G9861 I N T E R N AT I O N A L E PRESSEKORRESPONDENZ Putsch in Thailand Indonesien: Breite Linke Partei entsteht Frankreich Wohin geht die Linke? Belgien Linkes Wählerbündnis plant neue linke Partei Hisbollah „Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegung Venezuela Die Revolution muss vertieft werden! Brasilien Ein tiefer politischer Bruch Bolivien Das Labyrinth der bolivianischen Revolution, Nr. 422/423 Januar/Februar 2007 € 4,– IMPRESSUM Inprekorr ist das Organ der IV. Internationale in deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internationale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politischen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internationale. Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des herausgebenden Gremiums wieder. Konto: Neuer Kurs GmbH, Postbank Frankfurt/M. 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Danielle Sabai und Jean Sanuk..................7 Putsch in Thailand – ein Rückschritt für Thailand und Südost-Asien, Danielle Sabai und Jean Sanuk........................................................................................13 Indonesien Breite Linke Partei entsteht..................................................................................................18 Hisbollah „Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegung, Nicolas Qualander.............................24 Die Hisbollah nach dem gewonnenen Krieg, Chris Harman...............................................33 Die Hisbollah aus der Sicht der KP-Libanon, Interview mit Marie Nassif-Debs................38 Venezuela Die Revolution muss vertieft werden! Stimmt für Chávez! Erklärung der IV. Internationale......................................................................................40 Brasilien Brasilienwahlen: Ein tiefer politischer Bruch, José Corrêa Leite und João Machado........42 Bolivien Das Labyrinth der bolivianischen Revolution, Pablo Stefanoni..........................................48 G8-Gipfel Erklärung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern................................................52 Gemeinsame Abschlusserklärung der G8-Aktionskonferenz „Rostock II“ vom 10. bis 12. November 2006......................................................................................52 Satz: Grafikkollektiv Sputnik Verlag, Verwaltung & Vertrieb: Neuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln. Kontaktadressen: RSB, Revolutionär Sozialistischer Bund Landzungenstraße 8, D-68519 Mannheim isl, internationale sozialistische linke Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln Soal, Postfach 395, A-1070 Wien Inprekorr, Güterstr. 122, CH-4053 Basel Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändigung im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung umgehend zurückzusenden. Liebe Leserinnen und Leser, zum wiederholten Mal bringen wir in dieser Nummer einiges zum Nahen Osten, in diesem Fall drei Beiträge zur Hizbollah. Die internationale Debatte, die sich seit dem letzten Sommer dazu entwickelt hat, schien uns so wichtig, dass wir einige der kritischeren Beiträge hier dokumentieren wollen. Den Schwerpunkt in diesem Heft bildet aber Südostasien (Thailand und Indonesien), eine Region, aus der Berichterstattungen und Analysen nicht so häufig in die linken Medien des deutschsprachigen Raumes dringen. An dieser Stelle sei noch einmal auf die günstigen Rabatte der Inprekorr für Mehrfachbezieher hingewiesen. Wer die Zeitschrift also in seinem Umfeld verkaufen kann, wende sich bitte an den Inprekorrvertrieb, um Näheres zu erfahren. Wir wünschen Euch allen ein rotes und erfolgreichen 2007. Die Redaktion Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507 Postbank Köln (BLZ 370 100 50) inprekorr 422/423 ########## Frankreich Wohin geht die Linke? „Keine Einheit zu den Bedingungen des politischen Ausverkaufs!“ Daniel Bensaïd, führendes Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), der französischen Sektion der IV. Internationale und Professor für Philosophie, hielt sich im Oktober 2006 in der Schweiz auf und sprach auf verschiedenen Veranstaltungen. Marc Gigase, Mitglied der Redaktion der Schweizer Monatszeitung La brèche, nutzte Daniel Bensaïd die Gelegenheit, um ein Interview mit Daniel Bensaïd aufzunehmen. Er geht darin auf die soziale und politische Lage in Frankreich in der Zeit vor der eigentlichen Phase des bevorstehenden Wahlkampfs ein, auch auf die Debatten, die sich um eine eventuelle Einheitskandidatur der anti-neoliberalen Linken drehen. Das Interview erschien im November 2006 in Nr. 27 der neuen Folge von La brèche, die im folgenden Monat in lignes rouges umbenannt wurde und von der revolutionär-marxistischen Organisation „Gauche anticapitaliste“ herausgegeben wird (entstanden aus einem Teil des „Mouvement pour le socialisme“). Die Hoffnungen auf eine gemeinsame Kandidatur der anti-neoliberalen Linken in Frankreich sind inzwischen vor allem durch das Festhalten der Französischen Kommunistischen Partei an ihrem Vorschlag, ihre Vorsitzende Marie-Georges Buffet solle die Kandidatin werden, gegen Null gesunken. Dies war und ist für (fast) alle anderen Kräfte in den „collectifs pour des candidatures unitaires“ (Komitees für eine Einheitskandidatur), die aus den Komitees für das „Nein“ zu dem EU-Verfassungsvertrag hervorgegangen sind, unannehmbar. Inhaltlich kritisierte die LCR vor allem die unzureichende Abgrenzung der Mehrheit in den Komitees gegen eine mögliche Beteiligung an einer Regierungskoalition mit der PS. Die Leitung der LCR (die „Direction nationale“) hat am 16. Dezember mit einer Mehrheit von 62 % das Scheitern der Verhandlungen um eine Einheitskandidatur festgestellt und die Fortsetzung der Besancenot-Kampagne beschlossen.1 Die Redaktio Interview mit Daniel Bensaïd Frage: Wie nimmt sich für die sozialen Bewegungen die kommende Periode aus, nach den massenhaften anti-neoliberalen Mobilisierungen, vor allem der großartigen Bewegung gegen den „Contrat première embauche“ (CPE – Ersteinstellungsvertrag) und der Kampagne für das „Non“ bei dem EU-Referendum? Antwort: Wenn wir zeitlich ein wenig zurück gehen, so lässt sich sagen, Siehe http://besancenot2007.org/ dass es nach einem Wiederaufleben der sozialen Bewegungen mit der Wende und den Streiks von 1995 im Jahr 2002 ein Trauma auf Wahlebene gegeben hat, da Le Pen ja in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gekommen ist. Dann hat es 2003 ein Trauma auf sozialer Ebene gegeben mit der bedeutsamen Niederlage bei der Rentenund der Bildungsreform, und das trotz der massiven Mobilisierungen. In gewisser Hinsicht gibt es eine Verbindung zwischen der Niederlage 2003 und dem Sieg des „Nein“ bei dem Referendum zur europäischen Verfassung. Für die Seite des linken „Nein“ bildete dies eine Art von Revanche für die Niederlage 2003. Dieses linke „Nein“, das sich für ein anderes Europa stark gemacht hat, hatte die Oberhand über das fremdenfeindliche, antitürkische oder rassistische „Nein“. Aber wenn der Sieg des linken „Nein“ auch wichtig gewesen ist, um ein bestimmtes Kräfteverhältnis abzustecken, so hat es doch nicht gereicht, die sozialen Niederlagen ungeschehen zu machen. Zwar sind die sozialen Bewegungen im Zusammenhang mit den Betriebsverlagerungen und den Entlassungen weitergegangen, doch sind die meisten davon defensiv gewesen und erfolglos geblieben. Selbst die Bewegung gegen das CPE, eine ganz enorme Mobilisierung mit elementaren, aber bemerkenswerten Forderungen als Achse, die die Prekarität in Frage stellen, scheint zurückgefallen zu sein. Auch wenn man Überraschungen nicht ausschließen kann, so deutet doch nichts darauf hin, dass es nach der Sommerpause eine Fortsetzung oder eine neue Runde dieser Bewegung geben wird. Wir werden auf alle Fälle etwas Zeit benötigen, um das zu beurteilen. In ein paar Jahren wird man sagen, dass die Gleichzeitigkeit dieser Bewegungen gegen die Prekarität und die Privatisierung des Bildungswesens in Griechenland, Frankreich und Chile das Vorzeichen von etwas gewesen ist; es ist aber noch zu früh, um das genauer auszumachen. Ein weiteres Problem ist, dass wir jetzt in einen Gang der Ereignisse mit einer Wahl nach der anderen kommen, zwei Jahre lang erst der Präsidentschaftswahlkampf [im März und Mai] 2007, dann die Parlamentswahl und danach die Kommunalwahlen 2008, was für die Entwicklung der Kämpfe nie besonders günstig ist. Und das gilt um so mehr, als die abhängig Beschäftigten, die Niederlagen in der sozialen Sphäre inprekorr 422/423 ########## Frankreich erlitten haben, ihre Hoffnungen auf eine über Wahlen zu erreichende Politik des kleineren Übels richten (auch wenn diese Hoffnungen nicht sehr hochfliegend sind). Das trägt derzeit zum Erfolg von Ségolène Royal bei (man wird sehen, wie das weitergeht), die zwar durchaus sondern auch eine hinreichende Bedingung für eine Neugründung auf der Linken. Auch wenn diese Schlacht sehr wichtig gewesen ist, so gibt es doch keine politische Grundlage, die für eine einheitliche Sammlung ausreichend wäre. In den Kämpfen gibt es diese Ein- massenhafte anti-neoliberale Mobilisierungen, vor allem der großartigen Bewegung gegen den CPE – Ersteinstellungsvertrag keine großen Versprechen verkörpert, doch für manche eine denkbare Abwehr gegen Sarkozy. Also eine Stimmabgabe für das kleinere Übel, wie wir das in Italien gegen Berlusconi gesehen haben. Es gibt ja in Frankreich eine Debatte darüber, dass eine Einheitskandidatur, die das linke „Nein“ vom Referendum bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen zum Ausdruck bringt, wünschenswert sei. Unterstützt die LCR diese Option und, wenn ja, unter welchen Bedingungen? Zunächst möchte ich einmal daran erinnern, dass das linke „Nein“ eine exemplarische Kampagne gewesen ist. Zuerst einmal deswegen, weil niemand (und vor allem nicht die Medien und die Generalstäbe der großen Parteien) vorhersehen konnte, dass wir die­ se Schlacht gewinnen würden. Zum anderen weil sie unter Schwierigkeiten angefangen hat und weil wir nicht nur in kleinen Versammlungen und kleinen Ortschaften Überzeugungsarbeit leisten, sondern auch auf eine Politisierung hinarbeiten mussten. Tausende Menschen sind mit dem dreihundert Seiten umfassenden Text der Verfassung, den sie mit Anmerkungen versehen hatten, zu Treffen gekommen! Es ist zu hoffen, dass davon etwas bleiben wird. Allerdings bin ich der Meinung, dass es die Illusion gibt, das „Nein“ sei nicht nur eine notwendige, heit natürlich sehr wohl, wie sich das vor kurzem wieder bei dem Kampf gegen die Vertreibungen in Cachan gezeigt hat. Es liegt auf der Hand, dass dagegen das „Nein“ keine ausreichende Grundlage für einen Wahlkampf, also eine programmatische Frage, d. h. ein politisches Projekt ist. Anzeichen dafür, dass es nicht reicht, haben wir in den weiteren Monaten des Jahres 2005 nach dem Referendum sehr rasch gesehen; drei Monate danach fand der Parteitag der PS [der Sozialistischen Partei] statt, auf dem es einen Konsens gab und sich die gesamte Partei, einschließlich Fabius hinter die Seit etwa drei Jahren war ein heruntergekommenes leerstehendes Gebäude auf einem Universitätsgelände in Cachan (Ortschaft südlich von Paris, Département Val-de-Marne) von ca. 1000 schwarzafrikanischen MigrantInnen besetzt worden, darunter viele Frauen und ca. 200 Kinder; etwa die Hälfte von ihnen haben keine ausreichenden Aufenthaltspapiere. Am 17. August, mitten im Sommer 2006, wurde ein gerichtlicher Beschluss, den der Eigentümer, das staatliche Studentenwerk, im April 2004 erwirkt hatte, auf Anordnung des Präfekten des Département vollstreckt: kollektive Vertreibung. Das Vorgehen der staatlichen Behörden, wie es von dem Innenminister Nicolas Sarkozy gewollt war, recht genau zehn Jahre nach dem Eindringen der Polizei in die Kirche Saint-Bernard, einer der Höhepunkte der beginnenden Bewegung der „sans-papiers“ und der Solidarität mit ihnen, sowie der Widerstand derer „von Cachan“ lösten trotz der Urlaubsperiode eine große Welle der Solidarität aus. Laurent Fabius, ab 1981 Haushaltsminister, ab 1983 Minister für Industrie und Forschung, 1984 bis 1986 Premierminister unter Präsident Mehrheit gestellt hatte, die für das „Ja“ zu Felde gezogen war. Man könnte auch die Krise von Attac [Frankreich] nennen, bei der es abgesehen von den Kriterien des persönlichen Verhaltens zugleich um eine Krise des politischen Projekts und der Perspektiven geht. Auf der Nationalen Konferenz im Juni 2006 hat die Mehrheit der LCRMitglieder sich dafür entschieden, ihre Kampagne zu starten und Olivier Besancenot kandidieren zu lassen. Meiner Ansicht nach ist er der beste Kandidat aus der Reihe derjenigen, die das „Nein“ repräsentieren, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt des Inhalts seiner Ausführungen als auch wegen seines aktivistischen sozialen Profils. Diese Kandidatur wird sich bemühen, ein Echo der Bestrebungen und der Forderungen aus der Welt der Arbeit und der Jugend zu bilden. Es wird eine Kandidatur, die sich an all diejenigen richtet, die einen unnachgiebigen Kampf gegen die Rechte und die extreme Rechte führen wollen, einen Kampf, der zu der Suche nach einer wirklich antikapitalistischen und vom Sozialliberalismus unabhängigen Alternative beiträgt. Die LCR erklärt dennoch, dass sie nach wie vor eine gemeinsame Kandidatur befürwortet, die in der Kontinuität und in der Logik des „Nein“ steht. Olivier ist bereit dazu, seine Kandidatur zugunsten eines gemeinsamen Kandidaten oder einer Kandidatin zurückzuziehen – unter der Bedingung, dass es ausreichende politische Garantien gibt und dass nicht nachher alles für umsonst war. Denn unter der Hypothese eines Siegs der Linken (der übrigens nicht sicher ist) stellt sich das Problem der parlamentarischen und Regierungskoalition. Es kommt nicht in Frage, für einen Kandidaten oder eine Kandidatin Wahlkampf zu machen, der bzw. die am Tag danach Sport- oder Landwirtschaftsminister von Strauss-Kahn wird. François Mitterrand, 2000 bis 2002 Wirtschaftsund Finanzminister im Kabinett von Lionel Jospin, hatte sich für ein Nein zu dem Verfassungsvertrag ausgesprochen. In seine Amtszeit fällt das Steuersenkungsprogramm vom August 2000, mit einem Entlastungsvolumen von 120 Millionen Francs die „größte Steuererleichterung seit 50 Jahren“ (L. Fabius). Dominique Strauss-Kahn, einer der „éléphants“ (also der Schwergewichte) der Sozialistischen Partei, galt vor der Urabstimmung unter den Parteimitgliedern als einer der Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur; von 1997 bis 1999 war er Wirtschafts- und Finanzminister in der dritten Regierung der „cohabitation“ (Kooperation von Staatsoberhaupt und Regierungs­ inprekorr 422/423 ########## Frankreich Nun sind in dieser Hinsicht die Vorzeichen nicht dazu angetan, Sorgen zu zerstreuen. Bei den Gemeindewahlen, die vor kurzem [im Oktober 2006] in Bordeaux stattgefunden haben, hat die kommunistische Partei (PCF) ein Bündnis mit der PS vorgezogen, während wir vorgeschlagen hatten, eine Liste aufzustellen, die von den Kräften des linken „Nein“ getragen wird. Die recht tief gespaltene PCF braucht eine eigene Kandidatur, um ihre Einheit zu bewahren, und vor allem, um ihr parlamentarisches Überleben mit der PS auszuhandeln. Ich glaube daher, dass es – angesichts des Laufs der Dinge – eine BesancenotKandidatur geben wird. Für euch ist die Ablehnung jedweder parlamentarischer und Regierungsallianz eine nicht verhandelbare Bedingung? Es wird mit Sicherheit Genossen und Genossinnen geben, mit denen wir die Kampagne für das „Non“ geführt haben, oder innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung, die enttäuscht sein werden. Das Streben nach Einheit der „Nein“-Kampagne ist legitim und verständlich, da gibt es keinen Zweifel. Es wäre aber noch schlimmer, zu Illusionen noch weitere hinzuzufügen und für eine dritte Auflage der pluralen Linken zu bürgen, daraus geht die Front National ja systematisch gestärkt hervor. Eine Einheit zu den Bedingungen des politischen Ausverkaufs kommt für uns nicht in Frage. Es stimmt, dass unter den Mitgliedern der Ligue unterschiedliche Optionen zu den möglichen Szenarien (Einheitskandidatur oder Kandidatur der LCR) vertreten werden, aber es gibt doch eine grundlegende Übereinstimmung in der Einschätzung, dass es die Möglichkeit einer Koalition mit der PS nicht gibt, auf keiner Ebene – mit der PS, die sich hinter der Mehrheit zusammengefunden hat und die sich in die Kontinuität der sozialliberalen Politiken stellt. Ich meine übrigens: Die Auffassung, dass eine Neuauflage der pluralen Linken nicht akzeptabel ist, und dass die politische Linie, für diese Regierungspolitik Mitverantwortung zu übernehmen, nicht in Betracht gezogen werden sollte – dass dies Überzeugungen sind, die weit über die Reihen der LCR hinaus geteilt werden. chef aus unterschiedlichen politischen Lagern) unter Präsident Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin. inprekorr 422/423 Auf der Nationalen Konferenz im Juni 2006 hat die Mehrheit der LCR-Mitglieder sich dafür entschieden, ihre Kampagne zu starten und Olivier Besancenot kandidieren zu lassen. Auch der internationale Kontext liefert hier eher Alarmsignale. Auf dem Sozialforum in Florenz habe ich 2002 gehört, welche Bilanz Bertinotti von der Regierungsbeteiligung der französischen kommunistischen Partei gezogen hat, und drei Jahre danach stimmt seine eigene Partei für die Entsendung der Truppen nach Afghanistan und für den Haushalt der italienischen Regierung. Das beweist, dass wir es auf der Linken mit ausgesprochen instabilen Verhältnissen zu tun haben. Weil die sozialen Kämpfe nicht mit den erwarteten Siegen enden, werden die Hoffnungen, die Einschnitte wenigstens abzufedern, auf die Wahlebene übertragen. Doch sind die Kräfteverhältnisse auf diesem Feld noch ungünstiger als in der sozialen Sphäre, und so tut sich die Logik des Realismus noch weiter auf. Bertinotti hat das auf recht grobschlächtige und skandalöse Art zum Ausdruck gebracht, indem er gesagt hat: Da die Antikriegsbewegung nicht stark genug gewesen ist, um den Krieg zu verhindern, muss man heutzutage in der Regierung Prodi von innen heraus Schadensbegrenzung betreiben. Aber wie kann man einerseits den Sieg des linken „Non“ bei dem europäischen Referendum in Frankreich begrüßen und anderseits Prodi unterstützen, der zu einer abgespeckten Version des Verfassungsvertrags anstiften wird? Ich denke, allgemeiner betrachtet, dass es eine Phase erneuter Mobilisierung der sozialen Bewegung gibt, auch wenn man die Frage der historischen Perioden nicht zu hastig entscheiden soll; die soziale Bewegung hat einen gewissen Stand erreicht, erzielt aber zurzeit keine bedeutsamen Siege mehr. Von daher wird eine erneute Verknüpfung des Sozialen mit dem Politischen wieder ganz wichtig, und ein politisches Projekt, das nicht klar umrissen ist und von soliden Überzeugungen getragen wird, dürfte durch Aufs und Abs bei Wahlen hin und her geworfen werden. Für welche Sofortmaßnahmen tritt die LCR unter diesen Rahmenbedingungen in diesem Wahlkampf ein? Welche Sofortmaßnahmen stellen eurer Auffassung nach Richtpunkte für den Weg zu einem Bruch mit dem Kapitalismus dar? Entscheidend ist die Regierungsfrage. Denn wenn man die Liste der Forderungen anschaut, dann sind sowohl die PCF als auch der linke Flügel der Grünen in der Opposition, „da fehlt es an nichts“. Zu den Forderungen, die vorgeschlagen werden, damit man auf dem Weg einer konsequenten anti-neoliberalen, d. h. antikapitalistischen Politik vorankommt, gehören selbstverständlich die umgehende Anhebung der Gehälter und der sozialen Mindestsätze, das Veto gegen börsenbedingte Entlassungen und Betriebsverlagerungen, die Annullierung der durchgeführten Privatisierungen oder auch ein neuer Anlauf für eine Politik von öffentlichen Diensten, koordiniert auf europäischer Ebene. Die Europafrage ist umso wichtiger, Belgien als Frankreich 2008 in der Europäischen Union den Vorsitz haben wird, wir werden einen Vorschlag für ein anderes Europa verfechten müssen. Um aber Spaltungen innerhalb der PS und zwischen PCF und PS zu vermeiden, relativieren diese Parteien die Trennungslinie, die das „Nein“ dargestellt hat. Das gleiche Problem stellt sich in Bezug auf die „sans-papiers“ [die „ohne (offizielle) Papiere“]. Solange die Sozialdemokratie und die PCF in der Opposition sind, führen sie einen humanistischen Diskurs und beeilen sich, zur Turnhalle von Cachan zu kommen. Wir sollten uns aber an die Gesetze von Chevènement erinnern, die sich gegen die MigrantInnen richten und die in der Zeit der pluralen Linken verabschiedet worden sind. Das überschneidet sich mit der Frage, inwiefern wir uns an einer Regierung des Bruchs beteiligen oder sie unterstützen könnten (obwohl sich das Problem nicht stellt). Dafür wäre es nötig, dass ein Set von vier oder fünf Maßnahmen umgesetzt würde, die eindeutig in Richtung eines Kurswechsels in der Politik auf den Gebieten öffentliche Dienste, Entlassungen, Europafrage, Entsendung von Truppen ins Ausland und Einwanderungspolitik gingen. Nun deutet aber nichts auf einen derartigen Kurswechsel hin. Im Gegenteil, es besteht aller Anlass, von dem Szenario einer Wiederholung auszugehen. Und davon profitiert die radikale Linke? Klar ist, dass eines der Probleme darin besteht, der extremen Rechten das „Sich-Kümmern“ um die sozialen Nöte streitig zu machen. So gesehen fängt die Kandidatur von Arlette Laguiller und Lutte Ouvrière (LO), die komplementär zu der von Olivier Besancenot sein kann, die soziale Revolte auf, welche von einem Teil der Wählerschaft zum Ausdruck gebracht wird. LO erreicht in der Tat Bevölkerungsteile, die von den Ver- heerungen, die der Neoliberalismus anrichtet, schwer getroffen und gebeutelt worden sind. Ich habe das selber vor Ort mitbekommen, bei Unilever in Lille, ein Betrieb für Waschpulver, bei dem die Beschäftigten die Schließung und Entlassungen mitmachen mussten, wobei dieser Laden schwarze Zahlen geschrieben hat. Zwei Aufkäufer, erst ein britischer Investor, der sechs Monate da war, dann ein spanischer, der noch mal ein halbes Jahr da war, haben die Beihilfen des Regionalrats eingesackt und waren dann mit diesem Geld auf und davon. In dieser Gegend ist die Front National stark verankert, und man merkt, dass es um Haaresbreite darum geht, auf welche Seite die abhängig Beschäftigten schwenken. Der Kampf mit der extremen Rechten spielt sich auch dort im sozialen Bereich ab. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedrich Dorn. Linkes Wählerbündnis plant neue linke Partei David Dessers Am Samstag dem 28. Oktober entschieden 650 Menschen aus verschiedenen politischen und sozialen Bewegungen in Flandern, Brüssel und Wallonien gemeinsam bei den Bundeswahlen im Mai 2007 in Belgien anzutreten. Diese neue linke Bewegung ist der politische Ausdruck des Arbeitskampfes gegen die neoliberalen Angriffe der Regierung auf die Renten und die soziale Absicherung im vergangenen Jahr. Die Bewegung hat die Unterstützung von drei ehemaligen Führungspersönlichkeiten der sozialdemokratischen und der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung. Einer von ihnen ist George Debunne, ehemaliger Präsident der ETUC. Demonstration am 28. Oktober 2005 Am 28. Oktober 2005 demonstrierten mehr als 100 000 Gewerkschafter in den Straßen von Brüssel gegen einen „Der Generationspakt“ genannten Plan der Regierung. Verordnet durch die Strategie von Lissabon startete die belgische Regierung, eine Koalition aus Sozialdemokraten und Liberalen, einen Angriff auf die Rentenkassen und andere soziale Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse. Diese soziale Bewegung endete auf Grund der Tatsache mit einer Niederlage, dass nicht eine der im belgischen Parlament vertretenen Parteien bereit war, die Bewegung auf politischer Ebene zu verteidigen. Im Sommer 2005 organisierten die ehemaligen sozialdemokratischen Mitglieder des Parlaments Jef Sleeckx und Lode Van Outrive zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten der ETUC, George Debunne eine Kampagne gegen die EU- Verfassung und eine Petition für ein Referendum der Bevölkerung Belgiens. Als sich die Bewegung gegen den „Generationspakt“ im Herbst 2005 erhob, stellten sich die drei ehemaligen Führer der sozialistischen Bewegung Belgiens auf die Seite der Gewerk- schaften gegen die sozialdemokratischen Parteien SP.A (Flandern) und PS (Wallonien). Am 15. Oktober 2005 versammelte sich Jef Sleeckx mit 150 Gewerkschaftern vor den Toren des Parteitages der SP.A. Sie trugen Transparente mit dem Slogan: „Wir drehen der SP.A. den Rücken zu“, was im wahrsten Sinne des Wortes ein Wendepunkt war. Von diesem Moment an luden Gewerkschafter und politische Organisationen Jef Sleeckx zu ihren Treffen im ganzen Land ein damit er seine Position erläutern konnte. Mehr und mehr wurde Jef Sleeckx klar, was er wollte: die Bildung einer neuen linken Partei in Belgien, um die Arbeiterbewegung zu verteidigen und neoliberale Praktiken zu stoppen. Er schuf das „Komitee für eine andere Politik“ (Comité voor een Andere Politiek, CAP), ein flämischer Ausschuss zur Vorbereitung einer linken politischen Alternative auf nationaler Ebene für die Bundeswahlen 2007. Gleichzeitig entwickelte sich in Wallonien eine ähnliche Bewegung, inprekorr 422/423 ########## THAILAND genannt „ Une Autre Gauche“ (Eine andere Linke). Diese Bewegung war das Resultat eines Aufrufs in einer Zeitung, in dem eine Gruppe linksgerichteter Menschen die Notwendigkeit einer neuen politischen Kraft links der PS und der Grünen vorbrachten. Die PS war und ist immer noch im Griff einer langen Serie von Korruptionsskandalen und war als Regierungspartei, genau wie die SP.A., mitverantwortlich für die neoliberale Politik und die Angriffe auf die Arbeiterbewegung. Im Frühling 2006 wurden die beiden Initiativen gegründet und begannen mehr und mehr zusammenzuarbeiten. Die CAP in Flandern hatte die Unterstützung der SAP-POS, der belgischen Sektion der IV. Internationale, der LSP, der Sektion der CWI und Teilen der CP, „Une Autre Gauche“ in Brüssel und Wallonien wurden unterstützt von der SAP- POS und anderen politischen Gruppen. Im Juni 2006 entschieden sich die CAP und „Une Autre Gauche“ dafür, gemeinsam eine Konferenz zu organisieren, um diejenigen zusammenzubringen, die eine politische Alternative für die Bundeswahlen 2007 aufbauen wollten. Jef Sleeckx auf dem Treffen der POS/SAP Das ist die Konferenz vom Samstag, dem 28. Oktober, die mit der Beteiligung von 650 AktivistInnen der antikapitalistischen Linken, den Gewerkschaften und der sozialen Bewegung ein großer Erfolg wurde. Am Nachmit- tag bereiteten die Teilnehmer in zwölf verschiedenen Arbeitsgruppen (Arbeit, öffentlicher Dienst, Schutz der GewerkschafterInnen, Umwelt, internationale Solidarität, Frauenfragen usw.) ein zukünftiges Programm für die Bewegung vor. Am Abend stimmte die Konferenz mit großer Mehrheit für die Teilnahme an den Bundeswahlen im Mai 2007. Die Konferenz wurde zu einem der wichtigsten Ereignisse für die antineoliberale und antikapitalistische Linke in Belgien seit vielen Jahren. David Dessers ist Mitglied der Socialistische Arbeiderspartij/Parti ouvrier socialiste, belgische Sektion der IV Internationale. Aus: IV Online Magazin: IV383- November 2006 Übersetzung: Spawn Staatsstreich in Thailand – eine Endlosspirale? Danielle Sabai und Jean Sanuk Der Putsch in Thailand am 19. September 2006 beendet eine sechsjährige und somit bisher längste Ära parlamentarischer Demokratie im Lande. Er ist der bislang letzte in einer langen Reihe von insgesamt 18 Staatsstreichen unter der seit 1946 währenden Regentschaft von König Bhumipol. Dabei sind noch nicht einmal die von den Royalisten angezettelten Putsche zur Wiederherstellung der absoluten Monarchie in den 30er Jahren mitgezählt. hatte sich die Bourgeoisie zum ersten Mal entschlossen, die Amtsgeschäfte selbst zu führen, wie nachfolgender Artikel zeigt. Der jüngste Staatsstreich dokumentiert in gewisser Hinsicht die Rückkehr zur „Normalität“ im politischen System Thailands und räumt mit der Illusion auf, dass wirtschaft- Kapitalistische Entwicklung ohne demokratische Revolution Wie lassen sich dieser traurige Rekord und die gegenwärtigen Ereignisse erklären? Ein Blick in die zeitgenössische Geschichte Thailands zeigt, dass zwischen Monarchie, Armee und Staatsapparat ein ununterbrochener Kampf um die Macht geführt wird. Hinter den Kulissen agiert das Handels- und später Industriekapital und sucht sich jeweils die geeignetsten Vertreter aus. Mit dem Regierungsantritt von Thaksin inprekorr 422/423 Gestürzter Premierminister Thaksin Shinawatra ########## THAILAND liche Entwicklung und das Ende des Kalten Krieges zwangsläufig das Ende der Diktaturen bedeuten. Dies hat jedoch nichts mit Schicksal oder kultureller Besonderheit zu tun: Die Thailänder streben nach Demokratie wie die anderen Völker auch. Davon zeugen die Massenmobilisierungen der 70er und 90er Jahre. Aber die Volksbewegung konnte der brutalen Repression nicht standhalten und war wiederholt gezwungen, sich neu aufzubauen. Der Ursprung für diese quasi strukturellen autoritären Züge des politischen Lebens in Thailand liegt in der Entwicklung des wirtschaftlichen und politischen Systems. Der wichtigste, prägende Faktor war die verspätete industrielle Revolution, die wie in den meisten Ländern Südost-Asiens erst in den Jahren 1955–1970 ihren Anfang nahm und in den 80er und 90er Jahren Auftrieb erhielt. Infolgedessen blieb die Arbeiterklasse lange weit hinter der Bauernschaft zurück und war als politischer Faktor bei der Herausbildung eines politischen Systems nahezu bedeutungslos. Erstmals 2006 machen die thailändischen Bauern weniger als 50% der erwerbstätigen Bevölkerung aus. In den riesigen Industriezonen im Großraum von Bangkok und weiter im Südosten in Richtung Kambodscha erlebt man, wie die industrielle Revolution voranschreitet und eine millionenfache Arbeiterklasse entsteht – auf geographisch engstem Raum, mit geringem gewerkschaftlichem Organisationsgrad und v. a. politisch heimatlos. Die armen Bauern besonders im Nordosten Thailands unterstützten seit jeher sozialdemokratisch oder kommunistisch gefärbte politische Kräfte, ohne dabei aber wirklich Einfluss auf die Politik in Bangkok nehmen zu können. Die städtische Arbeiterklasse entwickelte sich erst in den Jahren 1960 –1970 zu einer relevanten sozialen Größe und unterlag dabei so starken Repressionen, dass sie heute im klassischen Wortsinn quasi inexistent ist – sehr zur Freude des thailändischen und ausländischen Kapitals. Der zweite prägende Faktor beruht auf der geschichtlichen Besonderheit Thailands im Vergleich zu seinen Nachbarn. Anders als die anderen asiatischen Länder war Thailand niemals eine direkte Kolonie der Westmächte oder Japans, auch wenn es deren Einfluss unterlag. Dies erklärt u.a. das lan ge Überleben der absoluten Monarchie bis ins Jahr 1932. In den anderen asiatischen Ländern war die Monarchie von den Kolonialmächten unterdrückt oder an den Rand gedrängt worden. Die nationalen Befreiungskriege in Vietnam, Laos, Kambodscha und China, und – vor einem anderen Hintergrund – der Krieg in Korea oder die Landung Tschiang Kai Scheks auf Taiwan haben die Geschichte dieser Länder grundlegend umgewälzt. Nicht so in Thailand, das niemals Kolonie war oder von den Alliierten wegen Kollaboration mit Japan im Krieg „bestraft“ worden wäre. Insofern gab es keine bürgerlich demokratische Revolution oder bedeutsamen Konflikte, die einen Bruch in der Geschichte erzeugt hätten, sondern eine geschichtliche Kontinuität ab der Gründung der konstitutionellen Monarchie 1932. Von der absoluten Monarchie zur Diktatur Am 24. Juni 1932 beendete eine dreistündige Palastrevolution die absolute Monarchie in Thailand. Die „Revolution von 1932“, wie sie großspurig genannt wird, war das Werk einer etwa 100 Personen starken Gruppierung, der „Volkspartei“, die sich zu gleichen Teilen aus Offizieren unter dem Befehl von Phibun und Zivilisten unter der Führung von Pridi zusammensetzte. Ihre Ausbildung in Europa ließ sie nach höherer Verantwortung in Armee und Staatsapparat streben. Aber diesem Begehr stand der zumeist ungebildete Adel, der das Machtmonopol beanspruchte, entgegen – wie sie durchaus wussten. Weit davon entfernt, Republikaner zu sein, versuchten sie daher den König zu überzeugen, dass er die Macht doch besser teilen solle und im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie auch wesentliche Vollmachten behalten würde. Die erste Regierung wurde somit von einem Vertreter des Königs geführt, der im Mai 1933 gegen Pridi putschte, als dieser eine „freiwillige Verstaatlichung von Ländereien“ plante, wonach der Adel seinen Landbesitz an den Staat verkaufen solle. Pridi wurde ins Exil gezwungen, die Offiziere der Volkspartei in entlegene Gegenden versetzt und ein antikommunistisches Gesetz gegen „jedweden Versuch, das Privateigentum antasten zu wollen“, verabschiedet. Der Sieg der Royalisten war von kurzer Dauer, da die jungen Offiziere der „Volkspartei“ im Juni 1933 einen erfolgreichen Gegenputsch durchführten, der Pridi wieder zur Regierung verhalf. Im Oktober 1933 organisierten die Royalisten einen erneuten Staatsstreich, indem sie Truppen aus der Provinz in Marsch auf die Hauptstadt setzten. Die von Phibun kommandierten und vom Business finanzierten Truppen aus Bangkok obsiegten, aber die Regierung verzichtete auf harte Repressionsmaßnahmen gegenüber den Royalisten und lud sie vielmehr zu Verhandlungen über einen politischen Kompromiss ein. Der Grund für diese politische Instabilität lag darin, dass die Bevölkerung von jeder Regierungsteilhabe ausgeschlossen war und diese der Armee mit ihren wechselnden Fraktionen vorbehalten blieb. Die Verfassung von 1932 hat keine wirklich demokratischen Verhältnisse herbeigeführt, die es der Bevölkerung erlaubt hätten, ihre Vertreter frei zu wählen und nötigenfalls zu unterstützen. Ein Parlament wurde wohl geschaffen, aber bloß die Hälfte der Sitze per Wahl besetzt und die andere vom König und der aus der „Volkspartei“ zusammengesetzten Regierung ernannt. Die Bildung politischer Parteien wurde 1933 erlaubt, ebenso erhielten die Arbeiter das Recht auf Gründung von Gewerkschaften. Aber bereits beim ersten Streik in den Reismühlen wurden die Gewerkschaftsführer verhaftet und die Gewerkschaften verboten. Ebenso wurden politische Parteien verboten, als die Royalisten versuchten ihre eigene Partei zu gründen, eine eine Mehrheit in der Abgeordnetenversammlung zu erzielen. Die politischen Freiheiten wurden aufgehoben und die Presse nach einigen Monaten mundtot gemacht. In den Folgejahren wechselten sich drei Clans an der Regierung ab: die Royalisten, die die absolute Monarchie wieder herstellen und gegen die vermeintlichen Kommunisten vorgehen wollten, und die beiden Regierungsfraktionen der „Volkspartei“, die Zivilisten und die Militärs. Im Wechsel wurde geputscht und gegengeputscht, ohne dass das Volk sich jemals zugunsten der ein oder anderen Fraktion erhob. Die ersten Verlierer waren die Royalisten: nach dem gescheiterten Staatsstreich von 1933 setzten sich der König und das Gros des Adels nach inprekorr 422/423 ########## THAILAND Europa ab. 1935 dankte der König ab. Wenn sie wirklich gewollt hätte, wäre es damals ein leichtes für die „Volkspartei“ gewesen, die parasitäre und abgewirtschaftete Monarchie für immer abzuservieren. Aber die „Revolutionäre“ von 1932 wollten von einer Republik nichts wissen, die eine Demokratisierung und eine wachsende Beteiligung des Volkes an der Politik hätte herbeiführen können. Die „freiwillige Verstaatlichung“ der Ländereien des Adels wurde fallen gelassen, obwohl sogar Stimmen laut wurden, die Besitzungen des Königs zu verkaufen, um somit die von der Krise von 1929 angeschlagene Wirtschaft wieder ankurbeln zu können. Die Regierung zog es jedoch vor, die Monarchie zu bewahren und bestimmte irgendeinen obskuren und damals 10 Jahre alten Neffen des Königs als Nachfolger. Allerdings blieb Thailand 16 Jahre lang – bis 1951 – ohne amtierenden und residierenden König. Die zweiten Verlierer waren die Zivilisten unter der Führung Pridis. Da das Überleben der Regierung davon abhing, dass die Militärfraktion der „Volkspartei“ die von den Royalisten befehligten Provinztruppen mit Hilfe der Zentraltruppen in Schach halten konnten, wuchs der Einfluss der Armee, nachdem die royalistische Gefahr einmal beseitigt war. Die Truppenstärke wurde verdoppelt und das Militärbudget stieg von 1932 bis 1937 auf 26% der Staatsausgaben. Der Führer der Militärfraktion Phibun vereinte 1938 neben seinem Posten als Armeechef auf sich das Amt des Premierministers sowie des Verteidigungs- und Außenministers. Das Parlament wurde zur Raison gerufen und der Militärhaushalt auf ein Drittel erhöht. Phibun schloss ein Bündnis mit der japanischen Regierung und gründete eine Jugendbewegung nach dem Vorbild der Hitlerjugend. Theorien von der Überlegenheit der „Thai-Rasse“ machten die Runde, ebenso rassistische Kampagnen gegen die starke chinesische Minderheit in Bangkok und die anderen ethnischen Minoritäten. Die Armee trieb auch die Industrialisierung voran, indem das Verteidigungsministerium staatliche Textilund Erdölunternehmen gründete. 