Vorwort - TU Ilmenau

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Die Temperatur ist nicht Prolog
sondern Epilog der Thermodynamik.
E. Lieb, J. Yngvason
Vorwort
Wie kann man die Entropie in der klassischen Thermodynamik mathematisch exakt und zugleich verständlich definieren? Darüber habe ich mir seit meinem Studium oft vergeblich den
Kopf zerbrochen. In keinem Lehrbuch fand ich eine befriedigende Antwort. In Lehrbüchern für
Physiker las ich oft, man könne Entropie nur im Rahmen der statistischen Physik richtig verstehen. Doch es erschien mir unlogisch, dass ein so allumfassendes Naturgesetz wie der Zweite
Hauptsatz der Thermodynamik, der mit der Entropie eng verknüpft ist, von den Einzelheiten
des molekularen Aufbaus der uns umgebenden Materie abhängen soll. In Lehrbüchern für Ingenieure wurde die Entropie hingegen meistens auf der Grundlage der Begriffe Temperatur und
Wärme definiert. Bei der Definition der Entropie mittels zweier Größen, die sich nur durch die
Entropie genau definieren lassen, hatte ich jedoch stets das ungute Gefühl, die Katze würde sich
in den eigenen Schwanz beißen. Bald beschlich mich ein böser Verdacht. Stehen wir bei dem
Versuch einer exakten Entropiedefinition womöglich auf verlorenem Posten?
Im Frühjahr des Jahres 2000 fiel mir ein Artikel aus der Zeitschrift Physics Today mit dem
Titel ,,A Fresh Look at Entropy and the Second Law of Thermodynamics“ (Ein unvoreingenommener Blick auf die Entropie und den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik) von den
Physikern Elliott Lieb aus Princeton und Jakob Yngvason aus Wien in die Hände. Ihre Idee,
nicht die Begriffe Temperatur und Wärme, sondern das Konzept der adiabatischen Erreichbarkeit bilde die Grundlage der Thermodynamik, begeisterte mich sofort. Zum ersten Mal in
meinem Leben wähnte ich mich einem tiefen Verständnis der Entropie nahe. Doch das Studium
der vollständigen ,,Lieb-Yngvason-Theorie“, die in einem Fachartikel der gleichen Autoren mit
dem Titel ,,The Physics and Mathematics of the Second Law of Thermodynamics“ (Physics
Reports, Band 310, 1999, Seiten 1–96) dargelegt ist, erwies sich für mich auf Grund ihres Umfanges und ihrer mathematischen Komplexität als herkulisches Unterfangen. Als ich indessen
am Ziel angekommen war, stand für mich zweifelsfrei fest, dass die Lieb-Yngvason-Theorie die
ultimative Formulierung der klassischen Thermodynamik darstellt. Obwohl sie mathematisch
anspruchsvoll ist, beruht sie auf einer so einfachen und anschaulichen physikalischen Idee, dass
jeder Student der Natur- und Ingenieurwissenschaften sie verstehen kann.
Ich entschloss mich, die Überzeugungskraft der Lieb-Yngvason-Theorie an meinen Studenten
zu testen. Die Studenten des Maschinenbaus an der Technischen Universität Ilmenau hören bei
mir Thermodynamik im Rahmen einer zweisemestrigen Vorlesung im 3. und 4. Semester. Ich
führe die Entropie auf die bei Ingenieuren übliche Weise über den universellen Wirkungsgrad
des Carnot-Prozesses und die Clausiussche Ungleichung ein. Eine Woche nachdem ich die
Entropie in der Kursvorlesung definiert hatte, lud ich die Studenten zu einer freiwilligen neunzigminütigen Abendvorlesung ein und stellte ihnen die Grundideen der Lieb-Yngvason-Theorie
vor. Ich hatte fest damit gerechnet, dass mich die etwa sechzig erschienenen Zuhörer angesichts
des mathematischen Apparates, mit dem ich sie konfrontierte, mit einem Hagel aus faulen Eiern
und matschigen Tomaten überschütten würden. Doch es geschah das Gegenteil. Auf einem
Fragebogen gaben mehr als zwei Drittel der Anwesenden an, sie hielten die Entropiedefinition
André Thess. Das Entropieprinzip. ISBN 978-3-486-58428-8. Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2007
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Vorwort
gemäß der Lieb-Yngvason-Theorie für plausibler als die in meiner Kursvorlesung verwendete.
