schicksal – es gibt nur Ungerechtigkeit, die zu beheben ist, und Leid, das zu lindern ist. In diesem Sinn ist die Geschichte nur Auftrag, wachsam zu sein: solidarisch auf der einen Seite; zu vertrauen und nicht zu verzweifeln auf der andern. Niemand hat verdient, dass es ihm auf Dauer miserabel geht, auch wenn er es mit verursacht269 hat. Ebenso ist es kein Ruhekissen, wenn es jemandem gut geht, auch wenn er es selbst mit verursacht hat. Gemäss Rawls Differenzprinzip270 sind Ungleichheiten in der Verteilung nur dann als gerecht(fertigt) anzuerkennen, wenn diese dazu führen, dass sie gerade den schlechter Gestellten gegenüber zum Vorteil gereichen. 268 Erklärung zum Weltethos. www.weltethos.org S. 5f Insofern als die lineare Zuschreibung von Einzelursachen immer weniger Sinn macht, ist dies sowieso obsolet. 270 In der Umsetzung ist dies verzwickt. Nehmen wir an, dass jemand über besondere Fähigkeiten verfügt oder über besonderes Glück, so hat er dieses zur Verbesserung der Situation anderer einzusetzen. Vereinfacht ausgedrückt heisst dies: Reichtum, Glück, Macht und Begabung verpflichten. Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp, Frankfurt/M, 2003. 269 260 Die Hölle, das sind die andern271. Viele Religionen beschäftigen sich auch mit dem Bösen, als Gegenkraft zum Guten. Das schafft einen Dualismus272, der überwunden werden muss. So wie es Sartre psychologisch scharfsinnig darlegt, wird dadurch die Tendenz, die negativen Anteile des eignen Selbst zu veräussern und abzugeben, gefördert. Ich bin es nicht, ich kann nichts dafür, der andere muss es deshalb sein. Ich bin rein – oder habe mich wenigstens bemüht. Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun273. Ich bin dafür, dass wir das Gute und das Böse als Ausprägungen desselben ansehen, nämlich eines unbändigen Bestrebens und Ereiferns. Wer dafür nicht „belohnt“ (muss nicht materiell sein) wird, kippt ins Gegenteil. Er beginnt sich zu rächen. Das ist ein psychologischer Vorgang. Genau so wenig, wie dieser Mensch vorher Gott war, ist er jetzt Teufel274. Aus 271 Damit meint Sartre die Verdrängung der eigenen höllischen Anteile. Wir selbst waschen unsere Hände in Unschuld. Sartre, J.-P.: Geschlossene Gesellschaft, Rowohlt, Reinbek, 1986 272 Dieser Dualismus erinnert nach wie vor an einen Urzwist in der religiösen Welt, der sich an der ursprgl. persischen Lehre des Mani (216-276) festmacht. Manichäismus postuliert zwei Naturen: Finsternis und Licht (also Gut und Böse). Bereits in ihrer Frühzeit beschäftigte sich die Kirche mit dem leibfeindlichen Dualismus und lehnte diesen ab. Am deutlichsten zeigte sich dies im Barock. Augustinus, ein grosser Kirchenlehrer, war vorher Anhänger des Manichäismus. 273 Ergebnisse moderner Hirnforschung. Zit. nach Prinz, Wolfgang in einem Interview mit Volker Lange im Magazin Morgenwelt , Morgenwelt, e.v., Hamburg 1/99 274 Nur zur Klärung für diejenigen, denen es jetzt ablöscht. Dieser Erklärungsversuch hat nichts mit einer Entschuldigung zu tun. Verachtet werden muss aber die Tat und nicht der Mensch. Gerade darum ist konsequentes Ahnden nach dem gültigen Kodex des Rechts und der Ethik wichtig, unabhängig davon, ob jemand als krank oder gesund eingeschätzt wird. Nur, es muss die Tat gesühnt werden und nicht der/die Täter/in gerächt. Die Strafe hat - neben dem begleitenden Effekt des Schutzes der Gesellschaft - grundsätzlich das Ziel der Veränderung des Täters/der Täterin. Ob sie dafür 261 meiner Sicht braucht es deshalb den Teufel nicht. Es braucht keinen Gegenspieler. Es ist dieselbe Kraft in uns, die Gutes und Böses schafft. Das Gute steckt im Bösen, das Böse im Guten. Der Dualismus verstärkt nur die Möglichkeit, die Verantwortung auf den Teufel, also den Verführer zu übertragen. Lassen wir das bleiben. Die Menschheit gibt es inzwischen lange genug, als dass sie sich noch länger darum drücken könnte, mündig zu werden. Also wenn schon: Die Hölle das bin ich (für mich und für andere). Aber ich könnte auch der Himmel sein (für mich und für andere)275. Es kommt auf meine Entscheidung und meinen Willen an und wie weit ich bereit bin, dafür auch die Hilfe von andern anzunehmen und auf andere, wie auf mich vertrauen zu lernen. hinreichend ist, ist umstritten. Erst unsere moderne Gesellschaft hat den Anspruch erhoben, dass das Einsperren von Menschen in Käfigen ihren Charakter und ihr Verhalten günstig beeinflusse. Illich, I.: Entschulung der Gesellschaft, C. H. Beck, München, 2003, S. 84 Ein kleiner – allerdings nicht hinreichender – Hinweis dafür, dass gut und böse nicht gottgegeben und damit unabänderlich oder gar genetisch festgelegt ist: Es wird gesagt, dass Australien und Neuseeland früher grosse Gefangenenkolonien beherbergte. In die Gegend um Sidney sollen damals 150'000 Gefangene aus dem british empire verbannt worden sein. Sollte sich das Böse wirklich durchsetzen und stärker sein als das Gute, so müssten diese beiden Staaten, weil sie durchmischt sind mit den Nachkommen der Gefangenen, zu den „Schurkenstaaten“ oder der „Achse des Bösen“ gehören. Wenn Böses sich genetisch vererbt und nicht sozial veränderbar ist, so würden diese beiden Staaten gemieden werden. Sie gehören aber zu den angesehenen Staaten und haben weder eine höhere Kriminalität, noch eine schlechtere Wirtschaft, noch eine korruptere Politik. Sie sind begehrte Reiseziele für Touristen, welche sich dort ohne Angst wohl fühlen können. 275 Dass mein Innenleben mir böse Streiche spielen kann und mir vorgaukelt, ist eben der pefide psychologische Teil: Als Glückliche aus eigenem Verdienst der Hölle der andern entronnen zu sein…? Als Gebeutelter nichts zur Verbesserung der Situation beitragen zu können, weil die andern schuld sind…? Hilfe abzuweisen, weil sie ja doch nicht gut (genug) gemeint ist…? Als Begnadete selbstgerecht zu werden…? Als Armer aufzugeben, weil das Vertrauen auf die andern sich nicht lohnt…? Als Reicher die Armen als hoffnungslos zu betrachten…? 262 „Wer ein Warum hat, kann jedes Wie ertragen.276“ Umgekehrt wird jedes „wie“ egozentrisch, jedes „was“ unerträglich, jedes „wohin“ beliebig, wenn man das „warum“ verloren hat. 276 Frankl, V. E.: Der Wille zum Sinn, Huber, Bern, 1978 263 264 Ökologie: Macht Unbekümmertheit wieder möglich Jeder Tor kann einen Vogel umbringen, aber kein Gelehrter der Welt kann einen erschaffen277. Dialog: Papa: „Hast du deine Aufgaben schon gemacht?“ Kind: „Ach, das habe ich ganz vergessen.“ Papa: „Ich erteile dir eine Lehre.“ Kind: „Das tönt aber arg.“ Papa: „Hör zu: Wenn du nicht lernst, zuverlässig zu werden, dann lernst du zu wenig. Wer zu wenig lernt, bekommt schlechte Jobs und wenig Chancen. Heute ist high Tech der Renner. Du solltest dich anstrengen, dass du in dieser Branche etwas werden kannst.“ Kind: „Das Gegenteil von high ist low.“ Papa: „Immerhin, du hast in der Schule was gelernt. Aber damit hat das nichts zu tun.“ Kind: „Ist low Tech278 schlechter und high Tech besser?“ Papa: „Das kann man so nicht sagen. High Tech ist höher entwickelt. – Aber was verwickelst du mich jetzt in Sachen. Du solltest deine Aufgaben machen. Sonst wirst du nichts.“ Kind: „Wenn high Tech höher entwickelt ist, so ist low Tech tiefer entwickelt. Ist das besser oder schlechter?“ Papa: „Das kann man so nicht sagen. Low Tech ist einfacher zu durchschauen und herzustellen. Im Vergleich zum Stein, den du als Hammer brauchen kannst und zum Feuer machen und als Waffe oder zum Kochen, ist ein Fernseher absolut high Tech.“ Kind: „Ist high Tech schädlich?“ Papa (mit einem Anflug von Ärger und Unverständnis): „Was soll jetzt das?“ Kind: „Unser Lehrer hat gesagt, dass Fernsehen schädlich sei.“ Papa: „Ach so, das hat nichts damit zu tun.“ Kind: „Ist Auto high Tech?“ Papa: „Möchtest du Automechaniker 277 Angelehnt an einen Spruch von Arthur Schopenhauer. Ein Blaukehlchen kostet von seinen chemischen Bestandteilen her ca. 1.5 Cent, von seinem ökologischen Nutzen her ist es Euro 1’357.90 wert. Wollte man einen Vogel jedoch herstellen, so wäre dies unbezahlbar (bzw. eigentlich unmöglich). Vgl.: Vester, F.: Der Wert eines Vogels, Kösel, München, 1987. Paradox: Jeder kann eine Mücke zerquetschen, kein Wissenschaftler kann eine herstellen, wiederum jeder kann jedoch einen Elefanten daraus machen. 278 Andere tiefgreifend neue Ansätze scheinen diejenigen der „Neuen Arbeit“, der High-tech-Eigen-Produktion sowie der „cradle to cradle“- bzw. upcyclingProduktion zu sein. Bergmann, F.: Neue Arbeit, Neue Kultur. Arbor, Freiamt, 2004. Girardet, H. (Hg): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos. eva, Hamburg, 2007 265 werden? Hast du Interesse an Autos? Heute sind Autos high Tech.“ Kind: „Unser Lehrer hat gesagt, auch Autos sind schädlich. Sie produzieren Abgase, die unsere Umwelt verschmutzen und unser Klima verändern.“ Papa: „Aber jetzt hört doch alles auf. Ihr solltet in der Schule Gescheiteres lernen.“ Kind (unbeirrt): „Gibt es viel low Tech?“ Papa: „Darum kümmert sich heute niemand mehr. Vielleicht gibt es das in der Dritten Welt mehr als hier. Warum?“ Kind: „Ich möchte low Tech Ingenieur werden. Da kann man neue Dinge entwickeln, die nicht schädlich sind, aber für mehrere Aufgaben gleichzeitig verwendet werden können. Sie schonen die Umwelt.