1941 erweiterte ein „nationaler Industriainprekorr 422/423 lisierungsplan“ die Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums um einen ganzen Komplex von Aktivitäten im Industrie-, Landwirtschaft- und Transportsektor. Dahinter stand die Absicht, die bestehenden Unternehmen in diesen Sektoren, deren Eigner zumeist Chinesen waren, zu kontrollieren oder gar zu enteignen, „um eine thailändische Wirtschaft für die Thailänder zu schaffen“, weswegen ihnen serienweise Arbeitsplätze exklusiv vorbehalten waren. 1939 wurde eine Nationalitätenverordnung verabschiedet, die die ethnischen Minderheiten verpflichtete, Thailänder zu „werden“, d.h. die Sprache zu erlernen, ihren Namen zu ändern und ihre Kinder auf thailändische Schulen zu schicken. Viele chinesische Unternehmer wurden auf diese Art zu „Thailändern“ und leiteten die neuen staatlichen Unternehmen. Somit schuf der Nationalismus eine Klammer zwischen Industrie- und Handelskapital sowie dem zivilen und militärischen Staatsapparat. Als Palastrevolution wurde die Errichtung der institutionellen Monarchie zum konstitutiven Merkmal Thailands. Jenseits aller Wendungen infolge der zahlreichen Putsche und Gegenputsche in den Folgejahren überdauerten all die­ se genannten strukturellen Merkmale und bestimmen auch das heutige politische Leben in Thailand. Pridi und die Exilroyalisten, die auf Seiten der Alliierten gekämpft hatten, verdrängten Phibun 1944 wieder von der Regierung. Nach dem 2. Weltkrieg wurde auf Pridis Betreiben auch wieder das Königshaus in das politische und wirtschaftliche Geschehen integriert. Nachdem er für die Royalisten und die Militärs seine Schuldigkeit erbracht hatte, wurde Pridi wieder gestürzt und ins Exil gezwungen. Im Kampf um die Macht standen sich nunmehr die Royalisten mit der von ihnen gegründeten „Demokratischen Partei“ und die Armee gegenüber. 1951 akzeptierten die Generäle die Rückkehr des Königs unter der Bedingung beschnittener Kompetenzen. Als er sich weigerte, organisierten sie einen erneuten Staatsstreich und zwangen ihm diese Machtteilung durch eine Verfassungsänderung, die die Ernennung der ########## THAILAND die Provinzen, um „großzügig“ wohltätige Werke und Entwicklungshilfe für die Landwirtschaft zu tätigen. Dadurch erlangte er eine gewisse Popularität, da soziale Sicherung damals im Land noch ein Fremdwort war, und es ließ ihn als Retter der armen Bauern erscheinen, die die Verlierer der Industrialisierung waren. Die Thailänder streben nach Demokratie wie die anderen Völker auch. Davon zeugen die Massenmobilisierungen der 70er und 90er Jahre. Aber die Volksbewegung konnte der brutalen Repression nicht standhalten und war wiederholt gezwungen, sich neu aufzubauen Mehrheit der Parlamentsabgeordneten und die Oberhand der Militärs über die Regierung regelt, auf. Dies hinderte den König freilich nicht, bei den Nominierungen mitzumischen. Der Sieg der KP Chinas 1949 und die Unabhängigkeitskriege in den Nachbarländern erwiesen sich für die Bourgeoisie, das Militär und die Royalisten als wahrer Glücksfall, da die USA Thailand zu einer Bastion des antikommunistischen Kampfes machten. 1969 waren 45 000 US-Soldaten in Thailand stationiert. Drei Viertel der über Nordvietnam und Laos zwischen 1965 und 1968 abgeworfenen Bomben stammten aus Thailand. 11 000 thailändische Soldaten kämpften in Südvietnam und Tausende waren als Söldner in den Krieg gegen Laos involviert. Nach 1953 überstieg die Militärhilfe der USA das Verteidigungsbudget in Thailand um das Zweieinhalbfache, was den davon profitierenden Militärs die Möglichkeit zu einem erfolgreichen Staatsstreich verschaffte. Es entstanden neue Industrie10 und Dienstleistungszweige zur Belieferung der US-Armee, was das Vermögen der thailändischen Bourgeoisie, aber auch der Generäle mehrt. Wie in den 30er Jahren gründen die Militärs Unternehmen, um direkt vom Wirtschaftsboom zu profitieren, oder sie verschaffen sich zahlreiche Sitze in den Aufsichtsräten, um sich indirekt zu bereichern. Die Monarchie wurde im Einvernehmen zwischen den USA und den Generälen wieder hergestellt, um die nationale Einheit und die politische Stabilität zu stärken. 1957 – sechs Jahre nach der Rückkehr des neuen Königs Bhumipol – veranlasste der damalige Diktator Sarit eine Krönungszeremonie, um dem König eine hinreichende moralische und politische Legitimität zu verschaffen. Im Unterschied zu den Königen Anfang des Jahrhunderts, die Modernität verkörpern wollten, indem sie „westliche Werte“ kopierten und sich nur selten in der Öffentlichkeit präsentierten, wurden jetzt die mittelalterlichen Rituale in zeitgenössischer Form wiederbelebt und König Bhumipol tourte durch Ein Royalist wurde zum Bildungsminister ernannt, und neue Schulbücher sollten den König als Vater der Nation und die ThailänderInnen als seine Kinder darstellen. Die USA trugen ihr Scherflein bei, indem sie in großem Umfang Porträts des Königs herstellen ließen, die dann im ganzen Land verbreitet wurden. General Sarit konnte sich somit die zunehmende Popularität des Königs zunutze machen, um dem Staatsstreich gegen Phibun, den er 1957 organisierte, Legitimität zu verschaffen. Am Tag vorher sowie am Tag des Putschs selber stattete er dem König einen Besuch ab. Sarit verpflichtete sich, ein Gesetz von Phibun abzuschaffen, durch das die Konzentration von Ländereien begrenzt und die Interessen der königlichen Familie an Grundbesitz direkt angetastet worden waren. Im Gegenzug ernannte der König ihm zum „Verteidiger der Hauptstadt“ und sandte ihm dann eine Botschaft, die Ermutigung und Unterstützung zum Ausdruck brachte. Aus diesem Anlass wurde ein Ritual eingeführt, dessen Ziel darin besteht, die Proteste der Bevölkerung gegen die Diktaturen mundtot zu machen. Wenn der König Unterstützung gewährt, haben seine Untertanen einfach nur noch zu gehorchen. Von da an wurden praktisch alle Putsche mit der Billigung des Königs organisiert. Das ermöglichte ihm nebenbei einen Einfluss auf die Auswahl der Diktatoren. So konnte die Monarchie auch der Vorstellung Glaubwürdigkeit verschaffen, die politische Instabilität gehe nicht auf die Putsche zurück (sie stellen die politische Ordnung wieder her), sondern auf die parlamentarische Demokratie (für die thailändische Gesellschaft ein Fremdkörper, dessen Import ein Fehler gewesen sei). Diese Vorstellung wird auch jetzt wieder von wohlwollenden BeobachterInnen aufgegriffen; Demokratie sei kein universeller Wert, sondern ein Element der westlichen Kultur, behaupten sie. Da Thailand und die asiatischen Länder allgemein eine andersartige Kultur haben, ist es norinprekorr 422/423 ########## THAILAND mal, dass demokratische Freiheiten und die parlamentarische Demokratie eingeschränkt und, wenn nötig, durch Militärputsche außer Kraft gesetzt werden. So würden die Fehler eines Systems korrigiert, das zu den „asiatischen Werten“ wie der Suche nach einem Konsens, mit dem die nationale Einheit bewahrt werden kann, nicht passt. Diese „kulturalistischen“ Erklärungen dienen den Diktaturen als Alibi, und sie lassen es sich nicht nehmen, sich ihrer zur zu bedienen, um sich zu rechtfertigen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die jungen ThailänderInnen werden von frühester Kindheit an in der Schule und in den Familien einer systematischen Indoktrinierung unterzogen, die sie zum Respekt vor „König, Religion und Nation“ anhalten soll, wie König Chulalongkorn bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sagte. Laizismus und Republik sind als Konzept unbekannt und gefährlich, weil illegal. Diese Gehirnwäsche, die sich heutzutage auf die modernen Kommunikationsmittel und auf einen Kult um die königliche Familie stützt, macht kritisches Denken und die Ausübung von demokratischen Freiheiten unmöglich. Wie soll man den Gedanken von Gleichheit fassen und einfordern, wenn man zahlreiche drückende Hierarchien in Ehren halten muss und wenn man ein/e UntertanIn des Königs ist und nicht StaatsbürgerIn? Es ist um so bemerkenswerter, dass die Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Armut und für Demokratie trotz dieser mit der Restauration der Monarchie verbundenen zusätzlichen Hindernisse in den Jahren 1960 bis 1970 immer häufiger stattgefunden hat. Industrielle Revolution und Wiederbelebung der Kämpfe Die Kämpfe der Bevölkerung sind eine zeitlich versetzte Folge der sozialen Erschütterung, die die Ende der 1950er Jahre einsetzende industrielle Revolution nach sich gezogen hat. Neue gesellschaftliche Schichten entstanden oder nahmen zu. Die nationale Industriebourgeoisie konnte zulegen und dehnte sich über den ursprünglichen Bereich der traditionellen chinesischen Bourgeoisie und den staatlichen industriellen Sektor aus. Die thailändische Regierung praktizierte eine (seinerzeit klassische) protektionistische Politik, was die Schafinprekorr 422/423 fung von nationalen Industriebetrieben möglich machte und in der Folge ausländischen, vor allem japanischen Unternehmen einen Anreiz bot, sich in Thailand niederzulassen. Die Industrialisierung konzentrierte sich vor allem um Bangkok herum, später auch im Südosten, entlang dem Golf von Thailand, wo die Transportwege über das Meer den Export erleichtern. Infolgedessen wächst die Bevölkerung Bangkoks im Zeitraum 1947 bis 1970 von 780 000 auf 2,5 Millionen Menschen (eine Verdreifachung innerhalb von 23 Jahren). Zwischen 1960 und 1970 nehmen die Arbeiterklasse und die „Mittelklasse“ mit Beschäftigungsverhältnissen vor allem im Dienstleistungsbereich um 49 % zu – bei einer Ausweitung der berufstätigen Bevölkerung um 22 %. Für den Zeitraum 1970 bis 1980 liegen diese Zahlen bei 85 % bzw. 38 %. Die Zahl der Studierenden stieg von 18 000 im Jahr 1961 auf 100 000 in 1972 an. Diese rasch zunehmende neue Bevölkerung von ArbeiterInnen, Studierenden und Stadtbewohnern beteiligte sich an Demonstrationen und Streiks. Die offiziellen Statistiken, in denen die Wirklichkeit unterschätzt wird, verzeichnen für 1972, mitten in der Militärdiktatur, 34 Streiks mit einer durchschnittlichen Dauer von 2,6 Tagen und einer Beteiligung von 7 603 ArbeiterInnen. 1973 gab es eine Erhebung mit der Forderung nach Demokratie und es wurden 501 Streiks verzeichnet, an denen sich 178 000 ArbeiterInnen beteiligten. Die durchschnittliche Dauer war jedoch niedriger, nämlich 1,7 Tage. 70 % dieser Streiks fanden nach dem 14. Oktober 1973 statt, kurz nach einer Demonstration, zu der auf Initiative der StudentInnen 500 000 Menschen in Bangkok zusammenkamen, um die Rückkehr zur Verfassung und einem gewählten Parlament zu fordern. Der König empfing eine Delegation. Am Morgen des 14. Oktobers aber schoss das Militär in die Menge der Demonstrierenden, die sich noch nicht aufgelöst hatte; es gab 77 Tote und 857 Verwundete. Die Streiks waren eindeutig politische Proteststreiks. Trotz dieser wütenden Repression wurden die Streiks in den Jahren 1974 bis 1976 fortgesetzt. Die Beteiligung von abhängig Beschäftigten und die Streikdauer lagen höher. Es waren Jahre intensiver politischer Debatte und der Radikalisierung, in denen die thailändischen StudentInnen Ideen entdeckten und im- portierten, die im Westen von der Studentenbewegung von 1968 entwickelt worden waren, in denen sie revolutionäre Vorstellungen entdeckten und in denen sie außerdem ihr eigenes Denken ausgehend von einer Synthese der Gerechtigkeitsideale, wie der Buddhismus sie enthält, und dem Marxismus weiterentwickelten. Es fanden täglich Demonstrationen statt, mit denen der Druck auf die Regierung aufrecht erhalten wurde. Vor allem aber gelang es den thailändischen StudentInnen, eine Verbindung zu den ArbeiterInnen und dann auch der Bauernschaft herzustellen. 1974 kamen sie den 6000 streikenden TextilarbeiterInnen zu Hilfe. Deren Streik konnte der Regierung eine Anhebung des Mindestlohns und eine bessere Sozialgesetzgebung, verbunden mit einer gesetzlichen Anerkennung der Gewerkschaften, abtrotzen. Bäuerinnen und Bauern, die vor allem aus dem Norden des Landes kamen, demonstrierten in Bangkok, um eine Anhebung des Preises für Reis zu erreichen. Auch in dieser Frage trat die Regierung den Rückzug an. Die BäuerInnen sahen sich ermutigt und gründeten den Bauernverband von Thailand, in dem sich innerhalb von kurzer Zeit 1,5 Millionen BäuerInnen aus 41 Provinzen organisiert hatten. Diesen aufsteigenden Zyklus der Volkskämpfe fand der reaktionärste Flügel der Armee, der Bourgeoisie und der Monarchie nicht tolerierbar. Vor dem Hintergrund des Siegs der nationalen Befreiungskriege in Vietnam und in den Nachbarländern Kambodscha und Laos, in denen die Monarchie abgeschafft wurde, wollen die herrschenden Eliten die Einigung der Volksbewegungen und ihr Zusammengehen mit der kommunistischen Guerilla nicht hinnehmen. Die 1930 von Ho Chi Minh gegründete Kommunistische Partei Thailands (KPT) blieb viele Jahre lang eine Basis für die chinesischen und vietnamesischen KommunistInnen, die von Thailand aus in Richtung der Länder operierten, aus denen sie stammten. In den Reihen der KPT waren damals wenige Thais, und die Repression schränkte ihren Einfluss auf die thailändische Politik ein. Während des Zweiten Weltkriegs kam die KPT aus ihrer Randexistenz heraus, indem sie ein sehr aktiver Bestandteil des Widerstands gegen die japanische Armee wurde. Sie hielt 1942 einen weiteren Gründungskongress ab, mit dem Ziel, sich in der thailändischen 11 ########## THAILAND Gesellschaft zu verankern. Sie erreichte am Ende des Kriegs die Abschaffung der antikommunistischen Gesetze, trat aus der Untergrundexistenz heraus, beteiligte sich an Wahlen und nahm die Arbeit in der Gewerkschaft auf. Sie koordinierte 1945 und 1947 zwei großflächige Streiks in den Reismühlen und organisierte 1946 und 1947 am 1. Mai Massendemonstrationen. Von diesem Zeitpunkt an gewann der maoistische Flügel die Mehrheit. Die KPT begann eine Wende hin aufs Land zu diskutieren, um dort eine Guerillaarmee zu organisieren, mit der dann die Städte erobert werden sollten. Dieser Kurs wurde 1961 in die Praxis umgesetzt. In der Hügelregion im Norden, wo die Minderheiten der Mong, Yao und Lua leben, im Nordosten, der ärmsten landwirtschaftlichen Region von Thailand, und im Süden mit seiner malaiischen Mehrheit wurden Guerillakerne organisiert; im Süden wurden Verbindungen zur Kommunistischen Partei Malayas hergestellt. Eine Einschätzung der Armee aus dem Jahr 1969 besagte, dass die Guerilla über 8000 Kämpfer verfügt, 412 Dörfer kontrolliert und in weiteren 6000, in denen nahezu 4 Millionen Menschen leben, Einfluss ausübt. Die Repression der Armee war brutal. Da sie nicht dazu in der Lage war, einen Sieg über die Guerilla zu erzielen, bombardierte die Armee die Wälder mit Napalm, massakrierte die Dorfbevölkerung und vor allem die ethnischen Minderheiten wahllos, und sie rodete Tausende von Hektar Wald, um der Guerilla den natürlichen Schutz zu entziehen. Die Guerilla konnte zwar örtlich Erfolge erzielen, sie war jedoch nicht dazu in der Lage, in den Dörfern einen realen Einfluss auszuüben. Die Entwicklung der Arbeiter- und der Studentenkämpfe in Bangkok und anderen Großstädten bot ihr eine Gelegenheit, die Isolierung zu durchbrechen. Dies wollte die Armee verhindern. Ende 1974 begannen Armee, Bourgeoisie und Monarchie faschistische Milizen zu organisieren, wie die „Bewegung der Dorf-Scouts“ und eine Bewegung der „Wächter“, die durch die Dörfer zogen und fragten: „Liebt ihr Thailand? Hasst ihr die Kommunisten?“ Diese beiden Bewegungen, die von der Grenzpolizei und den Armee-Einheiten, die im Kampf gegen die Guerilla standen, geschaffen worden waren, gingen dann in die städtischen Gegenden. Sie organisierten Lager, in die fast 2 Millionen Menschen kamen, darunter leitendes Personal von Unternehmen, Regierungsbeamte und deren Familien. Diese faschistischen Milizen starteten eine Terrorkampagne, griffen die Demonstrationen an, ermordeten systematisch Bauern- und ArbeiterführerInnen, den Generalsekretär der sozialistischen Partei, linke Abgeordnete, verübten Bombenattentate auf die Büros der linken Parteien. Jeden Tag wurden von den Radiosendern, die von der Armee kontrolliert wurden, Mordaufrufe verbreitet. „Einen Kommunisten zu töten, ist keine Sünde, sondern eine Pflicht aller Thais“. Der Slogan einer Partei der Diktatur bei dem Wahlkampf 1976 lautete: „Die Rechte tötet die Linke“. Am 19. September kehrte der Diktator, der die Verantwortung für die Schlächterei von 1973 hatte, aus dem Exil zurück, er wurde Mönch in einem Kloster, das in unmittelbarer Nähe zum königlichen Palast lag. Dort erhielt er Besuch vom König und von der Königin. Zwei Tage darauf wurden Arbeiter, die gegen seine Anwesenheit im Land protestierten, gelyncht. Diese mörderische Kampagne erreichte mit dem Massaker vom 6. Oktober 1976 in der Universität Thammasat ihren Höhepunkt. Die „Be- Flüchtlingslager der Khmer (in Wirklichkeit von den Roten Khmer kontrollierte Gefangenenlager) lagen in Guerillagebieten der KPT 12 wegung der Dorf-Scouts“, die Wächter und Einheiten der Grenzpolizei griffen den Campus mit Raketen, panzerbrechenden Geschossen und Maschinenpistolen an. Offiziell wurden 43 StudentInnen ermordet, ganz zu schweigen von den Verwundeten, den Vergewaltigungen und den lebendig Verbrannten. Es gab 8000 Verhaftungen. In dieser Nacht rechtfertigte der König einen neuen Staatsstreich. Der Bauernbewegung wurde der Garaus gemacht, und etwa 3000 StudentInnen und ArbeiterInnen schlossen sich ebenso sehr aus Überzeugung wie um des Überlebens willen der kommunistischen Guerilla an. Aufgrund dieser Verstärkungen erreichte die Guerilla 1979 die Zahl von 10 000 KämpferInnen. Die Zahl der militärischem Zusammenstöße stieg von 1977 bis 1979 auf eintausend an. Diese Entwicklung verdeckte jedoch eine tiefe Orientierungskrise. Die neu dazu Gekommenen, die ihre Erfahrungen aus städtischen Kämpfen mitbrachten, zweifelten die Erfolgsaussichten der maoistischen Strategie der Eroberung der Macht, die auf dem Einkreisen der Städte durch die Dörfer beruhte, für Thailand ernsthaft an. Als der Horror der beispiellosen Massaker der „Roten Khmer“, die ja nicht weit weg waren und mit denen die KPT gelegentlich zusammengearbeitet hatte, schrittweise aufgedeckt wurde, wirkte sich das auf eine beträchtliche Zahl von Mitgliedern erschütternd aus. Und zwar um so mehr, als überlebende KambodschanerInnen hereinströmten und die Flüchtlingslager der Khmer (in Wirklichkeit von den Roten Khmer kontrollierte Gefangenenlager) in Guerillagebieten der KPT lagen. Der Konflikt zwischen den „Roten Khmer“ und den vietnamesischen Truppen sowie der Angriff Chinas hatten tief desorientierende und demoralisierende Auswirkungen. Die KPT spaltete sich in eine prochinesische und eine provietnamesische Fraktion. China war mehr an der Wiederherstellung der politischen und kommerziellen Beziehungen zur thailändischen Regierung interessiert und stellte ihre Unterstützung für die KPT ein. Unter diesen Umständen gaben die meisten StudentInnen und KPT-Mitglieder auf und akzeptierten die Bedingungen für die Amnestie, wie General Prem Tinsulanonda sie vorgeschlagen hatte; er war 1981 vom Armeechef zum Ministerpräsidenten aufgestiegen. 1982 und 1983 ergaben sich die meisten inprekorr 422/423 ########## THAILAND KPT-Einheiten, die letzten noch aktiven wurden 1987 verhaftet, als sie einen Parteitag abhalten wollten. Ende der 1980er Jahre erreichten die machthabenden Eliten ihre Ziele. Die Volksbewegung wurde enthauptet. Es gab keine koordinierte Gewerkschaftsorganisation mehr, auch keine auf nationaler Ebene handlungsfähige Bauernbewegung. Auf politischer Ebene gab es keine Linkspartei mehr, weder eine reformistische noch eine revolutionäre. Die Arbeiterbewegung musste neu aufgebaut werden. Und dennoch war es kein totaler Sieg. Im Lauf der 1980er Jahre gab es neue soziale Bewegungen: Kämpfe von DorfbewohnerInnen für die Erhaltung von Wäldern, Kämpfe der Bauernschaft gegen den Bau von Staudämmen, Kämpfe von FabrikarbeiterInnen für Lohnerhöhungen. Diese Kämpfe blieben jedoch auf den eigenen Bereich bezogen und zersplittert. Vor allem aber war das Streben nach Demokratie weiterhin lebendig. 1992 fanden in Bangkok Demonstrationen für die Wiederherstellung statt. An den ersten Demonstrationen nahmen Leute aus der Mittelschicht teil, nach den ersten Fällen von gewaltsamem Vorgehen seitens der Staatsmacht waren sie aber nicht mehr zu erblicken. StudentInnen und Lohnabhängige demonstrierten weiter und setzten sich der Repression aus. Wieder schoss die Armee in den Straßen von Bangkok, und der König war geschickt genug, um als derjenige in Erscheinung zu treten, der der Gewalt ein Ende setzt. Armee und Monarchie taten sich zusammen, um die Ordnung herrschen zu lassen. 2006 wiederholte sich die gleiche Situation. Danielle Sabaï und Jean Sanuk sind KorrespondentInnen von Inprecor in Südostasien. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Weis und Friedrich Dorn. Putsch in Thailand – ein Rückschritt für Thailand und Südost-Asien Danielle Sabai und Jean Sanuk In den Abendstunden des 19. November putschten die thailändischen Militärs unter der Führung von General Sonthi Boonyaratklin, wobei sie sich die Abwesenheit von Premierminister Thaksin Shinawatra zunutze machten, der bei der UN-Vollversammlung zugegen war. Zu ihrer Rechtfertigung erklärte die jetzige Junta, dass sie die Demokratie und Stabilität im Lande, die durch Thaksin bedroht gewesen seien, retten wollte. Und tatsächlich wird die Amtszeit von Thaksin als eine Ära des Nepotismus und allgemeiner Korruption in die Annalen eingehen. Zudem wurde ihm vorgeworfen, nationale Zwietracht gesät zu haben und – last but not least – Seiner Königlichen Hoheit Bhumipol nicht den nötigen Respekt gezollt zu haben. Säbelklirren und Demokratie passen nicht zusammen Es regten sich nur wenige Stimmen im Lande gegen den Putsch, was davon abgesehen der politischen Klasse Thailands auch gar nicht zum Problem gereichen würde. Sie schielt vielmehr auf die Resonanz der übrigen Welt, die recht verhalten ausfiel. Hört man auf inprekorr 422/423 Anand Panayarachun, Premierminister nach dem Militärputsch von 1991, dann „hat ein Staatsstreich in Thailand eine andere Qualität als ein Militärputsch in Afrika oder Lateinamerika …“ In der Tat fiel auch kein einziger Schuss dabei. Und nach Angaben der Lokalpresse stehen 83,9% der Bevölkerung hinter den Aufständischen. In einem Land, das wenig zu Auseinandersetzungen neigt, glauben viele, dass der Putsch das Land aus einer allgemein für ausweglos erachteten politischen Krise führen wird. Jedenfalls halten sich die AnhängerInnen Thaksins im Moment bedeckt und seine wichtigste Wählerbasis, die armen Bauern, verfügt nicht über die notwendigen Machthebel, um ihre Unzufriedenheit geltend zu machen. Viele glauben auch, dass ein demokratischer Übergang unter der Ägide (Kuratel) des Militärs allemal besser ist als die endlosen Demonstrationen seit fast einem Jahr. Die Putschisten haben obendrein hinlänglich betont, die Macht nicht länger als 2 Wochen in ihren Händen halten zu wollen, um in dieser Zeit eine integre und über je Newsweek vom 25.9.06 Vgl. Inprekorr 416/417 vom Juli/August 2006 den Verdacht erhabene Person als vorläufigen Premier auswählen zu können. Mit den exakt gleichen Worten hatten die Militärs ihren Putsch 1991, als sie eine gewählte Regierung nach dreijähriger Amtszeit absetzten, gerechtfertigt. Ihr Versprechen war damals, das politische System zu „säubern“ und denjenigen Politikern an den Kragen zu gehen, die sich „in exzessiver Manier“ bereichert hatten. Die damals verabschiedete neue Verfassung machte es möglich, einen Premierminister außerhalb der Parlamentsreihen zu wählen, will heißen: z B. einen Militär. Der neue Premierminister, Surayud Chulanont, der im Sold von der gegenwärtigen Junta stand, stammt demnach auch aus den Reihen der Armee, aus der er sich erst vor drei Jahren verabschiedet hat. Als veritabler Höfling hat er unter Prem Tinsulanonda, dem engsten Berater des Königs, gedient und war direkt dem Chef der Militärjunta, Sonthi, unterstellt. Seine Sporen verdiente er sich, als er das bewaffnete Korps befehligte, das die Teilnehmer der Demonstrationen von 1992 unter Beschuss nahm, auch wenn er immer beteuert hat, nicht den Schießbefehl erteilt zu haben. 13 ########## THAILAND Kambodscha, Vietnam und China auf die Allgegenwart der Militärs an den Schalthebeln der Macht und der Geschäftemacherei. Insofern gereicht den amtierenden Diktatoren der Putsch in Thailand zur Beruhigung und allen Aspiranten zur Ermutigung. Die Armee zeigt sich diskret, aber allgegenwärtig General Sonthi Boonyaratklin Die Putschisten haben also im Namen der Demokratie und der Korruptionsbekämpfung eine Regierung gestürzt, die immerhin zweimal demokratisch gewählt worden war. Zu ihren ersten Maßnahmen zählte die Verhängung des Kriegsrechts und die Aufhebung der Verfassung, deren Artikel 65 besagt, dass es Pflicht der BürgerInnen sei, sich jedwedem Umsturzversuch einer demokratisch gewählten Regierung zu widersetzen. Die Pressefreiheit wurde aufgehoben und den Medien die Verantwortung für jedwede Kritik am Putsch – auch in Form von Leserbriefen und Hörermeinungen – angelastet. Versammlungen von mehr als fünf Personen sind verboten und die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen gehalten, ihr Engagement einzustellen, da die Junta sich mit den Forderungen der Bauern und ArbeiterInnen „direkt auseinandersetzen“ würde. Zweifellos liegt die Besonderheit darin, dass der Staatsstreich bereits anderntags die Billigung des Königs erfahren hat, was alle Skrupel und Zweifel ersticken lässt, da der König als die Verkörperung des Willens der thailändischen Bevölkerung gilt oder – anders gesagt – sich die Bevölkerung dem Willen des Königs beugt. 14 Die brüchige Demokratie in Südost-Asien Der Putsch in Thailand ist nicht nur für die ThailänderInnen sondern für die gesamte Region ein herber Schlag. Dass Generäle an der Macht sind, ist leider keine exklusiv thailändische Spezialität. Das Besondere daran ist freilich die Art, dorthin zu gelangen und sich dort zu halten. Indonesien wird seit den letzten Wahlen von einem Ex-General regiert. Gloria Arroyo, die Präsidentin der Philippinen stützt sich nach zwei überstandenen Putschversuchen auf die Armee und das Notstandsrecht. Pakistan wird von dem Putschisten Pervez Muscharraf regiert, dem von den USA mittlerweile die demokratischen Weihen erteilt wurden, weil es ein wenig peinlich wäre, dass ein Diktator am Kampf „gegen den Terrorismus“ beteiligt ist. Birma wird seit Jahrzehnten von blutrünstigen Militärs regiert, denen es nicht genügt, das Land auszuplündern, und die obendrein in aller Ruhe und ohne Scham Teile der Bevölkerung massakrieren und die Überlebenden versklaven. Auch wenn die historischen und politischen Hintergründe anders sind, stößt man auch in Laos, Der Putsch wirft Thailand in eine überwunden geglaubte dunkle Vergangenheit zurück. Das Land, das seit 1991 von Militärputschen verschont geblieben ist, fungierte in den internationalen Medien als Vorzeigedemokratie auf diesem Kontinent. Die blutige Repression von 1992 nach dem letzten Staatsstreich war Auftakt zu einer neuen Ära des Übergangs zur Demokratie, deren besonderes Merkmal die Erarbeitung einer neuen Verfassung war. Diese hatte als grundlegende Ziele, die Spirale von Staatsstreichen und autoritären Regimes zu beenden und der Korruption als Grundübel der thailändischen Politik Einhalt zu gebieten. Die blutige Repression von 1992 hatte auch zu einem Nachdenken über Funktion und Stellenwert der Militärs in der Gesellschaft geführt. Unter anderem war dadurch das Oberkommando der Armee dazu veranlasst, wenigstens dem Anschein nach eine „Entpolitisierung“ der Militärs und eine Nichteinmischung in die politischen Auseinandersetzungen zu akzeptieren und sie an der Regierung lediglich mit dem Posten des Verteidigungsministers zu beteiligen. Sonthi höchstselbst hatte noch wenige Wochen vor dem Putsch beteuert, dass die Armee nicht befugt sei, sich in die gegenwärtige politische Krise einzumischen … Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Die Armee zog sich nur soweit freiwillig zurück, wie die Zivilregierung im Gegenzug ihre Privilegien unangetastet ließ. Thaksin aber hat seit Beginn seiner Amtszeit an diesem Status quo gerüttelt und versucht, den Staatsapparat zu seinem Vorteil umzugestalten. Als ausgewiesener Kenner der politischen Landschaft Thailands war ihm bewusst, dass sein Verbleiben an der Macht in hohem Maß davon abhing, wie er die Armee unter Kontrolle behielt. Denn außer ihren engen Verbindungen zum Königshof verfügt sie inprekorr 422/423 ########## THAILAND auch auf dem Finanz- und Industriesektor über Macht. Insofern lag seine Methode, die Armee zu kontrollieren und dabei die offene Konfrontation zu vermeiden, darin, die Seilschaften, die Prem Tinsulanonda – Ex-General, ExPremier und anschließend engster Berater des Königs – aufgebaut hat, systematisch zu demontieren und sie durch seine eigene Corona zu ersetzen. Also platzierte er 2002 und 2003 mehr als 35 Freunde und Verwandte, die zumeist dem „Jahrgang 10“ – so wie er – entstammten, in Schlüsselpositionen der Armee. Im Unterschied zum „Jahrgang 5“, der den Staatsstreich von 1991 durchgeführt hat, verbindet diese Generation keine gemeinsame Ideologie. Ihr einigendes Band besteht genau genommen nur aus Vetternwirtschaft und Selbstbereicherung. Obendrein sind die meisten der von Thaksin nominierten Kommandeure bar jeder Erfahrung auf diesem Sektor und verfügen auch nicht über die notwendige Autorität. Folglich tun sich in der Armee tiefe Gräben zwischen Anhängern und Gegnern Thaksins auf. Dieser sichert sich die Loyalität der obersten Heeresleitung, indem er sie systematisch mit seinen Gefolgsleuten besetzt. Er selbst ist von diesem System derart angetan, dass er versichert: „Die Führung der Streitkräfte ist sehr diszipliniert und steht voll und ganz hinter der Regierung, besonders was meine Person angeht.