Stabilität und Bindung

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Inhalt PM 376/01
Familie ist Gegenhalt
im Wirbel
der Globalisierung
Stabilität
und Bindung
Alexander Gauland
„Die vermittelnden Institutionen, auf die
sich der freie Markt in der Viktorianischen Ära in England gestützt hatte, behinderten nun seinen Wiederaufbau im
ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert.
Berufsverbände, örtliche Behörden oder
stabile Familienstrukturen sah man jetzt
als Störfaktoren für höhere Mobilität und
größeren Individualismus an, mithin als
Störfaktoren für den freien Markt. Wird
dieser im spätmodernen Milieu rekonstruiert, dann gibt es nur eines: Man muss
all jene Institutionen schwächen oder zerschlagen, denen in der Gesellschaft eine
vermittelnde Funktion zukommt; und
eben das geschah in Großbritannien. Es
ist merkwürdig, dass es immer noch
Menschen gibt, die den Zusammenhang
von freiem Markt und gesellschaftlichem
Ordnungsverlust leugnen. Selbst wenn
der freie Markt als solcher stabil gehalten
werden könnte, wird er auf Institutionen,
die den sozialen Zusammenhalt gewährleisten sollen, zerstörerischen Einfluss
haben. Keine Gesellschaft, die sich für
den freien Markt entscheidet, kann dies
verhindern.“
In diesen Sätzen von John Gray aus seinem Buch Die falsche Verheißung – der globale Kapitalismus und seine Folgen liegt das
Scheitern moderner Familienpolitik begründet.
Familienpolitik hatte schon immer etwas Defensives. Sie war und ist per definitionem der Versuch, eine Institution,
auf die die Gesellschaft nicht glaubt verzichten zu können, gegen die ihr feindlichen Bedingungen in dieser Gesellschaft
zu schützen, ihr mit Geld etwas von der
Lebenskraft zu bewahren, die ihr täglich
ausgesaugt wird.
Die großen Gesellschaftstheoretiker
des neunzehnten Jahrhunderts haben die
Familie links liegen lassen. Für Karl Marx
war sie Teil des Ausbeutungsapparates,
ein Baustein der kapitalistischen Gesellschaft, die – zum Untergang verurteilt –
auch dieses Bauelement in den Abgrund
reißen würde. Burke, Tocqueville, Mill
und noch Max Weber räsonierten über
das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, Demokratie, den Machtstaat und die
Klassengesellschaft. Die Familie war ihnen funktionierende Voraussetzung von
Staat und Gesellschaft.
Das Konzept des bürgerlichen Liberalismus ging um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts davon aus, dass nicht jeder Einzelne, sondern die Familie Zelle
des gesellschaftlichen Organismus ist.
Auf politischer Ebene fand diese Familienstruktur ihre Entsprechung darin,
dass meistens nur Familienhäupter politische Rechte hatten. Neben Kirchen und
Ständen, den großen Korporationen, galt
die Familie als stabilisierender Gegenhalt
im Wirbel der revolutionären politischen
und wirtschaftlichen Neuerungen.
Allerdings – und das ist der Unterschied zu heute – stand sie nicht im Gegensatz zur kapitalistischen Produktionsweise. Im Gegenteil, sie unterstützte die
notwendige Hierarchisierung und sicherte die für eine stabile Produktion notwendigen „Sekundärtugenden“ ab. Erst
mit dem Übergang vom bürgerlichen Li-
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beralismus zur Massengesellschaft wird
die Familie zum Problemfall. Auf der einen Seite reichen die altständischen Mittel der Armenpflege nicht mehr aus, den
Schwachen das Überleben zu sichern, auf
der anderen Seite benötigt der Staat Massenheere, die eben aus jenen sozial
Schwachen rekrutiert werden müssen.
Familienpolitik beginnt als Armenund Sozialpolitik aus der Notwendigkeit
heraus, die Schutzfunktionen der Familie
für die ärmeren Schichten zu stärken.