“ Ich hoffe sehr auf technologische Neuerungen, aber zu glauben, dass diese die alleinigen Lösungen bieten, erinnert an technologischen Fundamentalismus.279 Antilog: Wir verwenden den Begriff der Ökologie häufig, als ob er ein Begriff der Kasteiung sei, dabei ist er ein Begriff der Ganzheitlichkeit. Alles muss wachsen, frei und möglich sein. Das ist aber eher ein Ausdruck unserer Unersättlichkeit, als unserer Sorge um anvertrautes Gut. Obwohl wir grundsätzlich wissen, dass alles menschliche Handeln und Wirtschaften Einfluss hat und verändert, tun wir so, als ob dies keine Auswirkungen hätte. Wir warten stets auf die so genannten letzten wissenschaftlichen Beweise dafür, dass man wirklich nicht Urwälder abholzen kann, ohne etwas zu verändern. Wir warten darauf, wirklich den Beweis dafür zu erhalten, dass die aktuellen Hauptenergiequellen eines Tages versiegen werden. Wir warten auf den Beweis, dass wirklich der Ausstoss von Gasen und Feststoffen der Umwelt irreversiblen Schaden zufügt. 279 Uexküll, J.: Unser Konsum frisst die Erde auf. Interview. In: Stern Nr. 12/2007, Gruner + Jahr, Hamburg. S. 62ff. Uexküll ist u.a. Begründer des alternativen Nobelpreises. Er fährt fort: "Die Technik hatte ja nun einige Jahrzehnte Zeit; und das Klimachaos ist auch ein Zeichen für ein grosses Technikversagen. Wie es auch ein Zeichen ist für das grösste Versagen des Marktes ist, das wir kennen.“ 266 Es gibt kein Utopia, aber wir können eine weniger entfremdete und menschlichere Welt erschaffen280. Mir kommt das vor wie die Geschichte vom Kind, das sich einen Spass daraus machte, im Dorf wegen dem bösen Wolf um Hilfe zur rufen. Jedes Mal strömt die Bevölkerung zu Hilfe. Der Kleine findet dieses Schauspiel so toll, dass er es trotz der Warnungen, die immer deutlicher werden, immer wieder versucht. Schliesslich reagiert niemand mehr auf seine verzweifelten, aber gespielten Hilferufe. In diesem Moment wird er von einem Wolf angefallen. Seine Rufe verhallen ungehört. Der Kleine wird bei lebendigem Leib zerrissen und aufgezehrt. Das war gelogen, werden Sie mit untrüglicher moralischer Gewissheit sagen und den Kleinen dafür verurteilen. Ich pflichte Ihnen bei. Nur – das gerade ist es, was wir die ganze Zeit alle tun. Wir schwindeln uns an. Wir tun als ob. Gefahren sind real. Auch wenn sie (noch) nicht aktuell sind. Gefahren kann man nicht beweisen. Man kann nur Tendenzen aufzeigen. Da Menschen aber verschiedene Interessen haben und es keine wertfreie Wissenschaft und Empirie gibt, werden auch nie jene Stimmen verstummen, die die Gefahrenrufe als Unkenrufe bezeichnen. Ökologie ist langfristige Ökonomie. Dann aber, wenn die Gefahr eintritt, dann ist es zu spät. Gefahren kann man begegnen, indem man vorsichtig ist, indem man Acht gibt, indem man nicht mit ihnen spielt, indem man nicht desensibilisiert, indem man sie nicht herunterspielt. Achtung vor der Natur ist jedoch nicht angezeigt, weil wir vor ihr Angst haben müssen, aber etwas mehr Ehrfurcht könnte nicht schaden. Entwicklung muss auch nicht bedeuten, dass immer mehr Raubbau an uns und der Natur getrieben wird. High Tech ist 280 Mollison, B.: Permakultur I+II, pala, Schaafheim, 1983. Bill Mollison ist Träger des alternativen Nobelpreises. Permakultur I: S. 173 267 zwar nicht verwerflich. Sie stellt aber ebenso wenig einen Garant für die Entwicklung dar, auf den wir fraglos und unreflektiert stolz sein können. Mancher lowtech Artikel würde bei der Herstellung mehr Manpower benötigen, wäre langlebiger breiter nützlich und bräuchte zur Herstellung und zur Entsorgung weniger Energie. Die Natur braucht den Menschen nicht, der Mensch aber die Natur281. Ökologie hat den gleichen Wortstamm (oikos gr. = Haus) wie Ökonomie. Die beiden benehmen sich jedoch wie zerstrittene Brüder. Es geht um den gemeinsamen Haushalt auf der Welt. Dazu gehört die nährende Natur genauso wie alle Menschen. Wir können das Haushaltbudget nur sanieren, wenn wir die Schuldenbilanz verkleinern und in Zukunft ausgeglichen halten. Das ist sattsam bekannt. Während dessen dies im einen Gebiet hochgehalten wird, wird es im andern mit Füssen getreten. Ehrlich gesagt, ich kann dies nicht verstehen. Zumal es sich dabei nicht um einen Privatkonkurs handelt, um eine Insolvenzerklärung einer Firma sondern um den Bankrott der Menschheit. Wie hat es doch geheissen: Der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Irgendwann hat selbst die Menschheit gemerkt, dass das mit den Kronen auch nicht so funktioniert und ist dagegen aufgestanden. Aus dieser Revolution ergab sich die Demokratie, in welcher alle Brüder (Geschwister) sind. Wie lange wollen wir uns noch gegenüber dem Untertanen ausbeutend benehmen? Irgendwann gibt es den Aufstand der Natur. Diese Lehre hätten wir doch gelernt. Offensichtlich sind wissen und tun zwei Dinge, die miteinander kaum etwas zu tun haben. Die Unbedenklichkeiten summieren sich bedenklich.282 281 Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003. S. 168 Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp, 1986. S. 34f 282 268 Metalog: Energieverbrauch ist eines der bewährtesten Mittel, um die Umweltgefährdung zu erfassen. Unterentwickelte Staaten verbrauchen wesentlich weniger Energie, als entwickelte Staaten. Wenn wir diesen also eine Entwicklung ermöglichen wollen – was die Bezeichnung, wenn wir sie ernst nehmen, insinuiert – so werden diese also mit jedem Entwicklungsschritt mehr Energie verbrauchen. Das bedeutet zwangsweise, dass sich die Energiebilanz der Erde und damit deren Zukunftserwartung verschlechtert. Vor jeder technischen Entwicklung jedoch kommt die Ernährung. Zuerst muss es möglich sein, dass alle Menschen dieser Welt selbst genügend Nahrung produzieren können. Im besten Fall ist die Agrarwirtschaft umweltneutral. Gehen wir mal davon aus, dass dies nicht genügt, so haben wir mehrere Möglichkeiten, den unterentwickelten Staaten die Entwicklung zu ermöglichen: Wir verlagern die Arbeitsplätze und damit die energiereiche Produktion in die Entwicklungsländer und entlasten uns davon. Wir optimieren die Energiebilanz der entwickelten Staaten, um bei energieneutraler Gesamtbilanz den unterentwickelten Staaten den für die Entwicklung nötigen Energieverbrauch zuzubilligen. Wir hoffen darauf, dass in den unterentwickelten Staaten ein Know-how im haushälterischem Umgang mit Ressourcen vorhanden ist, von dem wir lernen können. Wir machen ein Va-banque-Spiel, nach dem Motto, wer sich am schnellsten entwickelt, leistet zwar am meisten Beitrag zum Untergang, hat aber auch am längsten etwas davon. Das ist allerdings eine Hochrisikostrategie. Wir kooperieren in der Entwicklung von low Technology, die zum Ziel hat, einfache Produktionsmethoden, die wenig Energie aber viel Arbeit benötigen und Produkte für den Alltagsgebrauch herstellt, welche wenn immer möglich Mehrfachnutzen haben, sei es bei der Produktion, bei der Verwendung und am Ende des Verwendungszyklus. Dabei wäre aber notwendig, dass wir gegenüber diesen Staaten anerkennen würden, dass unsere Entwicklung auf dem 269 Holzweg ist, damit dahinter nicht eine Art Unterdrückungsmentalität dazu führen würde, dass diese Staaten dies ablehnen müssten. Wiederverwendbarkeit, Mehrfachnutzen, Nachhaltigkeit und nachwachsende Rohstoffe sowie der Verzicht auf Unnötiges wären nur einige Stichworte, die es dabei zu beachten gelten würde. Wir verringern die atemberaubenden Zyklen der Produktentwicklung, welche dazu führen, dass immer schneller ein Produkt überholt ist und dafür die Produkte kurzlebiger werden. Die längere Lebensdauer von Produkten würde Energie einsparen. Man könnte die Produkte dafür auch wieder teurer verkaufen, weil sie nicht als Wegwerfprodukte konzipiert werden. Sie wären aber auch entsprechend wert-haltiger Dafür könnte auch wieder mehr Arbeit als Energie eingesetzt werden. Reine Lifestyleprodukte, Modeprodukte und Wegwerfprodukte sind überflüssig. Punkt eins tun wir schon. Er führt zu sozialen Problemen und zum Raubbau. Um Punkt zwei kämpft man im so genannten Kyoto-Protokoll und ähnlichen internationalen Abkommen. Punkt 5 scheint ohne wesentliche Änderung die Strategie des sinkenden Rettungsbootes zu sein – eine Pattsituation. Punkt 3, Punkt 5 und Punkt 6, auch wenn hüben und drüben nicht einfach umzusetzen, scheinen neu zu sein und vielleicht auch gangbar. So oder so: Wir müssen uns entscheiden. Entweder alles haben wollen und dafür genau dieses andern verwehren. Oder gemeinsam neue Ziele stecken und auf andere Kulturen und anderes Know-how bauen. Oder auf Teufel komm raus am eigenen und aller Ast sägen. Ohne Gerechtigkeit kein Auskommen. Ohne Ökologie kein Weiterleben. Ohne Arbeit kein Einkommen. Ohne Nahrung kein Leben. Ohne Bescheidenheit keine Gesundheit. Ohne Verantwortung keine Gerechtigkeit... 270 Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge (Kurt Marti)283. Es wäre doch schön, wenn man einfach wieder mehr oder weniger unbekümmert, aber wachsam und aufmerksam durchs Leben gehen könnte. Diese Sorgen um den Raubbau und die Unterjochung der Natur erdrücken uns vor allem deshalb, weil wir es wissen, aber nicht tun. Das konsequente Handeln danach wäre die Befreiung, weil Freiheit so funktioniert. Die Biologie kann nicht sagen, was das „Leben“ ist, die Physik kann nicht sagen, was die „Natur“ ist, die Theologie kann nicht sagen, was „Gott“ ist, die Philosophie kann die „Weisheit“ nicht begreifen.284 Die Psychologie kann die „Seele“ nicht fassen. Wohin wollen wir denn noch? 283 Evangelisch-reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller; lebt in Bern, Schweiz 284 Negele, M.: Leben des Geistes. Zur Denkwürdigkeit von G.W. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ S. 177. In: Malinowski, B. (Hg.): Im Gespräch: Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften, Vögel, München, 2006, S. 159-177 271 272 Ethik: Der Seiltanz mit dem Guten und Bösen Die Bedürfnispyramiden285 sind relativ. Reiche Länder: „Friede, Freude, Eierkuchen…“ Arme Länder: „Eierkuchen!, … Friede, Freude.“ Oder wie Bert Brecht zu sagen pflegte: „Das Fressen kommt vor der Moral.“ Dies wiederum kontrastiert mit: „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein.“ (Mt,4,4) Dialog: Mama: „Hör damit auf. Das ist nicht gut.“ Kind: „Ich finde das aber lustig.“ Mama: „Ich sagte, hör damit auf.“ Kind: „Du musst mir nicht immer sagen, was ich nicht tun darf. Ich habe auch was zu sagen.“ Mama: „Ja schon, aber ich sage dir, dass das nicht gut ist.“ Kind: „Warum soll es nicht gut sein, wenn es mir gefällt?“ Mama: „Weil ich es nicht will und weil ich es nicht gut finde, basta.“ Kind: „Erziehen finde ich zum Beispiel nicht lustig. Du verbietest immer alles.“ Mama: „Du kannst ja etwas anderes tun, was dir gefällt.“ Kind: „Aber ich will nicht.“ Mama: „Wirst du wohl gehorchen?!“ Kind: „Du bist eine böse Mutter. Das ist auch nicht gut.“ Mama: „Ich möchte auch lieber eine gute Mutter sein. Aber wenn du damit nicht aufhörst, muss ich böse werden.“ Kind: „Ich möchte nicht, dass du eine böse Mutter bist.“ Mama: „Dann tu, was ich sage. Sonst zwingst du mich dazu.“ Kind: „Aha, ich kann dich zwingen. Das ist lustig.“ Mama: „Ich möchte nicht, dass du machst, dass ich böse werden muss.“ Kind: „Was ist gut und böse? Wer legt das fest.“ Mama: „Gut ist, wenn du nichts Dummes, Gefährliches oder etwas machst, was andern wehtut oder sie ärgert und nichts kaputt machst.“ Kind: „Du meinst, dass das dich geärgert hat, was ich getan habe und 285 Abraham Maslow, Psychologe, postulierte eine Art Bedürfnispyramide. Diese Theorie besagt, dass ein Mensch / die Menschheit erst in der Lage ist, einer nächsthöheren Motivation nachzugehen, wenn die tiefere befriedigt ist. Seine Hierarchie sah so aus (vom tiefsten bis zum höchsten Bedürfnis): Körperliche Grundbedürfnisse, Sicherheit, soziale Beziehungen, soziale Anerkennung, Selbstverwirklichung. Maslow, A. H.: A Theory of Human Motivation. Psychological Review, 50, S. 370-396, 1943. 273 dass es deshalb böse war?“ Mama: „Genau.“ Kind: „Warum tust du so, als ob du besser wüsstest, was gut ist.“ Mama: „Du weisst genauso gut wie ich, dass man einander nicht ärgern soll.“ Kind: „Du meinst, du hast das Gute nicht gepachtet?“ Mama: „Ja, wie soll ich dich denn sonst auf das Gute aufmerksam machen, wenn du nichts davon verstündest?“ Kind: „Das leuchtet mir ein. Ich möchte auch gut sein. Ich möchte dich nicht ärgern. – Mama?“ Mama: „Ja?“ Kind: „Warum gibt es böse Menschen?“ Mama: „Die Menschen sind nicht böse. Du warst vorher auch böse und ich auch. Jetzt bist du wieder gut und ich auch.“ Kind: „Mama, wie macht man, dass Menschen gut zueinander sind?“ … Wir alle haben die Verantwortung für eine bessere Weltordnung286. Metalog I 287: Verschiedene Meinungen gibt es immer. Sie repräsentieren nicht etwa – dies wäre eine Prämisse – je nachdem amoralisches oder moralisches Verhalten, sondern unterschiedlichen Umgang mit den täglichen Dilemmata288 des moralischen Handelns. 286 Erklärung zum Weltethos. www.weltethos.org S. 5. Zusätzlich steht in dieser Deklaration: Wir tragen die individuelle Verantwortung für alles, was wir tun. All unsere Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen haben Konsequenzen. S. 4. Den Menschenrechten müssen unbedingt auch Menschenpflichten gegenüber gestellt werden. Vgl. Allgemeine Deklaration der Menschenpflichten vom InterAction Council. www.weltethos.org Art. 3: ... Jeder Mensch hat die Pflicht unter allen Umständen Gutes zu fördern und Böses zu meiden. Art. 10. Alle Menschen haben die Pflicht, ihre Fähigkeiten durch Fleiss und Anstrengung zu entwickeln. 287 Zum Thema Ethik gibt es keinen Antilog, weil das Thema nicht antilogisch, sondern nur synthetisch bearbeitet werden soll. Böse Zungen unter den Lesern würden behaupten, dass dieser Abschnitt fehlt, weil mir keiner eingefallen ist. Sie haben recht. 288 Um nur eins der Dilemmata zu nennen, mit welchen sich die Ethik theoretisch beschäftigt: Der „fat man case“: Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer abschüssigen Strasse an einer Bushaltestelle. Neben Ihnen steht ein sehr dicker Mann. Sie sehen, dass die Bremsen eines heranfahrenden Busses versagen. Sie sehen, dass dieser direkt in eine Gruppe Menschen weiter unten 274 Adam Smith, der Vater der Marktwirtschaft postulierte folgende Hypothese für die Wirtschaft: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht289. Die konstruktivistische Sichtweise befreit uns vor der dogmatischen Sicht, dass es eindeutige, ewige und universale Wahrheiten290 gibt. Sie nämlich haben bisher dazu geführt (oder führen müssen), dass die Menschheit miteinander in endlose, aber dafür umso machtbetontere (kriegerische) Auseinandersetzungen gelangt sind, um diese (vermeintlichen) Unwahrheiten endgültig zu beseitigen und den Wahrheiten zum Durchbruch zu verhelfen. Man hat Kriege geführt, damit man dann irgendwann das Paradies auf Erden – die immerwährende Erleuchtung, die Erkenntnis – verlustieren könnte. Jedoch die Auseinandersetzungen selbst und die Suche nach der Wahrheit waren es, die dazu geführt haben, dass wir in immer stärkere Verstrickungen gelangt sind, statt unsere Fesseln abzulegen und uns davon befreien zu können. Das Herstellen von Ethik wäre also ebenso wenig von einem Teilsystem der menschlichen Gesellschaft zu erwarten oder zu finden, wie von einem Staat, sei er auf „hoher“ oder „niedriger“ Entwicklungsstufe. Es wird alles relativ, was aber keineswegs entwertend, sondern eher aufwertend gemeint sein soll: Niemand hat sie, die Wahrheit, umso mehr aber sind alle auf jede und jeder auf alle angewiesen. Alle sind wichtig. Jedes rasen müsste und diese töten würde. Dummerweise kommt Ihnen in den Sinn, dass Sie den Dicken vor den Bus stossen könnten, sodass dieser gestoppt wird. – Sie sind in einer verzwickten Lage. Dürfen Sie einen Menschen opfern, um 10 vor dem Tod zu schützen? Alle für einen, einer für alle? Was müssen Sie tun? Was dürfen Sie tun? Was nicht? Wie finden Sie aus dieser vertrackten Gedankenmühle heraus? Was ist ethisch? Nicht zuletzt wird gesagt, dass Ethik Diskurs ist - ständiges Suchen nach Übereinstimmung und Anpassung auf höchster Ebene. 289 Die Wirtschaft scheint also einen völlig ethikfreien Raum darzustellen und dies beabsichtigt und theoretisch untermauert. 290 Um genauer zu sein: Sie befreit uns nur davon, zu meinen, dass wir diese erkennen können. Sie sagt nichts darüber aus, ob es solche Wahrheiten gibt. 275 Element und sei es auf den ersten Blick noch so unbedarft und unwürdig, kann einen wesentlichen Beitrag leisten. Heiligt der Zweck die Mittel, oder vielmehr die Mittel den Zweck? Dies befreit uns vom zwanghaften Nachdruck und dem emotionalen Druck in Diskussionen über das Wesen des Wesentlichen und öffnet uns mehr für die andere Meinung und sei sie noch so unangebracht, frech, provokativ oder sonstwie daneben. Das ist die neue Gleich-gültigkeit – also Gelassenheit, die aus auslaugendem, nötigendem Aktivismus wieder liebevolles Engagement macht. Wir brauchen wieder Menschen, die Spiritualität und alltägliches, verantwortliches Handeln verbinden wollen – ohne deswegen gleich zu Dogmatismus zu neigen! Ökologisch und langfristig betrachtet bewirkt die Arbeit in Wahrheit einen Minderwert291. Konflikte wird es – zum Glück weiterhin geben, denn die Gegensätze sind nicht abgeschafft und die Schwierigkeiten damit bleiben. Sie stürzen uns nach wie vor in unsere Verzweiflung und begehren ihren emotionalen Tribut. Jedoch die Empathie bekommt ihren wahren Platz darin, dass wir in keiner Situation mehr danach trachten müssen, andere abzuwerten, sei es um sie auf den rechten Weg zu bringen oder ihnen zu „helfen“, sondern dass immer auch die Neugier auf die Lebensweisheit gerade dieser Menschen uns beflügelt. Wir müssten uns nicht fragen: Sind die Menschen gut oder böse? Sondern vielmehr: Was macht sie gut und was macht sie böse? Es gibt zwei Möglichkeiten, die dazu verhelfen, nicht Konflikten ausweichen zu müssen oder sie mit der Technik des gordischen Knotens zu lösen. Dabei ist es egal, ob diese Konflikte in ethischen Dilemmas bestehen, welche wir mit uns selbst austragen müssen, sei es, dass diese zwischen uns und andern Ruh, H.; Gröbly, Th.