Wir brauchen eine integrative Medizin! Anmerkungen zur Debatte um die „Gefährlichen Heiler“ Stefan Schmidt-Troschke „Gefährliche Heiler“, so übertitelte der „Stern“ den Bericht über eine verdeckte Recherche im Frühjahr dieses Jahres. Der Arzt und Autor Dr. Bernhard Albrecht hatte im Auftrag des „Stern“ gemeinsam mit einer als Patientin getarnten Schauspielerin verschiedene, über das Internet aufgefundene Ärzte und Heilpraktiker konsultiert. Das Paar präsentierte Untersuchungsergebnisse einer echten Patientin, die an Brustkrebs erkrankt war. Es handelte sich um eine exakte Diagnose, für die im Rahmen der konventionellen Medizin klare Behandlungsleitlinien existieren. Für eine Patientin mit dieser Konstellation bestünden, so der Autor, unter Wahrnehmung sämtlicher konventioneller Therapieoptionen (also Operation, Strahlen- und Antihormontherapie) „exzellente“ Heilungschancen von mehr als 95 Prozent. Das Ergebnis von 20 Konsultationen bei Alternativmedizinern (es handelte sich um Ärzte und Heilpraktiker): Nur wenige von ihnen, Ärzte eingeschlossen, konnten die vorgelegten Befunde richtig erklären - trotz Spezialisierung auf Krebserkrankungen. Sechs Alternativmediziner rieten von der Operation ab, sechs konnten sich eine Behandlung mit oder ohne OP vorstellen und acht sprachen sich eindeutig für die Operation aus. Ergänzende Therapien wie Chemotherapie, Strahlentherapie und Antihormontherapie wurden jeweils nur von einer kleinen Minderheit der befragten Ärzte und Heilpraktiker befürwortet. Der Patientin wurden stattdessen verschiedenste andere Verfahren angeboten, zu deren Wirksamkeit oft nur ungenügende Dokumentationen zur Verfügung stehen. Die Patientin wäre so um die Chancen einer Heilung gebracht worden, so das Fazit des Artikels. Im Ergebnis wird die sogenannte Alternativmedizin gleichgesetzt mit Abzocke – in diesem Fall mit unter Umständen lebensgefährlichen Konsequenzen. Das Problem in diesem Beitrag: die Pauschalisierung. Alternativmedizin ist kein festes Konzept, sondern ein Sammelbegriff, der – wie es der Name sagt – einfach alle Methoden, die nicht konventionell sind, umfasst. Die „Alternative“ drückt aus: Es handelt sich um etwas anderes als um Schul- oder konventionelle Medizin. Dass zwischen den sogenannten alternativen Methoden aber Welten liegen, dass dazu auch die verschiedenen Richtungen traditioneller, oft jahrtausendealter Medizin-Systeme gehören, wie die chinesische oder die ayurvedische Medizin - das ist dem Autor keine Silbe wert. Und keine Bemerkung dazu, dass es seriöse komplementäre Methoden gibt, die sich ergänzend zur konventionellen Medizin verstehen. Die befragten Alternativmediziner waren über die einfache Google-Suche gefunden worden und hatten sich selbst als Spezialisten für Krebserkrankungen präsentiert. Das heißt, bei der Suche nach den Therapeuten wurden keinerlei Qualitätskriterien angelegt. Sicherlich mag es Patienten geben, die trotz einer lebensbedrohlichen Erkrankung (oder vielleicht gerade deshalb aus Verzweiflung) per Google Therapeuten suchen. Doch das dürfte – hoffentlich – nicht die Regel sein. Die Autoren fordern als Konsequenz eine stärkere Reglementierung für die Alternativmedizin, damit Schwerkranke nicht arglos dem „Dschungel der Wunderheiler“ ausgeliefert sind. Das ist populistisch! Das Problem dürfte durch Verbote nicht wirklich zu lösen sein. Viele Untersuchungen belegen, dass die überwiegende Zahl der Bürger und Patienten ein hohes Interesse an einer ganzheitlichen, sanften Medizin hat, die ihre individuellen Überzeugungen und eine umfassendere, ggf. auch biografische Sicht auf die eigene Erkrankung berücksichtigt. Und aus vielen Studien wissen wir heute auch, wie entscheidend es für einen Behandlungserfolg sein kann, wenn Patienten sich selbst in die Gestaltung ihrer Therapie einbringen können. gesundheit aktiv anthroposophische heilkunst e.v. Komplementär- und Schulmedizin müssen sich verständigen, sonst geraten wir als Patienten zwischen die Räder. Wo ist Hilfe in Sicht? Wie können Patienten am Ende wirklich Gewissheit darüber erlangen, welche Behandlungsansätze sich bewährt haben? Wie kann verhindert werden, dass ihnen bestimmte Behandlungsoptionen – aus welchen Gründen auch immer – vorenthalten werden? Konkret: Wie kommen Patienten an seriöse Informationen, wenn sie sich für einen ganzheitlichen Zugang zu ihrer Erkrankung interessieren? Hier ist Aufklärung und Beratung vonnöten. Denn es gibt sie – die seriösen Angebote. Es gibt Zentren, die sowohl schulmedizinisch wie komplementärmedizinisch arbeiten und die als Spezialzentren durch die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) anerkannt sind (siehe blauer Kreis). Doch häufig wissen Patienten nichts von diesen Angeboten. Schuld daran sind nicht zuletzt die Schulmediziner, die nicht selten das Bedürfnis der Patienten nach ganzheitlicher Behandlung ignorieren und somit keine Navigatorfunktion übernehmen können und/oder wollen. Kein Wunder also, dass Patienten sich selbst auf die Suche nach alternativen Therapeuten machen. Auch die sogenannten Alternativmediziner erfahren selten davon, in welcher Weise sich ein Patient auch noch konventionell behandeln lässt. Komplementärund Schulmedizin müssen sich also verständigen, sonst geraten wir als Patienten zwischen die Räder. Ausgabe 15 Herbst 2014 Aus der Sicht von Bürgern und Patienten ist daher zu fordern: • dass Vertreter der Schulmedizin, statt mit dem pauschalen und oft nicht zutreffenden Hinweis auf die Unwissenschaftlichkeit der anderen Methode zu operieren, sich aktiv über den Stand der Dokumentation zu verschiedenen, bisher nicht konventionellen Methoden informieren, • dass Vertreter der sogenannten alternativen oder komplementären Medizin dem Patienten nicht verschweigen, wenn es sinnvolle und ggf. notwendige konventionelle Verfahren gibt bzw. dass sie sich verpflichten, diese Ergebnisse überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, • dass Foren zum Austausch zwischen konventionellen und neueren, nicht konventionellen Methoden etabliert werden. Ein erster Ansatz dazu ist das „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ bei der Bundesärztekammer, • dass – statt staatlicher Reglementierung – eine aktive Forschungsförderung für bisher unkonventionelle medizinische Ansätze etabliert wird. Beispiel dafür können die wiederholt aufgelegten staatlichen Forschungsprogramme zu unkonventionellen Methoden in den USA sein. Foto: Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke Zum Beispiel sind das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke und das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe mit Spezialzentren durch die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) anerkannt. Hier werden Patienten sowohl konventionell als auch mit anthroposophischen oder anderen komplementären Methoden behandelt. An diesen Einrichtungen geht es darum, die verschiedenen Methoden ganzheitlich zu verbinden und – vor allem - einen offenen Gesprächsprozess mit den Patienten darüber zu führen. Der zugrunde liegende anthroposophische Ansatz versteht sich nicht als Alternative, sondern schließt die konventionelle Medizin mit ein. Diese Zentren besitzen daher wegweisende Bedeutung dafür, wie sich eine wirklich am Wohl des Patienten orientierte Medizin von ihren Dogmen befreien kann. Auch an der Klinik Öschelbronn, an der Filderklinik bei Stuttgart und am Paracelsus Krankenhaus in Unterlengenhardt arbeiten Onkologen (Krebsspezialisten), die sowohl konventionell als auch in Anthroposophischer Medizin ausgebildet sind. Was heißt „Integrative Medizin“? In den Vereinigten Staaten wurde vor einigen Jahren der Begriff der „Integrativen Medizin“ („Integrative Medicine“) geprägt. In einer deutschen Übersetzung (Autor) klingt das so1 : „… die Praxis der Medizin, die das Arzt-PatientenVerhältnis neu belebt, sich auf die ganze Person bezieht, durch empirische Daten unterstützt wird und die sich aller angemessenen therapeutischen Ansätze, Gesundheitsexperten und medizinischer Disziplinen bedient, um eine optimale Gesundheit und Heilung für den Patienten zu erreichen”. 1 „the practice of medicine that reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing“ (http://www. imconsortium.org/about/home.html). Wir brauchen ein unbefangeneres und sicherlich auch pragmatischeres Verhältnis von Schul- und Komplementärmedizin. Der Streit scheint stark von ideologisch geprägten Vorurteilen auf allen Seiten aufgeladen zu sein. Ärzte und Therapeuten aber sind am Ende nicht einer Ideologie verpflichtet sondern ihren Patienten. Dort, wo Patienten – und sei das noch so subjektiv – profitieren, dürfen Ärzte nicht wegschauen. Bis in die Ausbildung hinein muss es heute daher darum gehen, Ärzten, Therapeuten und Pflegenden das Wissen und – vor allem - Haltungen zu vermitteln, die das ermöglichen. gesundheit aktiv anthroposophische heilkunst e.v.