Manche fragten mich sogar, ob ich die Lieb-Yngvason-Theorie nicht gleich in der Pflichtvorlesung einbauen könnte.
Die positive Aufnahme der Theorie durch meine Studenten ermunterte mich dazu, mein Vorlesungsmanuskript zu dem vorliegenden Buch auszubauen, um es einem breiteren Leserkreis
zugänglich zu machen. Die vorliegende Schrift ist als Ergänzung zu existierenden Lehrbüchern
der Thermodynamik gedacht und wendet sich in erster Linie an diejenigen Studenten, die mit
den gängigen Entropiedefinitionen unzufrieden sind. Der Inhalt des Buches bildet demgemäß
keinen eigenständigen Grundkurs der Thermodynamik. Er eignet sich vielmehr als Weiterbildungslehrgang, dessen Umfang an die Interessen der Studenten und an die zur Verfügung
stehende Zeit angepasst werden kann. Die Minimalvariante besteht nach meiner Erfahrung
in einer einzigen neunzigminütigen Abendvorlesung in Ergänzung zur regulären Thermodynamikvorlesung für Studenten natur- oder ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge. In dieser
Zeit kann der Dozent die Grundideen aus Kapitel 1, 2 und 3 darlegen. Besser bewährt hat
sich in Ilmenau allerdings eine an zwei aufeinanderfolgenden Abenden mit je neunzig Minuten
anberaumte fakultative Veranstaltung, wobei ich in der ersten Vorlesung die Kapitel 1–3 und in
der zweiten Vorlesung Kapitel 4 sowie ein oder zwei Beispiele aus Kapitel 5 bespreche.
Ich hoffe, das vorliegende Buch bereitet den Leserinnen und Lesern ebensoviel Freude beim
Erschließen des Entropiebegriffs, wie ich bei der Beschäftigung mit der Lieb-Yngvason-Theorie
hatte. Um allen Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass ich selbst an der Formulierung
der hier besprochenen Theorie keinen Anteil habe. Ich habe meine Aufgabe ausschließlich
darin gesehen, die mathematisch anspruchsvolle Lieb-Yngvason-Theorie in eine für Studenten
zugängliche Sprache zu übersetzen. Für sämtliche Unzulänglichkeiten und Fehler der vorliegenden Darstellung übernehme ich die Verantwortung. Die Theorie selbst ist fehlerfrei.
Es ist mir ein Bedürfnis, mich an dieser Stelle bei Herrn Professor Jakob Yngvason und bei Herrn
Professor Elliott Lieb zu bedanken, die mir zahlreiche Fragen zu ihrer Theorie beantworteten
und mich ermutigten, dieses Buch zu schreiben. Ich danke weiterhin den Herren Prof. Friedrich
Busse, Prof. Gerhard Diener, Prof. Walter John und Prof. Holger Martin für ihre wertvollen
inhaltlichen und redaktionellen Hinweise. Mein Dank gilt ferner Herrn Dr. Rainer Feistel,
Herrn Prof. Achim Dittmann, Herrn Prof. Andreas Pfennig und Herrn Prof. Roland Span für
Ihre Unterstützung bei der Beschaffung thermodynamischer Stoffdaten. Weiterhin möchte ich
Frau Cornelia Gießler, Frau Martina Klein und Frau Renate Heß für die Unterstützung bei der
Anfertigung von Abbildungen meine Anerkennung aussprechen. Schließlich danke ich dem für
mein Buch zuständigen Lektor des Oldenbourg-Wissenschaftsverlags, Herrn Anton Schmid, für
seine sorgfältige und professionelle Arbeit.
Die Autoren und das Entstehungsdatum der Bibel liegen leider im Dunkel der Vergangenheit
begraben. Für die Bibel der Thermodynamik lassen sich diese Daten hingegen genau angeben:
Sie wurde von Elliott Lieb und Jakob Yngvason verfasst, trägt den Namen ,,The Physics and
Mathematics of the Second Law of Thermodynamics“ und ist im Jahre 1999 in der Zeitschrift
Physics Reports erschienen. Möge das vorliegende Buch Sie, liebe Leserinnen und Leser, zum
Studium der Thermodynamik-Bibel anregen!
Ilmenau, Juli 2007
André Thess
André Thess. Das Entropieprinzip. ISBN 978-3-486-58428-8. Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2007
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