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, Waldgut, Frauenfeld, 2006. S. 81 291 276 bestehen. Wir brauchen weder Angst zu haben, noch müssen wir dem Hochmut verfallen: Das Palaver: Das ist eine alte afrikanische Art des Zusammenkommens, des einander Redenlassens, des geduldigen Wartens und aufeinander Hörens. Sie soll hier nicht als Methode postuliert, sondern als Metapher gemalt werden. Die verschiedenen Positionen werden im Prozess des aufeinander Eingehens plötzlich vereinbar. Die Einigkeit wird dabei nicht als sachliches Kalkül oder als fauler Kompromiss erzeugt, sondern als emotional-soziales feierliches Ereignis. Unserer europäischen Kultur ist dieses Vorgehen nicht allzu fremd. So haben die alten Griechen philosophiert, Erkenntnisse gewonnen, gewogen, oder je nachdem verworfen. Ethik in einer Risikogesellschaft muss unter dem Hauptmotiv Verantwortung stehen. Das bedeutet: Der Unheilsprophezeiung ist mehr Gehör zu geben, als der Heilsprophezeiung292. Die Dialektik: Den rationaleren Verbündeten der Ethik dazu stellt die Dialektik dar. Sie geht davon aus, dass es immer eine oder mehrere Thesen sowie eine oder mehrere Antithesen gibt, die auf der gleichen Ebene des Denkens konfligieren müssen. Das ist die Problemtrance und die Problemverlockung – das Dilemma. Es gibt aber zu jedem Dilemma eine Ebene der höheren Betrachtung, auf der sich der Konflikt auflösen lässt. Nach der Plus-eins-Regel sind Individuen in der Lage und willens, eher einer Argumentation zuzustimmen, die sich eine Ebene höher ansiedelt, als die eigne Stufe293. Es gibt zwar aus jeder Ruh, H.: Gröbly, Th.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, Waldgut, Frauenfeld, 2006. S. 69 293 Kohlberg, L.: Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp, Frankfurt, 1996. Kohlberg postuliert sechs Stufen der moralischen Entwicklung. Jeder Mensch und jede Organisation steht aber bezüglich unterschiedlicher Themen immer wieder auf einer anderen Stufe. Wichtig auch in diesem Zusammenhang: Oser, F.; Althoff, W.: Moralische Selbstbestimmung, Klett-Cotta, Stuttgart, 2001. Er bezeichnet die sieben Todsünden der Moralerziehung: 1. Relativismus (zwar sind alle Menschen gleich-wichtig, aber nicht alle Ansichten gleichwertig, sonst würde es ja keinen 292 277 Klemme ein Ausweichen zur Synthese hin, aber nicht jedes Dilemma lässt sich damit endgültig lösen. Diese beiden Diskursansätze helfen, der sonst unausweichlichen Problemtrance auszuweichen, welche zum nagenden, resignierenden Rückzug und Privatisierung oder zum rechthaberischen und heroischen Titanenkampf – sei es mit dem Gegner oder mit dem Problem – verführt. Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung. (Albert Schweitzer) Diese neue Ethik setzt Widersprüchlichkeit voraus und gewinnt daraus aktuelle Einsicht und Übereinkunft. Sie versucht die Widersprüchlichkeit nicht etwa aus der Welt zu schaffen, da sie störend wäre für die Einigkeit. Dieser Ethik ist es ein Anliegen, die Einheit in und durch die Vielfalt zu stärken. Daraus gewinnt sie Inspiration. Die Gegenwart wird immer mehr unter einen „Zwang zur Zukunft“ gestellt.294 Metalog II: Ethik ist die universale Vorstellung des Guten und bezeichnet auch die Überlegungen, die dazu Plausibilität herstellen. Moral hingegen bezeichnet die Sitte. Ethisches Handeln ist immer auch moralisches Handeln. Währenddessen moralisches Handeln nicht zwingend ethisch richtig sein muss. Unterschied machen), 2. Indoktrination, 3. Zynismus, 4. Unsensibilität gegenüber moralischen Ansprüchen, 5. oberflächliches Wissen, 6. Fehlen moralischen Mutes, 7. Unglaube hinsichtlich der Vision einer besseren Welt. 294 Was darunter zu verstehen ist, führt Elisabeth Beck-Gernsheim wie folgt aus: „Die darin angelegten Optionen freilich auch ihre Kehrseiten. Mit dem Planen entsteht die Planungsfalle, mit der Prävention kommt auch die Präventionsfalle. Wenn man diese Gedanken weiterverfolgt, wird sichtbar, dass sich der einzelne heute nicht mehr nur gegen Zufälle und Unfälle wappnen muss. Vielmehr muss er sich idealtypisch auch wappnen gegen die „Nebenfolgen“, die im Wappnen selbst angelegt sind, …“ Beck-Gernsheim, E.: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. C.H. Beck, München, 2000, S. 83. 278 Das Uneigentliche ist der Quell des Eigentlichen. Moral, das sind Handlungssätze, wie Gebote, Traditionen, Denk- und Vorgehensweisen, Regeln. In moralischen Verhaltensregeln allein können sich viele Fallen295 verstecken, die dazu führen, dass man sich zwar moralisch gesehen auf dem Trockenen befindet, aber doch nicht ethisch handelt. Moralisches Handeln kann auch selbstgerecht sein. Ethik stellt mehr die Orientierung im Raum dar. Sie kann dazu verwendet werden, Moral zu überprüfen oder zu verändern. Vieles, was heute nicht mehr als amoralisch gilt, muss nicht unbedingt ethisch gerechtfertigt werden können. Die Summe aller menschlichen Tugenden und Laster bleibt gleich. (J.R. von Salis) Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war. (Bertold Brecht) Die Sitten und Gebräuche von Regionen, Ländern und Kontinenten unterscheiden sich. Ethik stellt jenen Raum dar, in welchem sich dies alles vereinen und vereinbaren lässt. Daraus ist gemeinsame Entwicklung aufgrund von gemeinsamem Vertrauen möglich. Kulturen ergänzen sich und können voneinander lernen. Ethik ist das gemeinsame Projekt der Menschheit. Sie kann zur gemeinsamen Sprache werden. Das Mittel der Völkerverständigung. Jenseits aller Sprachen, jenseits aller Kulturen, jenseits aller Moral, jenseits aller Verschiedenheit. 295 Der auf S. 173 geschilderte Pygmalion-Effekt soll nur als ein Beispiel für solche Fallen nochmals erwähnt sein. Das sich daraus ergebende Oxymoron (innerer Widerspruch): Menschen haben zugleich das Zeug dazu, gut zu sein und böse. Soll ich auf Schlechtes Rücksicht nehmen und es damit faktisch persistierend bestätigen oder soll ich darauf setzen, es zum Guten zu wenden? Wann bin ich in diesem Zusammenhang schlecht oder gut? 279 Ethik muss nicht ewig sein. Auch sie ist einer Entwicklung unterworfen. Warum soll die Ethik ein Seiltanz sein? Erstens, weil sich so wenige auf das Hochseil wagen. Zweitens, weil man auf zwei Seiten herunterfallen kann. Drittens, weil man (mit den Füssen) ständig ausgleichen muss, um nicht herunterzufallen. Viertens, weil man ein gutes Gleichgewichtsgefühl braucht. Fünftens, weil es besser ist, keine Höhenangst zu haben. Und schliesslich letztens, weil das Fallnetz der Ethik die Moral darstellt, nämlich das Set von bekannten Regeln, an welche man in heiklen Situationen gewohnt ist sich zu halten. Regeln alleine genügen nicht. Wir brauchen die Ebene darüber, die uns immer wieder die Regeln reflektieren und auf Sinn hin überprüfen lässt. Kein Seiltänzer beginnt schliesslich damit Seiltanz zu lernen, indem er sich genügsam ins Fallnetz legt. Einige Menschen sehen die Dinge, wie sie sind, und fragen: Warum? Ich träume nie dagewesene Träume und frage: Warum nicht? (George Bernhard Shaw) 280 281 Schlusswort Was wir denken, könnte wahr werden; was wir tun, wird wirklich; darin erkennen wir uns. Meine Aufgabe war: Lügen, wie gedruckt. – Die Wahrheit kommt nach, was zu beweisen ist. Wir sind in unserer Phantasie in der Lage, uns die grössten Gräueltaten vorzustellen. Warum sollten wir nicht in der Lage sein, uns ebenso gut eine Welt vorzustellen in der sich für alle zu leben lohnt? Warum sollten wir nicht in der Lage sein, dafür etwas zu tun? Warum sollen die Bilder der Wirklichkeit aussehen, als ob die Menschen nicht zu etwas anderem fähig wären: grau in grau? schwarz – weiss? Wem dieses Buch und dessen Paradoxien zu schleierhaft wirken, als dass er dessen Phantasien nur im Geringsten folgen wollte, sei zum Schluss folgende Geschichte erzählt. The world seems to reflect our beliefs and to increasingly mirror our perceptions whether they are reliant or not. Es gab einmal ein Land, auf dem es nur Punkte und Striche gab. Auch die Menschen dort bestanden nur aus Punkten und Strichen. Sie waren nur in der Lage, Punkte und Striche zu erkennen. Alles war flach. Es gab keine Erhebungen, nur Ecken und Kurven. Da sah ein Kind eines Tages eine Kugel – sehr wahrscheinlich in der Fantasie – und behauptete, dass es etwas mit einer Ausdehnung in mehrere Richtungen gäbe – einen Raum, statt nur einer Fläche. Das Kind wurde für verrückt erklärt, umso mehr als es sich bei der Weitergabe seines Traums sprachlich so verhedderte. Dies geschah deshalb, da es auch für das Kind nicht einfach war, sich etwas auszumalen, das gar nicht in die Wirklichkeit passte. Die Eltern des Kindes wurden bestraft. Doch die Welt aus Punkten, Strichen und Flächen erlebte weitere Unruhen. Plötzlich behaupteten weitere Menschen, dass es eine dritte Dimension gäbe und es wurden immer mehr. Sie forderten und postulierten diese dritte 282 Dimension, da sie erahnten, dass in ihr möglich erschiene, was bisher nicht möglich war.296 Lügen leben länger. Leider habe ich die Verbindung zu diesem Land in der Zwischenzeit verloren, da es mittlerweile über die dritte Dimension hinausgegangen ist und dies mein Vorstellungsvermögen so strapaziert, dass ich selbst nicht mehr verstehe... Aber was mir bleibt, ist die Frage: Wollen wir Flatliner bleiben? Also, ihr redlichen Bürger von Schilda, Seldwyla, Sanberry, Saragona, Serpignan, Sygadül, Sarborough, Singston, Sodjonigrod, Sari, Siaulhak und wie sie alle heissen mögen: Nur Mut. Ihr seid nicht dumm, wie man euch glauben machte. Holt die Glocke aus dem See und lasst sie klingen – all over the world! Lässt Licht in eure Rathäuser. Fenster aller Rathäuser vereinigt euch297. Man kann nicht nur lügen, man muss es auch tun. Ich begann mit der frechen Lüge, dass man sich aus eigener Kraft aus dem Dreck ziehen kann. Dafür, dass dies möglich ist, stand nur meine Überzeugung, dies selbst schon erfolgreich erlebt zu haben. Ich blies sodann diese Lüge noch auf, indem ich behauptete, dass es sogar möglich sei, dass selbst der Sumpf – in dem man soeben noch zu versinken drohte – dabei mit herausgezogen werden könne. Dies ist eine Lüge 2. Grades. Ich versuchte schliesslich mit den bescheidenen Mitteln eines alternden Mannes, den nur noch sein Bemühen adelt, aufzuzeigen, was dies alles in verschiedenen Gebieten unserer Abbott, E. A.: Flächenland – ein mehrdimensionaler Roman, verfasst von einem alten Quadrat, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1982 297 Anklänge zu zwei Geschichten der Schildbürger. Kästner, E.: Die Schildbürger, Dressler, Hamburg, 2000. Da ich davon ausgehe, dass hinter der vordergründigen Dummheit der Bürger von Schilda sich tiefere Einsichten verstecken und ich diese Begabungen in aller Herren Ländern vermute, habe ich lautmalerisch Orte erfunden, wo Schilda überall sein könnte. 