Zwei Weltkriege erhöhten noch einmal
die Bedeutung der Familie als Schutzraum, Erziehungseinheit und Produktionsfaktor und sorgten dafür, dass die
Routineformulierung von der Familie als
der Keimzelle von Staat und Gesellschaft
mit der Realität übereinstimmte.
Dies gilt – cum grano salis – auch für
die Nachkriegszeit des wirtschaftlichen
Wiederaufbaus. Erst die Globalisierung
bringt die Lebensvoraussetzungen des
Familienverbandes ins Wanken. Dass Individualisierung und Flexibilisierung,
Beweglichkeit und just in time-Verfügbarkeit, die neuen Symbolbegriffe globalen
Wirtschaftens, langfristigen Bindungen
widerstreiten, ist nur zu offensichtlich,
auch wenn Wirtschaftsliberale und manche Konservative dem widersprechen.
„Die permanente Revolution, die der
freie Markt bewirkt, raubt der Vergangenheit ihre Autorität. Präzedenzfälle
verlieren an Bedeutung, die Fäden der Erinnerung werden durchtrennt, vor Ort
akkumuliertes Wissen in alle Winde zerstreut. Wenn und weil der individuellen
Entscheidungsfreiheit Vorrang vor jedem
gemeinsamen Gut eingeräumt wird, bekommen Bindungen etwas Widerrufliches, Provisorisches. Macht es in einer
Kultur, in der die Möglichkeit freier Entscheidung der einzige unangefochtene
Wert ist und in der Bedürfnisse für unstillbar gehalten werden, überhaupt noch
einen Unterschied, ob man die Scheidung
einreicht oder sein altes Auto gegen ein
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Die politische Meinung
neues tauscht? Die Logik des freien Marktes, die sämtliche Beziehungen auf Konsumartikel reduziert, wird von seinen
Ideologen hartnäckig geleugnet. Doch im
Alltag jener Gesellschaften, die bereits
vom freien Markt beherrscht werden, tritt
sie nur allzu deutlich zutage.“
Man kann das sehr eindrücklich an der
Diskussion um Ladenschlusszeiten und
Sonntagsruhe festmachen. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung
– Ordnung der Wirtschaft – hat der
frühere Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Herbert Giersch, das
Problem der Sonntagsruhe auf die Frage
reduziert, „ob Hinz die Möglichkeit der
kostenlosen Sonntagsruhe haben soll, indem sie Kunz dazu zwingt, sein Geschäft
ebenfalls geschlossen zu halten, obwohl
dieser der Kundschaft schon des Verdienens wegen gern zu Dienste stünde. Ohne
das Gesetz wäre Hinz nicht minder frei,
sich der Sonntagsruhe hinzugeben; nur
müsste er mit Verdienstausfall dafür bezahlen.“ Und Giersch resümiert, dass wir
zu starr und unelastisch sind, weil wir die
liberale Alternative ausblenden: Die
Menschen müssen vor allem erst einmal
dürfen, was sie wollen.
Was das für die Ehe oder die Kinder
von Hinz und Kunz bedeutet und ob die
Sonntagsruhe nicht auch ein kulturelles
Gut in der abendländischen Gesellschaft
ist, taucht in den Überlegungen gar nicht
erst auf; nichts zählt jenseits des Ökonomischen. Wenn also Anthony Giddens in
seinem berühmten Traktat über den dritten Weg verkündet: „Die Familie ist die
grundlegende Einheit der Zivilgesellschaft“, dann klingt das wie ein Pfeifen im
Walde und ist mehr ein Sollen als ein Sein.
Brauchen wir also noch die Familie und
damit auch eine Familienpolitik?
Um auf diese Frage eine Antwort zu
finden, hilft ein Blick auf die Familienpolitik der letzten Jahrzehnte. Trotz der
Geburtenhäufigkeit nach dem Zweiten
Weltkrieg und des Babybooms der Wirt-
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schaftswunderjahre, trotz des Kindergeldes und der Ausweitung der Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, trotz
des Erziehungsurlaubes für beide Elternteile und trotz der Kindergartenplatzgarantie ist die Familienpolitik keine Erfolgsgeschichte.
