von Kurt F. de Swaaf Im Tessin macht sich die extrem schnellwüchsige Kudzu-Bohne breit. Wissenschaftler suchen nach Möglichkeiten, einer drohenden Plage Einhalt zu gebieten „EIN NATURPHÄNOMEN“ Die Bilder erinnern ein wenig an Science Fiction. Visionen von menschenleeren Städten, die Mauern, Zäune, Parkbäume und Strassenleuchten überwachsen von wucherndem Grün. Doch zum Glück trügt der erste Schein. Keine Entvölkerung, kein Weltuntergang fand statt, lediglich die Vegetation hat etwas überhand genommen. Oder genauer gesagt: eine bestimmte Pflanzenart. Ihr wissenschaftlicher Name lautet Pueraria lobata, im deutschen Sprachraum heisst sie auch Kudzu-Bohne. Ein erstaunliches Gewächs. Ursprünglich stammt es aus Ostasien und gilt dort als traditionelle Nutz- und Heilpflanze. Am meisten aber zeichnet sich P. lobata durch ihren phänomenalen, aggressiven Wachstum aus. Sie ist eine Schlingpflanze, die sich an allem, was Halt bietet, empor rankt und dabei bis zu 30 Meter lange Lianen bildet. In Bäumen und am Boden entstehen so ausgedehnte, praktisch undurchdringbare Matten. Was überwuchert wird, stirbt meist ab. Die Kudzu-Bohne neigt indes nicht nur überirdisch zu Riesenwuchs. Ihre meterlangen Wurzeln verdicken sich zu massiven Speicherorganen. Diese enthalten grosse Mengen an Stärke und werden deshalb in Japan und China für die Herstellung von Nudeln genutzt. Dank menschlicher Hilfe ist es P. lobata mittlerweile gelungen, in mehreren tropischen und subtropischen Regionen rund um den Globus heimisch zu werden. Vor allem in Teilen der USA hat sie sich dabei zu einer regelrechten Plage entwickelt. Dort pflanzte man Kudzu-Bohnen als Tierfutter und Bodenschutz gegen Erosion an und erkannte zu spät, wie raumgreifend diese grünen Eroberer sind. Inzwischen wird die Art von der internationalen Naturschutzorganisation IUCN als eine der 100 weltweit schlimmsten invasiven Pflanzenspezies eingestuft. Europa allerdings blieb bisher vor ihr verschont – leider mit Ausnahme des Tessins und Norditaliens. Über die Herkunft der KudzuBohnen in der Südschweiz weiss niemand Genaueres. „Sie wurde wahrscheinlich als Zierpflanze in Gärten eingeführt“, erklärt der Agraringenieur Mario Bertossa vom Agroscope Forschungszentrum in Cadenazzo im Gespräch mit der TZ. Das wäre nicht wirklich verwunderlich, denn die üppig wachsenden Pflanzen sind mit ihren lila Blüten durchaus hübsch anzusehen. Doch sie neigen stark dazu auszubrechen. Der Hintergrund: Die Ranken von P. lobata haben die Fähigkeit, über viele Meter hinweg bei Bodenberührung Wur- lässt. Die oberirdischen Pflanzenteile können zwar mit Herbiziden zerstört werden, aber deren Einsatz ist in Waldgebieten aus guten Gründen verboten. In offenerem Gelände ist der Einsatz von Vieh eine sinnvolle Alternative. Gerade Schafe und Ziegen fressen die saftigen Blätter und Triebe der Kudzu-Bohne gerne. Am Monte Verità wurden derweil auch Giftinjektionen zum Abtöten der Wurzeln erprobt. Ob dies erfolgreich war, steht noch nicht fest. „Wir müssen das Ende des Frühlings abwarten“, sagt Bertossa. Sie schlingt sich um alles, was Halt bietet: die Kudzu-Bohne bildet bis zu 30 Meter lange Lianen zeln zu bilden. So entsteht eine komplett neue, eigenständige Pflanze. Ähnliches beobachtet man oft bei Brombeeren. Laut Aussagen von Gärtnern kommt die Kudzu-Bohne bereits seit mindestens 25 Jahren im Tessin vor. Die älteste in unserem Kanton untersuchte Wurzel war 14 Jahre alt. Richtig auffällig wurden die Pflanzen gleichwohl erst nach der Jahrtausendwende. Sie breiteten sich immer stärker aus. 