296 283 weltumspannenden Gemeinschaft bedeuten könnte und wie diese von Sumpf und Untergang befreit werden könnte. Die Anerkennung des scheinbaren Widerspruchs (Paradoxie) führt weiter als der Kampf um die einzig richtige Wahrheit (Orthodoxie) Ihr, liebe Leser, ihr liebe Leserinnen, habt es nun wahrlich nicht leicht. Ihr werdet nun entscheiden müssen, (keine Angst, es ist nur wieder ein multiple choice Test) ob ihr mich als Lügner entlarven wollt weitere Lügen 1. bis n’ten Grades hinzufügen wollt durch aktives Handeln einer oder mehreren Lügen zu einem ehrenhaften Leben verhelft, indem ihr sie für wahr hält versucht (selbstverständlich mit beschränkter empirischer Haftung) herauszufinden, ob und zu was die Lügen taugen euch mit den bisherigen Fürwahrheiten und deren Halbwertzeit bescheiden wollt Die Zukunft kommt von selbst. Die Möglichkeiten in ihr jedoch nicht. Das ist Inspiration und Transpiration. Meine Vorschläge mögen vielleicht nicht die passenden sein. In erster Linie ist es aber entscheidend, in unserer Situation überhaupt die Möglichkeiten zu sehen. Zum Schluss möchte ich euch noch ein Gedicht meines genialen Freundes Christian Morgenstern als Koan298 mitgeben. 298 Unlösbare Aufgabe, welche als eine der zwei Möglichkeiten zur Erleuchtung zu gelangen, im Buddhismus gestellt wird. Über die Verzweiflung der Unlösbarkeit gelangt man schliesslich zur Gewissheit und Gelassenheit, also zum Sinn und zur Sicherheit. Das hat Ähnlichkeiten mit der Kreativitätstheorie, gemäss welcher nach der Inkubationszeit plötzlich der rettende Gedanke einfällt. Man sieht: Sinnlosigkeit kann durchaus auch Ansporn sein und nicht das Ende. Ah, ja genau. Da fällt mir gerade noch ein: Ich habe dem Buch den falschen Namen gegeben. Es sollte heissen Münchhausen hoch zwei. Es enthält nicht nur Geschichten darüber, wie und dass es möglich ist, sich selbst am eigenen Schopf zum Dreck raus zu ziehen und dass dabei auch noch der ganze Dreck mitkommt. Vielleicht fehlt dabei sogar das Wesentliche: Man muss auch noch in der Lage sein, dafür vom 284 Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus. Der Zaun indessen stand ganz dumm, mit Latten ohne was herum. Ein Anblick grässlich und gemein. Drum zog ihn der Senat auch ein. Der Architekt jedoch entfloh nach Afri- od- Ameriko299. Bevor ich entschwinde, möchte ich mich zum Schluss bei all jenen entschuldigen, welche mehr phantastische Geschichten, mehr Unterhaltung und mehr Praxis erwartet hätten und weniger schnöde Utopie, Theorie und Paradoxie. Ihnen empfehle ich zur Entspannung und Belustigung und als weiteres Koan diese Geschichte: Ein Mann ging in einen Laden. Es war ein merkwürdiger Laden. Es roch gut und alles war hell und freundlich. Aber man sah keine Waren. Hinter der Theke stand eine Frau. Der Mann fragte: „Was verkaufen Sie denn hier?“ Die Frau antwortete freundlich: „Alles, was Sie wollen.“ Der Mann hohen Ross zu steigen. Die verschiedenen Steigerungsformen der Betrachtung hier im Überblick: Nur am eigenen Schopf kann man sich zum Dreck rausziehen – unabhängig von der Hilfe, die man in einer solchen Situation vermisst oder kriegt: Münchhausen1 Wenn man sich aus dem Dreck raus zieht, kommt auch der Dreck mit. Wenn man sich befreit aus der misslichen Situation, verändert man damit auch die Verhältnisse: Münchhausen2 Es ist leichter, sich aus dem Dreck zu ziehen, wenn man vom hohen Ross steigt: Münchhausen3 Am Pferd zu ziehen, auf welchem man sitzt, nützt nichts: Münchhausen 4 Sie haben das Pferd geritten und gelenkt. Also schelten Sie es nicht: Münchhausen5 Man kommt eher vorwärts, wenn man das Pferd nicht vom Schwanz aufzäumt: Münchhausen6 Wenn man ein totes Pferd reitet, sollte man absteigen: Münchhausen7 Da es weitere Steigerungen gibt, müsste das Buch eigentlich heissen: „Münchhausen hoch N“ Es gibt Lösungen ersten bis n’ten Grades. 299 Morgenstern, Ch.: Alle Galgenlieder, Diogenes, Zürich, 1997 285 zögerte nicht lange: „Dann hätte ich gerne den Weltfrieden; ein Leben im Einklang mit der Natur; Gerechtigkeit; genügend Nahrung für alle; Menschen, die ...“ Die Frau fiel ihm ins Wort: „Entschuldigen Sie, Sie haben mich falsch verstanden. Wir verkaufen hier keine Früchte. Wir verkaufen nur den Samen300.“ Hier stehe ich, ich kann nicht anders301. Mit dem vorliegenden Buch wollte ich eine Skizze weltanschaulicher Psychologie zeichnen. Es soll eine Psychologie der Öffentlichkeit, eine Psychologie des Volkes, der Zumutung und Beherrschung 302 werden. Sie kümmert sich nicht nur um einzelne Menschen, sondern viel mehr um die überindividuellen Zusammenhänge. Sie ist in der Lage einige der notwendigen Wissens-, Handlungs-, Veränderungs-, Funktions- und Utopiebausteine beizusteuern. 300 Solche und ähnliche Geschichten finden Sie in: Lust, Th.: Gehe ins Rathaus und ärgere Dich täglich, Buchspiel, Rowohlt, Reinbek, 1987; Lust, Th.: Stell Dir vor, sie wartet auf dich und keiner weiss, wo..., Buchspiel, Rowohlt, Reinbek, 1988; Peseschkian, N.: Der Kaufmann und der Papagei, Fischer, Frankfurt a.M. 1979; Mello de, A.: Eine Minute Weisheit, Herder, Freiburg / Brsg. 1986; Mello de, A.: Wer bringt das Pferd zum Fliegen?, Herder, Freiburg / Brsg., 1989; Mello de, A.: Warum der Vogel singt, Herder, Freiburg / Brsg., 1984; Mello de, A.: Warum der Schäfer jedes Wetter liebt, Herder, Freiburg / Brsg., 1988; Shah, I.: Die fabelhaften Heldentaten des vollendeten Narren und Meisters Mulla Nasrudin, Herder, Freiburg / Brsg., 1984; Reichel, G.: Der Indianer und die Grille, Reichel, Forchheim, 1999 301 Der Mut, die Ermächtigung und Verpflichtung, aber auch die Freiheit, die im Ausspruch von Martin Luther schwingt, ist heute nicht mehr verbreitet. Wenn heute jemand dazu steht, nicht anders zu können, ist es meist keine Aussage der Zivilcourage, sondern eine des Bedauerns. 302 Ausgehend von Sigmund Freud, der von vielen als Begründer der modernen Psychologie gesehen wird, hat sich vor allem ein reduktionistisches, Menschenbild des triebhaften, neurotisierenden, beschränkten Menschen verbreitet. Es ist an der Zeit, dass Menschen ihrer wahren Berufung wieder gewahr werden und sich an ihr orientieren. Lassen wir uns nicht verführen: Wir fühlen uns zwar entschuldet verfallen aber dadurch in unheilsame Agonie. Ermächtigen wir uns, statt uns billig zu erniedrigen. Gleichzeitig beherrschen wir uns doch, statt dass wir andere und die Natur zu usurpieren suchen. Geradezu selbstverständlich vertritt eine resignierte Mehrheit, dass wir dem Bösen ausgeliefert sind und dass Gutes (erst) entsteht, wenn man Böses ausrottet. 286 The Bad is not Parasitic upon the Good. The Good is not Exhausting the Bad. Neither the God nor the Bad are Infecting each Other303. Wenn jetzt einige von euch denken, dass die Aufgabe, nachhaltige Veränderungen zu bewirken, zu schwer sei, so möchte ich ihnen selbstverständlich voller Mitgefühl beipflichten, andererseits ist es meine Aufgabe, selbst in den ausweglosesten Situationen eine Geschichte auf Lager zu haben, die es ermöglicht, die Schwierigkeit von einer andern Seite zu betrachten, so dass sie zwar vielleicht immer noch schwer, aber nicht mehr schwierig erscheint. Das ist das erste Problem. Sieh’, das Gute liegt so nah. Ich zeige euch, wie ich ein gefährliches Raubtier ohne Gefahr fange, nämlich ein Krokodil. Ich lege mich mit einem Liegestuhl, einem langweiliges Buch, einem Fernglas, einer Pinzette und einer leeren Zündholzschachtel an den Strand jenes Gewässers, an welchem das Krokodil lebt. Ich lege mich bequem auf den Liegestuhl und beginne im langweiligen Buch zu lesen. Da das Buch so langweilig ist, schlafe ich dabei ein. Das Krokodil, das neugierig ist, kommt aus dem Wasser und 303 Persönliche Mitteilung von Nansook Park: Durch die Erforschung von Stärken und Tugenden (Positive Psychologie) ist klar geworden, dass die Mechanismen, die Gutes erzeugen und jene, aus welchen Böses erwächst voneinander beinahe unabhängig sind. Wenn das Böse weg ist, heisst das noch lange nicht, dass dann Gutes übrigbleibt. Gutes (Glück, Gelassenheit, Altruismus, Hingabe usw. s. Peterson, C. and Seligman, M.: Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford University Press, Oxford, 2004) folgt eigenen Gesetzen, die bisher nicht bedacht wurden, Man hat geglaubt, dass Gutes automatisch entsteht, wenn man Böses ausrottet. Man hat bisher keine Ahnung, wie Gutes entsteht, wie man dazu erzieht, wie man es vermehrt. Diesem Gebiet widmet sich die positive Psychologie. Nansook Park ist Professorin am Positive Psychology Center der University of Rhode Island, USA. Park, N., & Peterson, C., & Seligman, M.E.P.: Character strengths in fifty-four nations and the fifty US states. Journal of Positive Psychology, 1/2006, S. 118-129. Park, N.:. Character strengths and positive youth development. The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 591/2004, 40-54. 