“ Seine brutale Repressionspolitik im Süden des Landes war gleichfalls sehr dazu angetan, der Armee wieder die Legitimation zu verschaffen, sich in den politischen Alltag einzumischen. Die drei islamischen Provinzen mit malaysischer Bevölkerungsmehrheit werden seit mittlerweile 3 Jahren täglich von Morden und Massakern heimgesucht. Derlei Gewalttaten gehören dort zum Alltag, seit die Provinzen nach dem 2. Weltkrieg gegen ihren Willen Thailand zugeschlagen wurden. Die ThailänderInnen malaysischer Abstammung fordern als Opfer von Diskriminierungen einen weit reichenden Autonomiestatus. Der Wiederausbruch der Gewalt seit Januar 2004 hat zahlreiche Opfer – bis heute über 1700 – gefordert. Die Regierung reagierte darauf, indem sie den Ausnahmezustand verhängte und die Armee mit Sondervollmachten ausstattete bis hin zu einem New Straits Times vom 10.7.03 inprekorr 422/423 gottlob abgelehnten Gesetzesentwurf, der eine Kopfprämie für jeden getöteten – auch nur mutmaßlichen – Terroristen vorsah. Durch diese Politik wurde die ohnehin exorbitante Macht von Armee und Polizei im ganzen Land noch untermauert. Die Gewalt im Süden des Landes zeitigte daneben einen für Thaksin höchst unerwarteten Effekt. Auf Drängen der Opposition und des Königs nämlich und als Beweis seines guten Willens nominierte Thaksin letztes Jahr zur Lösung der Krise statt einen seiner Spezis einen muslimischen Oberbefehlshaber an die Armeespitze – ein Novum in der Geschichte der thailändischen Armee, wo zuvor nur Buddhisten in verantwortliche Ränge gekommen waren. Dieser Mann – Sonthi Boonyaratklin – sollte später von sich reden machen. Der unaufhaltsame Aufstieg von Thaksin Bevor er in die Politik ging, war Thaksin zunächst und zuvorderst Geschäftsmann, dessen Vermögen im Wesentlichen auf Lizenzen und Konzessionen gründete, die er von den Militärs und den jeweiligen Regierungen in den 90er Jahren erhielt. Die instabile politische und wirtschaftliche Lage brachten ihn zu der Überzeugung, dass ein Premierminister vonnöten sei, der die Sorgen der Unternehmer versteht, und er seine eigene Partei gründen müsse, wenn er die Regierung kontrollieren wolle. Die Wirtschaftkrise von 1997 wirkte dabei als Katalysator. Wie in allen Krisen gehen viele Firmen kaputt und andere, die überleben, gestärkt daraus hervor. Letztere gehörten vorwiegend zum Dienstleistungssektor, der der internationalen Konkurrenz weniger ausgesetzt ist, da er die Protektion des Staates genießt, der die Lizenzen nur an einheimische Unternehmen vergibt. In der von Thaksin gegründeten neuen Partei Thai Rak Thai versammeln sich diese großen Familien, die aus den Erfahrungen mit der Krise die Schlussfolgerung gezogen haben, dass Politik und Wirtschaft enger verzahnt sein müssen. Zwischen 1998 und der erfolgreichen Wahl 2001 zog Thaksin sein Projekt hoch und erarbeitete eine politische Plattform, indem er die unterschiedlichsten und mitunter sozial widersprüchlichen Forderungen über- nahm sowohl aus den Reihen der Kleinund Mittelbetriebe und der Bauern wie auch aus der Industriearbeiterklasse und deren Nöte und Probleme. Zweifellos war dies das erste Mal in Thailand, dass sich eine Partei zu den Wah­ len stellte, die Vorschläge der WählerInnen aufgreift. Durch die Krise von 1997 und den darauf folgenden Bankrott waren zahllose thailändische Klein- und Mittelbetriebe in Konkurs oder Insolvenz geraten. Der IWF, der die Aufsicht über das Krisenmanagement der Regierung innehatte, sah in diesen Massenkonkursen nichts Anstößiges, würden sie doch vielmehr zu einer „Verjüngung“ der Wirtschaft beitragen, indem diese Unternehmen durch ausländisches Kapital zu Dumpingpreisen aufgekauft werden können. In den drei Folgejahren auf die Krise floss mehr ausländisches Kapital nach Thailand – hauptsächlich um thailändische Unternehmen aufzukaufen – als in den elf Jahren zuvor, in denen die Wirtschaft florierte. Insofern wurde allgemein die Auffassung vertreten, dass die Politik des damaligen Premierministers Chuan Leekpai von den Demokraten ein Einknicken vor den Diktaten des IWF sei und er nicht in der Lage oder willens sei, das heimische Kapital zu schützen. Thaksin war so klug, sich als Retter der Klein- und Mittelbetriebe darzustellen. Er kleidete sich in nationalistische Rhetorik, wobei er sich die Unpopularität der vom IWF auferlegten wirtschaftlichen Reformen zunutze machte. In seinem Konzept zum Krisenmanagement schlug er vor, dass die kleinen und mittleren Unternehmen durch eine Verschmelzung traditioneller Qualifikationen und hochtechnologischer Entwicklung Aufschwung erfahren sollten. Allein die Unterstützung durch die Industrie ist noch nicht ausreichend. Thailand ist noch immer tiefstes Agrarland, in dem die Bauern aktuell fast 50% der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachen. Und bereits lange vor der Krise war die Landwirtschaft von einer schweren Krise betroffen. Obwohl Thailand zu einem der wichtigsten Reisexporteure geworden ist, lebten Anfang der 90er Jahre noch fast 40% der Bauern unterhalb der relativen Armutsschwelle. Die Anliegen der Bauern rangieren immer weit hinter denen der städtischen Mittelschichten und der 15 ########## THAILAND Bourgeoisie, die in Bangkok konzen­ triert sind. Thaksin schrieb sich sogleich einzelne Forderungen der in den 90er Jahren entstandenen Landwirtschaftsverbände auf die Fahnen und hielt auch seine Versprechen im Jahr seines Regierungsantritts weitgehend ein, nämlich die nahezu kostenlose Gesundheitsversorgung (gegen eine Summe von umgerechnet 64 Cents ist die gesamte medizinische Versorgung zugänglich), einen Zuschuss von jeweils 21 275 Euro für die dörfliche Infrastruktur und einen mehrjährigen Zahlungsaufschub für die verschuldeten Bauern. Diese Politik zugunsten der Armen folgt dem klassischen Muster des Populismus: die Armut der Bauern lindern, um eine soziale Basis und politische Stabilität zu erhalten, die zum Gedeihen der eigenen Geschäfte unerlässlich sind. Auch zögerte er nicht, ehemalige kommunistische Kader aus den 70er Jahren in sein „Oktobristen“Team zu integrieren. Sein Ziel konnte er damit erreichen und sich die unvergängliche Unterstützung der Bauern und Armen besonders im Norden und Nordosten des Landes sichern. Somit erzielte er 2005 wieder einen komfortablen Wahlsieg, wobei er 377 von 500 Parlamentssitzen erhielt. Seine TRT erhielt als erste Partei seit 73 Jahren die absolute Mehrheit, und er selbst wurde zum ersten Politiker, der in der Geschichte Thailands zwei aufeinanderfolgende Wahlen gewann. Mit seinen politischen Maßnahmen zugunsten der Klein- und Mittelbetriebe hatte er weniger Erfolg. Im Jahr seiner Wahl legte er ein Programm für Mikrokredite durch eine eigens für diese Betriebe gegründete Bank auf und startete das Projekt „Ein Distrikt, ein Produkt“, das alternative Kreditquellen für kleine Gemeinschaftsunternehmen anbot. Aber all diese Maßnahmen erwiesen sich als unzureichend angesichts der restriktiven Kreditvergaben durch die herkömmlichen Banken seit Ausbruch der Krise. Davon abgesehen stand Thaksin – auch wenn er sich als Beschützer der Klein- und Mittelbetriebe gegen das Auslandskapital gerierte – der Globalisierung keineswegs feindlich gegenüber, bloß wollte er sie zu seinem Vorteil nutzen. So initiierte er bspw. ein bilaterales Freihandelsabkommen mit 16 China und strebte eines mit den USA an. Premierminister oder Unternehmer? In den beiden Amtsperioden entwickelten sich Thaksins Geschäfte prächtig. Die fünf Regierungsjahre wurden von ihm weidlich dazu genutzt, sich selbst und seinen Spezies Reichtümer zuzuschanzen. Eine Universitätsstudie belegte, dass die Börsennotierungen ihm nahe stehender Unternehmen um mehr als die Hälfte zugelegt hatten, da darauf spekuliert wurde, dass sie sich sämtliche öffentlichen Aufträge ergattern würden. Es passt zu dieser Gemengelage aus Vetternwirtschaft, Korruption und endlosen Skandalen, dass sich Thaksin Anfang 2006 entschieden hat, sein Industrieimperium „Shin Corp“ an die vom singapurschen Staat kontrollierte Telekommunikationsholding Temasek zu verkaufen. Für die Familie Thaksins wurde dieser Verkauf zu einem Bombengeschäft. Bei einem geschätzten Wert von 1,55 Milliarden Euro gehören zu Shin Corp u.a. mehrere Fernsehketten, das größte Mobilfunkunternehmen Thailands und der Satellitenbetreiber „iTV“. Durch die Abwicklung über eine Briefkastenfirma in einem Steuerparadies und die Überschreibung der Gesellschaftswerte auf seine Kinder konnte Thaksin den thailändischen Fiskus umgehen und zahlte nicht einen Cent Steuer. Seine Gegenspieler ließen sich die­ se Gelegenheit natürlich nicht entgehen und monierten den Ausverkauf der thailändischen Interessen durch derlei Geschäfte. Ab Beginn des Jahres 2006 fanden Massendemonstrationen gegen Thaksin und seine Politik mit Zehntausenden von TeilnehmerInnen aus der Intelligenz, den städtischen Mittelschichten und AnhängerInnen der demokratischen Partei statt. Selbst der König gab seine Zurückhaltung auf und wandte sich öffentlich gegen den Verursacher dieser Unruhen. Vergeblich, denn die Wahlen vom April verschafften der TRT eine komfortable Mehrheit von 16 Millionen Stimmen gegen 10 Millionen Enthaltungen. Thailand stürzte dadurch in eine beispiellose Krise: Das Parlament konnte nicht einberufen werden, da ein Teil der Sitze unbesetzt war. Gegen alle Konventionen wandte sich der König in einer Fernsehansprache an die Nation und forderte die Annullierung des Wahlergebnisses sowie die Durchführung von Neuwahlen. Diese wurden auf Anfang November verschoben, nachdem zunächst der 15. Oktober anberaumt war. Also fand der Staatsstreich in einem Moment statt, wo die ThailänderInnen selbst die Krise durch Wahlen hätten in den Griff kriegen können. Dies konnte jedoch nicht hingenommen werden, hätte dies doch unabhängig vom Wahlausgang bedeutet, dass die Bevölkerung offenkundig in der Lage ist, die Krise ohne Eingreifen der Armee und des Königs zu lösen. Die Beobachter der thailändischen Politik sahen mehrheitlich in Thaksin den Sieger der kommenden Wahlen. Damit wäre er erneut auf legitimem Weg an die Regierung gelangt. Seine enorme Popularität unter den armen Bauern und sein jüngstes Vorhaben, exportgestützte Industriewerke auf dem Land zu errichten, hätten ihn in unmittelbare Konkurrenz zum Königshaus gebracht, das als oberster Garant der ländlichen Entwicklung sowie der etablierten Ordnung und Tradition gilt. Und eine Wahlniederlage Thaksins wäre auch nicht besser gewesen, hätte sie doch als Resultat der monatelangen friedlichen und demokratischen Demonstrationen und damit als Sieg der Mobilisierungen von unten gegolten. Für den Monarchen und die Militärs, die derlei demokratische „Auswüchse“ mit stetem Misstrauen beäugen, wäre dies unerträglich gewesen. Eine unsichere politische Lage Auch wenn der Staatsstreich dem in den 90ern begonnenen Demokratisierungsprozess ein abruptes Ende bereitet hat, bleibt die Lage gespannt. Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen die Generäle an der Macht vorsichtig verfahren. Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung im Solde der Junta sind sehr bezeichnend in dieser Hinsicht. Um Thaksin noch zu übertrumpfen, ist die Gesundheitsversorgung auf Beschluss der Regierung hin völlig kostenlos. Die erste Inlandsreise des Premierministers galt dem Nordosten des Landes, wo Thaksins Popularität inprekorr 422/423 ########## THAILAND am größten war. Er hat sich dort mit ehemaligen kommunistischen Kämpfern getroffen, über die er verbreiten lässt, dass er die bestehenden sozialen Maßnahmen beibehalten wolle. Insofern ist ihm durchaus bewusst, dass die ArbeiterInnen und Bauern ganz konkrete Erwartungen haben und dass ein Abrücken von diesen sozialen Maßnahmen Mobilisierungen nach sich ziehen könnte, die die Putschisten um jeden Preis vermeiden wollen. Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung gibt es in Thailand sehr wohl soziale Auseinandersetzungen, da der Antagonismus [unauflöslicher Widerspruch, d. Red.] zwischen Kapital und Arbeit weiter besteht. Die Errungenschaften der 90er Jahre sind in erster Linie dem Widerstand der ArbeiterInnen nach dem Staatsstreich von 1991 zuzuschreiben. Seit den 80er Jahren hat sich die Zahl der Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen vervielfacht. Es gab Kampagnen gegen die Privatisierungen und für die Einhaltung der Arbeitsrechtsbestimmungen sowie deren Verbesserung. Aber diese sozialen Auseinandersetzungen haben nicht bewirkt, dass die Gewerkschaften stärker geworden oder linke Parteien entstanden wären, die den ArbeiterInnen ein unabhängiges Auftreten bei den Wahlen ermöglichen würden. Die Herrschenden haben im Gegenteil als Reaktion auf diese Kämpfe die Teilnahme der ArbeiterInnen am parlamentarischen Geschäft noch weiter eingeschränkt, indem sie in die Verfassung von 1997 eine Klausel aufnahmen, wonach Kandidaturen für Parlament und Senat an die höhere Schulbildung gekoppelt sind. Wenn die ArbeiterInnen und Studierenden es wie in den 70er Jahren schaffen, sich zusammenzuschließen und diese Hindernisse zu überwinden, dann werden sie sich dem Staatsstreich widersetzen und die Ausgrenzung der ArbeiterInnen aus dem politischen Alltag beenden können. Ihnen gehört das Recht, ein richtiges Programm für die soziale Umwälzung zu erarbeiten und für dessen Umsetzung zu kämpfen. Davon hängt eine wahrhaftige Demokratisierung in Thailand ab. Übersetzung: MiWe ABOBESTELLUNG Ich bestelle ☐ Jahresabo (6 Doppelhefte) ☐ Solidarabo (ab € 30) ☐ Sozialabo ☐ Probeabo (3 Doppelhefte) ☐ Auslandsabo € 20 € .... € 12 € 10 € 40 Name, Vorname Straße, Hausnummer PLZ, Ort Vertrauensgarantie Mir ist bekannt, dass ich diese Bestellung ohne Angabe von Gründen innerhalb von 14 Tagen bei inprekorr, Neuer Kurs GmbH, Dasselstraße 75–77, D–50674 Köln, schriftlich widerrufen kann. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Im Falle einer Adressenänderung bin ich damit einverstanden, dass die Deutsche Bundespost Postdienst meine neue Anschrift dem Verlag mitteilt. Datum, Unterschrift Überweisung an Neuer Kurs GmbH, Postbank Frankfurt/M. (BLZ 500 100 60), KtNr.: 365 84-604 Zahlung per Bankeinzug Hiermit erteile ich bis auf Widerruf die Einzugsermächtigung für mein Bank-/Postgirokonto bei in Konto-Nr. BLZ Datum, Unterschrift Das Abonnement (außer Geschenkabo) verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht vier Wochen vor Ablauf schriftlich gekündigt wird. inprekorr 422/423 17 ########## INDONESIEN Breite Linke Partei entsteht Ende November fand der Gründungskongress einer neuen breiten, linken Partei in Indonesien statt. Die Nationale Befreiungspartei der Einheit (PAPERNAS) ist eine Initiative der wichtigsten revolutionären Organisation des Landes, der Demokratischen Volkspartei/PRD). Während der Vorbereitungen sprachen wir mit einigen Gründungsmitgliedern der neuen Partei über die Situation der Linken in ihrem Land und die Aufgabe, die verschiedenen Kämpfe gegen Neoliberalismus und religiösen Fundamentalismus zusammenzuführen. Vor acht Jahren blickte die ganze Linke weltweit nach Indonesien und war begeistert von der großen, scheinbar revolutionären Erhebung, die das repressive und korrupte Suharto-Regime stürzte. Doch heute scheint der materielle Nutzen der Demokratisierung für die meisten Menschen gering, das alte System der Korruption besteht weiter, es gibt ein Anwachsen des religiösen Konservativismus und die Linke wirkt recht isoliert. Was ist also falsch gelaufen? Dominggus: Was mit der demokratischen Bewegung nach 1998 passierte, war, dass sie strukturell und konzeptionell damals nicht in der Lage war, den Kampf des Volkes zu führen. So konnten die traditionellen Eliten die Unruhen und den Aufstand ausnutzen, um ihre traditionelle Politik wieder zu verankern. Das ist das Erste. Sie ergriffen gezielt die Führung mit dem Plan, das Bewusstsein des Volkes wieder in ihrem Rahmen formaler Demokratie zu kanalisieren und die Situation mit freien Wahlen, freier Presse und so weiter zu stabilisieren. Dies zeigte sich deutlich bei den Wahlen von 1999, an denen 48 Parteien teilnahmen. Zwar hat sich mit dieser neuen Demokratie die Dynamik der Volkskämpfe enorm entwickelt. Aber sie sind sehr Siehe Inprekorr Nr. 320 und 321/322 (Juni und Juli/August 1998). zersplittert, geografisch um örtliche Fragen und organisatorisch in verschiedene Zusammenschlüsse. Das bedeutet, dass diese Volksorganisationen und die demokratische Bewegung nicht wirklich führen und das Bewusstsein des Volkes entwickeln können. Weil sie so zersplittert sind, können sie keine wirkliche Alternative vorschlagen oder den Erwartungen des Volkes gerecht werden. Zely: Sie sind so dynamisch, weil nach 1998 Bereichsorganisationen überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber sie haben keine Verbindungen auf nationaler Ebene. So ist es sehr dynamisch, aber eben auch schrecklich zersplittert. Es gibt kein nationales Thema, um sie zusammen zu bringen, und keine nationale Kraft, um sie zu führen. Erzählt uns bitte mehr darüber, was das für zersplitterte Kämpfe sind. Für was für Dinge mobilisieren sich die Menschen; in ihren Orten oder wo sonst? Dominggus: Ihr müsst daran denken, dass unter Suhartos Regime der „Neuen Ordnung“ Massenorganisationen nur für einzelne Bereiche erlaubt waren: Für Bauern gab es die HKTI, für Arbeiter die SPSI und so weiter. So führte in der „Reformasi“ nach 1998 die allgemeine Unzufriedenheit mit den bisherigen Organisationen die Unsere GesprächspartnerInnen • Dominggus Oktavianus, Generalsekretär der FNPBI (Nationalfront der indonesischen Arbeiterkämpfe) und Vorsitzender von PAPERNAS • Vivi Widyawati, Nationale Koordinatorin des Nationalen Netzwerks für die Befreiung der Frau (Perempuan Mahardhika) • Zely Ariane, Sekretärin für internationale Verbindungen der PRD (Demokratische Volkspartei) • Katarina Pujiastuti, Sekretärin für internationale Verbindungen des KP-PAPERNAS (Vorbereitungskomitee für die Nationale Befreiungspartei der Einheit). 18 Menschen zur Bildung neuer Organisationen, besonders im Arbeiterbereich. Dort war es besonders deutlich, dass die SPSI, die traditionelle „gelbe“ Gewerkschaftsorganisation, sie getäuscht und betrogen hatte. Deshalb wurden viele neue Arbeiterorganisationen gegründet. . Im Jahre 2000 waren ungefähr 12 000 unabhängige Arbeiterorganisationen entstanden. Waren das betriebliche Gewerkschaften? Zely: Es gab viele verschiedene Formen – Organisationen an den Arbeitsplätzen, in den Städten und für ganze Regionen – sie verteilten sich einfach überall, alle unabhängig und zu lokalen oder betrieblichen Fragen … Was waren das für Ziele, für die diese betrieblichen und lokalen Organisationen sich organisierten und kämpften? Dominggus: Vielfach wirtschaftliche Fragen wie Löhne und Entlassungen, Themen wie Outsourcing und soziale Sicherheit. Seit 1998 gibt es unter Arbeiterinnen und Arbeitern die Tendenz, sich um örtliche und betriebliche Fragen zu organisieren. Aber zu bestimmten Anlässen, etwa wenn die Regierung einmal im Jahr über den nationalen Mindestlohn spricht, gelingt es ihnen sich zu vereinen. Dasselbe gilt für die Reform des Arbeitsgesetzes, sowohl das aktuelle wie auch das vorige. Tatsächlich hat es seit 1998 sogar drei Reformen des Arbeitsgesetzes gegeben. Also nur um solche Fragen hat es eine gewisse Einheit gegeben. Aber wenn es um größere politische Fragen auf nationaler Ebene geht, spalten sie sich für gewöhnlich wieder auf. Vermutlich sind stabile Beschäftigungsverhältnisse die Ausnahme in Indonesien. Welcher Art sind dann die Verbindungen mit örtlichen, Wohnviertel-basierten Organisationen, Themen und Kampagnen? Dominggus: Tatsächlich gibt es sehr lose Verbindungen zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern sowie den Bewohnerinnen und Bewohnern von Stadtvierteln. Deren Bewegungen bleiinprekorr 422/423 ########## INDONESIEN ben meist getrennt. Natürlich wissen sie beispielsweise in Fällen wie Entlassungen, dass das eine auch eine Auswirkung auf das andere hat, dass es also beispielsweise die Arbeitslosigkeit erhöhen wird. Aber es gibt keine gemeinsame Kraft, um sie zusammenzuführen und mehr zu fordern. Dies zum Teil, weil sie nach 1998 größtenteils von der internationalen Sozialdemokratie gebildet und geschult worden waren, beispielsweise von der SPDnahen Friedrich-Ebert-Stiftung oder dem mit der amerikanischen AFL-CIO verbundenen American Centre for International Labour Solidarity (ACILS). Von denen haben sie gelernt, sektoral zu bleiben und nur die Themen ihrer eigenen Bereiche aufzugreifen. Das ist der erste Grund. Zely: Tatsächlich begannen wir schon 1998 die städtischen Armen zu organisieren, weil wir verstanden, dass sie eine Verbindung zwischen verschiedenen Sektoren sein könnten. Beispielsweise arbeiten in Kapuk, einem industriell geprägten Stadtteil von Jakarta, Arbeiter und städtische Arme zusammen. Sie leben im selben Gebiet und tende Stärkung der religiösen Rechten seit 1998, einschließlich konservativ-islamistischer Kräfte. Dies kann eine durch die Medienberichterstattung verursachte Täuschung sein oder hat das einen wahren Kern und wenn, was genau passiert da? Dominggus: Strukturell existierte die islamische Bewegung schon un- Aber wenn ihr von sektoralen Organisationen sprecht, die überall aufblühen, für welche Ziele kämpfen beispielsweise all diese örtlichen Organisationen? Geht es um Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen? Zely: Eigentlich haben wir keine Tradition von Organisationen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Stadtteile. Wir haben die Bewegung der städtischen Armen, wir haben die Frauenbewegung und die Studentenbewegung. Aber wir hatten nie Bewegungen in den Wohnvierteln, die die Befestigung ihrer Straßen oder Zugang zu Trinkwasser und medizinischer Versorgung usw. fordern. haben dieselben Grundprobleme, vor allem die medizinische Versorgung. So organisierten wir die städtischen Armen um Fragen wie einen kostenlosen Gesundheitsdienst. Drei Monate vor dem PAPERNASVorbereitungstreffen hatten wir begonnen, mit den städtischen Armen eine Kampagne für Gesundheitsversorgung, Bildung und Löhne zu organisieren – dies ist eine Möglichkeit, Arbeiterinnen und Arbeiter mit den städtischen Armen in ganz Jakarta zusammen zu bringen. Und wir wollen diese Strategie auch anderswo anwenden. Sowohl vor als auch nach 1998 waren wir die Kraft, die immer nach Wegen gesucht hat, diese Situation der Fragmentierung zu überwinden. PAPERNAS ist der jüngste derartige Versuch, aber auch vorher hatten wir eine Reihe von Einheitsfrontinitiativen, um zu versuchen, ein gemeinsames Thema zu finden, das dieses Problem lösen kann. Aber auf dem Vorbereitungstreffen für die neue Partei PAPERNAS in Jakarta kamen die meisten aus der Bewegung der städtischen Armen. Für was kämpfen die? Ich will gleich auf die Frage der PAPERNAS zurückkommen. Aber eins, was Leute, die von außen auf Indonesien schauen, – vielleicht irrtümlich – zu erkennen glauben, ist eine bedeu- ter Suharto. Es gibt verschiedene Arten islamischer Bewegungen. Die einen haben keine reale ideologische Basis; sie sind einfach Instrumente in den Händen des alten Golkar-Parteiapparats oder der Geheimdienste. Die anderen – und davon gibt es nur wenige – sind viel deutlicher ideologisch. Abu Bakar Ba’asyir und seine Anhänger gehören zu dieser Kategorie, die zu Suhartos Zeiten unterdrückt wurde. Wenn man sich also die so genannten „gemäßigten“ oder nicht-ideologischen islamischen Kräfte wie die PKS ansieht, die heute die größte derartige Kraft im Parlament ist, so haben wir deutliche Anzeichen, dass einige ihrer wichtigsten Führer wie Suripto vom indonesischen Geheimdienst trainiert und geführt wurden und werden. Das sind die gemäßigten Kräfte, und die sind etwas anderes als Ba’asyir. Diese Bewegung bekam ihre Chance als Ergebnis der Krise nach 1998. Weil das eine Situation war, in der liberale Politik mit einer wirtschaftlichen Situation zusammentraf, die von DeIndustrialisierung – also Zerstörung der ohnehin schon schwachen industriellen Basis Indonesiens – und allen extremen Gibt es auch Verbindungen zu Parteien wie der PDI-P (Indonesische Demokratische Partei / Kampf, die Partei der früheren Präsidentin Megawati Sukarnoputri)? Zely: Nein, da gibt es keine Verbindung. Dominggus: Einige Gewerkschaftsorganisationen wie die SPN haben sich den großen Parteien wie der PDI-P oder der Golkar (frühere Regierungspartei unter Suharto) oder der PKS (Gerechtigkeits- und Wohlstandspartei, eine konservativ-islamistische Partei) angeschlossen. Aber die breite Mitgliedschaft weiß davon wenig oder gar nichts. inprekorr 422/423 19 ########## INDONESIEN sozialen Konsequenzen des Neoliberalismus geprägt ist. So gab es beispielsweise durch die steigende Arbeitslosigkeit unter Frauen offenkundig mehr Prostitution, ein zunehmendes Drogenproblem, Kriminalität usw. Sie griffen das als moralische Frage auf, machten das zu ihrer Sache, indem sie sagten: ma) und die Muhammadiyah selber Frauen organisieren, allerdings hauptsächlich Mittelklassenfrauen. Sie wurden um religiöse Themen organisiert, nicht um wirtschaftliche Fragen. Das bedeutet, dass es eine Kluft gibt zwischen der konservativen religiösen Bewegung und der Bewegung der Armen. Welche Form nimmt dieser Widerstand gegen die Scharia-Gesetze an? Vivi: In Tangerang gab es Demonstrationen. Die meisten Frauen in Tangerang sind Arbeiterinnen, und daher sind sie tendenziell politischer und mutiger. Dort war die Opposition gegen die Scharia-Gesetze am stärksten. Sie haben auch juristische Schritte an den Gerichten unternommen und Lobbyarbeit gegenüber den Parlamentsabgeordneten gemacht. Doch wir meinen, dass die Durchsetzung konservativer Politik paradoxerweise zeigt, dass die islamistischen Kräfte politisch geschlagen sind. Denn sie müssen zum Gesetz greifen, um ihre Moralpolitik durchzusetzen. Diese Themen, wie das Scharia-Gesetz, werden von der PKS und einigen anderen gemäßigten Kräften ins Parlament getragen, weil ihnen der Einfluss auf die Massen entgleitet. Das Beten alleine wirkt nicht mehr. Demokratiebewegung 1998 Wir müssen zurück zur Religion und uns dieser Art moralischen Verfalls widersetzen. So wurden die extremen sozialen Auswirkungen der Krise zu ihrer Triebkraft. Gleichzeitig waren die alternativen Bewegungen oder Kräfte nicht ausreichend auf die Situation vorbereitet, um den Menschen zu erklären, was geschieht und was unsere Lösung wäre – eine wissenschaftliche oder politische Lösung, nicht die moralische. Wir haben nicht die Durchschlagskraft und die Strukturen, um diese Situation auszunutzen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss man sagen, dass sie diesmal gewonnen haben, dass sie es waren, denen es gelang, die Situation auszunutzen. Welche Auswirkungen hatte die Stärkung des konservativen Islams auf die ärmeren indonesischen Frauen? Vivi: Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass die großen konservativen oder gemäßigten islamischen Kräfte wie die NU (Nahdlatul Ula20 gierung von Tangerang musste die Einführung des Gesetzes verschieben. Aber in der Praxis haben diese Frauen keine Wahl, wann sie abends nach Hause kommen, egal ob die Scharia-Gesetze das „verbieten“. Wenn das durchgesetzt werden soll und Frauen verhaftet werden, dann beginnen sie dagegen zu kämpfen. Denn Frauen mögen die religiösen Argumente akzeptieren, aber sie machen sich nicht viel daraus. Das hat alles nichts zu tun mit den drängenderen wirtschaftlichen Fragen. Aber hat dieser Trend Auswirkungen auf ihr tägliches Leben? Fühlen Frauen sich mehr eingezwängt, weniger frei? Vivi: Wollen wir es so sagen: Arme Frauen haben in ihrem täglichen Leben nichts zu schaffen mit der Politik des konservativen Islams. Aber in manchen Gegenden wie Tangerang außerhalb von Jakarta oder Aceh und anderen, die spezielle örtliche Scharia-Gesetze haben, fühlen sich die Frauen allmählich in ihren Aktivitäten beschränkt. Wie du weißt, sind die meisten Frauen Arbeiterinnen, entweder im formalen Sektor oder in der informellen Wirtschaft. Da kommen sie oft erst spät nach Hause, und diese Gesetze machen ihnen da Schwierigkeiten. Daher gibt es in einigen dieser Regionen Widerspruch von Seiten der Frauen, und die örtliche Re- Das ist interessant; denn wenn du Recht hast, bedeutet das, dass es für die Mehrheit des indonesischen Volkes keine Stärkung des konservativen Islam gibt? Vivi: Ja, das stimmt. Dominggus: Traditionell gibt es zwei Arten von Islam in Indonesien. Der eine ist der „Islam santri“, der stärker religiös und enger mit den Koranschulen oder „pesantren“ verbunden ist, der andere ist der „Islam abangan“, der eher eine Mischung aus Islam und javanesischen Traditionen des Animismus, Hinduismus usw. ist. Der letztere ist größer und weiter verbreitet. Im nationalen Bewusstsein nach der indonesischen Unabhängigkeit gab es auch ein starkes nationales Identitätsgefühl für das Indonesien nicht einfach nur islamisch war, sondern dass es eine Vielfalt von Kulturen mit starker säkularer [weltlicher – d.Red.] Basis gab, so dass Indonesien kein islamischer Staat werden konnte. Und dieses Bewusstsein ist immer noch stark. inprekorr 422/423 ########## INDONESIEN Ihr sagt also, dass der Nationalismus mit seiner starken säkularen Basis einer der Gründe dafür ist, dass der islamische Fundamentalismus – derzeit – in Indonesien nicht funktioniert? Dominggus: Ja, bei den letzten nationalen Wahlen (2004) haben die einzigen fundamentalistischen Parteien, die kandidierten, die PKS und die PBB (Partai Bulan Bintang) zusammen nur etwa 10% bekommen. Die Nationalisten wie Golkar, PDI-P und PKB oder Nationale Erweckungspartei (die letztere könnte man als religiös-nationalistische Partei bezeichnen, weil sie den Gedanken von Gus Dur oder Abdurrahman Wahid, dem früheren Präsidenten, folgt) und auch die Partai Demokratik bekamen hingegen viel mehr, zusammen fast 60%. Daraus kann man sehen, dass die Ideen des fundamentalistischen Islams in Indonesien immer noch nicht so stark sind. Gewiss haben sie Fortschritte gemacht, und sie können viele Menschen auf den Straßen mobilisieren. Aber gleichzeitig kann man auch sehen, dass der Nationalismus immer noch eine säkulare Basis hat und dass die meisten Menschen immer noch daran glauben. Aber zum zweiten hatte die Initiative, wie sie uns gegenüber in Gesprächen ausdrücklich zugegeben haben, die Funktion, Unterstützung für ihren Wahlkampf 2009 zu sammeln. Denn ihnen ist klar, dass sie wegen der Unterstützung der gegenwärtigen SBY-Regierung bis hin zur Absegnung Sprechen wir konkret über das AntiPornographie-Gesetz. Erklärt uns bitte, wie es zu diesem Vorschlag kam und welche Konsequenzen es für Frauen haben würde. Vivi: Das Pornographie-Gesetz ist immer noch im Entwurfsstadium. Ursprünglich wurde es von der PDI-P-Regierung unter Megawati Sukarnoputri eingebracht. Es ist sonderbar, aber es war tatsächlich Megawatis Ministerium für religiöse Angelegenheiten, das erstmals mit dieser Idee herauskam. Aber es wurde nichts daraus. Natürlich bringen, wie Dominggus sagte, die konservativen islamischen Parteien wie PKS und PBB, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, ihre Forderung ein, dass Indonesien ein islamischer Staat werden soll. So war es die PKS, die während der SBY-Regierung (von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono) das Anti-Pornographie-Gesetz erneut aufgriff. Dafür hatte sie zwei Gründe. Das erste von ihnen benutzte Argument war die ganze Liberalisierung des sozialen Lebens, so etwas wie der offenherzigere Kleidungsstil vieler indonesischer Frauen, den sie aus moralischen Gründen ablehnen. Bis 1998: Suharto unterschrieb alles, was IWF-Chef Camdessus verlangte der Brennstoffpreiserhöhung im letzten Jahr und anderer Elemente der liberalen SBY-Wirtschaftspolitik Vertrauen verloren haben. Daher hoffen sie, dass ihnen diese Initiative einen Teil der Unterstützung aus dem Volk zurück bringen könnte, die sie verloren haben. Welche Auswirkungen hätte dieses Gesetz auf die Frauen? Vivi: Bevor ich dazu komme, möchte ich festhalten, dass außer der PKS die meisten der im Parlament vertretenen Parteien derzeit dieses Gesetz unterstützen, einschließlich der PDIP. Es richtet sich hauptsächlich gegen Frauen, denn es gibt einige Artikel im Entwurf, die Frauen tatsächlich kriminalisieren. Vor allem gibt es einen Paragraphen, der es Frauen untersagen will, die „sinnlichen Teile ihrer Körper“ zu enthüllen, womit Beine, Brüste oder Bäuche gemeint sind. Es scheint also, wie manche meinen, dass sich die Regierung mehr um die Kontrolle der Körper als um die Kontrolle der Wirtschaft kümmert! Die zweite große Auswirkung wird die auf Frauen sein, die nachts arbeiten, wozu nicht nur Prostituierte gehören, sondern auch Frauen, die in Bars, Clubs oder sonst wo arbeiten. Und es richtet sich sehr persönlich gegen Frauen als solche – so zum Beispiel in der Model-Branche, wo den einzelnen weiblichen Models Verfolgung droht, aber nicht den Betrieben, die sie in diese Lage bringen. Zely: Das ist also vor allem ein Thema der Mittelklasse. Warum das? Betrifft das nicht die Körper der Frauen der Arbeiterklasse genauso? Vivi: Der Punkt ist, dass es hauptsächlich Mittelklassefrauen sind, die auf solche Fragen reagieren, weil sie sich der Rechte von Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen, bewusster sind, während sich arme Frauen darum nie viel geschert haben. Aber in der Praxis wird die Regierung große Probleme bekommen, wenn sie versucht, dieses Gesetz durchzusetzen. Denn in der Praxis leben viele arme Frauen in sehr offenen Situationen. Beispielsweise sind ihre Schlafräume nicht völlig abgeschlossen, sie duschen auf dem Hof oder baden im Fluss, vielleicht nackt, und das ist kein Problem, keine Belästigung, kein Missbrauch. Es wird also einfach unmöglich sein, dieses Gesetz durchzusetzen. Man inprekorr 422/42321 ########## INDONESIEN Präsident Susilo Bambang Yudhoyono („SBY“) müsste Frauen in großer Zahl verhaften! Die Regierung versteht auch, dass, wenn das Leben der Frauen in den armen Quartieren nach diesen Begriffen „unmoralisch“ ist, dann aus wirtschaftlichen Gründen. Wirklich spüren werden das Gesetz also Frauen die nachts arbeiten, in Clubs und so weiter. Und Mittelklassefrauen sind darauf vorbereitet, dagegen zu mobilisieren. Allerdings hat der Widerstand gegen das Gesetz auf dieser Grundlage – dem demokratischen Recht, über unsere Körper selbst zu bestimmen – in letzter Zeit abgenommen. Der Widerstand basiert jetzt mehr auf Argumenten der kulturellen Vielfalt, wie das Argument, dass wir so viele ethnische und kulturelle Gruppen in Indonesien haben, wie die Papuas, von denen sich einige überhaupt nicht mit Kleidern bedecken, und so weiter. Du meinst, es gibt eine Art ideologischen Rückzug der Opposition gegen das Antipornographiegesetz? Vivi: Es ist eine Frage der Taktik geworden. Grundsätzlich wird die Frauenbewegung alles tun, um die Verabschiedung des Gesetzes zu blockieren oder wenigstens zu verzögern. Und das Argument der Vielfalt stößt auf breitere Zustimmung. Weil sie den Kampf mit den islamischen Kräften nicht direkt aufnehmen können. Und die Frage der Selbstbestimmung über die Körper ist ein sensibles Thema. 