2006 legte der damalige ETH-Student Sebastiano Pron seine Diplomarbeit über die Biologie und Verbreitung von P. lobata im Tessin vor. Zu dem Zeitpunkt gab es in der Südschweiz insgesamt 24 Standorte dieser Spezies, und fünf weitere in der Nähe von Verbania auf italieni- schem Territorium. Heute sind den Fachleuten der Agroscope auf Tessiner Gebiet sogar 35 so genannte Befallsherde bekannt. Die Kudzu-Bohne ist mit Sicherheit weiter auf dem Vormarsch, meint Mario Bertossa. Im vergangenen Jahr wurde die Pflanze zum ersten Mal auch im Misox bei San Vittore, Kanton Graubünden, entdeckt. Die grössten hiesigen Bestände von P. lobata findet man an den Berghängen oberhalb des Lago Maggiore bei Ronco und Ascona sowie am Lago di Lugano in der Nähe von Ponte Tresa und Morcote. „Es ist eben eine wärmeliebende Pflanze“, betont Bertossa. In Seenähe müssen die Gewächse kaum Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ertragen. Ein grosser Vorteil. Frost lässt nämlich schnell die überirdischen Teile absterben. Die Wurzeln indes sind zäher. Dort, wo der Boden es zulässt, wachsen sie tief in den Untergrund ein. Nahe der Talstation der Seilbahn nach Cardada gruben Agroscope-Experten bereits eine circa 40 Kilo schwere Speicherwurzel aus. Offenbar finden die KudzuBohnen im Tessin überaus gute Lebensbedingungen vor. Der häufig so ergiebige Regen dürfte ebenfalls dazu beitragen. Die Gewächse brauchen relativ viel Wasser und kommen normalerweise nur in Gebieten mit Niederschlagsmengen von mindestens 1’000 Millimetern jährlich vor. Fachleute sind von der Leistungsfähigkeit von P. lobata Die meterlangen Wurzeln verdicken sich zu massiven Speicherorganen durchaus fasziniert. Die Ranken wachsen bis zu 30 Zentimeter an einem einzigen Tag. Durch Symbiose mit speziellen Bakterien können die Pflanzen im Wurzelbereich sogar ihre eigenen Stickstoffreserven bilden, erklärt Mario Bertossa. „Ein Naturphänomen.“ Doch das grosse Wuchern führt leicht zu erheblichen Kosten und Vegetationsschäden. Im Park des Centro Stefano Franscini am berühmten Monte Verità bei Ascona zum Beispiel drohen die Kudzu-Bohnen alles zu erstikken. Ein Agroscope-Forscherteam hat deshalb genau dort ein Projekt zur Untersuchung der Verbreitungsmechanismen und der Bekämpfung von P. lobata gestartet. Die Wissenschaftler wollen erproben, wie sich der Plage am besten Herr werden Sorgen bereiten dem Agraringenieur gleichwohl vor allem die Samen. Bisher herrschte in Fachkreisen die Meinung vor, dass sich P. lobata ausserhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets fast nur ungeschlechtlich, über die bereits erwähnten Triebe, vermehrt. Den Bohnen selbst attestierte man eine schlechte Keimfähigkeit, angeblich gehen nur maximal 17 Prozent auf. Das dürfte allerdings ein Irrtum sein. Mario Bertossa und seine Kollegen haben diesbezüglich Versuche mit reifen Kudzu-Bohnen von verschiedenen Tessiner Standorten durchgeführt. Das Ergebnis: Bis zu 51 Prozent der hier von den Pflanzen produzierten Samen sind keimfähig. Weitere Details werden demnächst in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht. Zudem wollen die Agroscop-Forscher bald klären, wie sich die Bohnen verbreiten. Vermutlich durch Erdverschiebungen bei Bautätigkeit oder mit Hilfe von Tieren, meint Bertossa. P. lobata, so scheint es, könnte im Tessin leicht zum Dauerbewohner werden. Hinweise auf neue Standorte von Kudzu-Bohnen werden unter www.cpsskew.ch/deutsch/ fundmeldung_invasive.htm entgegengenommen. Nahe der Cardada-Talstation wurde eine circa 40-Kilo-Wurzel ausgegraben