287 beginnt ebenfalls im langweiligen Buch zu lesen. Es schläft selbstverständlich nach einer gewissen Zeit ebenfalls ein. Da ich nun vor dem Krokodil eingeschlafen bin, wache ich auch vorher wieder auf. Ich nehme das bereitliegende Fernglas, drehe es um, sodass ich das Krokodil ganz klein sehe. Dann greife ich mit der Pinzette das schlafende Krokodil und lege es behutsam in die Zündholzschachtel und schliesse diese. Das gefährliche Raubtier ist gefangen und kann keinen Schaden mehr anrichten. Wir haben gesehen, dass es möglich ist, gefährliche Situationen einzufangen, ohne von ihnen gefressen zu werden Das zweite Problem: Kann ich meine Energien überhaupt lenken oder bin ich einfach wie ich bin – ein ungeschliffener Diamant? Ein Grossvater unterhält sich mit seinem Enkel. Er spricht: „Manchmal habe ich das Gefühl zwei kräftige Wölfe in meinem Herzen zu spüren. Der eine ist angriffig, zerstörerisch, böse und pessimistisch. Der andere ist gutmütig, zuversichtlich und geduldig.“ Der Enkel fragt: „Welcher von beiden ist stärker?“ „Derjenige, den du nährst,“ antwortet der Grossvater. Nachdem wir gesehen haben, dass es in unserer Hand liegt, die Energien unserer Wölfe zu nutzen, möchte ich noch das dritte Problem lösen: Wie gehe ich nun um mit der Wahrheit und der Lüge? Wie kann ich sie unterscheiden, wenn nötig? Hier die Geschichte dazu: Sie stehen vor einer Weggabelung. Sie wissen, der eine Weg führt ins Verderben, der andere in die Zukunft. Sie wissen aber nicht, welcher Weg wohin führt. An dieser Weggabelung steht ein Haus. In diesem wohnen zwei Zwillinge. Der eine sagt immer die Wahrheit, der andere lügt immer. Sie haben nur eine Frage, die Sie demjenigen stellen dürfen, der zufällig aus dem Haus kommt, wenn Sie an die Tür klopfen. Wie lautet die Frage, mit welcher Sie trotz der Schwierigkeiten eindeutig herausfinden können, welcher Weg der richtige ist?304 304 Wenn Sie die Auflösung lesen wollen, statt dass Sie sie selber finden. Die Frage lautet: Welchen Weg würde mir dein Bruder weisen, wenn ich ihn nach dem Weg in die Zukunft fragen würde? Beide würden den falschen Weg weisen. Der eine, weil sein Bruder lügt. Der andere, weil er lügt. Sie nehmen 288 Es gibt eine Geschichte, darüber, dass man einen Weisen prüfen wollte. Dies geschah so: Die Skeptiker traten mit einem Lebewesen in der Faust vor den Weisen und fragten ihn arglistig: „Ist das Lebewesen in meiner Hand tot oder lebendig?“ Der Weise, wohl wissend, dass sie bei der Antwort „lebendig“ das Lebewesen zerdrücken konnten und bei der Antwort „tot“ es lebend zeigen konnten, antwortete schliesslich ehrerbietig: „Es liegt in eurer Hand!“305 Unser Unvermögen lässt sich nicht durch Vermögen ausgleichen. also den andern Weg, als ihnen gesagt wurde. So kommt man sicher in die Zukunft – trotz der Schwierigkeiten. Vgl. Simon, F. B.; Rech-Simon, C.: Zirkuläres Fragen, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2004 305 Nun am Schluss werden Sie nicht umhin kommen, sich die Frage zu stellen, was kann ich tun? Diese Frage kann eigentlich nur individuell beantwortet werden, weil sie eigentlich heisst: Was will ich tun? Wenn es überhaupt dazu sinnvolle Vorüberlegungen gibt: Hilfreiche Entwicklungen haben mit einer neuen Form von gegenseitiger Zumutung zu tun, die Missverständnisse über jede Grenzen auszuräumen bereit ist. Neue Wege zu finden, auszuprobieren und zu versuchen, hat vielleicht viel mit Zellen zu tun, die neue Lebensformen erproben, mit Bewegungen wie jener der der kulturell Kreativen (siehe S. 11), mit Strömungen, Komplementärwährungszirkeln, Initiativen, Gruppierungen und Subsistenzwirtschaftskreisen. Es gab und gibt solche immer ansteigend dann, wenn Umwälzungen vorbereitet wurden. Vernetzen und beteiligen Sie sich! Experimentieren Sie! Und vor allem: Reflektieren Sie ihre Handlungen, damit Sie sicher sind, nicht ein totes Pferd zu reiten. 289 Ich wünsche euch alles erdenklich Gute und empfehle mich euer ehrenwertester (darauf lege ich Wert) Unsere Macht ist ungeheuer gewachsen, während unsere Weisheit leider nicht im selben Masse gewachsen ist. Sie hat im Laufe der letzten Jahrtausende wahrscheinlich sogar in gewisser Weise abgenommen306. 306 Senge, P.: Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta, Stuttgart, 2003 290 291 Literaturverzeichnis Abbott, E. A.: Flächenland – ein mehrdimensionaler Roman, verfasst von einem alten Quadrat, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1982 Achermann, E.: Mit Kindern Schule machen. Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Zürich, 1995 Albert, H.: Traktat über die kritische Vernunft. UTB, Stuttgart, 1991 Alinsky, S. D.: Anleitung zum Mächtigsein, Lamuv, Bornheim 1984 Altvater, E.: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Westfälisches Dampfboot, Münster, 2006 Antonovsky, A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit, dgvt, Tübingen, 1997 Argyris, C., Putnam, R., McLain Smith, D.: Action Science., JosseyBass, San Francisco, 1985 Bacon, F.: Neu-Atlantis, Reclam, Ditzingen, 1982 (engl. Erstausgabe 1624) Bandura, A.: Self-Efficacy: The Exercise of Control, Freeman, New York, 1997 Bateson, G., Jackson, D. D., Haley, J. & Weakland, J.: Toward a Theory of Schizophrenia. In: Behavioral Science, Vol.1, 1956, S. 251-264 Bateson, G.: Die Ökologie des Geistes, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1981 Bauch, J.: Gesundheit als sozialer Code, Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Juventa, Weinheim, 1996 Beck-Gernsheim, E.: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. C.H. Beck, München, 2000 Beck, J.: Der Bildungswahn, Rowohlt, Reinbek 1994 Beck, U.: Risikogesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt / M, 1986 Bergmann, F.: Neue Arbeit, Neue Kultur. Arbor, Freiamt, 2004 Berne, E.: Spiele der Erwachsenen, Rowohlt 2002 Birckenbach, H.-M.; Sure, Ch.: Warum haben Sie eigentlich Streit miteinander?, Leske + Budrich, Opladen 1988 Binswanger, H.C.: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses. Metropolis, Marburg, 2006 Blech, J.: Die Krankheitserfinder. Fischer, Frankfurt, 2003 Bless, G.: Zur Wirksamkeit von Integration, Haupt, Bern, 1995 Bloch, A.: Murphy’s Gesetz I, Der Grund, warum alles schief geht, was schief gehen kann; Goldmann, München, 1986 Böll, H.: Werke, Band: Romane und Erzählungen 4, 1961-1970, Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, S. 267-269. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln Bornstein, D.: Die Welt verändern. Social Entrepreneurs und die Kraft neuer Ideen, Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 292 Braunschweig, A., Müller-Wenk, R.: Ökobilanzierung für Unternehmungen. Eine Wegleitung für die Praxis, Haupt, Bern 1993 Breuer, R. (Hrsg.): Der Flügelschlag des Schmetterlings. Ein neues Weltbild durch die Chaosforschung. DVA Stuttgart 1993 Bürger, G. A.: Münchhausen, Reclam, Ditzingen, 2000 Burgherr, S.; Chambre, S.; Iranbomy, S.: Jugend und Gewalt, Rex, Luzern, 2001 Burton, M.; Kagan, C.: Liberation Psychology: Learning from Latin America. In: Journal of Community and Applied Social Psychology 15/1, 2005, S. 63-78 Chirot, D.; Seligman, M. E. P. (Hg.): Ethnopolitical Warfare. Causes, Consequences and Possible Solutions. American Psychological Association (APA), Washington, 2001 Chomsky, N.: Profit over People - War against People. Piper. München, 2006 Chomsky N.: Der gescheiterte Staat, Kunstmann. München, 2006 Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1999 Conen, M.-L.: „Unfreiwilligkeit“ – ein Lösungsverhalten. Familiendynamik, 1999, 3, S. 282-297 Creutz, H.; Suhr, D., Onken, W.: Wachstum bis zur Krise? Basis, Berlin, 1986 Csikszentmihalyi, M.: Flow: Das Geheimnis des Glücks. Klett-Cotta, Stuttgart, 1993 Csikszentmihalyi, M.