22 Du meinst, es ist einfacher die Stammesriten der Papua zu verteidigen? Zely: Das stimmt. Tatsächlich gibt es zwei Fronten in diesem Kampf. An der ersten geht es immer noch um die Frage der Selbstbestimmung über unsere Körper, an der zweiten ist das Thema die kulturelle Vielfalt. Und auf der Basis dieses zweiten Arguments ist es möglich, Unterstützung beispielsweise in Bali zu gewinnen, das mehrheitlich hinduistisch ist, und in Manado, NordSulawesi, wo der Islam eine Minderheit gegenüber dem Christentum ist, und in Papua und anderen säkularen oder überwiegend christlichen Provinzen. So wird es für die sehr schwer werden, dieses Gesetz durchzusetzen. Was ist die Strategie von Perempuan Mahardhika, um damit umzugehen? Vivi: Natürlich lehnen wir dieses Anti-Pornographie-Gesetz ab. Aber in der Praxis ist das nicht unsere erste Priorität. Unsere Strategie ist, beide bestehenden Fronten gegen das Gesetz, die wir beschrieben haben, zu stärken. Die breite Kampagne geht jetzt um die Frage der kulturellen Vielfalt, aber darin werfen wir immer auch die wirkliche Frage auf, die der Selbstbestimmung. Und unsere Kampagne dreht sich darum, welche Auswirkungen das AntiPornographie-Gesetz auf arme Frauen haben wird, beispielsweise auf Frauen, die nachts arbeiten. Wir haben zum Beispiel gerade eine Demonstration armer Frauen zu Gesundheitsfragen orga- nisiert. Und darin haben wir die Frage des Anti-Pornographie-Gesetzes aufgeworfen, und die Situation nachts arbeitender Frauen schlägt tatsächlich eine Brücke zwischen beiden Themen. Grundsätzlich wird das Gesetz Frauen aller Sektoren treffen, vor allem arme Frauen. Aber wie wir sagten, ist es sehr schwierig, eine Bewegung armer Frauen gegen dieses Gesetz aufzubauen. So ist es zur Verantwortung der Mittelklassefrauen geworden, ihr Verständnis der Frage zu verbreiten und das Bewusstsein der Menschen zu schärfen. Arme Frauen lehnen dieses Gesetz spontan ab, insofern als zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sie ohnehin schon haben, weitere hinzukommen. Aber sie haben sich um mehr Grundbedürfnisse zu kümmern, als dass sie sich so einfach zur Frage des Anti-Pornographie-Gesetzes organisieren würden. Es ist wirklich etwas verwirrend, und es ist sehr, sehr schwierig, eine breite Bewegung von Frauen dazu aufzubauen, weil die armen Frauen das Gesetz zwar ablehnen, sich aber andererseits auch nicht genug daran stören, um dagegen aktiv zu werden. Sie werden bestimmt sauer sein, wenn es beschlossen wird. Und sie werden bestimmt nicht diese Schleier oder sonst was tragen. Daher sehen sie es nicht als Thema. Dominggus: Wenn ihr in die einfachen Wohnviertel geht, seht ihr, dass das Leben der Frauen wirklich ziemlich „liberal“ ist. Sie tragen Shorts und TShirts und rauchen… Sie werden dieses Gesetz einfach nicht akzeptieren. Das ist eine Art Tradition in Indonesien. Sie beschließen ein Gesetz, aber es ist einfach nur ein Gesetz – niemand erwartet, dass es wirklich umgesetzt wird. Ich höre, was ihr sagt, aber auf der von der PKS organisierten Demonstration zugunsten des Anti-PornographieGesetzes waren vielleicht eine Million Menschen. Und die meisten von ihnen kamen sicher aus der Arbeiterklasse oder waren Arme, und viele davon Frauen, einige vielleicht Landfrauen? Zely: Nein, nicht wirklich. Dominggus: Nein, wirklich nicht. Die meisten waren Mittelklassefrauen, Studentinnen, Angestellte, Frauen von … Zely: Die sind nicht arm. Vielleicht Hausfrauen aus der Mittelklasse … die inprekorr 422/423 ########## INDONESIEN kommen nicht einmal aus den Dörfern. Die PKS und die islamische Bewegung haben ihre Basis hauptsächlich in der städtischen Mittelklasse. Lasst mich etwas weitergehen. Stimmt es, dass die Gründungsplattform der PAPERNAS, der neuen Partei, die ihr bilden wollt, das Anti-Pornographie-Gesetz nicht erwähnt? Meint ihr, dass das zu schwierig ist, dass es zuviel Uneinigkeit in den verschiedenen Teilen des Volkes dazu gibt? Oder weil ihr denkt, dass das niemanden interessiert? Oder warum? Dominggus: Das macht uns tatsächlich auch zunehmend Sorge. Wir versuchen den Menschen zu erklären, was ihre wirklichen Probleme sind, all die Fragen, die mit neoliberaler Politik zusammenhängen: Privatisierung, Auslandsschulden, De-Industrialisierung usw. Wir versuchen das zu betonen, um den Menschen zu zeigen, dass die Probleme, denen wir ausgesetzt sind, nicht moralische oder religiöse Fragen, sondern wirtschaftliche und politische Fragen sind. Das sind die elementaren Dinge, die das Leben der Menschen betreffen. Aber wir sehen auch, dass die islamische Bewegung Ergebnis des Fehlens einer Alternative in dieser Situation ist. Und sie können so schnell wachsen, weil es für die meisten Menschen keine sichtbare Alternative gibt, die irgendeine Lösung für ihre grundlegenden Probleme anbietet. Deshalb mobilisieren diese Kräfte auf der Basis, dass der Islam die Alternative, die Lösung sei. Und wir müssen den Menschen einfach erklären, dass die Alternative in der anti-neoliberalen Bewegung und dem Kampf für eine Regierung, die uns von neoliberaler Globalisierung befreit, liegt. Aber wir haben keine spezielle Kampagne zur Frage des Fundamentalismus. Das ist ein sensibles Thema. Denn ihr müsst euch erinnern, dass es seit den Massakern von 1965 völlig stigmatisiert ist, antireligiöse Gefühle mit Kommunismus zu verbinden. Was ist denn nun die Hauptplattform der neuen breiten Partei, PAPERNAS, an deren Gründung ihr beteiligt seid? Katarina: Unser Hauptprogramm ist das, was wir die drei Banner der Einheit nennen: Nichtanerkennung der Auslandsschulden, Nationalisierung der Öl-, Energie- und Bergbaubetriebe, was eine Grundfrage der nationalen Souveränität ist, und ein Programm der nationalen Industrialisierung, von dem wir uns die Schaffung von Arbeitsplätzen erwarten. Was sind die verschiedenen Kräfte, die an der Bildung von PAPERNAS beteiligt sind? Katarina: Auf nationaler Ebene sind es drei Gewerkschaften, die FNPBI, in der ich organisiert bin, die SPB (Arbeitersolidaritätsgewerkschaft) und die Automobilarbeitergewerkschaft aus dem Fahrzeugbau. Dann gibt es eine fortschrittliche Partei, die PRD, wie auch nationale Studentenorganisationen wie die Buddhistische Studentenorganisation und den LNMD (Nationaler Studentenbund für Demokratie) sowie die Organisation der städtischen Armen (SRMK). Aber es gibt nicht nur nationale Gründungsorganisationen. Wir haben eine Anzahl lokaler Organisationen, Bauernverbände, örtliche Gewerkschaftsgruppen und Studentenorganisationen, die unabhängig von nationalen Verbänden sind. Daher versuchen wir, auch örtliche PAPERNAS-Gründungskonferenzen überall im Lande zu organisieren, um so viele örtliche Organisationen wie möglich in der einen Bewegung zusammenzuführen. Und warum gerade jetzt? Katarina: Das Hauptziel ist, die Bewegung zu vereinigen um sie zu stärken. Die Menschen haben dem Neoliberalismus auf alle möglichen Arten Widerstand geleistet, aber sehr zersplittert. Wir haben es nie geschafft, uns als stärkere Kraft zu vereinen, um zu zeigen, dass es wirklich eine Alternative gibt. Wie fügt sich das alles in die allgemeine Situation der antineoliberalen Bewegung in Asien ein? Ich erinnere mich, dass jemand mal vor einigen Jahren sagte, die „Global Justice“-Bewegung habe die politische Situation für die Linke in Europa und auf andere Weise in Nord- und Lateinamerika geändert. Aber sie werde niemals die internationale Situation wirklich verändern, solange sie nicht tiefe Wurzeln in Asien geschlagen habe… Zely: Die Situation ist anders als in Lateinamerika. Dort gibt eine län- gere Geschichte des Widerstands gegen den Neoliberalismus. Weite Teile Lateinamerikas waren das erste Laboratorium für das neoliberale Programm, als Washingtoner Konsensplan bekannt geworden. Für uns ist es eine relativ neue Erfahrung. Tatsächlich ist es eine enorm wertvolle Gelegenheit für die Bewegung in Indonesien und im übrigen Asien, da die Menschen bewusster werden für die Auswirkungen des Neoliberalismus. Sie verstehen, dass Privatisierung eine Bedrohung ihrer Löhne und Arbeitsplätze ist, dass Liberalisierung des Handels eine Bedrohung für die Bauern ist, und gleichzeitig sehen wir, dass Kampagnen außerhalb Asiens Alternativen entlang des „Eine andere Welt ist möglich“ entwickeln, und dass es auch Entwicklungen in Lateinamerika gibt. Das gibt uns den Rückenwind, um über Alternativen zu sprechen. Aber die Situation ist noch nicht sehr reif, denn wir haben erst sechs oder sieben Jahre lang Kampagnen auf diese Fragen des Neoliberalismus konzentriert. Deshalb müssen wir die richtige Strategie erst noch finden. Die Initiative für PAPERNAS ist unser Versuch, die richtige Strategie zu finden, um den Neoliberalismus anzugreifen und eine wirkliche Alternative zu entwickeln. Aber immer noch ist die Situation in Asien sehr verschieden von der anderswo, vor allem in Lateinamerika. Denn ich denke, zu einem gewissen Grad hat es [bei uns] eine Niederlage der demokratischen Bewegungen nach der Zeit der Diktatur gegeben. Die meisten Parteien oder wichtigsten Organisationen, die die politischen Kampagnen unter der Diktatur führten, haben große Verluste an Mitgliedern erlitten. Daher gibt es einen großen Bruch zwischen der Ära der Diktatur und der demokratischen Periode. Das gilt für Indonesien und ebenfalls für die Phi­ lippinen. Somit stehen wir vor der Aufgabe des Wiederaufbaus einer Linken, um dem neoliberalen Programm zu begegnen. Das ist die subjektive Situation … bitter für Asien! Aus: International Viewpoint, Nr. 382, Oktober 2006, http://internationalviewpoint.org/spip. php?article1151 Übers.: Björn Mertens inprekorr 422/42323 ########## Hisbollah Dadurch, dass Hisbollah („Partei Gottes“) es im Sommer 2006 geschafft hat, der israelischen Aggression gegenüber stand zu halten, nachdem sie zuvor schon im Jahr 2000 die israelischen Truppen dazu gezwungen hatte, aus dem Süd-Libanon abzuziehen, hat sie die Aufmerksamkeit aller antiimperialistischen Kräfte auf sich gezogen. Der Erfolg hat dieser Bewegung auch Sympathien eingebracht, die zum Teil bis zur Idealisierung reichen, als Reaktion auf die Einstufungen als „terroristische“ und „islamo-faschistische“ Kraft durch die Bush-Administration, womit sie mit Al-Qaida in ein und denselben Sack gepackt wird. So geht Nahla Chahal, eine Soziologin libanesischer Herkunft, soweit, dass sie in einem Interview mit Rouge1 sagt: „Hisbollah ist sich noch nicht genügend dessen bewusst, dass sie eine Bewegung der Theologie der Befreiung ist“ – als könne Theologie gemacht werden wie Prosa produziert werden kann, ohne dass man etwas weiß2. In der vorigen Ausgabe von Inprecor Nr. 520 (September/Oktober) haben wir Gilbert Achcars Analyse von Hisbollah und des islamischen Fundamentalismus veröffentlicht.3 In dieser Ausgabe bringen wir weitere Beiträge: einen von Nicholas Qualander, Mitglied der Ligue communiste révolutionnaire (LCR), der französischen Sektion der IV. Internationale, der an einer Dissertation über Entwicklungen des politischen Islam im Nahen Osten arbeitet; einen von Chris Harman, einem führenden Mitglied der International Socialist Tendency (IST) und der britischen Socialist Workers Party (SWP); ein Interview mit Marie Nassif-Debs, die dem Politischen Büro der Libanesischen Kommunistischen Partei angehört und sich gerne bereit erklärt hat, unsere Fragen zu beantworten, als sie sich im September in Paris aufhielt. Jan Malewski [übersetzt von Friedrich Dorn] „Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegung Nicolas Qualander „Der Islam ist genauso wenig wie andere Ideologien unfähig, sich an neue Realitäten anzupassen oder an sie angepasst zu werden. Die muslimischen Völker können sich, mit oder ohne Islam, in Richtung Fortschritt oder Rück „Le déclin d’Israël“ (Interview, geführt von Chris Den Hond u. Nicholas Qualander), in: Rouge, Nr. 2172, 14. September 2006, S. 16. – Nahla Chahal ist internationale Koordinatorin der „Campagnes civiles pour la protéction du peuple palestinien“ (CCIPPP) und lebt als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Paris. In den 1970iger Jahren war sie Leitungsmitglied der Organisation d’action communiste du Liban (OACL). Anspielung auf Monsieur Jourdains Ausspruch „faire de la prose sans le savoir“ in Molières Stück „Le bourgeois gentilhomme“ (1670, dt.: Der Bürger als Edelmann). Gilbert Achcar, „Le Hezbollah“ (Auszug aus Interview mit Jim Cohen und Dimitri Nicolaïdis für Mouvements, Paris, Nr. 47), in Inprecor Nr. 520, September/Oktober 2006, S. 9, sowie „Onze thèses sur la résurgence de l’intégrisme islamique“, S. 16– 19. Im Internet: http://www.inprecor.org. Beide konnten wir in der deutschen Inprekorr leider nicht veröffentlichen. Die 1981 verfassten elf Thesen über den islamischen Fundamentalismus sind auf englisch nachzulesen in einem Band mit gesammelten Analysen von Gilbert Achcar: Eastern Cauldron. Islam, Afghanistan, Palestine and Irak, aus dem Französischen übersetzt von Peter Drucker, London: Pluto Press, 2004. 24 schritt entwickeln, ihre Regierungen können totalitär oder liberal sein, ihre Massen offen gegenüber vielen Geistesströmungen oder fanatische Anhänger eines Konformismus gegenüber alten oder neuen Dogmen. Das hängt von vielen Faktoren ab, unter denen das kulturelle Erbe der muslimischen Welt, das wesentlich reichhaltiger ist, als man gemeinhin denkt, nur ein Element und bei weitem nicht das wichtigste ist. Noch ist nichts entschieden und nichts verloren.“ Eine Trendwende Die Ereignisse von Juli und August 2006, die den israelischen Plan, den libanesischen Widerstand in die Schranken zu weisen, scheitern ließen, kommen einem politischen Erdbeben gleich. Es wird einige Zeit dauern, bis ermessen werden kann, wie sehr der historisch-politische Bezugsrahmen durch diesen 33-Tage-Krieg erschüttert wurde. Israel steckt heute in einer militärischen, moralischen und symbo Maxime Rodinson, L’islam, doctrine de progrès ou de réaction? In: Marxisme et monde musliman, Paris 1972, S. 129. lischen Krise, da die israelische Armee erstmals eine empfindliche Niederlage erlitten hat, war diese doch eines der politischen Fundamente der israelischen Macht, die bis anhin einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaft einnahm. Das militärische Scheitern verband sich in gewissem Maß mit einer politischen Niederlage Israels, dem es nicht gelungen war, den politisch-militärischen Apparat der Hisbollah (der Partei Gottes) zu zerschlagen, aber auch der Vereinigten Staaten, denen es nicht gelungen war, gegenüber der „internationalen Gemeinschaft“ [Anführungszeichen d. Red.] und der libanesischen Regierung die Stationierung von NATO-Truppen mit einem Mandat zur Entwaffnung der schiitischen Volksmiliz durchzusetzen. Auch wenn die Resolution 1701 für den libanesischen Widerstand zahlreiche Fallstricke enthält, ist sie für die Westmächte einschließlich Frankreichs allenfalls eine Mindestgrundlage. Seit Sommer 2004 steht der Libanon im Brennpunkt der kolonialen Umschichtungen des Westens. Resolution 1559, die den Rückzug Syriinprekorr 422/423 ########## Hisbollah ens aus dem Libanon und die Entwaffnung aller libanesischen Milizen fordert und gemeinsam von Frankreich und den Vereinigten Staaten ausgearbeitet wurde, hat die libanesische „politische Klasse“ [Anf.Z. d. Red.] ziemlich gespalten und neue Risse in den Konfessionsgemeinschaften aufgetan. Die Kräfte des 14. März, die im Wesentlichen aus den christlichen Forces libanaises von Samir Dschadscha, der drusischen Sozialistischen Fortschritts­ partei von Walid Dschumblat, der sunnitischen Zukunftsströmung von Saad Hariri, aber auch der Bewegung der demokratischen Linken, einer Abspaltung der Kommunistischen Partei Libanons (KPL) bestehen, haben sich in den letzten zwei Jahren als die wichtigsten Stützen der politischen Offensive des Westens im Libanon erwiesen. Sie forderten nicht nur den Rückzug der syrischen Truppen, sondern sprachen sich auch für die Entwaffnung des libanesischen Widerstands im Süden aus und entsprachen damit indirekt den israelischen Forderungen. Die Koalition des 8. März unter Führung der Hisbollah, die ihre wichtigste soziale Basis unter den SchiitInnen hat, aber auch von prosyrischen Kräften unterstützt wird, die sich auf einen Teil der sunnitischen und christlichen Gemeinschaften stützen, beantwortete diese Offensive, indem sie auf den arabischen Charakter des Libanons und die Notwendigkeit pochte, eine politische Linie beizubehalten, die im Gegensatz zu den amerikanisch-israelischen Interessen in der Region steht. Das bedeutete gleichzeitig, die strategische Partnerschaft der Hisbollah mit dem Iran und Syrien aufrecht zu erhalten. Während zwei Jahren versuchte die KPL, eine ausgewogene antiimperialistische Haltung zu entwickeln, die den islamischen Widerstand im Südlibanon klar unterstützte, für die Aufrechterhaltung der Bewaffnung desselben einstand, aber dennoch den totalen Rückzug der syrischen Truppen forderte und mit ihrer Kritik am diktatorischen Charakter des Baath-Regimes nicht hinter dem Berg hielt. Auf der Grundlage dieser Polarisierung des politischen Lagers im Libanon hofften Amerikaner, Franzosen und Israelis, die Schiitenorganisation schwächen zu können, die seit 2000 und dem einseitigen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Südlibanon im Empfinden der arabischen Menschen das neuralgische Zentrum eines konsequenten antikolonialen Widerstands bildet. Die geplante Zerschlagung des libanesischen Widerstands wäre nicht nur ein Vorspiel auf einen sicher zu erwartenden allgemeinen Angriff auf den Iran und Syrien gewesen, sondern entsprach auch dem Bestreben, auf lange Zeit jegliche Aussicht auf eine wirkliche Opposition gegen die amerikanischen Pläne eines „Greater Middle East“ und die expansionistischen Gelüste Israels zunichte zu machen. Doch das hieß die Fähigkeit der Hisbollah zu unterschätzen, die Verbindung zwischen dem Aufbau eines starken militärischen Widerstands und dem Aufbau breiter politischer Bündnisse zu gewährleisten und die Logik der politischen und konfessionellen Polarisierung in zwei Lager zu überwinden. Die Herstellung des nationalen Konsenses ist ein Leitmotiv der Hisbollah. Im 33-Tage-Krieg verband sich der politisch-militärische Widerstand der Hisbollah mit einer breiten politischen Front zur Unterstützung des Widerstands und einem gesellschaftlichen Widerstand, der über die Gruppe der SchiitInnen hinausreichte. Seit Februar 2006 verfolgt die Hisbollah eine Logik der politischen Partnerschaft mit der Freien Patriotischen Strömung von General Aun, einer ursprünglich vehement antisyrischen christlichen Organisation, die heute mit der Hisbollah verbündet ist, um ein Gegengewicht zum Hariri-Block zu bilden. Zu diesem steht sie heute in Konkurrenz, und sie spricht sich unterdessen auch gegen die politische Zusammenarbeit mit dem Westen aus. Die Unterstützung eines Teils der christlichen Bevölkerungsgruppe während des Konflikts hat sich als entscheidend erwiesen, da das strategische Ziel war, jede Polarisierung entlang der Konfessionsgrenzen zu vermeiden, die die Kraft des Widerstands im Süden beeinträchtigt hätte. Zudem entstand im Juli 2006 rasch eine nationale Widerstandsfront, zu der die Hisbollah, die KPL (die in einem Appell vom 29. Juli dazu aufrief, „die Waffen wieder aufzunehmen“), die Partei von Nadschih Wakim (eine linke, mehrheitlich griechisch-orthodoxe arabisch-nationalistische Organisation), die Dritte Kraft des ehemaligen Ministerpräsidenten Selim Hoss und andere kleinere arabisch-nationalistische oder linke Kräfte gehörten. Es entstand also eine politische Front, die über die prosyrischen Parteien hinaus- reichte. Die Aun-Strömung fuhr in ihrer Politik der Solidarität mit der Hisbollah fort, während im Süden und in Baalbek im Osten eine militärische Koordination zwischen dem islamischen Widerstand und bewaffneten Gruppen, die aus der Kommunistischen Partei und der Amal hervorgegangen waren, eingerichtet wurde. Schließlich entstand auch ein breites multikonfessionelles Netzwerk aus Nichtregierungsorganisationen mit einer im Allgemeinen ausgesprochen jungen Basis, die beispielsweise in einer Struktur namens Samidun zusammengeschlossen war und sich auf die soziale Solidaritätsarbeit mit den libanesischen Flüchtlingen auf der politischen Linie der Unterstützung des Widerstands konzentrierte. Es gab also ein Zusammenwirken zwischen dem Hisbollah-eigenen Volkswiderstand, der aus einem politischen, einem militärischen (Islamischer Widerstand) und einem sozialen Zweig (dem Netzwerk der Stiftungen für Märtyrer, Verletzte und Flüchtlinge) besteht, und andererseits einem breiten politischen und gesellschaftlichen Widerstand über die Spaltungen zwischen Konfessionsgemein­schaften hinweg, der insbesondere Sunniten und Christen umfasste. Diese Zusammenarbeit trug zum Scheitern des amerikanischisraelischen Plans bei, der im Libanon keine ausreichende politische Unterstützung finden konnte, um den Widerstand zu brechen. Hier kann von einem Bruch mit dem Rahmen der Jahre 1970 und 1980 gesprochen werden, als Israel sich auf einen Teil der maronitischen Christen stützen konnte, um im Libanon zu intervenieren. Der Trend hat sich also gekehrt, und die lange Abfolge von arabischen Niederlagen, die „die Hirne und Herzen beugt“, konnte anscheinend unterbrochen werden. Die Ereignisse von Juli/August 2006 haben im Übrigen die Widersprüche und Besonderheiten der Hisbollah offengelegt, die sich unterdessen von der gesamten restlichen Szene des islamischen Fundamentalismus unterscheidet. Ihre Fähigkeit, langfristig breite Bündnisse mit nichtreligiösen politischen Strukturen einzugehen und gewisse, der libanesischen Nation eigene konfessionelle Spaltungen zu überwinden, zwangen sie zu bedeu Rachad abu Shawar, Alle Faktoren des Sieges (auf Arabisch), Al Quds al Arabi, 9. August 2006 inprekorr 422/42325 ########## Hisbollah tenden strategischen Anpassungen. So betont der libanesische Historiker und Ökonom Georges Corm: „Der patriotische, nationalistische Diskurs dieses libanesischen Widerstands dürfte langfristig die verschiedenen Formen islamisch-fundamentalistischer Rhetorik verändern, um sie aus ihrer Verrücktheit zu befreien und in die verschiedenen nationalen, lokalen und panarabischen Realitäten einzubetten.“ Eine facettenreiche Geschichte Die Hisbollah stand von Anfang an auf einem Scheideweg. Ihre lange Entstehungsphase zwischen 1982 und der Veröffentlichung des Aufrufs der Benachteiligten 1985 ist eine Folge von drei für den Nahen Osten entscheidenden Ereignissen, die bis heute nachwirken: Erstens die israelische Invasion im Libanon 1982 und die Besatzung des Südlibanons seit 1979, zweitens die Auswirkungen der iranischen Revolution von 1979 auf die politische Landschaft der arabischen Welt, und drittens die politische Selbstbehauptung der schiitischen Gruppe im Lauf der 1960er und 1970er Jahre mit der Bewegung der Benachteiligten von Imam Musa Sadr im Libanon und mit der islamistischen Schiitenpartei Ad-Dawa von Muhamad Baqir As-Sadr im Irak. Nach der historischen Niederlage des arabischen Nationalismus von Nasser und den Baathisten, die symbolisch in der arabischen Niederlage gegen Israel 1967 und der Unterwerfung des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat unter die Amerikaner und Israelis zum Ausdruck kam, wurde die Iranische Revolution 1979 mit ihrer Mischung aus antiimperialistischer Drittweltrhetorik und Verstaatlichung eines fundamentalistisch ausgelegten Islam zum Symbol für die arabische Welt und ließ zahlreiche junge linke oder nationalistische AktivistInnen ins Lager des islamischen Fundamentalismus überlaufen. So bekannten sich beispielsweise zahlreiche maoistische Kader, insbesondere des linken Flügels der palästinensischen Fatah, der Katiba at-Tullabiya und der Studentenbrigaden nach und nach zum Islam und zum Teil zur Georges Corm, Interview in Tel Quel online vom 24. September 2006. Die Fragen stellte Yussef Ait Akdim. 26 Hisbollah. Dieselben Studentenbrigaden litten übrigens auch unter der Konfessionalisierung des libanesischen Bürgerkriegs, der die Linke ebenfalls erfasste. Sie weigerten sich beispielsweise, 1978 an Massakern und Plünderungen im christlichen Dorf Damur teilzunehmen, die teilweise von der Sozialistischen Fortschrittspartei durchgeführt wurden. „Diese dem Maoismus nahestehende marxistische Strömung zeichnete sich durch ihre Kampfhandlungen gegen die israelische Armee im Südlibanon seit 1976, vor allem aber während der ersten israelischen Invasion 1978 aus. Die Strömung zeichnete sich auch durch eine gewisse intellektuelle Lebendigkeit, durch einen Debattenreichtum und Hinterfragungen aus. Die Suche nach einer dem zivilisatorischen Kontext der arabisch-muslimischen Welt angepassten revolutionären Theorie führte diese Aktivisten schrittweise zur Wiederentdeckung des Islam.“ Neben dem maoistischen, linken Rand beteiligten sich zahlreiche andere Strömungen an der Entstehung der Hisbollah: die libanesischen Mitglieder der irakischen Exil-Islamistenpartei Ad-Dawa, die für die Errichtung eines islamischen Staates durch Machtergreifung waren, Gruppen wie die Libanesische Union muslimischer Studenten und die Sammlung der Ulamâ der Bekaa-Ebene, die Anhänger von Imam Muhammad Hussein Fadlallah, einem ausgesprochen beliebten schiitischen Geistlichen, der in den südlichen Vororten Beiruts predigt und dessen Thesen eine Mischung aus islamischer Wiederentdeckung und einer Art von sozialem Drittweltdenken sind. Fadlallah postulierte als einer der ersten 1988 die praktische Unmöglichkeit, im Libanon einen islamischen Staat einzurichten, und verbreitete damals das Konzept des „humanistischen Staates“ (dawalat al-insan), das auf der Entkonfessionalisierung des libanesischen politischen Systems beruht. Die Gründung der Hisbollah ist schließlich auch organisch mit der Spaltung der Amal-Bewegung verbunden. Amal, deren Anfangsbuchstaben für Brigaden des libanesischen Widerstands stehen, ist der bewaffnete Arm der Bewegung der Benachteili Walid Charara und Frédéric Domont, Le Hezbollah, un mouvement islamo-nationaliste, Paris 2004, S. 93. gten des 1978 verschwundenen Imams Mussa Sadr. 1974 verstand sich diese Bewegung ursprünglich als eine Partei der Selbstbehauptung der SchiitInnen als politische Gemeinschaft. Sie sind tatsächlich eine der ärmsten Konfessionsgruppen im Libanon, sind politisch unterrepräsentiert und leben hauptsächlich im Südlibanon, aber auch im Osten rund um die Stadt Baalbek und in den südlichen Vororten Beiruts. In der Amal gibt es keine klare ideologische Ausrichtung; sie schließt unterschiedslos SchiitInnen von der konservativsten Rechten bis zur extremen Linken ein. Jedenfalls verließen 1982 nahezu 500 Mitglieder rund um Hussein alMussawi die Amal und gründeten die Islamische Amal, die zum wichtigsten Rückgrat der Hisbollah wurde. Sie lehnen sowohl die säkulare Einstellung des neuen Amal-Führers Nabih Berri als auch dessen Abrücken vom palästinensischen und libanesischen Widerstand seit 1982 ab. Die neue Organisation profitierte damals vom militärischen Training und der politischen Zusammenarbeit der iranischen Islamischen Revolutionswächter, die sich hauptsächlich in der Bekaa-Ebene aufhielten. Das erklärt den ausgesprochen hybriden Charakter der Hisbollah, die auf den beiden Grundlagen, dem schiitischen islamischen Fundamentalismus und der nationalen Frage, beruht. Sie hat politische Kader übernommen, die nicht alle aus einem islamischen Kontext kommen, sich aber infolge des Scheiterns der Linken und des Nationalismus und auf der Grundlage einer Wiederaneignung des kulturellen schiitischen Erbes, das sie im Kampf gegen die Besatzung für ausgezeichnet mobilisierbar hielten, einer politischen Interpretation des Islam zuwandten. Die Verkündung des Aufrufs der Benachteiligten in der Bir al-Abd-Moschee im Süden Beiruts am 16. Februar 1985 zeugt von diesem doppelten Charakter der Hisbollah als Partei, die für den Widerstand der von Israel besetzten Gebiete kämpft und sich gleichzeitig politisch und ideologisch zu Khomeini und dem Iran bekennt, die dem Text zugestimmt hatten. Der Aufruf spricht sich für einen islamischen Staat nach iranischem Vorbild aus, verzichtet aber darauf, diesen „gewaltsam durchsetzen“ zu wollen. Er ruft dazu auf, „den Libanon vor jeder Abhängigkeit gegenüber dem Osinprekorr 422/423 ########## Hisbollah ten oder dem Westen zu bewahren“ und „den zionistischen Besatzer zu besiegen“ und „ein auf der freien Wahl der Bevölkerung beruhendes politisches System“ zu errichten. In der Folge griff die neu gegründete Bewegung die KPL-AktivistInnen, die sich in der Nationalen Front des libanesischen Widerstands engagiertren, an und ist verantwortlich für den Tod zweier ihrer brillantesten Intellektuellen, Hussein Mroue und Mahdi Amil, vermutlich. Gleichzeitig kritisierte sie Syrien und dessen Hauptverbündeten Amal, als diese 1985 den Lagerkrieg gegen die PLO vom Zaun brachen. Sie ergriff ausdrücklich Partei für die Rechte der PalästinenserInnen im Libanon, auch um den Preis, Damaskus damit zu verärgern. Erst nach und nach gewann der Nationalismus in der Hisbollah die Oberhand über den islamisch-fundamentalistischen Aspekt. Eines der deutlichsten Zeichen dafür ist die Beteiligung am politischen System des Libanons in der Folge des Friedensabkommens von Taif 1990. Als einzige politische Partei, der es erlaubt war, ihre Waffen zu behalten, übernahm sie de facto die politische und militärische Führung des Widerstands im besetzten Süden. Daher erachtete sie es zu diesem Zeitpunkt als nötig, mit dem Rest des politischen Spektrums im Libanon zusammenzuarbeiten, da der Aufbau eines nationalen Konsenses zum Schutz des Widerstands eine unerlässliche Voraussetzung für ihre Existenz als politisch-militärische Organisation war. Im Lauf der 90er Jahre leitete ihr neuer Generalsekretär Hassan Nasrallah einen offeneren Kurs ein und gab offiziell den Plan eines islamischen Staates im Libanon auf. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der schrittweisen Öffnung der Hisbollah gegenüber anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften und ihrem Streben nach Anerkennung als wichtigste Partei des Widerstands. In dieser Zeit nahm die Hisbollah wieder Beziehungen zu den linken und nationalistischen Organisationen auf und rief am 18. August 1997 im Hotel Bristol in Beirut zu einer Konferenz in Unterstützung des Widerstands auf, an der 27 linke und nationalistische Organisationen teilnahmen. Im militärischen Bereich erlaubte die Gründung der Libanesischen Widerstandsbrigade gegen die Besatzung ab 1996 jungen AktivistInnen anderer Konfessionen oder anderer politischer Richtungen, sich neben dem Islamischen Widerstand, dem bewaffneten Arm der Hisbollah, an Widerstandsaktionen zu beteiligen. Unter den nahezu 2000 Mitgliedern sind 38 Prozent Sunniten, 25 Prozent Schiiten, 17 Prozent Christen und 20 Prozent Drusen, während sich die Hisbollah weiterhin vollständig aus Schiiten zusammensetzt. Schließlich beteiligte sich die Hisbollah 1994 an der Gründung der Nationalistischen Islamischen Konferenz, einer panarabischen Struktur, zu der islamisch-fundamentalistische, nationalistische und linke Organisationen gehören und die zum Ziel hat, taktische und programmatische Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Gruppen zu suchen, die früher in Konflikt miteinander standen. Diese Konferenz tritt noch immer alle vier Jahre zusammen. Als der israelische Regierungschef Ehud Barak im Mai 2000 beschloss, seine Truppen einseitig aus dem Südlibanon abzuziehen, erntete die Hisbollah die politische Dividende. Denn ein Großteil der LibanesInnen war damals davon überzeugt, dass sich die Israelis ohne den Widerstand der Hisbollah nie zurückgezogen hätten. Nicht zuletzt baute die Hisbollah nach dem Vorbild anderer islamischfundamentalistischer Bewegungen nach und nach eine Hegemonie über die libanesische Bevölkerung auf und wurde so zu einem sozialen wie politischen Akteur. Ihre Arbeit konzentriert sich auf vier Bereiche: das Politische, das Militärische, das Soziale und das Kulturelle. Ihre politische Führung ist komplex organisiert und setzt sich aus drei Organen zusammen: einem Politbüro, einem Exekutivkomitee und einer Beratenden Versammlung (madschlis asch-schoura), zu der mehrere lokale Kommandos dazukommen. Der Islamische Widerstand, ihr bewaffneter Arm, umfasst geschätzte 3 000 bis 15 000 Milizionäre, zu denen noch der eigene Geheimdienst kommt. Er funktioniert als Guerilla, doch die Operationen im Juli/August 2006 haben gezeigt, dass er auch als Kern einer regulären Armee fungieren kann und in der Lage ist, einen langen Bodenkampf durchzuhalten. Dazu kommt noch ein Arsenal an Raketen, die gemäß dem Generalsekretär der Hisbollah auf 20 000 geschätzt werden, sowie alle Lang- und Kurzstreckenraketen, die vom Iran geliefert wurden und üblicherweise nicht zum „klassischen“ Arsenal einer Guerillabewegung gehören. inprekorr 422/42327 ########## Hisbollah Der Volkswiderstand stützt sich sowohl auf einen Medienapparat – den TVSender al-Manar und den Radiosender an-Nur – als auch auf einen Komplex an sozialen und karitativen Einrichtungen, die die Mängel des libanesischen Staates ausgleichen und von der Hisbollah selbst de facto als „öffentlicher Dienst“ bezeichnet werden. Zu diesen Institutionen gehören der Dschihad al-Binaa, der sich dem Wiederaufbau zerstörter Dörfer und Stadtteile widmet und zudem die südlichen Vororte Beiruts mit Wasser versorgt, die Islamische Gesundheitsorganisation, die mehrere Gesundheitszentren betreibt, die Institution aschSchahid, die sich um Familien kümmert, deren Angehörige im Kampf oder durch Bomben umgekommen sind, etc. Diese politische, soziale und kulturelle Hegemonie der Hisbollah in der libanesischen Gesellschaft ist paradoxerweise eine Hegemonie ohne Herrschaft, insofern sie nicht mehr Teil einer Strategie der Machtübernahme oder der Zerschlagung gegnerischer politischer Kräfte ist. Die Entwicklung des Volkswiderstands ist im Übrigen untrennbar mit der finanziellen Hilfe des Irans an die Hisbollah verbunden, deren Höhe unbekannt ist, die aber auf Dutzende Milliarden Dollar jährlich geschätzt wird. Die Schiitenorganisation verfügt allerdings auch über ihre eigenen autonomen Finanzquellen, die im Wesentlichen aus den Spendenkampagnen unter libanesischen und ausländischen Geldgebern, insbesondere aus den Golfstaaten und der libanesischen Diaspora in Afrika, aus jährlichen Almosensammlungen (zakat) sowie aus Einkommen herrührt, die durch Investitionen in Immobilienprojekte generiert werden. Widersprüche und Übereinstimmungen Laut Ali Fayyed, Mitglied des Politbüros der Hisbollah und verantwortlich für das Beratungszentrum für Studium und Forschung, die Denkfabrik der libanesischen Bewegung, verkörpert die Hisbollah „eine nationale, panarabische und islamische Dimension. Die vierte Dimension ist die schiitische. Diese Dimension betrifft nur die Lehre und Ideologie. Diese Dimensionen kommen auf unterschiedlicher Ebene zum Tragen. Die nationale Dimension der Hisbollah kommt in ihren Beziehungen zu den anderen libanesischen 28 Kräften zum Tragen, die arabische in den Beziehungen zu Syrien und anderen arabischen politischen Kräften, die islamische in den Beziehungen zum Iran. Übereinstimmungen mit anderen Kräften bestehen hauptsächlich in der Palästinafrage und im Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus.“ Allerdings wirft die Offenheit der politischen Identität, die die Hisbollah für sich beansprucht, Fragen auf. Denn sie bringt gewisse, für islamisch-nationalistische Organisationen kennzeichnende Widersprüche hervor: • Die Hisbollah hat die Aufgabe des nationalen Befreiungskampfs zu ihrem wichtigsten Leitmotiv erhoben. Noch heute ist sie durch ihr beharrliches, legitimes Pochen auf die Frage der von Israel besetzten Gebiete, d.h. die Shebaa-Farmen und die Hügel von Kafr Shouba, und ihre Verteidigung der Rechte der PalästinenserInnen eine der wichtigsten Organisationen im Na­hen Osten, deren politische Praxis völlig auf nationale, antikoloniale Ziele ausgerichtet ist. Nichts desto trotz ist die Hisbollah eine konfessionelle Schiiten-Organisation. Sie muss also mit der Tatsache zurechtkommen, dass ihre gesellschaftliche Basis und ihre AktivistInnen ausschließlich SchiitInnen sind und Nicht-SchiitInnen der Hisbollah nicht beitreten können. Zwar gibt es sympathisierende Kreise, die der Hisbollah nahe stehen, wie beispielsweise die Libanesischen Widerstandsbrigaden gegen die Besatzung. In ihrer Parlamentsgruppe gibt es auch christliche und sunnitische Abgeordnete. Doch das ist ein begrenztes Phänomen. In der Vorstellung der Bevölkerung und im politischen Denken ist die Hisbollah symbolisch zur wichtigsten arabischen Widerstandsorganisation aufgestiegen, deren Beliebtheit bei weitem die konfessionellen und politischen Spaltungen, die die arabische Welt auszeichnen, überwindet, obwohl ihre Struktur und Zusammensetzung rein schiitisch ist. • Die Hisbollah setzt sich offiziell für die Abschaffung des konfessionellen, kommunitären libanesischen Systems ein, seit sie sich erstmals an Parlamentswahlen beteiligt hat. Schon in ihrem Ali Fayyed, Gespräch mit dem Autor, Beratungszentrum für Studium und Forschung, Haret Hareik, Beirut, 10. Februar 2006. Wahlprogramm 1992 legte sich als doppelte Priorität „die Befreiung des Libanons von der zionistischen Besatzung und die Abschaffung des politischen Konfessionalismus“ fest. Im selben Wahlprogramm wurde auch die Einführung „eines einzigen Wahlkreises im Libanon“ und die „Abschaffung der Postenbesetzung auf der Grundlage von Sekten oder Konfessionen“ gefordert. Dieses System ist es auch, das teilweise den Klientelismus und die Korruption fördert, da sich das gesamte politische und gesellschaftliche Leben des Libanons auf einen Verteilmechanismus von Posten, Verantwortlichkeiten und politischen Mandaten stützt, der auf konfessionellen Quoten beruht. Doch auch hier besteht das Paradox, dass die Hisbollah, die die Abschaffung des libanesischen Konfessionssystems zu einem Eckpunkt ihres politischen Programms gemacht hat, einer der Hauptnutznießer desselben ist. Daher hat sie sich auch nicht frontal gegen das kommunitäre politische System gestellt und insbesondere bei den letzten Parlamentswahlen vom Frühjahr 2005 ohne Zögern zur (Wieder)Wahl der nach konfessionellem Proporz gewählten Mandatsträger aufgerufen. Das ist auch einer der Hauptvorwürfe, den ihr die KPL macht, die sich in vielen anderen Punkten der Hisbollah angenähert hat. Laut Khaled Hadadé, Generalsekretär der Partei, ist das Verhältnis zur Hisbollah widersprüchlich, denn „die Hisbollah hat zwei Gesichter“: ein positives, nämlich das ihres Widerstands, und ein anderes, nämlich das ihrer religiösen und konfessionellen Zugehörigkeit zum Islam. Würde die Hisbollah heute geschlagen, wäre es der Widerstand der Hisbollah, der geschlagen würde. Die konfessionelle Dimension bliebe unangetastet, und sie wäre ein Anziehungspol für den konfessionellen Wiederaufbau des Libanons. Mag sein, dass wir in der Vergangenheit besorgt waren; heute sind wir es weniger, denn die Tatsache, dass die Hisbollah Widerstand leistet und sich halten kann, wird dazu führen, dass sie sich in innenpolitischen Fragen rasch weiter öffnen wird. Es ist noch nicht gelungen, mit der Hisbollah eine gemeinsame Vision der libanesischen Gesellschaft zu entwickeln. Bei den letzten Wahlen sind sie ein Bündnis mit der Partei von Walid Dchumblat, der Partei von Hariri und der heutigen Mehrheit sowie den Forces Libanaises inprekorr 422/423 ########## Hisbollah eingegangen. Die einzige Partei, die im Süden gegen sie angetreten ist, waren die Kommunisten. Aber ich glaube und hoffe, das die aktuelle Lage bei der Hisbollah eine Entwicklung auch hinsichtlich ihrer Sicht von der inneren Organisation der libanesischen Gesellschaft und einer Reform der Institutionen bringen wird.“10 • In sozioökonomischen Fragen schwankt die Hisbollah zwischen verschiedenen Tendenzen. Einerseits ist sie 2005 der Regierung Siniora beigetreten, die die neoliberale Politik der Regierung des ermordeten libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri fortsetzt und den Libanon unermüdlich den Ermahnungen von IWF und Weltbank aussetzt. Andererseits hat sie am 10. Mai 2006 an der Seite der Freien Patriotischen Strömung von General Michel Aun und der KPL für die Demonstration zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes mobilisiert und zum Erfolg dieser Proteste beigetragen, an denen sich erstmals Hunderttausende betei­ ligt haben. Die Hisbollah stützt sich auf eine arme gesellschaftliche Basis und verteidigt offiziell einen starken keynesianischen Sozialstaat sowie eine Politik der Umverteilung des nationalen Reichtums. Laut Ali Fayyad „sollte der Staat eine Rolle im Schutz der einfachen Bevölkerung spielen. Das islamische Wirtschaftsdenken lehnt die Marktwirtschaft ohne Verpflichtung ab. Es ist auch nicht für eine Staatswirtschaft, wie wir sie in den Ostblockländern gesehen haben. Man könnte sagen, der Wohlfahrtsstaat kommt dem Geist des islamischen Modells nahe; es ist die Vorstellung von einem starken Sozialstaat und einem regulierten Markt. Von den drei Phasen des Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Wohlfahrtsstaat und dem ungezügelten Neoliberalismus, steht der Wohlfahrtsstaat unserem Denken am nächsten. […] Wir wollen einen Staat, der Partei ergreift für die Armen, gegen die Multis, gegen die internationalen Wirtschaftsinstitutionen, gegen die Logik der grenzenlosen produktivistischen, kapitalistischen Akkumulation.“11 Gemäß Fayyad versteht sich die Hisbollah als Teil einer gewissen Art von Antine10 Khaled Hadadé, Gespräch mit dem Autor und der internationalen Libanon-Solidaritätsdelegation, Beirut, 10. Februar 2006. 11 Ali Fayyed, Gespräch mit dem Autor. oliberalismus. Im Übrigen ist sie die einzige islamische Bewegung, die seit 2003 an Weltsozialforen teilgenommen hat und dessen Texte in den Leitungsorganen übersetzen und weiterverbreiten ließ. Ihr Forschungszentrum hat zudem die Texte der südamerikanischen Befreiungstheologie ins Arabische übersetzen lassen. Dennoch arbeitet sie ohne zu zögern mit politischen Kräften zusammen, die ihr in allen Punkten widersprechen, sei es in der Frage zwischen den antisyrischen, prowestlichen Kräften des 14. März und der Hisbollah und ihren Verbündeten mit einer sozialen Spaltung überlagert hat, die weiter fortbesteht: „Zu den Anhängern der Familie Hariri gehört heute die ultraliberale Strömung der libanesischen Gesellschaft, das heißt Geschäftsleute aller Konfessionsgruppen, die aus Prinzip gegen einen starken Umverteilungsstaat sind. Unter den Anhängern einer Präsenz Syriens fordern die Demonstration der Hisbollah in Beirut der Besatzung oder in der Frage politischer und sozialer Reformen des libanesischen Staates. Die Schwester von Rafik Hariri, Bahia, wurde auf Hisbollah-Listen gewählt, obwohl sie politisch wie wirtschaftlich nicht mit der Hisbollah einverstanden und eine typische Vertreterin der libanesischen Bourgeoisie ist. Daher stellt sich die Frage, ob die Hisbollah über die klassische Praxis islamischer Bewegungen, die die soziale Frage nur unter dem Gesichtspunkt der Wohlfahrt betrachten, hinauswachsen wird und eine soziale Praxis entwickeln kann, die sich auf jene Schichten orientiert, die sie zu vertreten behauptet, also die Ärmsten, die auch ihre gesellschaftliche Basis bilden. Politisch müsste die Hisbollah dafür mit einigen ihrer bisherigen Verbündeten brechen und ihre politischen Bündnisse deutlicher definieren. Im Übrigen vergisst man zu häufig, dass sich während der beiden Jahre 2004 und 2005, die auf die Ermordung des ehemaligen Regierungschefs Rafik Hariri folgten, die Auseinandersetzung Schiitenparteien Hisbollah und Amal, die laizistische syrientreue Baath-Partei, jedoch einen starken Umverteilungsstaat.“12 Die Bruchlinie, die sich nach dem Tod von Rafik Hariri aufgetan hat, kreist folglich nicht nur um die nationale Frage, die Waffen des Widerstands und die Rolle Syriens. Sie geht viel tiefer und überschneidet sich mit der sozialen Frage. • Einer der letzten Widersprüche ist natürlich die Frage der ausländischen Unterstützung der Hisbollah. Taktisch ist die Hisbollah mit Syrien verbunden, das in der Schiiten-Partei ein sicheres Mittel sieht, Druck auf Israel und die westlichen Regierungen auszuüben, insbesondere was die Frage des besetzten Golans betrifft. Im Übrigen ist die nationalistische Schiitenorganisation weiterhin politisch und ideologisch dem Iran verbunden. Doch auch hier liegen 12 Charles Abdallah, Un printemps, oui, mais pour qui? In: Où va le Liban? Zeitschrift Confluences Méditerranées Nr. 56, Winter 2005/06, Paris, S. 32. inprekorr 422/42329 ########## Hisbollah die Dinge komplizierter. Die Hisbollah unterhält Beziehungen zu allen Teilen des iranischen Regimes von den Reformern rund um Khatami bis zu den strengsten Konservativen. Vor allem aber können die Hisbollahstadtteile und -dörfer mit dem Iran überhaupt nicht verglichen werden. Die Hisbollah zwingt die Stadtteile nicht mehr zu einem islamischen Modell, und in den südlichen Vororten Beiruts sieht man problemlos verschleierte neben unverschleierten Frauen. Ebenso ist es in den von der Hisbollah kontrollierten Gebieten üblich, Unterschiede deutlich sichtbar zu machen: Die KPL ebenso wie die Amal sind auch im Südlibanon als anerkannte politische Kräfte vertreten. „Hisbollah-Land“ ist auf jeden Fall keine Parzelle iranischen Territoriums im Libanon. Die Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen stehen der gesamten libanesischen Bevölkerung offen. Die Hisbollah ist keine Partei der antidemokratischen gesellschaftlichen Repression; das hängt mit ihrem Pragmatismus zusammen, dem zufolge sie einen nationalen Konsens um sich aufbaut, um die Waffen des Widerstands zu schützen. Ihre politische und militärische Zusammenarbeit im Süden mit der KPL im Rahmen der Widerstandsfront im Juli/August 2006 legte ebenfalls Zeugnis davon ab. Während die AnhängerInnen der Partei Gottes offiziell die schiitische religiöse Führung13 (mardschaja) des konservativen iranischen Religionsführers Khamenei anerkennen, stehen sie doch den offeneren Positionen von Imam Fadlallah nahe, der eine Reihe von iranischen Thesen ablehnt, insbesondere was die stellvertretende Herrschaft des Klerus (wilayat al-faquih) betrifft, das heißt der Anspruch von Khomeini willkürlich eingesetzten Obersten Rechtsgelehrten, der iranischen Führung die politische Führungsrolle für die gesamte schiitische Welt zu sichern. Es gibt also eine sich vertiefende Kluft zwischen der Praxis der Hisbollah und ihrem Profil im Inneren auf der einen und ihrer Unter13 Bei den SchiitInnen gibt es verschiedene Mardschajas. Die bekannteste ist jene von Ayatollah Sistani im Irak. Die Hisbollah orientiert sich offiziell an der iranischen Mardschaja von Ayatollah Khamenei, auch wenn ihre AnhängerInnen dem libanesischen Imam Fadlallah, einem der theoretischen Vordenker der Hisbollah, nahestehen. 30 ordnung unter den Iran auf der anderen Seite. „Die Hisbollah folgt offiziell Khamenei, der für die Partei das Vorbild (mardscha) ist, und unterhält seit den 80er Jahren, der Zeit, in der dieses Land dazu beigetragen hat, die Miliz, aus der die Hisbollah hervorgegangen ist, zu bewaffnen und zu trainieren, herzliche Beziehungen mit dem Iran. Sie berät sich regelmäßig mit der iranischen Führung […]. Der Iran hat dem Islamischen Widerstand übrigens weiter militärisch geholfen und namentlich die Raketengeschosse für sein Arsenal geliefert. Diese Beziehungen bedeuten aber in keiner Weise, dass der Iran der Hisbollah irgendwie ihre Politik oder ihre Stellungnahmen vorschreibt oder in der Lage wäre, das Handeln dieser Partei zu kontrollieren. Zudem sind die iranischen Bemühungen, den libanesischen SchiitInnen eine panschiitische, auf den Iran orientierte Identität zu vermitteln, mit deren arabischer Identität in Konflikt geraten und haben den libanesischen Nationalismus der Hisbollah selbst verstärkt.“14 Die Beziehungen zum Iran scheinen heute mehr praktischer denn strategischer und ideologischer Natur zu sein. Sie sind nach wie vor religiös, aber sicher stärker politisch. Politische Neuformierungen Der 33-Tage-Krieg bestätigt den zentralen politischen Stellenwert der Hisbollah im Nahen Osten, der nach dem Rückzug der israelischen Truppen im Jahr 2000 begonnen hat und heute besonders deutlich ist und für verschiedene Formen der politischen Neuformierung im Nahen Osten steht: Die islamisch-fundamentalistische Strömung ist heute gezwungen, in das komplexe Gewand des Nationalismus zu schlüpfen, was sie vor wahre Widersprüche stellt: Durch Übernahme ganzer Abschnitte der historischen Ziele der nationalen Befreiungsbewegungen ist sie gezwungen, ihr Programm, ihre Ziele und ihre Programmatik schlechthin anzupassen. Die Nationalisierung der islamischen Bewegung oder die Bildung religiös inspirierter nationaler Bewegungen hat sich sowohl im Sieg 14 Lara Deeb, Une introduction au Hezbollah, http:bellaciao.org/fr/article.php3?id_article=31950, 4. August 2006. der Hamas bei den Parlamentswahlen von Januar 2006 als auch im symbolischen und politischen Sieg der Hisbollah im Juli/August 2006 konkretisiert. Der Vergleich mit der islamischen Bewegung der 80er Jahre lässt sich daher kaum halten. Seit den 90er Jahren findet sowohl eine Islamisierung des nationalistischen Diskurses als auch eine Nationalisierung und Arabisierung des islamisch-fundamentalistischen Diskurses statt. Zudem hat sich der Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Linken, den NationalistInnen und den islamischen FundamentalistInnen vervielfältigt, da alle drei Strömungen die nationale Frage im arabischen Raum nicht lösen konnten. Heute gibt es mehr Querverbindungen zwischen den drei Strömungen als in der Vergangenheit. Während des Konflikts räumte Hisbollah-Generalsekretär Nasrallah libanesischen und arabischen Fragen mehr Gewicht ein als jenen einer hypothetischen muslimischen Religionsgemeinschaft (umma). Unterdessen gibt es einen dynamischen Austausch und systematische Übergänge zwischen einer neuen Form von antikolonialem Panarabismus, territorialem (palästinensischem, libanesischem) Nationalismus und einem politischen Islam, der im Rahmen des Kampfes gegen die Besatzung als kulturelle Waffe eingesetzt wird. Die Hisbollah setzt mit ihrem Diskurs am Schnittpunkt verschiedener Identitäten an: einer konfessionell-schiitischen, einer national-libanesischen, einer transnational-arabischen und einer religiös-islamischen. Joseph Samaha, ein linker Nasserist und Chefredakteur einer der wichtigsten libanesischen Tageszeitungen, Al-Akhbar, meint dazu: „Wenn man heute die Lage anschaut, wenn man eine Zustandsbeschreibung der arabischen Welt gibt, dann besteht unter den Arabern heute eine große Nachfrage nach einer nationalen oder patriotischen Strömung. Nach der Niederlage der arabisch-nationalistischen Strömung glaubte man eine Zeitlang, die Linke könnte diese Lücke füllen. Das hat sie nicht. Es sind die islamischen Fundamentalisten, die nach und nach in diese Lücke gesprungen sind, mit all den Veränderungen, die sie selbst in den 90er Jahren nach dem Ende der Sowjetunion, dem Ende des Afghanistankrieges, dem Kurswechsel der amerikanischen Politik und den Kadern, die aus der linken und inprekorr 422/423 ########## Hisbollah der arabisch-nationalistischen Bewegung gekommen sind, durchlaufen haben. […] Ich kenne die Hisbollah und ihre Kader ganz gut. Jedes Mal, wenn man mit ihnen spricht, hat man den Eindruck, es sind Nationalisten. Und nicht nur das: Man hat den Eindruck, sie sind der Rohstoff für eine große linke Bewegung, hätten dies sein können oder könnten es in Zukunft werden.“15 Es ist also eher ein sich neu formierender Nationalismus als der simple Aufstieg des islamischen Fundamentalismus, der in der Hisbollah zum Ausdruck kommt. Die neuen Querverbindungen zwischen Islam und Nationalismus einerseits und der Generationenwechsel, der durch den Tod von Jassir Arafat und das neue Gewicht einer Generation von unter 50-jährigen Kadern ermöglicht wurde (Ministerpräsident Ismail Hanniya in Palästina, Hassan Nasrallah im Libanon), aber auch die Tatsache, dass die symbolische Führung des arabischen Nationalismus von den Sunniten auf die Schiiten übergegangen ist, all das steht für die Ablösung einer Phase, deren Schlussfolgerungen noch nicht vollständig ermessen werden können. Die qualitative Veränderung der islamistischen Bewegungen, wie sie die Hisbollah verkörpert, stellt daher eine Aufforderung dar, nicht zu viele Analogien mit den Rahmenbedingungen der 70er und 80er Jahre zu ziehen, insbesondere mit dem Iran unter Khomeini. Während die Iranische Revolution in einer starken Aufschwungphase des islamischen Fundamentalismus eines mehrheitlich muslimischen Landes stattfand, ist die Phase der 90er und 2000er Jahre vom Aufstieg des Islam in Bereichen geprägt, wo dieser mit einem sozialen, politischen und konfessionellen Umfeld zusammenarbeiten muss, das ihn zwingt, einen gewissen demokratischen Konsens zu akzeptieren und mit anderen Kräften zusam15 Joseph Samaha, Gespräch mit dem Autor am Sitz von As-Safir, Hamra, 17. Februar 2006. Joseph Samaha ist ein wichtiger Intellektueller der nationalistischen libanesischen Linken und hat mehrere Jahre lang die linke Tageszeitung As-Safir geleitet. Nach einem heftigen politischen Konflikt innerhalb der Zeitung während des ganzen Jahres 2005 hat er sich entschieden, wieder die ehemalige Tageszeitung der KPL, Al-Akhbar, zu übernehmen, um sie zu einer neuen Tribüne des Gedankenaustauschs der libanesischen Linken, aber auch aller Strömungen, die im Widerstand aktiv sind, zu machen. Die erste Nummer von Al-Akhbar ist mitten im Konflikt erschienen. inprekorr 422/423 menzuspannen: „Im Libanon und im Irak bilden die Schiiten eine schwache Mehrheit neben einer Reihe von bedeutenden Minderheiten, und in Palästina ist die Hamas nur eine der vier wichtigsten Fraktionen. Die Hisbollah muss die Macht teilen und mit den Sunniten, den Christen und den Drusen zusammenarbeiten, wie auch in derselben Logik die Schiiten im Irak die Macht teilen und mit den Sunniten und Christen zusammenarbeiten müssen. In Palästina muss die Hamas die Macht tei- litischen Nationalismus einzubetten. Es geht also darum, die Hisbollah politisch weder als rot noch als braun zu beschreiben,17 sondern die Gesamtheit der Widersprüche und Möglichkeiten dieser religiös inspirierten nationalistischen Bewegung zu erfassen. Denn wie Gilbert Achcar schreibt, ist „der Aufstieg der fundamentalistischen Strömung in vielen, wenn nicht allen Fällen nicht in erster Linie Ausdruck eines gesellschaftlichen Rechtsrutschs, wie dies für den Faschismus in Demonstration der Hisbollah in Teheran len und mit der Fatah, dem Islamischen Dschihad, der PFLP und der DFLP zusammenarbeiten. In diesem Rahmen stellen die islamischen Fundamentalisten im Libanon, in Palästina und im Irak das genaue Gegenteil der Islamisten im Iran dar. […] Die ungeheure demographische Vielfalt im Libanon, im Irak und in Palästina trägt stark zur Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft und einer kosmopolitischen politischen Kultur bei.“16 So muss die Hisbollah selbst vor einem libanesischen und arabischen Hintergrund gesehen werden, denn es ist die multikulturelle gesellschaftliche Realität im Libanon und der tief verankerte arabische Charakter der Bevölkerung, die sie zu einer praktischen und theoretischen Öffnung zwingen. Ebenso ist es das traditionell demokratische und säkulare soziale Gefüge der palästinensischen Gesellschaft, das die Hamas dazu zwingt, sich auf konsensuelle Weise in den po16 Hamid Dabashi, Lessons from Lebanon: Rethinking national liberation movement, Al-Ahram Weekly, 7.–13. September 2006. Europa galt […], sondern kann in erster Linie ein Ausdruck der Radikalisierung eines auf die falsche Bahn geratenen, deformierten demokratischen nationalen Kampfes sein. […]“.18 Den islamisch-fundamentalistischen Bewegungen wird oft eine Massenbasis nachgesagt, die sich sowohl aus dem Mittelstand und der radikalisierten Kleinbourgeoisie als auch aus den ärmsten, unterdrücktesten Schichten zusammensetzt. Mit ihrer gesellschaftlichen Basis, die sich aus den armen ländlichen Klassen im Süden und Osten und den in prekären Verhältnissen lebenden, urbanisierten Schichten Südbeiruts zusammensetzt, lässt sich die Hisbollah daher nur schwer als Partei 17 Nach der bekannten Formulierung von Gilbert Achcar „weder faschistisch noch fortschrittlich“, sofern man gleichzeitig bedenkt, dass die Geschichte je nach gegebenem Kontext offen für negative wie positive Entwicklungen ist, und man den islamischen und nationalistischen Bewegungen mittelfristig kein unveränderliches Wesen zuzuschreibt. 18 Gilbert Achcar, L’orient incandescent. Le Moyen-Orient au miroir marxiste, Lausanne 2003, S. 250. 31 ########## Hisbollah bezeichnen, die die Interessen der libanesischen Oberschicht vertritt, zumal sich die Schiiten-Bewegung trotz ihres enormen Reichtums eher durch den einfachen, redlichen Lebensstil ihrer Führung und ihren Verzicht auf materielle Privilegien auszeichnet, was stark zu ihrer politischen Glaubwürdigkeit beiträgt und sie von der üblichen Korruptheit der großen politischen Familien des Libanons unterscheidet. Daher ist die Hauptkritik, die der Hisbollah in der gegenwärtigen Phase von der Linken gemacht werden kann, dass sie die nationale und die soziale Frage nicht miteinander verbindet, wo sie doch behauptet, die Vertretung der Benachteiligten im Libanon zu sein. Bei zwei Gelegenheiten hat die Hisbollah in den Jahren 2000 und 2005 der christlichen und sunnitischen libanesischen Oberschicht sogar letztlich die Hand gereicht, obwohl diese ihr auf Dauer ständig in den Rücken gefallen ist und das Bündnis mit dem Westen erneuert, die Entwaffnung der Hisbollah gefordert und völlig vor den nationalen Forderungen der LibanesInnen kapituliert hat. Die KPL und die nationale Linke sind daher der Ansicht, die Hisbollah habe nach dem israelischen Rückzug zwischen 2000 und 2005 einen Teil der Früchte des Widerstands verspielt. Sie hoffen darauf, dass die Hisbollah ein für alle Mal den Kampf gegen das libanesische konfessionelle System aufnehmen wird, das Teil der neokolonialen Beherrschung des Libanons ist. Die Frage ist nur, ob eine Bewegung wie die Hisbollah, die in einem tiefgreifenden Umbruch ist, dazu in der Lage ist. Denn sie ist selbst gespalten zwischen einer konservativen Strömung, die mehr oder weniger aus den alten Kadern der Partei ad-Dawa hervorgegangen ist und weiter einer konservativen, reaktionären Vorstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen anhängt, und einer jüngeren, offeneren Tendenz, die mehr im Rahmen des Kampfs gegen die Besatzung und der nationalen Frage geschult wurde als nach dem traditionellen fundamentalistischen Raster. Die Rede von Hassan Nasrallah vom 22. September 2006 scheint tatsächlich eine scharfe Kritik an der libanesischen Regierung zu enthalten, denn 32 er ruft zu einer neuen Regierung und zu einer Verbindung von gerechtem, schützendem Staat und starkem Widerstand auf. Die Frage der Entwicklung der Hisbollah wird von Nasrallah selbst gestellt: „Ich stelle mir vor, dass es möglich sein sollte, auf der Grundlage der Erfahrungen dieses letzten Krieges viele Vorstellungen und Teile des Programms der Hisbollah zu überdenken. […] Diese neue Ausgangslage wird sicher eine tiefe Spur im Denken der Hisbollah, in ihrem Verständnis der Ereignisse, ihrem Funktionieren, ihrem Handeln und ihren Beziehungen hinterlassen.“19 Zudem bemühen sich seit Ende des Krieges Hisbollah und die Kräfte, die den Widerstand unterstützt haben, von Michel Aun bis zur KPL, um Schlussfolgerungen und einen innenpolitischen Ausdruck der Dynamik des nationalen Widerstands, indem sie gemeinsam ein minimales Übergangsprogramm für einen Staat diskutieren, der Widerstand und soziale Entwicklung miteinander verbindet. Das setzt für die KPL notwendigerweise die Abschaffung des konfessionellen Systems und der Quoten voraus. Noch kann niemand sagen, ob diese Gespräche von Erfolg gekrönt sein werden, doch man muss die Fähigkeit der Hisbollah konstatieren, sich durch diese Fragen herausfordern zu lassen. Der Libanonkrieg war auch entlarvend, was die politische und ideologische Anpassung der bürgerlichen oder aristokratischen Oberschichten an die amerikanischen Pläne betrifft. Die Einladung Tony Blairs durch die libanesische Regierung von Fuad Siniora knapp einen Monat nach Ende des Konflikts bedeutete für die Hisbollah übrigens eine herbe Enttäuschung. Der Bruch, zu dem sie vielleicht in der Lage sein wird, die Anerkennung ihrer wirklichen Gegner und ihrer wahren Verbündeten werden in den kommenden Monaten und Jahren ein entscheidender Test sein. Sie werden auch ausschlaggebend für die Zukunft des islamischen Nationalismus und neue Formen des arabischen Nationalismus sein, die nunmehr gezwungen sind, sich politisch, wirtschaftlich 19 Hassan Nasrallah, Gespräch mit Talal Salman, Tageszeitung As-Safir, Beirut, 27. September 2006. und sozial festzulegen. „Das Ziel einer linken Politik ist zweifellos die Ausschaltung reaktionärer Dynamiken, die sich auf den Islam berufen. Doch das bedeutet nicht bloß reine Anprangerung, Konfrontation oder Krieg zwischen verschiedenen Fronten. […] Es bedeutet auch positive Interaktion, Austausch in der Kontroverse, Reflexion und Praxis. […] So kann vielleicht eine transversale Widerstandsdynamik zur gegenwärtigen Moderne und damit eine Dynamik entstehen, die über diese hinausweist und -führt. Und an der sich Strömungen aus der einfachen Bevölkerung beteiligen, die sich auf einen Islam berufen, der mit seinen reaktionären Auslegungen bricht. So heuchlerisch es ist, den Islam dazu aufzufordern, mit der Zeit zu gehen, so unumgänglich ist es, von einem offenen politischen Islam zu fordern, über seine Zeit hinauszugehen. Dieselbe Lehre gilt aber auch für die Linke.“20 Allerdings wird es einige Zeit brauchen, bis überprüfbar sein wird, was sich verändert hat: ein vielleicht ausgeglichenes symbolisches Kräfteverhältnis, ein panarabischer Nationalismus in vollem Umbruch, eine arabische Welt, die vielleicht wieder Selbstvertrauen schöpft, politische Bewegungen, die sich – ob Linke oder islamische FundamentalistInnen – neuen Fragen, neuen Ausrichtungen, neuen Strategien stellen müssen. Und vielleicht haben sich auch die Spielregeln verändert, und die Angst ist besiegt. Nicolas Qualander, Doktorand im Fach Politische Studien des Nahen Ostens, hat als Vertreter der Ligue communiste révolutionnaire (LCR, frz. Sektion der Vierten Internationale) Ende Juli 2006 an der internationalen Solidaritätsdelegation in den Libanon teilgenommen. Aus dem Französischen: Tigrib 20 Sadri Khiari und Mohamed Cherif-Ferjani, Trajectoires et paradoxes de l’islam politique. Contre l’orientalisme et l’orientalisme inversé. In: Contretemps Nr. 12, Februar 2005, Paris. inprekorr 422/423 ########## Hisbollah Die Hisbollah nach dem gewonnenen Krieg Chris Harman Die Schiiten des Libanons waren schon immer der am meisten unterdrückte Teil der Bevölkerung. Das heißt nicht, dass sie alle ausschließlich ArbeiterInnen gewesen wären oder aus der bäuerlichen Bevölkerung stammten. Es gab immer schon eine Hand voll sehr wohlhabender Familien neben einer Schicht von LadenbesitzerInnen, HändlerInnen und Freiberuflichen. Aber der Prozentsatz der Schiiten, die zu den unteren Gesellschaftsklassen gehörten, war wesentlich höher als bei den anderen religiösen Gruppierungen des Landes – sie waren „überrepräsentiert in den unterentwickelten Sektoren der Industrie und der Landwirtschaft.“21 Sogar die Mittelschicht sah sich eingezwängt durch die vom französischen Imperialismus ererbte Staatsstruktur, die die politische Macht unter den Führern der maronitischen Christen, der sunnitischen Muslime und der Drusen aufteilte. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit von den Franzosen waren 40 Prozent aller Führungsposten im Staatsdienst von Maroniten besetzt, 27 Prozent von Sunniten und lediglich 3,2 Prozent von Schiiten.22 Dieses Diskriminierungsmuster blieb – wenn auch weniger stark ausgeprägt – im Wesentlichen bis zum Taif-Abkommen von 1989 bestehen, das dem Bürgerkrieg ein Ende setzte. Zwei Erfahrungen trugen zur Entstehung der Hisbollah als Bewegung bei. Die erste war die iranische Revolution von 1979, durch die ein von schiitischen Geistlichen angeführtes Regime an die Macht kam. Einige der schiitischen Geistlichen im Libanon hatten enge Bildungs- und Familienbeziehungen zu den Siegern im Iran. Deren Ideologie der Befreiung von Unterdrückung und Armut durch die Schaffung einer islamischen „Gemeinschaft“, die Reiche wie Arme vereinigt 21 A N Hamzeh, „In the Path of the Hizbullah“, Syracuse University Press, 2004, S.13 22 ebenda, S.11 inprekorr 422/423 und Gier und Individualisierung infolge „westlicher Einflüsse“ überwindet, stellte für sie eine Quelle der Inspiration dar. Durch religiöse Predigten und die Schaffung einer „soziopolitischen Bewegung mit der vordringlichen Mission, die Armut zu lindern“ – vor allem im Süden Libanons, der östlich gelegenen Bekaa-Ebene und den „Vororten der Misere um Beirut“ –, versuchten sie, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.23 Die zweite Erfahrung waren die israelischen Invasionen in den Libanon in den Jahren 1978 und 1982, um die Palästinenserbewegung zu zerschlagen. Es stellte sich schnell heraus, dass vor allem die mehrheitlich schiitische Bevölkerung Südlibanons die Hauptlast der israelischen Besatzung zu tragen hatte. Die radikale schiitische Geistlichkeit begann mit Hilfe einer großen Abteilung revolutionärer Garden aus dem Iran eine Guerillaorganisation aufzubauen, die der israelischen Besatzung gewachsen war. Die Ausbildung beschränkte sich nicht auf militärische Aspekte. Sie war mit einem hochreligiösen Inhalt verbunden, der eine tiefe Verpflichtung zum Kampf einflößen sollte. „Die Kämpfer der Hisbollah müssen sich dem größeren Dschihad unterziehen, das heißt der spirituellen, religiösen Transformation, wenn sie sich in die Lage versetzen wollen, den kleineren Dschihad, das heißt den das Märtyrertum erfordernden bewaffneten Dschihad zu meistern. Durch die Überwindung des eigenen Selbsts und irdischer Begierden, durch die Annahme der Tugenden des Märtyrertums waren die Hisbollah-Kämpfer in der Lage, Angst und Schrecken unter ihren Feinden zu säen.