Die Wahlparole „Kinder statt Inder“
offenbart das Dilemma. In den Anfangsjahren der Bonner Republik, die noch
nicht die eben genannten Wohltaten
kannten, schien die Familie gefestigter,
war die Geburtenrate höher. Dabei wird
der relative Misserfolg der bundesrepublikanischen Familienpolitik von den verschiedenen ideologischen Positionen her
ganz unterschiedlich bewertet.
Wirtschaftsliberale Publizisten beklagen die „Entmündigung der Familie“ und
sehen im Bedeutungsverlust der häuslichen Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft vor allem das Ergebnis staatlichen Interventionismus. Zu viel Umverteilung – so ihre These – habe die Familie
geschwächt, weniger Umverteilung
würde mehr Geld in den Händen der Familienmitglieder belassen. Der Staat, so
das Fazit der radikalen Liberalen, habe
durch Sprengung der Familienverfassung nicht die Emanzipation von Frau
und Kindern, sondern nur die Knechtschaft aller gefördert.
Ernster zu nehmen ist der auch vom
Bundesverfassungsgericht geteilte Vorwurf an die Politik, dass sie die Familien
nicht zu viel, sondern zu wenig gefördert
habe. In seinem Urteil aus dem Jahre 1999
hat es festgestellt, dass Familien steuerlich stärker entlastet werden müssen und
der Gesetzgeber das Steuervolumen so zu
vereinfachen habe, dass das Familienexistenzminimum künftig dem Zugriff
des Staates entzogen bleibe, ohne dass
sich der Steuerpflichtige in einem Wirrwarr von Anträgen verheddere. Zu diesem Existenzminimum gehört auch ein
Betreuungs- und Erziehungsbedarf, den
alle Eltern und nicht nur Alleinstehende
geltend machen können. Im Endergebnis
heißt das auch weniger Umverteilung
und mehr eigenes Geld für Kindererziehung und -betreuung. Denn obwohl in
den vergangenen vier Jahrzehnten weniger Kinder geboren wurden, nahm die
Familienförderung pro Kind nicht zu, sie
ging sogar zurück. 1961 wurden in
Deutschland etwa 1,3 Millionen Kinder
geboren, 1998 waren es nur noch 900 000.
Um das Niveau der Familienförderung
von 1961 zu erreichen, müsste der Kinderfreibetrag heute etwa 15 300 D-Mark
betragen. 1965 bekam nur jedes 75. Kind
unter sieben Jahren Sozialhilfe, 1990 war
es jedes elfte, 1994 jedes siebte. Etwa alle
zehn Jahre hat sich der Anteil der Kinder,
die auf Sozialhilfe angewiesen sind, verdoppelt.
Noch können die Auswirkungen des
neuen Richterspruchs auf Familie und
Kinderzahl nicht eingeschätzt werden,
doch widerspräche es allen bisherigen Erfahrungen, wenn höhere Freibeträge zu
mehr Kindern führen würden. Zu familien- und kinderfeindlich sind die Bedingungen des Marktes für Berufsarbeit
während oder nach Ende der Kindererziehungszeit in der „Familienphase“.