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. KlettCotta, Stuttgart, 2005 Darwin, Ch.: The Origin of Species, Wordsworth Edition, 1998 DeMause, L.: Das emotionale Leben der Nationen, Drava, Klagenfurt, 2006 Die Abenteuer des Baron Münchhausen, Kinofilm, Regisseur Terry Gilliam, Columbia Studios, 1988 Die gute Nachricht, Bibel in heutigem Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1982 Dörner, D.: Die Logik des Misslingens, Rowohlt, Reinbek, 2003 Dörner, K.: Die Gesundheitsfalle, Econ, München 2003 Dyer, W.: Der wunde Punkt. Die Kunst nicht unglücklich zu sein. Rowohlt, Reinbek, 2004 Ebert, Th; Senghaas, D.; Steinweg, R.: Soziale Verteidigung, Haag, 2000 Eigen, M.; Winkler, R.: Das Spiel, Naturgesetze steuern den Zufall, Piper, München 1975 Engelbrecht, T.; Köhnlein, C.: Virus Wahn, emu, Lahnstein 2006 293 Esteva, G.: Fiesta – jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik, Brandes & Apsel, Frankfurt, 1992 Fals Borda, O.; Rahman, M. A.: Action and Knowledge: Breaking the Monopoly of Power with Participatory Action-Research. Intermediate Technology Publication, London, 1991 Festinger, L.: Theorie der Kognitiven Dissonanz, Huber, Bern, 1978 Fischer, H. R., Arnold Retzer, A., Jochen Schweitzer, J. (Hg): Das Ende der grossen Entwürfe. Suhrkamp, Frankfurt, 1992 Fischer, R.; Kopelman, E.; Kupfer Schneider, A.: Jenseits von Machiavelli, Kleines Handbuch der Konfliktlösung, Campus, Frankfurt, 1995 Fischer, R.; Ury, W.: Getting to Yes. Negotiation Agreement Without Giving in, Penguin, New York, 1991 Flammer, A.: Erfahrung der eigenen Wirksamkeit, Huber, Bern, 1990 Flynn, J. R.: Massive IQ Gains in 14 Nations: what IQ Tests Really Measure. Psychological Bulletin 101 Foerster, H. v.: KybernEthik, Merve, Berlin, 1993 Foerster, H. v.: Wissen und Gewissen, Suhrkamp, Frankfurt/M, 1993 zit. nach: Lutterer, W.: Starre Selbstbilder als Barrieren beim Umgang mit komplexen Situationen In: Lernende Organisation – Zeitschrift für systemisches Management und Organisation, Institut für systemisches Coaching und Training, Wien, 24/2005, S. 25 Foerster, H. v.; Glasersfeld, E. v.: Wie wir uns erfinden, Carl-AuerSysteme, Heidelberg, 1999 Foerster, H. v.; Pörksen, B.: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Carl Auer, Heidelberg; 2003 Foerster, H. v.: Zukunft der Wahrnehmung, Wahrnehmung der Zukunft, in: Foerster, H. v.: Wissen und Gewissen, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993 Frankl, V. E.: The Doctor and the Soul: From Psychotherapy to Logotherapy, Random House, London, 1986. Dt. erschienen: Frankl, V.E.: Ärztliche Seelsorge, Zsolnay, Wien, 2005 Frankl, V. E.: Der Wille zum Sinn, Huber, Bern, 1978 Frankl, V. E.: Theorie und Therapie der Neurosen, UTB Reinhardt Stuttgart, 1999 Frei, A.; Greiner, R.-A.: Sparpotenzial: eine Milliarde. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Psychotherapie, Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer PsychologInnen FSP, Nr. 5/2001, S. 14-17 Freire, P.: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Rowohlt, Reinbek,1973 294 Frevert, U.: „Fürsorgliche Belagerung“: Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, 11. Jhg., Heft 4, 1985, S.420-446 Galtung, J.: Friede mit friedlichen Mitteln, Leske und Budrich, Opladen 1998 Ganssmann, H.: Politische Ökonomie des Sozialstaats, Westphälisches Dampfboot, Münster, 2000 Gesell, S.: Die natürlich Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, Gauke, Lütjenburg, 2004 GDI Impuls, Sommer 06, Healthstyle, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon, 2006 Girardet, H. (Hg.): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klima-Chaos, eva, Hamburg, 2007 Goethe, J.W. v.; Schiller, F. v.; Eibl, K. (Hg.): Sämtliche Balladen, Insel, Frankfurt Golemann, D.: Emotionale Intelligenz, Dtv, 1997 Grawe, K.: Psychologische Therapie, Hogrefe, Göttingen, 2000 Grawe, K. / Donati, R. / Bernauer, F.: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession, Göttingen, Hogrefe, 2001 Gronemeyer, M.: Die Macht der Bedürfnisse. Reflexionen über ein Phantom. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2002 Gruen, A.: Der Kampf um die Demokratie, Dtv, München, 2004 Gruen, A.: "Ich will eine Welt ohne Kriege", Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 Guggenbühl-Craig, A.: Vom Guten des Bösen, IKM-Guggenbühl, Zürich 1992 Hafen, M.: Soziale Arbeit in der Schule zwischen Wunsch und Wirklichkeit, interact, Luzern, 2005 Haken, H.; Haken-Krell, M.: Gehirn und Verhalten, Unser Kopf arbeitet anders, als wir denken, DVA, München, 1997 Haken, H.: Synergetik, Springer, Berlin, 1982 Hansch, D.: Evolution und Lebenskunst, Grundlagen der Psychoenergetik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2002 Hansch, D.: Psychosynergetik, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1997 Hartmeier, M.: Mit Pioniergeist in die Zukunft. Schulpsychologie – Standortbestimmung und Perspektiven. In: Psychoscope, Zeitschrift der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, Bern, 2005/01, S. 8-11 Hartmeier, M.: Populäre Irrtümer der Schule, System Schule, 4/2004; Borgmann, Dortmund, S. 115f Hartmeier, M.: NFA, ICF, ICD und andere Buchstabensalate – genüsslich angerichtet, In: Psychologie und Erziehung P & E, 295 Zeitschrift der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, 1/2007 Herrschkowitz, N.; Herschkowitz-Chapman, E.: Klug, neugierig und fit für die Welt, Herder, Freiburg, 2004 Hettlage, R. (Hg): Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, UVK, Konstanz, 2003 Hofstadter, D. R.: Gödel, Escher, Bach. Klett-Cotta, Stuttgart, 2006 (17. Aufl.) Horx, M.: Anleitung zum Zukunftsoptimismus. Campus, Frankfurt/M, 2007 Huber, F.: Projekt Weltethik, Info, Karlsruhe, 2003 Husserl, E.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag, 1954. Neudruck: Meiner, Hamburg, 1996 Huxley, A.: Brave New World, Grafton Books, London Illich, I.: Health as one’s own Responsibility – no. Thank you. Rede gehalten am 14. 09. 1990 in Hannover. Illich, I.: Die Nemesis der Medizin, Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, C. H. Beck, München,1995 Illich, I.: Genus, Zu einer historischen Kritik der Gleichheit, C. H. Beck, München ,1995 Illich, I.: „Und führe uns nicht in die Diagnose, sondern erlöse uns von dem Streben nach Gesundheit“, Vortrag in Bologna 24. 10. 1998. Abdruck in: Le Monde diplomatique, dt. Ausg. 4/5. April 1999 Illich, I.: Entschulung der Gesellschaft, Eine Streitschrift, C. H. Beck, München, 2003 Imbach, Wunder, Eine existentielle Auslegung. Topos, Kevelaer, 2002 Jegge, J.: Dummheit ist lernbar, Zytglogge, Bern, 2002 Jerusalem, M., Mittag, W.: Selbstwirksamkeit, Bezugsnormorientierung, Leistung und Wohlbefinden in der Schule. In: M. Jerusalem & R. Pekrun (Hrsg.), Emotion, Motivation und Leistung (S. 223-245). Göttingen, Hogrefe, 1999 Kahl, R.: Treibhäuser der Zukunft - Wie in Deutschland Schulen gelingen. Archiv der Zukunft, Beltz Weinheim, 2006 Kapp, K. W.,: Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Fischer, Frankfurt/M., 1988 Kästner, E.: Die Schildbürger, Dressler, Hamburg, 2000 Kästner, E.: Münchhausen, Dressler, Hamburg, 1999 Kästner, E.; Trier, W.: Till Eulenspiegel, 8 Geschichten; Dressler, Hamburg, 1991 Kennedy, M.: Geld ohne Zinsen und Inflation, Permakultur Publikationen, Steyerberg, 1990 Körtner, U.: Lasset uns Menschen machen. C.H. Beck, München, 2005 296 Kohlberg, L.: Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp, Frankfurt, 1996 Krämer, W.: Die Krankheit des Gesundheitswesens. S. Fischer, Frankfurt, 1989 Kreutz, H.: Das Überleben des Untergangs der Titanic. In: Angewandte Sozialforschung. Heft 1 / 2 2001/2002, Institut für angewandte Soziologie, Wien, S. 10 - 20 Kronig, W.; Haeberlin, U.; Eckhart, M.: Immigrantenkinder und schulische Separation; Haupt, Bern, 2000 Küng, H.: Projekt Weltethos, Piper, 1990 Künzli, A.: Rettet die Freiheit vor ihren Beschützern; Z-Verlag, Basel, 1989 Kundera, M.: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Fischer, Frankfurt, 1987 Kurmann, J., Chefarzt Psychiatriezentrum Luzern-Stadt, als Antwort auf eine Leserinnenfrage in der Neuen Luzerner Zeitung; Ratgeber, Ausgabe 10.09.2002 Lanfranchi, A.: Schulerfolg von Migrationskindern, Leske und Budrich, Leverkusen, 2002 Langer, E. J.: Mindfulness, Addison Wesley Publishing, San Francisco, 1990 Lapide, P.: Wie liebt man seine Feinde?, Grünewald, Mainz, 1984 Lazarus, R. S.: Psychological Stress and the Coping Process, McGraw-Hill, New York, 1966 Leonard-Barton, D.: Core Capabilities and Core Rigidities: A Paradox in Managing new Product Development. In: Strategic Management Journal, John Wiley, West Sussex, Vol. 13, 1992. S. 111-125 Lietaer, B. A.: Das Geld der Zukunft: Riemann, München, 2002 Löpfe, P., Palumbo, D.: Das neue Paradies. In: Facts 09/07, Tamedia, Zürich, 2007, S. 16-21 Lorenz, K.: Das sogenannte Böse, DTV München 1998 Luft J.; Ingham, H.: The Johari Window, a Graphic Model for Interpersonal Relations. Western Training Laboratory in Group Development, August 1955 Luhmann, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt, 1992 Lust, Th.: Gehe ins Rathaus und ärgere Dich täglich, Buchspiel, Rowohlt, Reinbek, 1987 Lust, Th.: Stell Dir vor, sie wartet auf dich und keiner weiss, wo..., Buchspiel, Rowohlt, Reinbek, 1988 Lütz, M.: Der blockierte Riese, Psycho-analyse der katholischen Kirche, Knaur, München, 2001, S. 146ff. 297 Lütz, M.: Lebenslust. Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult, Knaur, München 2005 Lütz, M.: Ethik des Heilens – Ende der Debatte. In: WOZ, Zürich, Nr. 23/07. S. 21 Machiavelli, N.: Der Fürst, Insel, Frankfurt, 2001 Malinowski, B. (Hg.): Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaften, Vögel, München, 2006 Maslow, A. H.: A Theory of Human Motivation. Psychological Review, 50, S. 370-396, 1943 Massarat, M.: Chancengleichheit als Ethik der Nachhaltigkeit. In: Widerspruch, 40/2001, Zürich, S. 55-69 McKeown, Th.: Die Bedeutung der Medizin, Suhrkamp, Frankfurt, 1979, S. 238, zit. nach: Engelbrecht, T.; Köhnlein, C.: Virus-Wahn, emu, Lahnstein, 2006 Meadows, D. H.; Meadows D.L.; Randers, J.: Die neuen Grenzen des Wachstums, Rowohlt, Reinbek, 1993 Mello de, A.: Eine Minute Weisheit, Herder, Freiburg / Brsg. 1986 Mello de, A.: Warum der Schäfer jedes Wetter liebt, Herder, Freiburg / Brsg., 1988 Mello de, A.: Warum der Vogel singt, Herder, Freiburg / Brsg., 1984 Mello de, A.: Wer bringt das Pferd zum Fliegen?, Herder, Freiburg / Brsg., 1989 Merton, R. K.: Social Theory and Social Structure, Free Press, New York, 1968 Meyer, W.