“24 23 ebenda, S.13. Die ersten Anstrengungen, eine „Bewegung der Benachteiligten“, wurden 1974 von Musa al-Sadr (der während einer Reise nach Libyen 1978 verschwand) in Angriff genommen. Dieser frühe Versuch wurde aber bald durch den Ausbruch des Bürgerkriegs im Libanon überschattet. 24 ebenda, S.87 Chris Harman Die Bereitschaft, das Märtyrertum auf sich zu nehmen, wurde als wesentlicher Bestandteil des Kampfes angesehen, denn das „Machtungleichgewicht“ infolge des Waffenarsenals, das den Israelis zur Verfügung stand, „konnte nur durch das Märtyrertum ausgeglichen werden“.25 Ein sehr tief verankertes schiitisches religiöses Empfinden war nötig, um die erforderliche Geisteseinstellung zu bewerkstelligen. Allerdings waren Selbstmordattentate keineswegs die hauptsächliche Kampfform. „Das Schwergewicht wird auf Methoden gelegt, die kein Märtyrertum erfordern … Es wurden lediglich zwölf Operationen mit Autobomben registriert.“ Zum Märtyrertod kam es in der überwiegenden Anzahl der Fälle im Zuge „atypischer“ Operationen, in denen der Tod „einen Ausgang, mit dem man rechnen muss,“ darstellte.26 Den Schlüssel zur Strategie der Hisbollah gegen die von 1982 bis 2000 andauernde Besatzung Südlibanons durch die israelische Armee bildeten Überra25 N Qassem, „Hizbullah: The Story from Within“, London, 2005, S.68 26 ebenda, S.74–75 33 ########## Hisbollah schungsangriffe gegen den Feind, und nicht vorgeblich heldenhafte, in Wirklichkeit aber katastrophale Zusammenstöße unter Bedingungen, die der Gegner diktierte. So wuchs die Zahl der Operationen von 100 in der Zeit von 1985–89 auf 1 030 in der Zeit 1990– 95 bis auf 4 928 von 1996–2000,27 als schließlich der unordentliche Rückzug der israelischen Streitkräfte die Popularität der Hisbollah enorm steigerte. Nach manchen Quellen zählte die Hisbollah vor drei Jahren „20 000 Kämpfer und 5 000 Sicherheitskräfte“.28 Ihre Popularität erreichte solche Ausmaße, dass sich sogar Nichtschiiten dem aktiven Widerstand anschließen wollten und gesonderte Guerillaeinheiten für sie geschaffen wurden, wobei allerdings sichergestellt wurde, dass die Gesamtkontrolle in den Händen der „Frommen“ blieb. Nach Hamzehs Angaben umfasst die Islamische Strömung der Hisbollah sunnitische Gruppen, die ihre Aktivitäten mit der Hisbollah koordinieren, sowie libanesische Widerstandsbrigaden aus Islamisten und Nichtislamisten.29 Während des 33 Tage andauernden Kriegs koordinierte sie auch ihre Aktivitäten mit unabhängigen Widerstandsorganisationen, beispielsweise mit denen unter Leitung der Libanesischen Kommunistischen Partei. Die Hisbollah begann nicht als militärische Organisation, und auch heute ist sie viel mehr als das. Ihr Wohlfahrtsnetzwerk an Kliniken, Spitälern, Schulen, Gemeinschaftseinrichtungen und Stipendien wurde massiv ausgeweitet, so dass es nach manchen Darstellungen in den südlichen Vororten Beiruts, in der Bekaa-Ebene und im Süden Libanons größer ist als das des libanesischen Staats.30 Von ihren medizinischen Einheiten wird behauptet, dass sie eine halbe Million Menschen jährlich behandeln. Und um ihre Unterstützerbasis zu erweitern, ist sie dazu übergegangen, in ihren Gebieten auch Sunniten, Christen und Drusen zu versorgen. Sie hat einen modern ausgestatteten TV-Kanal, al-Manar, der „mit seinen Hunderten von Angestellten die Atmos­ 27 A N Hamzeh, a.a.O., S.89 28 ebenda, S.75 29 ebenda, S.77 30 ebenda, S.50–55; der Autor listet Zahlen für verschiedene Ausgabenbereiche auf, wobei eine genaue Betrachtung mich vermuten lässt, dass er (oder der Setzer) ein paar Nullen an die falsche Stelle gesetzt hat. 34 phäre eines Konzerns ausstrahlt“,31 und ihre „Gewerkschaftsabteilung hat Vertreter in der Libanesischen Arbeiterföderation, den libanesischen Gewerkschaften, der Libanesischen Vereinigung der Landwirte, der Libanesischen Vereinigung Hochschulangestellter, dem Syndikat der Ingenieure und der Libanesischen Studentenvereinigung“.32 Es ist dieses Netzwerk an volksnahen Aktivitäten und Organisationen, das den enormen Rückhalt, den die Hisbollah in der Bevölkerung hat, erklärt, und das ihr ermöglichte, direkt unter den Kanonenläufen der israelischen Panzer zu operieren. Dieses Netzwerk war auch das Sprungbrett, um sich bis ins Zentrum der libanesischen öffentlichen Institutionen einzunisten. Lokalbehörden und Parlamentsabgeordnete stehen unter ihrem Einfluss, und seit letztem Jahr hat die Partei zwei Vertreter in der Regierung. Das verwickelt sie allerdings in zwei Sorten von Kompromissen: Zunächst mit der eigenen religiösen Basis. Die Schiiten sind die größte Minderheit in der libanesischen Gesellschaft, sie sind dennoch eine Minderheit, und unter ihnen sind auch andere politische Kräfte außer der Hisbollah. Um unter solchen Bedingungen den Einfluss der Organisation zu festigen, und um der Gefahr, das Land erneut in einen Bürgerkrieg zu stürzen, aus dem Weg zu gehen, hat die Hisbollah-Führung ihre unter Khomeinis Einfluss ursprünglich erhobene Forderung nach einem schiitisch-islamischen Staat fallenlassen.33 Der parteieigene Historiker der Hisbollah, Kassem, belegt anhand von Zitaten, dass der Koran Zwang in Religionsfragen ablehnt und argumentiert, dass „die Schaffung eines islamischen Staats nicht über den Umweg geht, dass er von einer Gruppierung oder Abzweig in Beschlag genommen wird, um anschließend anderen Gruppierungen aufgezwungen zu werden“. Die Hisbollah, schreibt er, ruft nach der „Implementierung des islamischen Systems auf der Grundla31 ebenda, S.59 32 ebenda, S.67 33 Eine ausführliche Behandlung der Neuausrichtung ihrer Politik in dieser Frage findet sich in A Saad-Ghorayeb, „Hizbu’llah, Politics and Religion“, London, 2002, S.34–59. ge der direkten und freien Wahl durch das Volk und nicht durch Zwangsmaßnahmen …“. „Wir glauben, dass unsere politische Erfahrung im Libanon ein Muster zu Tage gefördert hat, das mit einer islamischen Vision innerhalb einer gemischten Gesellschaft harmoniert – in einem Land, das nicht einer islamischen Denkrichtung folgt.“34 Bei Gemeindewahlen stellte die Hisbollah wirtschaftliche und soziale Fragen in den Vordergrund und „präsentierte ihre Kandidaten auf einer nichtsektiererischen Plattform, wobei sie Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit in der Gemeindearbeit hervorhob“.35 Damit soll nicht suggeriert werden, dass sich die Hisbollah in eine freidenkende, liberale Organisation verwandelt hat. In der Vergangenheit hat sie ihre Gegner mit Waffengewalt zur Räson gebracht, in den frühen 1980er Jahren traf es manche kommunistische Widerstandskämpfer sowie die rivalisierende, ebenfalls schiitische Amal (obwohl viele kommunistische AktivistInnen kurz danach zur Hisbollah wechselten und Hisbollah heute sowohl mit der Kommunistischen Partei als auch mit Amal kooperiert). Ihre Führer fühlen sich nach wie vor einer religiösen Vision verpflichtet und geben sich große Mühe, in den von ihnen kontrollierten Gebieten Zustimmung für ihre Vorstellungen zu gewinnen (beispielsweise die Verschleierung von Frauen). Da wo sie können, versuchen sie, ihre Auslegung der Scharia zu verwirklichen (die die Rolle islamischer Richter bei der Mediation von Konflikten stark hervorhebt, um die alten Vendetta-Traditionen zwischen den Familien zu brechen).36 Die Tatsache aber, dass ihre Anführer auch Nichtschiiten und sogar nichtreligiösen Kräften die Hand reichen, um den „großen Satan“ USA und den „kleinen Satan“ Israel zu bekämpfen, ist ein Element des Widerspruchs zu ihrem eng religiösen Ausgangsstandpunkt und einer der Faktoren hinter den in der Vergangenheit erfolgten Spaltungen innerhalb der HisbollahFührung.37 Dieser Widerspruch wird noch in dem Maße wachsen, wie der 34 N Qassem, a.a.O., S.31 35 A N Hamzeh, a.a.O., S.123 36 so die Darstellung A N Hamzehs, a.a.O., S.105–108 37 Sowohl Hamzeh als auch Qassem behandeln diese Spaltungen, allerdings von verschiedenen Standpunkten aus. inprekorr 422/423 ########## Hisbollah nichtschiitische und nichtmuslimische internationale Widerstand gegen den Imperialismus wächst. Dieser Widerspruch geht jedoch mit Kompromissen auf einer anderen Ebene einher: mit dem libanesischen Staat, mit den anderen politischen Parteien im Land – einschließlich denen, die sich auf die Seite des Imperialismus geschlagen haben – und mit den umliegenden arabischen Staaten. Das libanesische politische System beruht auf Deals, die die Anführer der verschiedenen religiösen Gruppierungen mit denen anderer Gruppierungen schließen mit dem Ziel, genügend staatliche Förderung einzusacken, um sich die Treue ihrer Anhängerschaft sichern zu können. In einem solchen System können enorme Konflikte zwischen den verschiedenen Parteien entflammen und sogar militärisch ausgetragen werden, ohne dass die Wesenszüge des politischen und ökonomischen Systems überhaupt infrage gestellt werden. In der Anfangszeit hatte die Hisbollah dieses auf Sektierertum basierende System verurteilt. Jetzt hat sie sich entschlossen, ihm beizutreten. Das schließt Wahlvereinbarungen nicht nur mit der antiimperialistischen Linken ein, sondern ebenfalls mit der proimperialistischen Rechten. Bei den Wahlen stellte sie Gemeinschaftslisten mit der Kommunistischen Partei in Nabatiyyah und Tyrus auf, schloss sich aber in Beirut der Liste von Saad Hariri an, dem mit Saudiarabien liierten Milliardärssohn des ermordeten Premierministers Rafik Hariri. Sie rechtfertigte diesen Deal mit ideologischen und politischen Gegnern mit dem Argument, „das sektiererische Gleichgewicht aufrechterhalten zu wollen“.38 Den jüngsten Deal schloss sie mit Michel Aoun, dem maronitischen General und Premierminister in der Endphase des Bürgerkriegs der 1980er Jahre. Es wird behauptet, dass solche Deals der Hisbollah während der Konfrontation mit Israel einen gewissen Schutz gewährten. Aoun, nach 15 Jahren im Exil, war bestrebt, seine eigenen Ambitionen auf den Präsidentschaftsposten zu fördern und unterstützte tatsächlich die Hisbollah in einem gewissen Maße, beispielsweise durch die Organisierung der Aufnahme tausender Flüchtlinge in christlichen Dörfern des Mount Lebanon. Der prowestliche Hariri-Block hingegen, der die Regierung beherrscht, 38 A N Hamzeh, a.a.O., S.126. inprekorr 422/423 Die Hisbollah begann nicht als militärische Organisation, und auch heute ist sie vielmehr als das. hatte seine Hoffnungen in die Fähigkeit der Israelis gesetzt, die Hisbollah zu zerschlagen, damit er selbst die Kontrolle über den Süden des Landes erlangen könne.39 Einen wirklichen Schutz für die Hisbollah bot nur ihre breite soziale Basis und ihre Kampffähigkeit – hätte diese auch nur vorübergehend nachgelassen, hätten die meisten ihrer „Verbündeten“ in treuer Freundschaft zu Washington, Paris oder Riad ihr den Dolch in den Rücken gestoßen. Was diese Deals allerdings erreichen, ist, ihren 39 aus dem persönlichen Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6. September 2006 Handlungsspielraum einzuengen. Früher stimmte die Hisbollah gegen Rafik Hariris Haushaltspläne mit dem Argument, die libanesische Regierung gerierte sich wie ein „Aufsichtsrat“ und dass Hariri das Land wie eines seiner Unternehmen leite.40 Mit ihrem Beitritt zur Regierung letztes Jahr entschloss sie sich, diese Konstruktion zu akzeptieren. Damit schwächt sie aber zwangsläufig ihre Fähigkeit, Maßnahmen zur Besserung der Lebensbedingungen der Armen, unter den sie ihre politische Basis aufgebaut hat, in 40 zitiert in A N Hamzeh, a.a.O., S.121 35 ########## Hisbollah die Wege zu leiten, und damit auch die Perspektive, den dominierenden Einfluss verschiedener sektiererischer Politiker auf die jeweilige Anhängerschaft zu untergraben. Die Hisbollah mag in der Lage sein, bestimmte Wohlfahrtsleistungen durch ihre eigenen karitativen Netzwerke zu erbringen. Die­ se aber sind kein Ersatz für die Sorte Leistungen, die der Staat erbringen sollte und auch könnte, wenn er nur nicht mit dem neoliberalen Kapitalismus verflochten wäre. Solche Deals unterminieren auch die Fähigkeit der Hisbollah, den Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus so zu führen, wie sie möglicherweise gedenkt. In der Schlussphase des 33-Tage-Kriegs wurde enormer Druck auf die Hisbollah ausgeübt, das endgültige Waffenstillstandsabkommen zu unterschreiben, und sie gab schließlich nach. Im Rahmen des Abkommens durften israelische Streitkräfte im Süden Libanons bleiben, die israelische Blockade blieb aufrecht und es kamen französische Truppen ins Land trotz der Übereinkunft zwischen der französischen Regierung und den USA, dass die Hisbollah entwaffnet werden sollte. Ihr Anführer Nasrallah erklärte: „Wir sehen hier das vernünftige, das mögliche und natürliche Resultat der großen Standhaftigkeit, die die Libanesen von ihren verschiedenen Standpunkten aus zum Ausdruck brachten.“41 Die proamerikanische Regierung „drohte zusammenzubrechen“, als ihre Hoffnungen auf einen schnellen israelischen Sieg verflogen. „Ihr nacktes Überleben hing von der Hisbollah ab. Die Partei sieht keine Alternative zum ‚breiten Konsens‘.“ Seit dem Sieg der Hisbollah jedoch „tut die Siniora-Regierung ihr Möglichstes, die Wiederaufbauanstrengungen zu blockieren und zu torpedieren, während sie USamerikanisches Geld entgegennimmt […] Das jüngste Beispiel ist das Regierungsveto gegen die vom Arbeitsminister und Hisbollah-Vertreter in der Regierung vorgeschlagenen Hilfszahlungen für die, die durch den Krieg ihren Arbeitsplatz verloren haben“.42 41 Zitiert von G Achcar in „Lebanon: The 33-Day War and UNSC Resolution 1701“, www.zmag. org/content/showarticle. cfm?ItemID=10767. Dieser Artikel bietet eine hervorragende Darstellung des unendlichen Manövrierens wegen des Wortlauts der Resolution. 42 Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6 September 2006 36 Es handelt sich nicht nur um Kompromisse in innenpolitischen Fragen. Hisbollah hatte sich lange Zeit auf ihr Bündnis mit Syrien verlassen. Naim Kassem gibt das offizielle Denken der Hisbollah wieder, wenn er sagt, dass „es nur natürlich ist, wenn sich die Ansichten der Hisbollah mit denen Syriens decken, denn niemand ist vor Israels Ambitionen sicher“, und dass „die Beziehungen zu Syrien … den Eckstein für die Bewältigung zentraler regionaler Verpflichtungen“ bilden.43 Aber das syrische Regime lässt sich nicht von antiimperialistischen, nicht einmal von antizionistischen Prinzipien leiten. Es stellte willig seine Hilfe in den Dienst der USA zur Zeit des ersten US-Kriegs gegen den Irak. Und noch davor, 1976, intervenierte Syrien im Libanon, um den zu erwartenden Sieg des Bündnisses von Linken mit PalästinenserInnen in der ersten Phase des Bürgerkriegs zu vereiteln, und danach verfolgte es Mitte der 1980er Jahre das Ziel, die PalästinenserInnen am Wiederaufbau von Militärbasen im Süden zu hindern. Kassem räumt ein: „Syrien massakrierte 27 Parteimitglieder, als es in Beirut 1987 einmarschierte, um dem Bürgerkrieg ein Ende zu setzen.“44 Es ist ein offenes Geheimnis, dass Syrien einen Deal mit Israel (und auch den USA) schon morgen schließen würde, wenn es die von Israel 1967 besetzten Golanhöhen zurückbekäme. Die Hisbollah schaut aber nicht nur auf Syrien. Kassem besteht darauf, dass keiner der arabischen Staaten, möge er durch den Imperialismus und den Zionismus noch so sehr kompromittiert sein, gestürzt zu werden brauche. Sie „müssen eine Reihe Veränderungen mit dem Ziel einer Versöhnung mit ihren Völkern in die Wege leiten“45, und „aktive soziale Kräfte müssen sich anstrengen und zu einer positiven Transformation mit politischen Mitteln unter Ausschluss von bewaffneten Konflikten beitragen“.46 Aber „wer auch immer den Slogan von der Befreiung der arabischen Regimes als Voraussetzung für die Befreiung Palästinas aufgreift, ist auf dem Irrweg und verkompliziert lediglich die Aufgabe der Befreiung“.47 Im Einklang mit dieser Herange43 N Qassem, a.a.O., S.243 44 ebenda, S.240 45 ebenda, S.243 46 ebenda, S.244 47 ebenda, S.245 hensweise „[…] begrüßt die Hisbollah die Beteiligung Qatars im Süden. Die Qataris haben trotz ihrer engen Beziehungen mit den USA und mit Israel grünes Licht erhalten, den Süden wieder aufzubauen.“48 Die Klassenbasis der Hisbollah Indem sie sich auf Deals mit dem eigenen Staat verlässt und eine revolutionäre Haltung in Bezug auf andere Staaten ablehnt, läuft die Hisbollah Gefahr, den gleichen Weg einzuschlagen, den die PLO seit so vielen Jahren beschreitet. Wenn sie das tut, wird sie ihren Sieg des Sommers nicht in eine aktive Strategie gegen die Herrschaft des israelischen Staats über die PalästinenserInnen oder die imperialistischen Pläne für die gesamte Region ummünzen. Durch ihre Vorgehensweise verfängt sich die Hisbollah in Deals und Kompromissen. Das Netzwerk an Wohlfahrtsorganisationen, das zur Zementierung ihrer Basis in der Bevölkerung eine so wichtige Rolle spielt, ist nicht vom Himmel gefallen. Es muss finanziert werden. Die Geldmittel speisen sich im Wesentlichen aus zwei Quellen: zum einen dem iranischen Staat, in dem einflussreiche politische Kräfte agieren, die sofort einen Deal mit den USA schließen würden, wenn Iran als bedeutende Regionalmacht anerkannt würde, und zum anderen schiitischen Mittelschichten und Geschäftsinteressen im Libanon und im Ausland. Nach Hamzah ist die Hisbollah auf „Spenden von Individuen, Gruppen, Geschäften, Unternehmen und Banken im Lande und von deren Gegenspielern in Ländern wie USA, Kanada, Lateinamerika, Europa und Australien“ angewiesen sowie auf parteieigene Geschäftsinvestitionen in „Dutzende Supermärkte, Tankstellen, Einkaufspassagen, Restaurants, Bauunternehmen und Reisebüros“, die von „Libanons freier Marktwirtschaft profitieren“.49 Da überrascht es nicht, wenn eine Organisation, deren Überleben so sehr vom reibungslosen Funktionieren innerhalb des Kapitalismus abhängt, ein „konservatives“ Wirtschaftsprogramm50 daheim vertritt und den Sturz von benachbarten 48 Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6 September 2006 49 N Qassem, a.a.O., S.64 50 Diese Beschreibung habe ich einem Gespräch mit Gilbert Achcar entnommen. inprekorr 422/423 ########## Hisbollah arabischen Regierungen ablehnt. Das erinnert einen daran, wie sehr der soziale Radikalismus der IRA/Sinn Fein durch ihre Abhängigkeit von Geldern wohlhabender Unterstützer in den USA gebremst wurde, noch während sie einen Guerillakrieg im Norden Irlands führte. Die Arbeit im Rahmen des Systems kann die Hisbollah, wie damals die PLO, in anderer Hinsicht negativ beeinflussen. Ihre Kompromisse bedeuten, dass zur Aufrechterhaltung ihrer politischen Netzwerke die radikalen, antiimperialistischen und antizionistischen Glaubensführer an der Spitze der Organisation sich auf eine Schicht aufstrebender Angehöriger höherer Berufe verlassen müssen. „Die von der Hisbollah unterstützten KandidatInnen und Listen im Jahr 2004 bestanden hauptsächlich aus Freiberuflichen – IngenieurInnen, ÄrztInnen, RechtsanwältInnen und Geschäftsleuten“.51 Mit solchen Leuten in verantwortlichen Positionen für die Umsetzung ihrer Politik wundert es einen nicht, wenn die im Aktionsprogramm für die Kommunalwahlen festgehaltenen wirtschaftlichen und politischen Forderungen kaum radikaler als die von New Labour ausfallen: • Ermunterung der BürgerInnen, eine aktivere Rolle im Auswahlverfahren für Entwicklungsprojekte zu spielen. • Die Funktionen und Befugnisse der Gemeinden in Bezug auf Bildungs-, Gesundheits- und sozioökonomische Einrichtungen erweitern. • Einbeziehung von fachlich qualifizierten Kräften in Entwicklungsprojekte. • Finanzierung von Entwicklungsquellen sowohl durch Gemeindeeinkünfte als auch durch Spenden. • Effektive Kontrolle öffentlicher Arbeiten und Verhinderung von Unterschlagungen. • Erneuerung der physischen und administrativen Strukturen der Gemeinden und Bereitstellung von Computeranlagen.52 Die Auswirkungen des Siegs Hisbollah hat im Sommer einen bemerkenswerten Sieg davongetragen, der Israels Ansprüche zurechtstutzte, und somit all jenen Kräften Auftrieb gegeben, die nach grundsätzlicher Veränderung in 51 A N Hamzeh, a.a.O., S.135 52 ebenda, S.123 inprekorr 422/423 ganz Nahost streben. Die Hisbollah ist jedoch nicht das politische Werkzeug zur Erreichung dieser Veränderung. Das liegt nicht in erster Linie an ihren religiösen Vorstellungen selbst, sondern vielmehr daran, dass letztere Klassenkräfte überdecken, die nicht über einen bestimmten Punkt in ihrer Konfrontation – weder mit Israel noch mit dem Imperialismus – hinausgehen können. Es muss immer wieder gesagt werden: In keinem Land kann der Imperialismus durch einen Kampf besiegt werden, der sich auf dieses Land beschränkt, genauso wenig wie der Sieg über den Zionismus durch einen auf Palästina beschränkten Kampf denkbar ist. Was erforderlich ist, ist ein Durchbruch in einem Land, der einen revolutionären Prozess in der gesamten Region auslöst. Der Sieg der Hisbollah ist ein Beitrag dazu, weil er optimistischere Visionen vom Erreichbaren eröffnet – genauso wie die Niederlage von 1967 die AktivistInnen der Region in einen depressiven Pessimismus stürzte. Kurzfristig wird er wahrscheinlich die Anziehungskraft bestimmter Formen des Islamismus erhöhen. Wobei es auch eine bedeutende Verschiebung in der Beliebtheit verschiedener Auslegungen des Islams geben kann. Die Niederlagen der Vergangenheit begünstigten enge Auslegungen des Islams, die religiöse Reinheit auf der einen und elitäre Formen individualistischer, direkter Aktionen von der dschihadistischen Sorte auf der anderen Seite betonten. Da wo diese kläglich versagten, wie im Fall der Herausforderung des ägyptischen und des algerischen Staates, fielen viele AktivistInnen auf milde Formen des religiösen Reformismus zurück. Die Betonung der religiösen Reinheit hatte auch die Auswirkung, diejenigen mit einer bestimmten religiösen Interpretation gegen jene mit einer anderen Interpretation aufzustellen – nicht nur den Islam gegen andere Religionen, sondern auch Sunniten gegen Schiiten. Solche Spaltungen konnten dann durch den Imperialismus und ihre Agenten sowie durch opportunistische Karrieristen auf der Suche nach einer eigenen politischen Basis manipuliert werden, wie es in Pakistan oder – mit viel blutigeren Konsequenzen – im Irak der Fall war. Der Sieg der Hisbollah wird sich gegen diese Trends auswirken. Hisbollahs eigenes Beispiel wird als Beleg dienen, dass Bündnisse über religiöse Grenzen hinweg möglich sind. Die arabischen Regimes sind schon jetzt besorgt wegen der Anziehungskraft des Sieges der Hisbollah auf ihre eigenen sunnitischen Mehrheiten. Es geht aber um viel mehr. Siege erweitern die Horizonte von Menschen. Auf einmal sehen sie Möglichkeiten, die zuvor verborgen waren. Und Beispiele antiimperialistischer Aktionen in anderen Teilen der Welt, wie Antikriegsdemonstrationen in Europa und den USA oder Hugo Chávez Rückruf des venezolanischen Botschafters aus Israel, können den Menschen das Bewusstsein vermitteln, dass sie nichtmuslimische Verbündete haben, genauso wie sie in Gestalt der bestehenden arabischen Regimes auch muslimische Feinde haben. Dabei ist es wichtig, stets zu betonen, dass die Methoden der Hisbollah das Gegenteil von denen al-Qaidas sind. Die Hisbollah verurteilt nicht nur in Worten die Methode, Bomben zu legen, denen Zivilisten im Westen oder der Dritten Welt zum Opfer fallen. Ihr eigener militärischer Erfolg ist das direkte Ergebnis ihrer Massenarbeit. Ihre Beschränkung liegt darin, dass sie die Notwendigkeit von Massenarbeit auch unter jenen, die unter dem Imperialismus und seinen örtlichen Verbündeten in anderen Teilen der arabischen Welt – den ArbeiterInnen und der bäuerlichen Bevölkerung Ägyptens, Syriens, Jordaniens und anderswo – leiden, nicht sehen. Ihr Sieg wird es jedoch einfacher machen für diejenigen, die diese Einsicht teilen, eine Zuhörerschaft zu finden, nicht zuletzt auch unter denjenigen, die manchen islamistischen Vorstellungen anhängen. Chris Harman ist führendes Mitglied der britischen Socialist Workers Party und Herausgeber ihrer Theorie-Zeitschrift International Socialism Journal. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Auf Deutsch erhältlich sind u.a. „Die verlorene Revolution – Deutschland 1918–1923“, „Imperialismus – vom Kolonialismus bis zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts“, „Islamischer Fundamentalismus – Befreiungsbewegung oder neuer Faschismus?“, „Antikapitalismus – Theorie und Praxis“, „Der Irrsinn der Marktwirtschaft“ und die Einführung „Das ist Marxismus“ (erhältlich über edition-aurora.de, Basaltstr.43, 60487 Frankfurt). Aus dem Englischen von David Paenson, in Zusammenarbeit mit Rosemarie Nünning 37 ########## Hisbollah Die Hisbollah aus der Sicht der KP-Libanon Interview mit Marie Nassif-Debs Die KP Libanon ist eine nicht-konfessionelle Partei und im nationalen Widerstand engagiert. Wie sind ihre Beziehungen zur Hisbollah? Marie Nassif-Debs: Unser Verhältnis hat sich während der letzten 20 Jahre erheblich verändert. Vor 20 Jahren führte Hisbollah einen gnadenlosen Krieg gegen die Kommunisten. Die hauptsächlich von der Da’wa – einer islamisch fundamentalistischen Partei, die ihre Basis im Irak und Iran hatte und mehrheitlich aus Schiiten bestand – repräsentierte fundamentalistische Strömung sah in der KPL ihren absoluten Gegensatz. Ihr ging es darum, jedweden nichtkonfessionellen Ansatz oder unvoreingenommene und abweichende Gedanken zu unterdrücken. Das Verhältnis zu uns war daher sehr angespannt und es ging soweit, dass die Hisbollah mehrere Genossen von uns umbrachte, hauptsächlich Intellektuelle und Professoren. Beispielsweise haben sie Mahdi Amil ermordet, ein bedeutender Intellektueller und Philosoph, der sich mit der Materie des Kolonialismus und der Religion befasste. Oder Hassan Mroue, auch er ein bedeutender Philosoph, dessen Hauptwerk: „Die materialistischen Tendenzen des Islam“ ins Französische übersetzt wurde. Ursprünglich war er Scheich und wollte in Najaf im Irak studieren. Als er vor Ort feststellte, dass dies sein Ding nicht war, ist er Kommunist geworden und hat ein bedeutendes Werk hinterlassen. Es fanden auch kleinere Kämpfe statt, z.B. in Beirut oder in verschiedenen Regionen der West-Bekaa- Ebene – überall dort, wo ungleiche Kräfteverhältnisse herrschten. Dies erleichterte es auch den pro-syrischen Kräften, die Kommunisten aus der nationalen Widerstandsbewegung zu verdrängen. Insofern bestand eine Art Entente zwischen den pro-sy- 38 rischen Kräften und der Hisbollah und auch anderen Kräften. Wir sind dabei regelrecht verfolgt worden und einige Genossen wurden bei Einsätzen im Rahmen nationaler Widerstandsaktionen durch Schüsse aus den eigenen Reihen, also des nationalen Widerstands, getötet. Später dann entwickelten sich die Beziehungen positiv. Man saß gemeinsam in israelischen Gefängnissen und Militärlagern, wobei die Kommunisten stärker als die Hisbollah betroffen waren, und so entwickelten sich Kontakte zwischen den Kadern der beiden Organisationen. Diese Kontakte wurden dann nach der Freilassung mehr oder weniger intensiviert. Außerdem entwickelte sich die Hisbollah auch ideologisch, v. a. nach der Wahl von Hassan Nasrallah zum Generalsekretär. Denn er ist in erster Linie Araber und danach erst Moslem – eine Einschätzung, in der mir viele Genossen zustimmen. Das heißt, dass er die Dinge mit den Augen eines Arabers sieht: Er will Jerusalem nicht befreien, weil es eine der heiligen Stätten des Islam ist, sondern weil die Palästinenser in das Land ihrer Väter zurückkehren und einen eigenen Staat haben müssen … Seine Sichtweise unterscheidet ihn von seinen Vorgängern. Unsere Beziehungen gestalteten sich daraufhin mehr oder weniger entspannt, mal gut, mal weniger. … und inzwischen? Marie Nassif-Debs: Besonders nach dem jüngsten Überfall der Israe­ lis haben unsere Beziehungen einen Aufschwung erlebt. Wir hatten von uns aus zum Aufbau einer nationalen Widerstandsfront aufgerufen und Milizen gestellt. Diese hatten sich dem israelischen Einmarsch und seinen Militärkommandos in etlichen Dörfern der Bekaa-Ebene in der Nähe von Balbeck entgegengestellt, so auch dem Kommando, das nach Jamaliyyeh – einem Ort mit kommunistischer Mehrheit – eindringen wollte. Dabei sind drei unserer Genossen ums Leben gekommen. Allerdings gibt es auch noch eine gewisse Skepsis in unsrem Verhältnis zur Hisbollah, da es weiterhin strittige Punkte gibt. Ein Beispiel ist die Religionsfreiheit, wo ihre Positionen noch immer sehr unklar sind, auch wenn es hier Fortschritte gibt. Im Sommer 2005 nach dem Rückzug der syrischen Streitkräfte lagen unsere Positionen auseinander. Die Hisbollah glaubte – um sich gegen die Resolution 1559 zu wappnen – bei den Parlamentswahlen ein Bündnis mit pro-syrischen Kräften eingehen zu müssen, die sich dann zu Pro-Amerikanern gewandelt haben, nämlich die Libanesischen Kräfte, Hariri (Mustaqbal) und die PSP von Dschumblat. Dank dieser Allianz erlangten die Kräfte des 14. März die Mehrheit – wie Nasrallah inzwischen einräumt – und konnten die Regierung bilden. Denn hätten die Hisbollah sich mit den Kommunisten und bestimmten Kräften aus dem Lager Aouns verbündet, wäre diese Mehrheit nicht zustande gekommen. Insofern halten wir die Hisbollah zwar für eine Partei des Widerstandslagers, die Teil der Befreiungsbewegung auf nationaler und arabischer Ebene ist, aber wir haben Differenzen mit ihr in der Frage, wie mit der politischen und wirtschaftlichen Situation im Libanon umzugehen ist. Allerdings gibt es auch da Fortschritte, besonders in den letzten vier Monaten, seitdem sie sich für die Großdemonstration am 10. Mai außerordentlich engagiert hat. Andererseits gibt es bis heute wenig klare Aussagen zu einer Vielzahl problematischer Fragen. Beispielsweise ist ihre Position in der aktuellen Privatisierungskampagne der Energie- inprekorr 422/423 ########## Hisbollah versorgung im Libanon recht lau und wenig kämpferisch, obwohl sie neben einem weiteren Ressort das Energieministerium innehat. Ein weiteres Problem ist ihre unklare Haltung zur Systemfrage und zu den politischen Reformen im Sinne einer modernen und nicht-konfessionellen Gesellschaft. Neben diesen beiden wesentlichen Streitfragen gibt es eine dritte: Wir waren gegen die Mandatsverlängerung des Staatspräsidenten Emile Lahoud im Jahr 2004, während die Hisbollah dafür war. Seht ihr Chancen für eine grundlegendere Entwicklung der Hisbollah? Marie Nassif-Debs: Hisbollah besteht mehr oder weniger aus zwei großen Flügeln: der Da’wa, die nur den Islam etc. im Kopf hat, und denjenigen, die eine Entwicklung durchgemacht haben und von Gewaltenteilung und (politischen) Alternativen etc. reden. Meines Erachtens bleibt dieser Tendenz gar nichts anderes übrig, als sich weiter zu entwickeln, wenn sie nicht zum zweiten Mal um die Früchte ihres siegreichen Engagements gebracht werden will … jedenfalls bleiben wir mit ihnen im Gespräch. Von Sieg rede ich insofern, als wir der immerhin größten Militärmacht der Region – Israel – im Juli/August erfolgreich die Stirn geboten haben. Und wenn die Hisbollah diesen Sieg für sich und die Libanesen auskosten will, dann muss sie sich weiter entwickeln oder wir landen wieder am gleichen Punkt wie im Jahr 2000, als unser Land zum ersten Mal in der arabischen Geschichte – und zwar dank des islamischen Widerstands – befreit worden war und der Sieg aber aus religiösen Motiven verspielt wurde. Ein Teil der Hisbollah-Kader hat dies meines Erachtens begriffen und wir hoffen, dass sie sich in diesem fortlaufenden Richtungsstreit in der Partei durchsetzen können und nicht wieder in die alten sektiererischen, d. h. konfessionellen Positionen verfallen. Wird die nationale Widerstandsfront, die sich während des Krieges gebildet hat, Bestand haben? inprekorr 422/423 Marie Nassif-Debs: Wir suchen weiterhin die Diskussion mit der Hisbollah und den Anhängern Aouns über ein politisches Bündnis. Ein Großteil der Anhänger Aouns sieht in ihm jemanden, der sich den christlichen Faschisten entgegengestellt hat. Unter der Jugend gibt es eine regelrechte aounistische Bewegung, v. a. an den Universitäten, die sich ursprünglich für die Befreiung von der syrischen Vorherrschaft engagiert, sich dann aber ein Verständnis für die arabischen Belange angeeignet hat und sich mit den grundlegenden Problemen des Libanons und der Notwendigkeit von Reformen befasst. Dies reicht weit über den Kampf gegen die Korruption hinaus bis hin zur Forderung nach wirklichen gesellschaftlichen Änderungen außerhalb des Islamismus. Dadurch wird der Weg für neue Konstellationen