Nachdem die wirtschaftliche Notwendigkeit der Familie dahinschwindet, andererseits Emanzipation und die Individualisierung der Lebensstile die Gleichberechtigung der Frauen beim Zugang
zur Berufsarbeit mit sich gebracht haben,
kann die Notwendigkeit der Familienförderung nur mit Argumenten jenseits der
Ökonomie begründet werden, die in ihrer
Gesamtheit allerdings auch wirtschaftliche Bedeutung entfalten. Denn noch können wir uns nicht vorstellen, wie eine Gesellschaft aus vereinzelten Individuen die
psychologische Stabilität aufrechterhalten kann, die die Bedingung modernen
Wirtschaftens ist. Es gilt das Wort des
Verfassungsrechtlers Böckenförde, nach
dem die moderne Industriegesellschaft
von Bedingungen abhängig ist, die sie
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nicht selbst schaffen kann und die auf
vorindustriellen Werten und Traditionen
beruhen. „Je mehr Individualismus und
Egoismus unsere Gesellschaft prägen“ –
so Wolfgang Schäuble –, „umso wichtiger
wird die Erkenntnis, dass die Familie das
Fundament von Staat und Gesellschaft
ist.“ Das heißt, Familienpolitik resultiert
nicht aus der christlichen Überzeugung
von der Ehe als Sakrament, sondern sie ist
Ausfluss der Überzeugung, dass der Einzelne menschlicher Bindungen bedarf,
um die Herausforderungen der Moderne
zu bestehen, also die Familie immer noch
und mehr denn je als vermittelnde Institution, als Gegenhalt im Wirbel der Globalisierung.
Wenn dies richtig ist, kann Familienpolitik nicht nur in weiterer Steuerentlastung bestehen, sie muss vielmehr
direkt in die Wirtschaft eingreifen, und
zwar gerade in dem heute unpopulären
Sinne von Regulierung, Konkurrenzausschluss, Arbeitsplatzsicherheit, Erhaltung der Sonntagsruhe – also möglichst
weitgehender Einhegung negativer Auswirkungen der Globalisierung.
Die Familie widerstreitet den modernen Kultbegriffen Flexibilität und Individualisierung, und eine christliche wie
konservative Partei muss sich entscheiden, ob sie bei ihren politischen Entscheidungen in jedem Fall dem globalen Wettbewerb Vorrang vor den Stabilitätsbedürfnissen der Familie einräumt. Doch da
hier immer wieder Arbeitsplatzsicherungsargumente den Sieg davontragen
werden, muss die Politik endlich dazu
kommen, die Leistungen in der „Familienphase“ ähnlich zu honorieren wie die
Erwerbstätigkeit, die damit auch unge-
schmälert in die Rentenversicherung einginge. Nur eine solche Gleichbehandlung
von Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit
ist auf Dauer in der Lage, die von der Globalisierung belagerte Familie zu entsetzen. Längst sind wir dazu übergegangen,
den Bauern die Landschaftspflege zu honorieren und ihr Einkommen nicht mehr
nur an die Urproduktion zu binden. Wie
viel notwendiger wäre ein Erziehungsgehalt, für das alle einkommensrechtlichen
und damit auch sozialversicherungsrechtlichen Regeln gelten und das dem
Kinderwunsch berufstätiger Paare das
Risiko des sozialen Abstiegs nimmt. Wer
darin den Triumph einer primitiv-materialistischen Anschauung sieht, die Kinder zu Vollzugshelfern der Rentenversicherung degradiert, zugleich aber der
Marktgesellschaft das Wort redet, verschließt die Augen vor den Folgen eigenen Tuns.
Dass Kinder auch Lebenssinn und Lebensglück bedeuten, die die Kritiker des
Erziehungsgehalts am liebsten in Abzug
bringen möchten, wäre dann endlich jenes mehr, ein Stück Transzendenz, das
den Verteidigungskräften der Familie ein
Prä im Abwehrkampf gegen die Globalisierung gibt.
Nur wenn Familienpolitik künftig
ebenso kraftvoll wie die der Familie widrigen Kräfte des Marktes agiert, hat sie
eine Chance, die gesellschaftliche Basis jenes Wirtschaftens zu bewahren, das Institutionen zerstört, Traditionen aufzehrt
und Werte verbraucht, die es nicht ersetzen kann. Die Familie ist neben dem Heimatbegriff, der nationalen Identität, der
Kunst und der Religion das kräftigste Widerlager, sein stärkster Gegner.
Gegengift
„Der Reiz des Familienlebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten.“
(Jean-Jacques Rousseau, 1712–1778, in Émile 1)
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