-U.: Das Konzept der eigenen Begabung, Huber, Bern, 1984 Miller, G. A., Galanter, E., Pribram, K.H: Strategien des Handelns. Pläne und Strukturen des Verhaltens, Klett-Cotta, 1974 Miller, J. F.: Coping fördern, Machtlosigkeit überwinden, Huber, Bern, 2003 Mollison, B.: Permakultur konkret, Entwürfe für eine ökologische Zukunft, pala, Darmstadt , 2005 Mollison, B.: Permakultur I+II, pala, Schaafheim, 1983 Morgenstern, Ch.: Alle Galgenlieder, Diogenes, Zürich, 1997 Mücke, K.: Probleme sind Lösungen. Klaus Mücke Ökosysteme Verlag, Potsdam, 2003 Müller-Wenk, R.: Die ökologische Buchhaltung. Ein Informations- und Steuerungsinstrument für umweltkonforme Unternehmenspolitik, Campus, Frankfurt, 1978 Münchhausen, Kinofilm, Regisseur Josef von Baky, UFA Studios, 1943 Negt, O.: Arbeit und menschliche Würde. Steidl, Göttingen, 2002 Norem, J. K.: Die positive Kraft negativen Denkens, Scherz, Bern, 2002 298 Noth, R.: Wer bezahlt die Rechnung? Die wirklichen Kosten unseres Wohlstands, Hammer, Wuppertal, 1988 O’Connor, J.; McDermott, I.: Systemisches Denken verstehen & nutzen. Die Lösung lauert überall. VAK, Kirchzarten 2006 Onken, W. (Hg.): Perspektiven einer ökologischen Ökonomie, Gauke, Lütjenburg, 1992 Orwell, G.: Animal Farm, Penguin Books, London Orwell, G.: 1984. Penguin, New York, 1990 Oser, F.; Althoff, W.: Moralische Selbstbestimmung, Klett-Cotta, Stuttgart, 2001 Park, N.: Character strengths and positive youth development. The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 591, 2004 , S. 40-54 Park, N., & Peterson, C., & Seligman, M.E.P.: Character strengths in fifty-four nations and the fifty US states. Journal of Positive Psychology, 1, 2006, S. 118-129 Patterson, G.R.: Coercive Family Process, Castilia, Eugene, 1982 Pausewang, G: Die letzten Kinder von Schewenborn, Maier, Ravensburg, 1983 Peseschkian, N.: Der Kaufmann und der Papagei, Fischer, Frankfurt a.M. 1979 Peter, L. J.; Hull R.: Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen, Rowohlt, Reinbek 2003 Peterson, C. and Seligman, M.: Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford University Press, Oxford, 2004 Platon: Der Staat, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1998 Pörksen, B.: Vom Lernen zum selbstorganisierten Lernen – zwölf Thesen. In: Lernende Organisation – Zeitschrift für systemisches Management und Organisation, Institut für systemisches Coaching und Training, Wien, 25/2005, S. 26 – 27 Prinz, W.: Interview mit Volker Lange im Magazin Morgenwelt , Morgenwelt, e.v., Hamburg 1/99 Prinz, W.: Wahrnehmung und Tätigkeitssteuerung, Springer, Berlin 1983 Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2003 Ray, P., Anderson, S. R.: The Cultural Creatives, Harmony Books 2000 Reich, K. (Hg.): Kant, I.: Der Streit der Fakultäten. Meiner, Hamburg 1959 Reichel, G.: Der Indianer und die Grille, Reichel, Forchheim, 1999 Rifkin, J.: Der Europäische Traum. Campus, Frankfurt/M, 2004 Rifkin, J.: The End of Work. New York, Tarcher/Penguin, 2004 299 Rogall, H.: Volkswirtschaftslehre für Sozialwissenschaftler, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006 Rosenhan, D. L.: On Being Sane in Insane Places, Science, 179, 1973, S. 250-258 Rosenthal, R; Jacobson, L.: Pygmalion im Unterricht. Beltz, Weinheim, 1983 Roth, G.: Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp, 2003 Ruh, H.: Gröbly, Th.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, Waldgut, Frauenfeld, 2006 Rusch, G.; Schmidt, S. J. (Hg.): In Piaget und der Radikale Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1994 Sachs, W.(Hg.): Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik, Rowohlt, Reinbek, 1993 Saner, H.: Das Ende der Gewalt wird nicht durch Gewalt erreicht. In: Burgherr, S.; Chambre, S.; Iranbomy, S.: Jugend und Gewalt, Rex, Luzern, 2001. S. 105ff Sartre, J.-P.: Geschlossene Gesellschaft, Rowohlt, Reinbek, 1986 Scheerbaum, P.: Das grosse Licht. Gesammelte Münchhausiaden. Suhrkamp, 1987, Frankfurt Schmidbauer, W.: Die hilflosen Helfer, Rowohlt, Reinbek, 1977 Schneider-Flume, G.: Das Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei gelingenden Lebens, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004 Schulte-Markwort, M., Marutt, K.; Riedesser, P. (Hg.): Cross walk ICD10 – DSM IV: Klassifikation psychischer Störungen: eine Synopsis, Bern, Huber, 2002 Seligman M. E. P.; Petermann, F.: Erlernte Hilflosigkeit; Beltz, 2000 Seligman, M.E.: The Optimistic Child, Harper, New York, 1996 Seligman, M.: Learned Optimism, Vintage, New York, 2006 Selvini-Palazzoli, M.: Der entzauberte Magier, Frankfurt, Fischer, 1991 Senf, B.: Der Nebel um das Geld. Gauke, Lütjenburg 2005 Senf, B.: Die blinden Flecken der Ökonomie, DTV, München 2004 Senge, P.M.: Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Klett-Cotta, Stuttgart, 2003 Senger, H. v.: Strategeme, Scherz, Bern, 1996 Shah, I.: Die fabelhaften Heldentaten des vollendeten Narren und Meisters Mulla Nasrudin, Herder, Freiburg / Brsg., 1984 Simon, F. B.: Der Prozess der Individuation. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen, 1984 Simon, F. B.: Unterschiede, die Unterschiede machen. Suhrkamp, Frankfurt, 1999 Simon, F. B.: Die andere Seite der Gesundheit. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2001 300 Simon, F. B.: Die Kunst nicht zu lernen. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2002 Simon, F. B.; Rech-Simon, C.: Zirkuläres Fragen. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg, 2004 Skrabanek, P.; McCormick, J.: Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin. Kirchheim, Mainz 1985 Slembeck, T.: Kostentreiber im Schweizer Gesundheitswesen – Eine Auslegeordnung. Santésuisse, Solothurn, 2006 Smith, R.: In Search of Non-Disease, British Medical Journal 342, 2002, S. 883-885 Soros, G.: Der Globalisierungsreport. Rowohlt, Reinbek, 2003 Spiegel Spezial 5 (1996, S. 10) Artikel: Das Geldwunder von Wörgl Spitzer, D.R.: Motivation: The Neglected Factor in Instructional Design. Educational Technology, 5-6, 1996, S. 45-49 Spitzer, M.: Selbstbestimmen, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 2004 Stadtmann, U. et al.: Soziale Verteidigung, Internationaler Versöhnungsbund, Münster, 1987 Thimm, W.: Das Normalisierungsprinzip, Bundesvereinigung Lebenshilfe, Marburg Twain, M.: Leben auf dem Mississippi, Aufbau, Berlin 2001 (engl. 1884, dt. erstmals 1890) Uexküll, J.: Unser Konsum frisst die Erde auf. Interview. In: Stern Nr. 12/2007, Gruner + Jahr, Hamburg. S. 62ff Veen, H. van: Seine besten Lieder, Universal, 1988, Audio CD Verne, J.: 20'000 Meter unter dem Meer, Arena, 2000 Verne, J.: Reise um den Mond, Fischer, Frankfurt, 1997 Vester, F.: Der Wert eines Vogels, Kösel, München, 1987 Watzlawick, P. et al.: Menschliche Kommunikation, Huber, Göttingen, 1990 Watzlawick, P.: Die Möglichkeit des Andersseins, Huber, Bern 2002 Watzlawick, P.: Münchhausens Zopf, Huber, Bern 1988 Watzlawick, P.: Vom Schlechten des Guten, DTV München, 1997 Watzlawick, P.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit, Piper München, 1988 WDR am 6. April 2005: Das Wunder von Köln Werbik, H.: Handlungstheorien, Kohlhammer, Stuttgart, 1978 Willke, H.: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Fischer, Stuttgart, 1999 Willke, H.: Systemische Wissensmanagement. Carl Auer Systeme, Heidelberg, 2004 Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosphicus, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1963 301 Yerkes, R. M.; Dodson, J. D.: The Relation of Strength of Stimulus to Rapidity of Habit-Formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482, 1908 Ziegler, L.: Sinn und Ziel des Wirtschaftens, In: ders., Zwischen Mensch und Wirtschaft, Darmstadt, 1927. S. 126-162 Internetressourcen (Stand Juni 2007): Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, InterAction Council, www.weltethos.org Charta der Weltethik, www.charta-der-weltethik.de Erklärung zum Weltethos, Parlament der Weltreligionen, www.weltethos.org Global Human Development Report, United Nations, 1996 http://hdr.undp.org/reports/detail_reports.cfm?view=546 Schmidt, A. P.: Turi's Turing Test. Blue Planet Team Network, www.wissensnavigator.com, 2005 Sturm, G.: Warum die Tasse nicht nach oben fällt. Thermodynamik, Entropie und Qantenmechanik. www.quanten.de Newsletter Juli/August 2003 World Climate 2007 http://www.ipcc.ch Sonstige: http://de.wikipedia.org; www.context-conen.de/artikel/; www.fromthewilderness.com; www.jungewelt.de/2004/10-18/007.php; www.pressetext.de/pte.mc?pte=040407023; www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege_archiv.htm; www.unesco.ch/biblio-d/salamanca.htm; www.weltethos.org; http://www.weltzukunftsrat.de www.wissenschaft.de/wissen/news/152425.html 302