frei. Der ehemalige Premierminister Selim Hoss ist ebenfalls sehr aufgeschlossen der arabischen Frage gegenüber und es gibt eine Übereinstimmung in wesentlichen Fragen. Das heißt, wir bemühen uns um das Zustandekommen einer Regierung auf der Grundlage eines nationalen Bündnisses und fordern daher vorgezogene Neuwahlen des Parlaments auf Basis eines nicht-konfessionsgebundenen Verhältniswahlrechts mit anschließender Wahl des Präsidenten der Republik. Dafür werden wir Anträge zur Verfassungsänderung einbringen, um die Konfessionsgebundenheit in Politik und Verwaltung abzuschaffen. Und über all dies diskutiert ihr mit der Hisbollah? Marie Nassif-Debs: Selbstverständlich! Wir argumentieren, dass eine große und so charismatische Persönlichkeit wie Nasrallah eine Galionsfigur im gesamten und nicht nur arabischen Nahen Osten darstell, er aber nicht Staatspräsident im Libanon werden kann. Und sie verstehen dies auch! Wenn man will, dass das Volk an die Schaltstellen der Staatsmacht gelangen kann, darf es keine Bindung an eine Konfession geben. Und auch wenn er zur Wahl anträte und die Stimmen nahezu aller Schiiten erhielte und er auch bei vielen Christen Popularität genießt und er insofern durchaus eine Mehrheit erzielen könnte, so könnte er noch immer nicht Präsident werden! Ein internationales Renommee sagt angesichts der klerikalen Herrschaftsstrukturen überhaupt nichts aus über die Bedeutung im eigenen Land. Von den 128 Abgeordneten sind die Hälfte Moslems und davon wiederum ein Drittel Schiiten. Dadurch limitiert sich automatisch die Zahl seiner Abgeordneten und Ministersitze, die quotiert werden. Ergo gibt es nur die Alternative, diese Quotierung abzuschaffen, damit alle Strömungen tatsächlich und auf der Grundlage programmatischer Aussagen zur Sozial- und Wirtschaftspolitik miteinander konkurrieren und untereinander Bündnisse bilden können. Inzwischen sind viele Leute zu dieser Überzeugung gelangt… Außer der KP und ein paar linken Gruppierungen sind alle politischen Parteien konfessionell ausgerichtet: Hisbollah und Amal sind schiitisch, die Libanesischen Kräfte maronitisch, zum geringen Teil auch griechisch-orthodox, die PSP ist drusisch, die Zukunftspartei von Hariri ist sunnitisch usw. Unser System reproduziert sich selbst, da all seine Abgeordneten auf konfessioneller Grundlage gewählt werden und Gesetze zur Wahrung ihrer eigenen Interessen machen. Unsere Bürgerkriege basierten auf Glaubensgegensätzen, obwohl es wirklich grundlegende Probleme in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht gegeben hat, die aber unter den Tisch gefallen sind. Das Interview mit Marie NassifDebs führten M. Court und N. Qualander am 21.9.2006 in Paris. M. Nassif-Debs ist Mitglied im Politischen Büro der KPL, Feministin, aktive Gewerkschafterin, Schriftstellerin und Journalistin. Sie ist Mitglied im Nationalen Treff zur Abschaffung der Frauendiskriminierung. Übersetzung: MiWe 39 ########## Venezuela Die Revolution muss vertieft werden! Stimmt für Chávez! Bei den Präsidentschaftswahlen am 3. Dezember wurde Hugo Chávez mit 62,87% der Stimmen wiedergewählt. Sein Herausforderer Manuel Rosales von der rechten Opposition erhielt 36,88%. Bemerkenswert ist auch die für Venezuela ausgesprochen hohe Wahlbeteiligung von 74,75%.1 Chávez erzielte die Mehrheit in allen 24 Bundesstaaten. Sogar in der im Westen gelegenen erdölreichen Region Zulia (hier war Rosales bis zu seiner Aufstellung als Präsidentschaftskandidat Gouverneur) gewann Chávez mit 50,57 gegen 49,26 Prozent. Angesichts der damit zu Tage getretenen Kräfteverhältnisse zog Rosales es vor, die Wahl nicht anzufechten. Zur Bedeutung der Wahlen und zur Bewertung der Lage in Venezuela dokumentieren wir den Aufruf der IV. Internationale vom 22. Oktober (seit Mitte November auf Deutsch auf unserer Internetseite), den wir auch nach der Wahl den geneigten LeserInnen zur Lektüre empfehlen. Die Redaktion Erklärung der IV. Internationale 1. Die imperialistische Rechte schlagen Manuel Rosales, der Gouverneur von Zulia, der Provinz mit den größten Ölvorkommen, steht den separatistischen Kräften nahe und wird von allen Kräften der venezolanischen Rechten und dem US-Außenministerium unterstützt. Er ist der Kandidat einer Rechten, die mit Besessenheit alles zerstören will, was der revolutionäre Prozess seit 1998 in Gang gebracht hat. Geht es nach dem Willen dieser Rechten, müssen die demokratischen Errungenschaften, die das venezolanische Volk durch seinen Kampf seit 1989 durchgesetzt hat – etwa bei der Niederschlagung des Putschversuches 2002, bei den Aussperrungen im Winter 2002/2003 und den mehrfachen Versuchen der militärischen und ökonomischen Destabilisierung – unverzüglich beseitigt werden, um zu einer Situation zurückzufinden, in der der Staat strikt im Interesse der besitzenden Klassen agiert. Schon in den Morgenstunden war die Wahlbeteiligung ungewöhnlich hoch. Vor vielen der insgesamt 33 000 Wahllokale hatten sich schon vor Sonnenaufgang lange Schlangen gebildet. In vielen Städten sind die Wähler von ChávezAnhängern schon um drei Uhr morgens mit Feuerwerken oder mit Lautsprecherfahrzeugen geweckt worden. Bei den Parlamentswahlen 40 Wir sind nicht immer mit Hugo Chávez einverstanden, was seine Politik auf internationalem Gebiet betrifft, wo er manchmal Internationalismus mit Diplomatie verwechselt. Das ist beispielsweise der Fall bei den Blankoschecks, die er der weißrussischen und der iranischen Regierung sowie der Kommunistischen Partei Chinas ausstellte. Dass jemand der Macht der Vereinigten Staaten die Stirn bietet, kann nicht heißen, dass man bestimmte Regierungen als fortschrittlich klassifiziert, die gegen die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung handeln, selbst wenn das im Rahmen einer internationalen Politik geschieht, die mit der Ölabhängigkeit Venezuelas zusammenhängt. Dennoch stellen diese Differenzen insgesamt unsere entschiedene Unterstützung für zahllose Positionen der venezolanischen Regierung und für ihre kompromisslose Linie gegenüber den USA nicht in Frage. Die konsequente Opposition gegen die imperialistischen Kriege, die Abberufung des Botschafters in Israel als Ausdruck des Protestes gegen den Krieg im Libanon, die Denunzierung der bewaffneten InterventiEnde 2005 hatte es eine Enthaltung von über 70 Prozent gegeben, weil die Opposition zu einem Boykott aufgerufen hatte. on in Haiti, die schonungslose Verurteilung der Politik Tony Blairs im Nahen Osten, die offene Unterstützung der lateinamerikanischen Linken, die ausgedehnten diplomatischen Aktivitäten in Afrika (Venezuela ist mit Kuba das lateinamerikanische Land mit der größten Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent) und im Mittleren Osten, all das hat Chávez zu einer der herausragendsten Figuren des antiimperialistischen Kampfes weltweit gemacht. Ein klarer Sieg von Chávez und dem venezolanischen Volk käme einem Aufruf zum kontinentweiten Kampf gleich. Und er wäre ein neuerlicher Beweis, dass man bei seinen Positionen standhaft bleiben kann – auch dann, wenn man Staatspräsident ist. 2. Für ein sozialistisches Venezuela, für die Stärkung der Selbstorganisation und den Bruch mit dem kapitalistischen Modell In Venezuela bleibt die Situation geprägt von der Entwicklung eines revolutionären Prozesses. Es findet ein offener Kampf zweier Strömungen statt. Die einen meinen, dass das Wichtigste bereits getan ist und dass es sich in der Zukunft darum handelt, in der Tagespolitik das Bestmögliche für die Bevölkerung zu tun, aber im Rahmen des real existierenden weltweiten kapitalistischen Systems und innerhalb dessen eine Nische für Venezuela zu finden. Die anderen, die für eine Beschleunigung und Vertiefung des Prozesses eintreten, sehen sich darin oftmals von Chávez unterstützt und sind wahrscheinlich im Land in der Mehrheit. Sie sind der Meinung, dass die erreichten demokratischen und sozialen Errungenschaften nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu dem Ziel darstellen, das sie als „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ bezeichnen, etwas, was der Gewerkschaftsverband UNT als „Sozialismus ohne Bürokraten, Kapitalisten und Großgrundbesitzer“ definiert. Die organisierte Arbeiterschaft in den Betrieben spielt eine immer bedeutendere Rolle im venezolanischen Proinprekorr 422/423 ########## Venezuela zess und verbündet sich mit der Avantgarde, die sich in den Armenvierteln autonom organisiert, um sich gegen die Polizei der Rechten zur Wehr zu setzen, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern und auch direkt die Stadtteile zu verwalten. Die Rebellion gegen die verkrusteten Bürokraten des Staatsapparats, ob sie nun aus dem alten Regime kommen oder unter der Ägide des „bolivarianischen“ Blocks eingesetzt wurden, trifft auf mannigfache Hindernisse, aber sie schreitet voran, innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, unter den Bauern, in den Armenvierteln, ja sogar bei den Wahlkämpfen. Sie ist ein zentrales Element des Fortschreitens des bolivarianischen Prozesses. Die Kämpfe um Land, die immer bedeutenderen Mobilisierungen der Ärmsten für neue und bessere öffentliche Versorgung, für Zugang zu Gesundheitswesen, Bildung und Wasser, das Bestreben, die Macht so direkt wie möglich durch das Volk selbst ausüben zu lassen, illustrieren die Vertiefung des revolutionären Prozesses und die Bereitschaft des venezolanischen Volkes, sich weiter zu mobilisieren. Die kämpferischsten Sektoren, die sich in der Gewerkschaftszentrale UNT, der Front Ezequiel Zamora (Bauernverband) und der Nationalen Assoziation der freien kommunitären Medien finden, und die politischen Kräfte wie die Partei Revolution und Sozialismus (PRS), das „Projekt Unser Amerika“ (PNA) oder die Studentenorganisation Utopia, ebenso wie die Tausende nicht organisierter, aber für den Prozess der Selbstorganisation des Volkes entscheidender AktivistInnen – alle diese sagen schon seit Jahren: Um alle Energien freizusetzen, damit die Revolution überlebt und sich durchsetzt, muss mensch die politischen Strukturen des Landes angreifen, den Staatsapparat, der die Bürokratie, die Korruption und den Klientelismus reproduziert, zerstören, die Besitzer der großen Ländereien, der Banken, der Stahlwerke attackieren und die nationale Debatte über die Leitung der PDVSA (staatliche Ölgesellschaft) eröffnen, auf die die Arbeiter der Ölindustrie warten, und diese der (Mit)verwaltung durch die Arbeiter unterstellen. Das ist der Sinn unserer Hilfe für die­ se politischen Kräfte und unseres Engagements zur Unterstützung ihrer Kämpinprekorr 422/423 fe in unseren jeweiligen Ländern, denn nur diese Kämpfe und die unseren ermöglichen es, zum Aufbau einer Gesellschaft zu gelangen, die vom Kapitalismus befreit ist. Wenn Chávez wiedergewählt wird, dann stehen die Arbeiter und die Armen Venezuelas vor neuen Kämpfen. Jeder keit einer revolutionären Organisation bewusst sind. Auf einer umfassenderen Ebene hat Chávez die Gründung einer föderalen Partei vorgeschlagen, die alle Organisationen zusammenführen soll, die den bolivarianischen Prozess unterstützen, und präzisiert, dass diese Partei eine Sieg der Venezolaner ist eine neue Hoffnung für die Kämpfe der ArbeiterInnen und Völker weltweit. „nicht reformistische“ sein solle. Dieser Vorschlag ist interessant. Jedoch könnte diese Organisation nicht von den gleichen politischen Kräften mit aufgebaut werden, gegen die die Volksorganisationen tagtäglich kämpfen, wenn sie sich gegen die Bürokratie wenden, für Fortschritte bei der Agrarreform eintreten oder dafür, die Beteiligung der ArbeiterInnen an der Führung der Wirtschaft auszuweiten. Die Gründung einer solchen Organisation würde zumindest zwei Probleme lösen, vor denen der bolivarianische Prozess steht: Das Eigengewicht der Person Chávez – ein Faktor, der die Rolle der venezolanischen Massen schwächt – und die Vermischung von Diplomatie und internationalistischer Politik. Der Prozess des Aufbaus einer solchen Partei müsste es in der Folge ermöglichen, die strategischen Diskussionen über den Weg zu führen, den es einzuschlagen gilt, um den Kapitalismus zu besiegen und die Basis für eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. 3. Welche politische Organisationsform braucht die bolivarianische Revolution? Das Bild der politischen Partei als Organisationsform hat durch 50 Jahre Klientelismus, Korruption und Führung des Landes durch die proimperialistische Bourgeoisie schweren Schaden genommen. Dennoch stellt sich heute nach acht Jahren des revolutionären Prozesses mit aller Schärfe die Frage: Welche Partei muss aufgebaut werden und welche Form muss sie annehmen, um die bolivarianische Revolution weitertreiben und vertiefen zu können? Wir unterstützen alle Versuche, eine politische Organisation zu schaffen, die den Zusammenschluss der radikalisierten Sektoren, auf die wir uns weiter oben bezogen haben, möglich macht. Die Allianz zwischen der Union Popular de Venezuela (Volksunion Venezuelas), der PRS und der klassenkämpferischen Tendenz der UNT, oder der Vorschlag der Liga Socialista, einen Kongress zur Organisierung der SozialistInnen vorzubereiten, zeigen, dass es bedeutende Sektoren gibt, die sich der Notwendig- Erklärung des Exekutivbüros der IV. Internationale, 22. Oktober 2006 Übers.: Thadeus Pato 41 ########## Brasilien Brasilienwahlen: Ein tiefer politischer Bruch José Corrêa Leite und João Machado Im ersten Wahlgang am 1. Oktober 2006 war eine von der Politik enttäuschte Wählerschaft mit einer Polarisierung zwischen den beiden großen politischen Blöcken des Landes, dem Block um die Arbeiterpartei (PT) und dem um das Bündnis aus PSDB und PFL herum, konfrontiert. Diese Polarisierung drückte sich vor allem in den letzten Wochen vor der Wahl durch den Gegensatz zwischen den Präsidentschaftskandidaten Ignacio Lula da Silva und Garaldo Alckmin aus. Bei 46,66 Mio. Stimmen hat Lula 48,61% der abgegebenen Stimmen erhalten. Alckmin hat 39,97 Mio. Stimmen oder 41,64% bekommen. Die Kandidatin der PSOL und der Linksfront, Heloisa Helena, kam mit 6,575 Mio. Stimmen oder 6,85% auf den dritten Platz. Schließlich brachte es der Senator Cristovam Buarque von der PDT – die im allgemeinen als populistische Linkspartei eingeschätzt wird – auf 2,54 Mio. oder 2,64% der Stimmen; alle anderen KandidatInnen bekamen nur geringe Stimmanteile. Im Unterschied zu den letzten Wahlen war der Wahlkampf diesmal von einer großen Apathie gekennzeichnet. Oberflächliche Erklärungen schreiben diese Apathie den neuen Wahlregelungen zu, die den Wahlkampf einschränken, der früher mehrere Monate lang auf die WählerInnen niederprasselte. Ernsthaftere Stimmen sprechen von den frustrierten Erwartungen auf einen Wandel in den politisierten Sektoren im Verlauf der vier Jahre Regierungszeit von Lula. Entmutigung und Fragmentierung Diese Frustrationen zeigten sich darin, dass die Straßenaktivitäten, die früher so bezeichnend für die PT waren, verschwunden (sie wurden durch die Profis ersetzt) und dass die „engagierten Stimmen“ zugunsten der PT zu42 rückgegangen sind. Dass dies passieren würde, war nach dem ersten großen Schock nach der Wahl vorhersehbar, als Lulas explizite Bekehrung zum Neoliberalismus (oder „Sozialliberalismus“) und die großen Korrup­ tionsfälle in der PT offenbar wurden. Die breite politische Enttäuschung und besonders der Rückgang der Überzeugung, die Politik könne ein Mittel gesellschaftlicher Veränderung und der Emanzipation sein, haben jedoch tiefere Ursachen. Es wurden bereits zahlreiche Erwartungen enttäuscht seit der Wiedereinführung der Demokratie in Brasilien im Verlauf der achtziger Jahre: Das gilt für die Hoffnungen auf die Oppositionspartei gegen die Militärdiktatur (die PMDB wurde als eine „demokratische Front“ angesehen), dies gilt für die ersten Präsidentschaftswahlen zu Ende der Diktatur (1989) und auch für die Hoffnungen, die sich ein optimistischer Teil der Bevölkerung in den ersten Jahren der Regierung Fernando Henrique Cardoso (FHC) gemacht hatte. Somit ist die Frustration über Lula und über die PT nur die letzte in einer langen Reihe. Aber sie geht auch am tiefsten. Man muss auch den Verlauf der Umwälzungen in der brasilianischen Gesellschaft seit 1990 betrachten. Die vier Regierungsjahre von Lula folgen auf die acht Jahre von FHC und die fünf Jahre der Regierung Collor-Itamar. Dieser Zeitraum war durch eine Eingliederung von Brasilien in untergeordneter Position in den Weltmarkt, eine neoliberale Umstrukturierung der Produktionsstruktur des Landes, sodann die wirtschaftliche Stagnation, die Auflösung der früheren Beziehungen und Klassenidentitäten, die Entwicklung des Individualismus und der Konsumgier, die ideologische Regression und die Disqualifizierung von bürgernahen politischen Aktivitäten gekennzeichnet. Ein Gutteil der sozialistischen Linken, der in der Arbeiterklasse verwurzelt und unabhängig organisiert war, und der die Arbeiterpartei und die Einheitszentrale der Arbeitenden (CUT) aufgebaut hat, existiert nicht mehr. Die unabhängige Klassenorganisation ist aufgelöst, die Arbeitenden wurden gesellschaftlich fragmentiert und die verbliebene sozialistische Linke ist gespalten, in der Defensive, und es fehlt ihr ein glaubwürdiges Projekt. Was im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre den Unterschied zwischen der brasilianischen Linken und der übrigen lateinamerikanischen Linken ausmachte – die sozialistische Massenaktion, die im unabhängig von der kapitalistischen Klasse organisierten Proletariat verankert war – gibt es nicht mehr. Dasselbe ist mit den sozialen Bewegungen passiert. Die achtziger Jahre waren von großen Mobilisierungen charakterisiert, die neunziger vom Rückfluten, wobei die Bewegung der Landlosen (MST) die einzige Bewegung war, die im Verlauf jenes Jahrzehnts eine große Mobilisierungskapazität beibehielt, doch in der Regierung Lula ist sie im Morast versunken. Die Gewerkschaften haben schon vor längerer Zeit aufgehört, eine bedeutsame politische Wirkung zu entfalten. In diesem Kontext haben die neuen Generationen noch keine Erfahrung mit großen gesellschaftlichen Mobilisierungen. Der politische Zyklus der 1980er Jahre ist an sein Ende gelangt und der Zerstörung der politischen Identität der Linken in Brasilien ist bereits weit gediehen. Im Verlauf der Wahlen ist eine neopopulistische PT aufgetaucht, eine auf der charismatischen Führungsgestalt von Lula und auf die Kontrolle öffentlicher Gelder aufgebaute Wahlmaschine. Lula stellte sich als Verteidiger der Armen gegen eine unsensible Elite hin, wobei er jedoch den herrschenden Klassen Stabilität garantiert und ihnen inprekorr 422/423 ########## Brasilien versichert, dass ihre Geschäfte laufen wie immer. Die nationale Krise ist weiter offen, ohne dass einer der beiden Teile des Blocks an der Macht in der Lage wäre, irgendeinen Fortschritt zu sichern. Brasilien stagniert in einer internationalen Wirtschaft, die ein rasches Wachstum kennt. Die regionale Integration kommt nicht voran. Die soziale Krise spitzt sich zu, während weder Lula noch Alckmin der Bevölkerung Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen können. Bestimmte Organisationsformen kommen voran, doch es gelingt ihnen nicht, ambitioniertere Aktionen durchzuführen, was eben die Rolle von Parteien wäre. Die brasilianische Gesellschaft ist eine der konfliktträchtigsten der Welt, inmitten von Lateinamerika, in dem es gärt und wo radikalere Alternativen an Raum gewinnen. Für die Linke werden neue Breschen entstehen! Die Kandidatur von Heloisa Helena Im Rahmen des genannten Rückflutens drückte die Kandidatur von Heloisa Helena im Namen der Linksfront den Widerstand gegen den Verlust der Identität der Linken aus; sie stellte eine Neuheit im Wahlkampf dar, auch wenn das nicht genügte, die Krise der fortschrittlichen Politik in Brasilien abzubremsen. Die PSOL – die als legale Partei erst seit gut einem Jahr (September 2005) anerkannt und registriert worden ist – war bei weitem die wichtigste Partei der Linksfront. Die beiden anderen Parteien, die PSTU (vereinigte Arbeiterpartei, die auf die Tradition von Nahuel Moreno zurückgeht) und die PCB (KP Brasiliens) – haben ein deutlich geringeres politisches Gewicht und weniger Anhang bei den WählerInnen. Zum Zeitpunkt der Wahlen verfügte die PSOL über einige Tausend Mitglieder, vor allem GewerkschafterInnen, über ein gewisses Gewicht unter Jugendlichen und eine kleine Gruppe im Parlament: eine Senatorin, sieben Abgeordnete auf Bundesebene und vier Abgeordnete in den Einzelstaaten sowie einige Dutzend StadträtInnen. Es handelt sich somit um eine minoritäre Kraft, die nur einen Teil inprekorr 422/423 Heloisa Helena der historischen Linken der PT umfasst und noch weniger die Mitglieder der anderen linken Parteien (ein Teil der Mitglieder kam aus der PSTU). Die PSOL hatte eine weit größere Ausstrahlung bei den Wahlen, als es ihre schwache Organisation und ihre kleine soziale Basis hoffen lassen konnten; dies ist vor allem auf die Popularität und das Charisma der Senatorin Heloisa Helena zurückzuführen. Im Verlauf der ersten Monate des Jahres, vor dem Beginn der Kampagne, gaben ihr die Meinungsforscher zwischen vier und sechs Prozent der Stimmen; sie kam damit auf die dritte Position. Ab Juli wurden die Wahlen zu einem Hauptthema der Massenmedien – besonders die Präsidentenwahl. So hatten die zur Wahl stehenden KandidatInnen täglich einige Minuten Zugang zu den Massenmedien und das Fernsehen, vor allem zum Rede Globo, den wichtigsten Kanal des Landes. Dadurch wurden die ungeheuren materiellen und medialen Unterschiede in den Möglichkeiten der KandidatInnen etwas reduziert, was der Kandidatur von Heloisa Helena einen kräftigen Auftrieb verschaffte. Mitte August kam sie bei Umfragen auf 12% der Stimmen (was, wenn man die weißen und ungültigen Stimmen abzieht, einem Anteil von 14 bis 15% entsprochen hätte). Dieser Aufstieg lässt sich durch mehrere Gründe erklären: die Kandidatur einer Frau, die von allen als kämpferisch anerkannt ist und die den Mut hatte, sich mit der Regierung Lula anzulegen, während er noch auf dem Gipfel der Popularität schwebte und wochenlang überhaupt nicht kritisiert wurde; der Einbruch von Lula in Kreisen, die die öffentliche Meinung bilden; auch die Interessen der mit der PSDB, der Partei von FDC und Alckmin, verbundenen Opposition, diesen Durchbruch zu begünstigen, um leichter in den zweiten Wahlgang kommen zu können. Aber zu diesem Zeitpunkt ging der Abstand in den Meinungsumfragen zwischen Heloisa Helena und Alckmin soweit zurück, dass es möglich schien, dass es nicht zu einem Zweikampf Lula gegen Alckmin käme. Doch mit Beginn der offiziellen Wahlkampagne im Fernsehen (am 15. August) besetzten die großen Wahlmaschinen die Vorderbühne und die relativ günstige Lage wandelte sich schnell. Mit Beginn dieses Zeitpunktes wurde der riesige Unterschied in den materiellen Ressourcen und den organisatorischen Kapazitäten der beiden großen Blöcke (um Lula und Alckmin) und der Linksfront überdeutlich. Dieser Unterschied wurde durch die Tatsache weiter vergrößert, dass die Wahlgesetzgebung allen politischen Kräften in Rundfunk und Fernsehen Sendezeiten zuteilt; die Grundlage für die Sendezeiten sind die Wahlergebnisse bei den vorangegangenen Wahlen, in diesem Fall die Wahlen von 2002, als die PSOL noch gar nicht existierte. Die organisatorische Schwäche der PSOL und der Linksfront ermöglichte es auch nicht, alle diejenigen zu organisieren, die sich im Verlauf der Kampagne angeschlossen hatten und zusammenarbeiten wollten. So musste sich ein Teil der WählerInnenschaft von Heloisa Helena klar werden, dass die organisatorische Basis zu sch43 ########## Brasilien mal war, um eine wirkliche Alternative darstellen zu können. Besonders in den letzten Wochen schließlich, als der Abstand zwischen Lula und Alckmin abnahm und die Möglichkeit eines zweiten Wahlgangs auftauchte, kam auch der Druck der „nützlichen Stimmabgabe“ auf. Die organisatorische Schwäche der Linksfront ging mit ihren politischen Schwächen einher, was den Wahlkampf nicht gerade erleichterte. Es gelang nicht, eine vereinigte politische Leitung für den bundesweiten Wahlkampf aufzubauen, und dasselbe gilt für die meisten Einzelstaaten. Die schlimmste Folge dieser Schwäche war die Unfähigkeit, wegen der unterschiedlichen Meinungen in der PSOL und zwischen den anderen Parteien, die die Linksfront bildeten, ein Regierungsprogramm fertig zu stellen – es wurde nur ein Manifest veröffentlicht. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Heloisa Helena und die anderen KandidatInnen der Front keine programmatischen Alternativen vorgestellt hätten. Doch die Tatsache, dass kein vollständiges programmatisches Dokument verabschiedet worden war, verminderte die Wirkung der Darstellung von Alternativen und machte die Front gegenüber den Kritikern und der Presse verwundbar. 44 Eine andere politische Begrenztheit der Kampagne der Genossin Heloisa Helena lag darin, dass sie zumeist in der ersten Person und nicht als Vertreterin eines politisches Projektes oder eines Prozesses von gesellschaftlichen Kämpfen sprach. In gewisser Weise war das unvermeidlich: Es handelte sich um eine Kandidatur mit nationaler Wirkung und mit einem politischen Projekt, dessen Aufbau gerade erst begonnen hatte, und das noch nicht über eine kollektive Führung verfügte – bei einem niedrigen Niveau von Mobilisierungen der Bevölkerung. Im Übrigen ergibt sich dies auch aus der Logik von Präsidentschaftswahlen: Es kämpfen die Kandidaten gegeneinander und nicht ihre Parteien oder Zusammenschlüsse, die sie unterstützen. Doch kann es keinen Zweifel daran geben, dass darin eine Schwäche des Wahlkampfes lag. Eine andere Frage hatte negative Auswirkungen auf die Kampagne – ohne dass man davon ausgehen kann, dass die Auswirkungen auf die Wirkung der Kampagne bedeutsam gewesen wären –, nämlich die Frage der Straflosigkeit bei Schwangerschaftsabbruch. Während die große Mehrheit der PSOL und der Linksfront für die Straflosigkeit der Abtreibung eintreten, ist Heloisa Helena aus Gewissengründen nicht dieser Meinung. Die Presse hat diese Meinungsverschiedenheit aufgegriffen und hat sie zu jedem Augenblick nach ihrer Meinung zu dieser Frage befragt (was man bei den anderen Kandidaten nie getan hat). Jedoch stellen die 6,5 Mio. Stimmen und die 6,85% der abgegebenen Stimmen sowohl für Brasilien wie international für eine als „radikal“ eingeschätzte Kandidatin ein historisches Ergebnis dar: Sie hat ihre Wahlkampagne (bei der letzten Diskussionsrunde der KandidatInnen im Fernsehen) damit beendet, dass sie sagte, ihr Wahlkampf habe das Ziel, das sozialistische Engagement zu retten, das die PT längst aufgegeben habe. Die 6,575 Mio. Stimmen von Heloisa Helena (1,56 Mio. im Staat São Paulo, 1,42 Mio. im Staat Rio de Janeiro, 579 000 im Staat Minas Gerais und 440 000 in Rio Grande do Sul) stellen vor allem eine Unterstützung für eine ethische und gegen den Neoliberalismus gerichtete Politik dar. In einer für die Linke schwierigen Lage ist dies ein Sieg, das Ergebnis eines Dialogs mit fortschrittlichen Kreisen der Kirche, mit Angestellten des öffentlichen Sektors, mit organisierten ArbeiterInnen, mit Teilen der liberalen Mittelklasse und der Universität. Die Bedeutung dieses Ergebnisses tritt noch deutlicher zu Tage, wenn man weiß, dass Heloisa Helena im Staat Rio de Janeiro (der als der politischste des Landes gilt) über 17% erhalten hat – und 25% in Maceió, ihrer Heimatstadt, die im Nordwesten Brasiliens gelegen ist, der Region, die am meisten von den Unterstützungsprogrammen der Regierung Lula profitiert hat und wo der Kandidat der PT das beste Ergebnis erzielt hat. Insgesamt hat die Linke im weiten Sinn, soweit sie das neoliberale Programm in den beiden (zur Wahl stehenden) Varianten kritisiert, fast zehn Prozent der Stimmen bekommen. Es handelt sich um diffuse Sektoren, die mit der PT gebrochen und für Heloisa Helena oder Cristovam Buarque gestimmt haben. Der Kampf zwischen der PT und der PSDB Seit den Gemeinderatswahlen von 2004 haben die PT und die PSDB ihre Wahlauseinandersetzung vorbereitet. Obwohl die Ergebnisse jener Wahl bereits die Schwäche der PT in den gro­ ßen Zentren des Südens und Südostens offenbart haben, gestaltete sich die Lage der Partei erst nach dem „mensalão“-Skandal ab Juni 2005 wirklich schwierig. Doch im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2006 hat Lula die Lage wieder in den Griff bekommen und ist als Favorit in den Wahlkampf gestartet. Der „mensalão“-Skandal wurde Der Skandal der „monatlichen Zahlungen“ hat dazu geführt, dass 19 Abgeordnete angeklagt wurden, von Seiten der Regierung monatlich unter der Hand beträchtliche Zahlungen erhalten zu haben, damit sie für ihre Vorhaben stimmten. Einige Dutzend, ja vielleicht über hundert Abgeordnete und Senatoren sind wahrscheinlich nicht belangt worden, weil die Vertreter der PT und ihre Verbündeten im Kongress entsprechende Manöver durchgezogen haben. Das Geld für die „mensalão“ stimmte aus Betrug aus öffentlichen Unternehmen (darunter die Post und der staatliche Rückversicherer in Brasilien) und lief über ein privates Werbeunternehmen, das von Marcos Valerio geleitet wird, dessen Vermögen sich seit Lulas Amtsantritt vervierfacht hat und dem bereits Verträge mit der Regierung von über 150 Mio. Reais (55 Mio. €) zugeschanzt wurden. inprekorr 422/423 ########## Brasilien von anderen Skandalen überdeckt, so dem Vampir-Skandal und dem „Blutsauger“-Skandal. Der Kandidat der PSDB hatte aus diesem Grund mit einer gespaltenen Partei zu kämpfen und konnte nicht einmal sicher sein, in die zweite Runde zu kommen. Wenn man den Kommentatoren glauben darf, so lag die Tatsache, dass Lula im ersten Wahlgang weniger Stimmen erhalten hat als gedacht und er in den zweiten Wahlgang gehen musste, an zwei Schwachpunkten des zur Wiederwahl stehenden Präsidenten: Es waren da die Rückwirkungen des „Dossier-Skandals“ sowie Lulas Weigerung, sich an einer Debatte unter den KandidatInnen im Fernsehen zu beteiligen, die drei Tage vor dem Wahlgang ausgestrahlt wurde. Der überraschendste Aspekt der Konfrontation zwischen Lula und Alckmin war die Polarisierung und die Identifizierung der Armen bzw. Reichen mit der jeweiligen Kandidatur, ohne dass es irgendeine Polarisie Betrug bei den Angeboten für den Einkauf von Medikamenten. Solcher „beeinflusste Handel“ wurde bei Petrobras, bei BR Distribuidora, bei Infraero, in den Ministerien für Kommunikation, für Pensionen und Renten, im Nationalen Institut der Sozialversicherung, im Pensionsfonds Nucleos (Pensionsfonds von Electrobras) und im Gesundheitssekretariat des Bundesdistriktes festgestellt. Der frühere Gesundheitsminister und Kandidat der PT als Gouverneur in Pernambuco, Humberto Costa und der frühere Schatzmeister der PT Delúbio Soares führten diese beiden Gruppen an, die die Betrugsmaßnahmen organisierten. Die Firma Planam (die der Familie Vedoin gehört) hat den Kommunen verschiedener Staaten des Landes überhöhte Rechnungen ausgestellt. Über hundert Abgeordnete und Senatoren stellten Gesetzestexte vor, um die „für die Gesundheit vorgesehenen“ Gelder für mehr als 600 Gemeinden freizubekommen. Die seit 2001 bestehende Gruppe hat auch über Tausend Ambulanzfahrzeuge mit 110% überfakturiert, wobei es um 110 Mio. Reais (40 Mio. €) ging. Außer vielen Abgeordneten waren auch einige Dutzend hohe Beamte des Gesundheitsministeriums, über 50 Berater des Parlaments und mindestens 60 prefeitos (Bürgermeister) in den Skandal verwickelt. Alle erhielten sie für ihr Mitmachen „Kommissionen“. Die Untersuchungen haben auch über zwei Dutzend Scheinfirmen und einige NGOs ausgemacht, die Mittlerdienste vollführten. Am 15. September 2006 verhaftete die Bundespolizei Angestellte von Parteiführern der PT mit 1,7 Mo. Reais (630 000 €), die versuchten, ein Dossier mit Informationen zu kaufen, die gegen José Serra, einen Führer der PSDB, hätten verwendet werden können. Wohl weil er sich den anderen KandidatInnen überlegen dünkte (oder die Konfrontation mit Heloisa Helena fürchtet), hat Lula an keiner der drei ausgestrahlten Wahldebatten teilgenommen. inprekorr 422/423 rung über die Frage der Gestaltung der Zukunft der Nation gegeben hätte. Durch seine Politik der Subventionierung und durch sein persönliches Charisma gelang es Lula, seine Identifizierung mit den Armen und mit den „unterentwickelten“ Regionen des Landes aufrecht zu erhalten. Die Wirkung des Hilfsprogramms „Bolsa Familia“ war groß genug, um bei den Wahlen ins Gewicht zu fallen, und auch die Tatsache, dass der Präsident der Republik aus bescheidenen Verhältnissen stammt, spielte bei den Wahlen eine bedeutende Rolle. Die reichen und konservativsten Teile der Bevölkerung haben sich spontan mit Alckmin identifiziert, der für einen brutalen Neoliberalismus steht. Jedoch hat das „Dossier-Gate“ neuerlich in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Partei-Maschine der PT tagtäglich Mafiamethoden einsetzt (wodurch sie sogar die Wiederwahl von Lula in Gefahr hätte bringen können) und die Empörung von Teilen der Mittelschichten und der Bourgeoisie verstärkt hat, was vermehrt dazu geführt hat, sie mit einem zweiten Wahlgang Das Programm „Bolsa Familia“ ist ein Hilfsprogramm für ganz arme Familien (mit einem Monatseinkommen von weniger als 90 Reais (ca. 35 €). Die monatlichen Zahlungen reichen von 50 bis 95 Reais, je nach dem Einkommen und der Kinderzahl. Wenn sich eine Familie bei „Bolsa Familia“ einschreibt, verpflichtet sie sich, die Kinder zur Schule zu schicken und für sie zu sorgen. 2006 haben etwa 25% der Familien des Landes solche Hilfen bekommen. büßen zu lassen. Darunter befanden sich auch Sektoren, die sich bis dahin neutral verhalten hatten und die nun nach rechts gingen und ihre Abneigung gegen die PT erneuerten. Unter dem Druck dieser Situation haben Lula und die PT alles getan, Alckmin als Mann der Reichen und Vertreter der Politik der FHC-Regierungen hinzustellen; gleichzeitig vermehrten sie zwischen den Wahlgängen ihre Versprechungen zugunsten der Armen und für eine linke Phase in der neuen Regierungszeit – wobei sie gleichzeitig betonten, die Wirtschaftspolitik nicht ändern und die Sparpolitik weiterführen zu wollen, die ja weitere Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben vorsieht. So kam es zu einer gesellschaftlichen Identifizierung der Armen mit Lula, was aber überhaupt nicht bedeutet, dass wir es mit der Konfrontation zwischen zwei unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Alternativen zu tun hätten. Es handelt sich um die Vergabe von Mitteln durch den Staat, die durch den Einsatz öffentlicher Fonds genährt werden, um Mindesteinkommen zu finanzieren, die aber eine große Wirkung haben, weil die Mehrheit des Volkes in bitterer Armut lebt. Man kann annehmen, dass sich eine mögliche Regierung Alck Es dürfte in diesem Zusammenhang interessant sein, zu erfahren, dass Alckmin im zweiten Wahlgang 2,5 Mio. Stimmen weniger bekommen hat als im ersten! 45 ########## Brasilien min von der zweiten Regierung Lula in einigen Aspekten der Außenpolitik unterschieden hätte, doch nichts spricht dafür, zu sagen, Lula werde mit der neoliberalen Orthodoxie brechen. Die Ergebnisse der PSOL Die Wahlergebnisse der PSOL sowie die der Linksfront (die PSTU und die PCB konnten nicht allzu viele Stimmen beisteuern) – fielen deutlich geringer aus als die für Heloisa Helena abgegebenen Stimmen, was die Schwäche der Partei (und der Front) aufzeigt. Dort, wo es uns gelungen ist, KandidatInnen für den Gouverneursposten von Einzelstaaten aufzustellen, die in der Lage waren, in größere Debatten einzugreifen, konnten wir einen Großteil der für Heloisa Helena abgegebenen Stimmen gewinnen. Dies gilt für das Bundesdistrikt (Brasilia) und für Pará, wo die Kandidaturen von Toninho und von Edmilson über 4% der Stimmen bekamen, für Ceará, wo Renato Rosenao 2,75% erhielt (aber in der Hauptstadt Fortaleza über 7%) und mit Plinio Sampaio in São Paulo, der 2,5% der Stimmen erhielt (was eine halbe Million Stimmen sind). Doch in den meisten Staaten kamen unsere KandidatInnen gerade mal über die 1% oder blieben sogar darunter. Auf nationaler Ebene hat die PSOL 1,149 Mio. Stimmen bekommen, also 1,4% der abgegebenen Stimmen, was weit unter der Marke von 5% liegt, die man überspringen muss, um an der Sitzverteilung teilzunehmen. Es wurden also nur drei Bundesabgeordnete gewählt – Luciana Genro im Staat Rio Grande do Sul, Ivan Valente in São Paulo und Chico Alencar in Rio de Janeiro, sodann drei Abgeordnete in Parlamente der Einzelstaaten – Gianazzi und Raul Marcelo in São Paulo und Marcelo Freixo in Rio de Janeiro. Die PSTU und die PCB konnten niemanden durchbringen. Wenn wir diese Ergebnisse unter dem Aspekt betrachten, dass die PSOL erstmalig an Wahlen teilgenommen hat, dann können wir sagen, dass sie nicht schlecht sind. Wenn wir sie aber mit der Lage der Partei vor den Wah­len vergleichen, müssen wir von einem Rückgang sprechen. Nach den Wahlen verfügt die PSOL über eine 46 Vertretung in den Institutionen, die schwächer ist als vorher. Dies kann man vor allem mit der fehlenden Geschlossenheit der PSOL als Partei und mit der sehr großen Schwierigkeit erklären, in ihren Reihen die Einheit in der Aktion herzustellen. Es fehlte der PSOL die Fähigkeit, ihre KandidatInnen in den sozialen Bereichen und den wichtigsten Regionen bekannt zu machen. Wir verlieren also einen Teil des politischen Kapitals, das wir besaßen, als wir die Arbeiterpartei verließen: die Mandate, die von Abgeordneten in São Paulo (Orlando Fantazini), in Rio de Janeiro (Babá), in Brasilia (Stérile) und im Staat Ceará (João Alfredo) gehalten wurden; außerdem vier Mandate in den Einzelstaaten (was teilweise dadurch kompensiert wird, dass auf dieser Ebene drei neue gewählt wurden). Angesichts der inneren Zersplitterung der PSOL wäre es schwierig gewesen, ein qualitativ besseres Ergebnis zu erzielen. Im Lichte der Ergebnisse hätten wir bei einer größeren Stimmabgabe zugunsten der Partei hoffen können, einen zusätzlichen Abgeordneten in São Paulo und einen in Rio de Janeiro zu bekommen. Doch wie wir bereits erwähnt haben, verfügten wir in diesem Wahlkampf nicht einmal über einen Ansatz von kollektiver politischer Leitung. Dass Heloisa Helena bei vielen Treffen allein zugegen war, zeugt von dieser Führungsschwäche auf politischer, organisatorischer und finanzieller Ebene. Bei einem Teil der AktivistInnen der PSOL, die in den Gewerkschaften arbeiten, fehlte es an Erfahrung, was die Durchführung von Wahlkämpfen anbetrifft. In dieser Hinsicht hat Heloisa Helena eine ganz wichtige Rolle gespielt, weil sie die Kampagne in einem Land von kontinentalen Ausmaßen immer am Laufen hielt – ohne dass die materiellen Ressourcen dafür ausreichten. Die Wahlergebnisse zeigen auch die eingeschränkten Tätigkeiten von PSTU und KPB; auf erstere entfielen etwa 100 000 Stimmen, auf letztere etwa 40 000. Der zweite Wahlgang Sowohl bei der Präsidentenwahl wie auch bei verschiedenen Gouverneurs- wahlen der Einzelstaaten wird ein zweiter Wahlgang stattfinden. Für die Präsidentschaftswahlen hat die PSOL beschlossen, keinen der beiden Kandidaten zu unterstützen, auch wenn einige Teile der Partei der Meinung waren, man müsste Lula in einer bestimmten Form unterstützen, um Alckmin, der noch weiter rechts steht, den Weg zu versperren. Ein anderer Teil der Partei sprach sich für eine Kampagne „Keine einzige Stimme für Alckmin“ aus (ohne zu sagen, ob man ungültig oder für Lula stimmen sollte). Es gibt mehrere Gründe für die Weigerung der Parteimehrheit, eine solche Orientierung einzuschlagen. Zunächst wird Lula eine eindeutig sozial-liberale Regierung bilden, d.h. er wird hinsichtlich der Wirtschafts- und Sozialpolitik dem neoliberalen Modell folgen. Zweitens hat er ein Bündnis gebildet, in dem sich auch wichtige Parteien der brasilianischen Rechten befinden, so die Partei von Paulo Maluf. Lula ist daher kein Kandidat eines Linksblocks, wiewohl es eine gesellschaftliche Polarisierung zu seinen Gunsten gibt, wie wir bereits erwähnt haben. Der Soziologe Ricardo Antunes, ein Gründungsmitglied der PSOL, hat seine Ablehnung der Idee, Lula im zweiten Wahlgang zu unterstützen, wie folgt begründet: „Es ist offensichtlich, dass die Kandidatur von Lula und die von Alckmin nicht identisch sind. Aber die Architektur ihrer Wirtschaftpolitik hat große Ähnlichkeiten: Verbindung zu den Banken, zum Finanzkapital und zu den großen Industrieunternehmen. Wenn Alckmin der Kandidat der traditionellen Rechten ist, dann ist die Regierung Lula Ausdruck gesellschaftlicher Kämpfe, denen sie ein Paolo Maluf, brasilianischer Unternehmer und Politiker, hatte 1964 den Militärputsch unterstützt, wodurch er zum Bürgermeister von São Paulo wurde (1969-1972), danach war er gegen Ende der Diktatur Gouverneur jenes Staates (1979-1982). Seine „Fortschrittspartei“ entstand aus der ARENA, der offiziellen Partei der Diktatur. 1992 gelang es ihm, wieder zum Bürgermeister von São Paulo gewählt zu werden. Jetzt ist er Abgeordneter im Bundesparlament. Seitdem er jedem Fußball-Weltmeister einen VW-Käfer geschenkt hat (was mit öffentlichen Geldern bezahlt wurde), steht er in Brasilien für Korruption. Das Verb „malufar“, das nach seinem Namen gebildet wurde, bedeutet so viel wie „öffentliche Gelder stehlen“. Er wurde wegen Korruption verurteilt. Interview mit Agencia Carta Maior, 13. Oktober 2006. inprekorr 422/423 ########## Brasilien Ende bereitet hat, um sodann eine Orientierung nach rechts einzuschlagen. So handelt Lula, um gesellschaftliche Kämpfe abzuwiegeln. Sein Vorgänger, Fernando Henrique Cardoso, hat Jahre lang versucht, die Renten der öffentlich Bediensteten anzugreifen und die Renten zu besteuern, doch es ist ihm nicht gelungen, weil die sozialen Bewegungen Widerstand geleistet haben. Das hat dann die sich als „kompetent“ erweisende Regierung Lula gemacht und hat dabei die bereits dezimierte brasilianische Linke durcheinander gewirbelt. Die Herausforderung, vor der die PSOL und die sozialen Bewegungen stehen, liegt im Neuaufbau der Linken. Die von der Regierung Lula gesäte Konfusion erreicht immer neue Höhen, denn für die sozialen Bewegungen ist er gleichzeitig Freund und Feind; sogar seine eigene Regierung sagt, sie bekämpfe die Linke und die Rechte. Daher ist es schwierig zu sagen, welches Ergebnis schlimmer ist bei der Wahl zwischen ihm und Alckmin.“ Es handelt sich hier um eine Meinung, die von der Mehrheit der Mitglieder der PSOL geteilt wird. Sie hat jedoch keine aktive Kampagne zugunsten weißer Wahlscheine unternommen, weil sie die Wähler und Wählerinnen nicht verprellen wollte, die für Heloisa Helena gestimmt haben und in der Stichwahl Lula ihre Stimme geben wollten. Welches Projekt für das Land? Die PSOL hat – wie die gesamte Linksfront – eine tiefgreifende Reflexion über ihr politisches Projekt nötig. Das neoliberale Brasilien unterscheidet sich massiv vom Brasilien der Entwicklungspläne, das noch unsere politische Vorstellungswelt bestimmt. Von den Rentenkürzungen bis zur „Bolsa Familia“ hat Lula geschickt manövriert und sich auf jene Realität gestützt, die er gut kennt und die sich bereits unter der Regierung Cardoso stark entwickelt hatte. In der Zeit der Regierung Lula führte das paradoxerweise zu einem kleinen Rückgang der statistischen Einkommenskonzentration. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Umverteilung von Einkommen innerhalb der Arbeiterklasse: ein kleiner Anstieg der Einkünfte inprekorr 422/423 für eine große Masse der Armen, ein Rückgang für die besser gestellten ArbeiterInnen und die „Mittelklassen“. Was die 20 000 Familien angeht, die in Brasilien bestimmen, so geht es ihnen besser denn je, ihre historischen Privilegien wurden gewahrt und sie waren von der sogenannten Umverteilung nicht betroffen. Diese Art der Politik ist nicht geeignet als Entwicklungsprojekt für die Nation, doch sie stellt eine wirkungsvolle Art und Weise dar, in einer der Gesellschaften der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit die Stabilität zu garantieren. Die linke politische Meinung, der organisierte und bewusste Teil der industriellen Arbeiterklasse, die „Mittelschichten“ und die in Bürgerrechtsfragen engagierten Intellektuellen haben ihr Gewicht verloren und ihre Identität wurde aufgrund wachsender Proletarisierung und Prekarisierung zerstört. Diese Schichten – ein Produkt der Entwicklung der Nation bis in die achtziger Jahre hinein – wurden durch das neue Akkumulationsregime Marke Lula am stärksten betroffen. Unser linkes Projekt muss im Rahmen eines neuen historischen Blocks mit den verarmten Massen darauf eine Antwort geben. Es gibt einen strukturierten Raum, selbst wenn er im Augenblick nur eine Minderheit betrifft, für ein linkes Projekt in unserm Land. Aber jedes auf Hegemonie abzielende Projekt, das den Anspruch erhebt, eine blühende, gerechte und souveräne Nation zu schaffen, und das einen Übergang zum Aufbau des Sozialismus eröffnen will, muss sich zwei Herausforderungen stellen: Einerseits muss es die politische Intervention in diesem Bereich der Bevölkerung strukturieren. Dies bedeutet, die Ansprüche der Entwicklungsprojekte der Vergangenheit, die man hinsichtlich Wachstum, Beschäftigung und Löhne auf den Punkt bringen kann, wieder aufzugreifen, aber sie verlangen eine Reihe von Gegebenheiten, die auf mittlere Sicht nicht erreichbar sind: eine blühende Wirtschaft, dynamische Gewerkschaften, öffentliche Bildung und gutes Gesundheitswesen sowie Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Dies bedeutet auch, dass neue Themenstellungen integriert werden müssen, die diese Sektoren der Gesellschaft jeden Tag mehr betreffen – von der Ökologie zur Freiheit des Zugangs zu Kenntnissen, von der Kultur zur Sexualität, von den Ansätzen von Identitätspolitik zur globalisierungskritischen Bewegung. Es dreht sich hier um strategische Fragen, die besonders die Jugend interessieren, ohne die es keine politische Neuzusammensetzung der Linken geben wird. Andererseits müssen wir die Frage der Hegemonie wieder aufgreifen, sie also in den Dialog mit den verarmten Massen einbauen, mit jener Mehrheit, die heute an den Urnen für Lula stimmt und die für eine nicht-etatistische Linke nicht zugänglich ist, wenn diese die Einkommensfragen nicht aufgreift. Lula ist ein Neopopulist, weil er eine stabile Formel gefunden hat, sich an die verarmten Massen zu wenden, wie dies vor ihm Getúlio Vargas10 getan hat, der aber der Arbeiterklasse im Rahmen des Fordismus und der Entwicklungsstrategie der CEPAL11 Beschäftigungsperspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten anzubieten hatte. Genauso wie der Bruch mit dem alten Populismus nur möglich war, als die Sektoren, auf die er abzielte, sich zu autonomen Protagonisten ihres Geschicks machten, so wird die Überwindung des Lulismus nur durch eine Verallgemeinerung der Politik des garantierten Einkommens und/oder der Beschäftigung möglich sein. Dies ist ein in der neoliberalen Welt sehr unwahrscheinlicher Fortschritt, doch er ist vom Vorstellungshorizont der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung weniger weit entfernt als die nunmehr versprochenen 50 Mio. Arbeitsplätze. Aber neben diesen unmittelbaren Herausforderungen und in Verbindung mit ihnen, besteht die größte Herausforderung in der internationalen Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit eines sozialistischen Projekts und die Erarbeitung eines neuen Übergangsprogramms. Übersetzung: Paul B. Kleiser 10 Getúlio Vargas war Präsident Brasiliens von 1930-1945; in dieser Zeit hat er sein populistisches Programm des „neuen Staates“ lanciert, sodann amtierte er nochmals von 1950-1954. 11 Wirtschaftskommission für Lateinamerika, eine Unterorganisation der UNO, die ein Konzept der wirtschaftspolitischen Entwicklung durch Staatsintervention vertrat. 47 ########## Bolivien Das Labyrinth der bolivianischen Revolution Pablo Stefanoni Evo Morales Ayma ist mit einem präzisen Mandat an die Macht gelangt, das durch die unter dem Namen „Oktoberagenda” bekannten Forderungen definiert ist: die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung zwecks „Neugründung des Landes“ und die Verstaatlichung des Kohlenwasserstoffs. Während der ersten fünf Monate verliefen die Handlungen der Regierung im Sinne einer Anwendung dieses Mandats. Im März verkündete Morales im Kongress die Gesetze zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung und zum Referendum über die Autonomien, bei dem die Bevölkerung des Landes aufgefordert war, über den Übergang des gegenwärtigen einheitlichen Bolivien zu einem Land mit einer gewissen Autonomie auf der Ebene der Departements zu entscheiden. Und am 1. Mai 2006 unterzeichnete er das Dekret „Héroes del Chaco“, das den Staat, der im Laufe der 90er Jahre zu einem marginalen Akteur geworden war, wieder ins Zentrum der Verhandlungen in Bezug auf das Gas und das Erdöl stellte. Mit diesem politischen Kapital versehen wurde der bolivianische Präsident durch die Wahlen zur Konstituante am 2. Juli mit großer Mehrheit bestätigt, als er erneut mit großem Vorsprung die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt und auf diese Weise die am 18. Dezember [2005] bei den Präsidentschaftswahlen mit 53,7% der Stimmen errungene Legitimität bekräftigte. Als „Oktoberagenda“ wird die Forderungsplattform der sozialen Bewegung vom September bis Oktober 2003 bezeichnet, als ein Volksaufstand den Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada stürzte und ins Exil in die USA trieb. Das Referendum hat erneut die im Land bestehende Spaltung zwischen „Westen“ und „Osten“ gezeigt. In Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando setzte sich das „Ja“ in vergleichbarer Weise durch wie das „Nein“ in La Paz, Oruro, Potosí, Chuquisaca und Cochabamba. Auf nationaler Ebene hat das „Ja“ eine Mehrheit von 54% der Stimmen. 48 Doch scheinen die beiden Hauptachsen der von Evo Morales durchgeführten Politik des Wandels einem unebenen Pfad zu folgen, der ihre Konsolidierung spürbar verlangsamt und potenziell dazu führen könnte, ihre bloße Existenz selbst in Frage zu stellen. Paradoxerweise sind die Hindernisse für diese Politik ebenso das Werk ihrer Gegner als auch derjenigen, die sie seitens der Staatsmacht erarbeiten. Einerseits vollzieht sich die Verwandlung der Presse in eine Art Sprachrohr einer zweimal hintereinander geschlagenen konservativen Opposition, deren Angriffe auf die Regierung immer heftiger werden. Begriffe wie „populistisch“, „rückwärtsgewandt“, „kommunistisch“ nehmen im Diskurs der Opposition in dem Maße einen großen Platz ein, wie die Polarisierung des politischen Raums schärfer wird, was an die Situation in Venezuela erinnert: So prangert die Rechte die Konsolidierung einer Diktatur an – wobei die „allmächtige“ Konstituante nun das Mittel sein soll, um dieses Ziel durchzusetzen –, während die Regierung die Opposition beschuldigt, die Interessen elitärer Gruppen zu vertreten, die durch eine indigene Massenbewegung von der Macht gedrängt worden waren. Aber andererseits existieren Schwächen, die der nationalistischen Regierung eigen sind. Diese betreffen die Leitung des Staatsapparats, den Aufbau einer kritischen Masse an technischem Personal, das fähig ist, den institutionellen Raum zu besetzen und neu zu strukturieren, sowie die Bestimmung einer konkreten strategischen Orientierung in Bezug auf die soziale Transformation, die sie durchführen will. Dazu kommen Schwierigkeiten, die nur durch die rhetorischen Exzesse und die Überaktivität der Hauptakteure der Regierung vorübergehend kaschiert werden können. Wenn die Verstaatlichung den Gipfel der Wiedererschaffung eines national-populären Mythos dargestellt hat, der den Prozess begleitete, so hat das Massaker unter den Bergleuten in Huanuni das hässlichste Gesicht des „alten“ Bolivien bloßgelegt, das zu verschwinden sich weigert. Ein chronischer Mangel an politischen Kadern Parallel zum zunehmenden Misskredit des dem neoliberalen Zyklus (1985– 2002) zugrundeliegenden ideologischen Projekts hat sich der Prozess des Wiederaufbaus der bolivianischen Volksbewegung nach und nach vom Land auf die Städte ausgedehnt, um schließlich durch das „politische Instrument“ der Bauerngewerkschaften kanalisiert zu werden, das später über sein wahlpolitisches Label, der Bewegung zum Sozialismus (MAS), bekannt werden sollte. Jedoch hat dieser indirekte Typ politischer Aktivität auf dem Umweg über gewerkschaftliche Organisationen die Eingliederung städtischer Sektoren, die nicht zu den korporativen Institutionen gehören, gebremst. Dies hat dazu beigetragen, dass der Prozess der Bildung politischer und administrativer Kader, die fähig wären, den Staatsapparat zu lenken, beschränkt wurde. Resultat ihrer schwachen städtischen Entwicklung war, dass es der MAS nicht gelang, bei Wahlen eine „große“ Gemeinde zu erobern. Ihre städtischen Strukturen funktionieren entsprechend einer Logik, die vom politischen Klientelismus abhängig ist. „In den Städten wird die MAS weitgehend als eine Arbeitsagentur wahrgenommen, die es ermöglicht, an einen Posten in der staatlichen Verwaltung zu gelangen; seit 2002 handelt es sich um das Parlament, seit 2006 sind dies die Ministerien und die öffentlichen Institutionen“, stellt Hervé Do Alto fest, der die dieser Partei eigenen politischen Formen untersucht. inprekorr 422/423 ########## Bolivien Die Beschränkungen der MAS im städtischen Milieu ermöglichen zu begreifen, warum Evo Morales’ Aktionen prioritär auf die Kampagnen orientiert sind, bei denen die „härteste“ und loyalste Unterstützung zu finden ist. Es ist bezeichnend, dass es die Bauern und Bäurinnen sind – etwa 40% der bolivianischen Bevölkerung –, die am meisten von der öffentlich wahrnehmbaren Politik der neuen Regierung profitiert haben, einer Politik, die oftmals persönlich vom Präsidenten in den betreffenden ländlichen Zonen verkündet und initiiert wird: der Aufbau von Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit und Bildung; der Alphabetisierungsplan; die Ausstattung mit Personalausweisen; die Aufteilung von dem Staat gehörenden Ländereien im Rahmen einer „Agrarrevolution“, die schließlich die unproduktiven privaten Latifundien einschließen muss; die Verteilung von Traktoren zu niedrigen Preisen; die Versorgung mit einem Telefonnetz; die kostenlose Übertragung von Spielen der Fußballweltmeisterschaft usw. Morales reist mehrfach in der Woche zu bislang vom Staat vernachlässigten Orten. Dort liebt er es, Anekdoten zu erzählen, die an seine Vergangenheit als Lamazüchter, Musiker oder Kartoffelbauer erinnern, um so eine Empathie bei der Bevölkerung hervorzurufen. In diesen Regionen des tiefsten Bolivien bleibt die Führung des Präsidenten noch intakt. Diese Unterstützung der ländlichen Welt dehnt sich heute sogar auf die autonomen Regionen von Santa Cruz und Tarija aus, deren Hauptstädte nun buchstäblich von den Anhängern der Jedoch schränken diese Leitungsprobleme den Gebrauch der nicht unbeträchtlichen Ressourcen, über die der Staat verfügt, in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Konjunktur ein, besonders aufgrund der erhöhten Rohstoffpreise und der höheren Steuern auf Kohlenwasserstoff infolge der Verstaatlichung. Bis August hatte die zentrale Verwaltung nur 20% ihres Jahresbudgets ausgegeben, die Kommunen, die dank des Gesetzes über die Volksbeteiligung über eine Autonomie verfügen, 40% und die Präfekturen oder Regionalräte 25%. Ein echtes Paradoxon in einem armen Land, das betroffen ist von einem Mangel an grundlegender Infrastruktur, Wohnungen und Straßen (Selbsteinschätzung des Regierungsteams und von Evo Morales im Dorf Huatajata, am Ufer des Titicaca-Sees, 22. August 2006). inprekorr 422/423 MAS eingekreist sind: Es sind Bastionen der Migration in den Anden, die zu Stimmengewinnen geführt und so am 2. Juli der regierenden Partei in diesen zwei Departements mit 25% in Santa Cruz und 41% in Tarija den Sieg gebracht hat, wobei so die Macht der regionalistischen Opposition eingeschränkt wurde. Gegenüber dieser aus den Kampagnen herrührenden „bedingungslosen Loyalität“ ist die städtische Unterstützung flüchtiger, besonders im Milieu der „gutsituierten Mittelklasse“, die am 18. Dezember [2005] Evo Morales gewählt hat, um einen politischen und sozialen Wandel zu fordern, manchmal einfach aufgrund der Überzeugung, dass wenn „ein Straßenblockierer sich durchsetzt“, dieser mit der sozialen Instabilität Schluss machen kann, die in weniger als drei Jahren das Mandat von zwei Präsidenten abrupt hat enden lassen. Heute zeigen die Umfragen, die oft auf ausschließlich städtischen Stichproben beruhen, dass diese Mittelklassen sich von einer mit ihren ersten Schwierigkeiten kämpfenden Regierung langsam distanzieren und ihr gegenüber eine elitäre Haltung einnehmen. Nach einer von der gesamten bolivianischen Presse verbreiteten Untersuchung des Instituts Apoyo, Opinión y Mercado hat die Unterstützung für Morales im Mai, nach der Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorkommen (Kohlenwasserstoffe), 81% betragen. Im Juni sank diese Unterstützung auf 78%, anschließend im Juli auf 68%. Zwischen August und September waren es schon nur mehr 52%, die niedrigste Zustimmung gab es in Santa Cruz mit 27%. Die Regierung steht heute vor einem Dilemma: Entweder muss sie die strategischen Posten mit indígenas und Bauern besetzen, die für die Leitung des Staatsapparats nicht genügend ausgebildet sind, und einen ungewissen Lernprozess einleiten, wobei das Risiko besteht, dass die gesellschaftlichen Bestrebungen nach einem raschen Wandel enttäuscht werden, oder sie muss auf diese Stellen Personen aus den Mittelklassen berufen, von denen viele mit den Regie- rungen der 90er Jahre verbunden waren, bevor sie in den letzten Jahren der intellektuellen und moralischen Krise des Neoliberalismus ihre Perspektive radikal änderten, um bei der aufkommenden nationalistischen Welle nicht abseits zu stehen. In Bolivien ist der Staat der Pfeiler der ökonomischen Reproduktion von Eliten, und unter der MAS-Regierung haben viele dieser Sektoren tatsächlich mehrere Privilegien verloren wie beispielsweise die Expertisen von auf diese Weise für ihre politische Unterstützung entlohnten Beratern oder der direkte Zugang zu Ministerposten. Der Kommentar eines „Professionellen“ des bürgerlichen Südteils von La Paz, wiedergegeben von einem Funktionär der aktuellen Regierung, ist für die gegenwärtige Epoche symptomatisch: „Ich kann mir nicht vorstellen, was es bedeutet, mehr als 500 Jahre der Ausgrenzung zu erleben, wenn ich sehe, dass es kaum acht Monate gebraucht hat, dass wir uns von der Macht verdrängt fühlen und nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen.” Ein kürzlich erschienener Leitartikel der Wochenzeitung Pulso spiegelt aus einer mehr soziologischen Perspektive den Pessimismus der Eliten gegenüber einem Land wider, über das sie regelmäßig die Kontrolle verlieren: „Weder der Sozialismus noch der Autoritarismus, den manche fürchten. Nicht der strukturelle Wandel und auch nicht der Beginn eines neuen Entwicklungszyklus, den andere wünschen. Einfach das alte und hässliche, so vertraute Gesicht des bolivianischen Übels: die politische Instabilität, die reine Unmöglichkeit zu regieren, die ebenso synthetische Weisen sind, den chronischen Zusammenbruch des Landes zu kennzeichnen.” Pablo Stefanoni ist Korrespondent der argentinischen Zeitung Pagina/12 in Bolivien. Übersetzung: HGM Pulso (La Paz), Nr. 368, 6.10.2006 49 REGISTER ########## 2006 Register 2006 nach Ländern Titel Algerien Die Märchen des Präsidenten Bouteflika Argentinien Besetzen, Widerstehen, Produzieren AutorIn Heft Seite Monat M. Ouezzane 412 4 3 von ArbeiterInnen der 420 Kooperative BAUEN und Jorge Sanmartino 39 11 410 43 1 410 4 1 414 414 7 8 5 5 410 414 20 19 1 5 420 18 11 416 418 16 39 7 9 412 34 3 420 52 11 416 14 7 412 45 3 414 3 5 416 4 7 418 35 9 418 31 9 410 52 1 416 3 7 412 47 3 412 8 3 420 5 11 416 9 7 420 9 11 420 10 11 420 420 12 13 11 11 420 14 11 420 16 11 418 41 9 414 4 5 Belgien Ein heißer Herbst Matthias Lievens Bolivien Zwischen Indígena-Utopie und Wirt- Hervé Do Alto schaftspragmatismus, die MAS erobert die Macht Die Regierung Morales Hervé do Alto Nach dem Wahlsieg der MAS Hervé do Alto Brasilien Krise und Neuformierung der Linken François Sabado Mitgliederbewegungen auf der Linken José Correa Leite stärken die PSOL Für eine politische Alternative in Bra- silien! Gegen die Banker, den Imperialismus und die Korruption! Weder Lula noch Alckmin! Heloisa Helena Presidente Britannien Blair am Ende Frédéric Leplat Erklärung der ISG zur Krise der SSP International Socialist Group China Entstehung einer wirtschaftlichen Michel Husson Großmacht 30 Jahre danach – Maos dritter Tod Pierre Rousset Euskadi Das Ende der ETA José Ramón Castaños „Troglo“ Frankreich Politische Perspektiven – der 16. Par- François Duval teitag der LCR Vordringlich ist die Verbindung von Ar- Daniel Bensaïd beiterInnen und Studierenden Frankreich in einer tiefen sozialen und Laurent Carasso politischen Krise Nationale Konferenz der LCR, Perspek- Roseline Vachetta tiven für das Jahr 2007 Griechenland Studentenbewegung in Griechenland – Panagiotis Sifogiorgakis erstes Nachgeben der Regierung Großbritannien Respect baut sich auf Frédéric Leplat Indonesien Java von einem Erdbeben erschüttert Pierre Rousset International Zu den Mohammed-Karikaturen Internationales Komitee der IV. Internationale Irland Sieg im irischen Fährstreik Kjell Pettersson Israel/Palästina Israels permanenter Präventionskrieg Michel Warschawski Italien „Das Projekt der Unione ist geschei- Franco Turigliatto tert“ Regierung Prodi II, die radikale und pa- Jan Malewski zifistische Linke und der Krieg Resolutionsentwurf zu Afghanistan Claudio Grassi, Salvatore Cannavò Rede von Franco Turigliatto im Senat Franco Turigliatto Ein Vertrauensvotum auf begrenzte Zeit – Erklärung vor dem Senat Unsere Zustimmung ist kein Blanko- Gigi Malabarba scheck, sondern genau befristet Vorlage auf der Leitungssitzung der Salvatore Cannavò, FranPRC am 14.9.06 co Turigliatto Jugoslawien Der blutige Untergang Jugoslawiens Catherine Samary Lateinamerika Anmerkungen zur politischen Konjunk- François Sabado tur in Lateinamerika 50 Titel AutorIn Heft Seite Monat Libanon Schluss mit der israelischen Aggres- LCR und die Kommunis- 418 52 9 sion!, Solidarität mit dem Widertische Partei Libanon stand! (Sektion Frankreich) Gegen die Resolution 1701, gegen den Gilbert Achcar 420 3 11 Einsatz von Nato-Truppen Mali und Niger Die neoliberale Globalisierung richtet Jean Nanga 412 37 3 sich gegen die Ärmsten Mexiko Die zapatistische Art, Politik zu machenSergio Rodriguez 410 13 1 Naher Osten „Israel nimmt eine gesamte Bevölke- Gilbert Achcar 418 3 9 rung in Geiselhaft“ Risse in der zionistischen Mythologie Cinzia Nachira 418 6 9 und Fragen zur Identität Die Hexenjagd auf Tali Fahima Lin Calozin-Dovrat 418 10 9 Das sinkende Schiff des US-ImperiumsGilbert Achcar 418 14 9 Niederlande Linkswende bei Kommunalwahl Murray Smith 414 49 5 Nigeria Gewerkschaften in Nigeria – WiderDanielle Obono 416 17 7 stand gegen die neoliberale Offensive Pakistan Aufruf zur Unterstützung der Labour Pierre Rousset 410 31 1 Relief Campaign in Pakistan Arbeiterhilfskampagne nach dem Erd- Farooq Tariq 416 42 7 beben Palästina Wahlsieg der Hamas Badil Resource Center for 412 3 3 Palestinian Residency and Refugee Rights Neuer palästinensischer NationalisNicolas Qualander 414 42 5 mus? Krisenabstimmung Christian Picquet 414 43 5 Weiter um den heißen Brei reden? Urs Diethelm 414 45 5 Zwischen Hamas-Sieg und dem Diktat Mohammad Jaradat 414 46 5 Israels und des Westens (BADIL) Polen Bewegung im linken Lager Bogusław Ziętek 412 9 3 „Arbeit und Brot!“ – Wahlmanifest der Partei der Arbeit 412 14 3 polnischen Partei der Arbeit Portugal Nicht gehaltene Versprechungen und Luís Branco 410 48 1 Wahldebakel Russland Erstes Russisches Sozialforum Ljudmilla Bulawka 412 15 3 Slowenien Gewerkschaftliche Mobilisierung gegen J.M. 410 51 1 den Neoliberalismus Spanischer Staat Solidarität mit den entlassenen SEAT- Internationales Komitee 412 48 3 Beschäftigten der IV. Internationale Sri Lanka Wahlausgang bedeutet politischen Um-Vickramabahu Karuna- 410 37 1 bruch rathne Erklärung der CMU zu den Präsident- Bala Tampoe 410 41 1 schaftswahlen 2005 Nach dem Tsunami Niel Wijethilake 416 40 7 Südafrika Widerstand gegen den Neoliberalismus Josep Maria Antentas 420 47 11 in Südafrika Thailand Das „Land des Lächelns“ in einer neu- Danielle Sabaï und Je- 416 45 7 en politischen Krise an Sanuk Uruguay MLN Tupamaros … die ehemalige Ernesto Herrera 412 6 3 Guerilla an der Regierung USA Gewerkschaftsbund gespalten Chris Kutalik 410 31 1 Venezuela Politische Erklärung der Partei Revolu- Nationales Gründungs- 410 8 1 tion und Sozialismus komitee der PRS „Die Revolution muss vertieft werden“ Orlando Chirino 416 48 7 Die Revolution aus der Sicht der Lin- Roland Denis 420 34 11 ken oder die Erbsünde des Chavismus inprekorr 422/423 REGISTER 2006 Register 2006 nach Themen (Auswahl) Titel AutorIn Debatte Zurück zu den Quellen: Einheitsfront Manuel Kellner und politische Formierung Geschichte Cyrano de Bergerac und die Geduld Rudolf Segall des Revolutionärs Cyrano von Bergerac und die Geduld Rudolf Segall des Revolutionärs (Teil II) Dolf Segall zum Andenken Helmut Dahmer Der Spanische Bürgerkrieg – aus der Sicht von Hans David Freund Briefe aus Madrid Hans David Freund Doppelherrschaft in der Spanischen Revolution – Die Problematik der Komitees Hans David Freund (1912–1937), Friedrich Dorn Biographische Notiz Bolschewismus und Stalinismus Daniel Bensaïd Ungarn 1956: eine Revolution wird Charles-André Udry entstellt Gewerkschaften Europäische Gewerkschaftsbewe- Thadeus Pato gung heute – ein kurzer Überblick IV. Internationale Brasilienresolution Internationales Komitee der IV. Internationale Zur Klimaerwärmung Internationales Komitee der IV. Internationale Heft Seite Monat 414 27 5 414 23 5 416 23 7 416 418 31 23 7 9 418 418 23 27 9 9 418 29 9 420 420 21 28 11 11 418 18 9 414 32 5 414 33 5 Titel AutorIn Linke Thesen zur Linkspartei und zur poli- Revolutionär Sozialistitischen Lage scher Bund/IV. Internationale (RSB) Zeit für Alternativen. Zur politischen internationale sozialistiSituation und den Aufgaben einer sche linke (isl) sozialistischen Linken Einheitsfront, neue Linkspartei und Thies Gleiss Rolle der PDS – Bewegung in der Bewegung Nachruf Manfred Behrend 1930 – 2006 D. B. „Zeiten der Hoffnung – Zeiten des Hanna Behrend Zorns“ Manfred Behrends Vorwort zu sei- Manfred Behrend nem Buch „Eine Geschichte der PDS“ Simonne Minguet (1920–2005) Jean-Michel Krivine Basile Karlinsky (Michel Lequenne), 1925–2006 Rudolf Segall, 1911–2006 Ökonomie Weltwirtschaftliche Trends und Eduardo Lucita Spannungen Politik und Natur Tsunami, Katrina, Kaschmir: Politi- Pierre Rousset sche Reflexion über die sich häufenden Naturkatastrophen Sommercamp Sommercamp der IV. Internationale WTO Die WTO muss außer Gefecht ge- Michel Husson setzt werden! Heft Seite Monat 410 23 1 410 27 1 412 17 3 412 412 23 23 3 3 412 26 3 412 414 31 50 3 5 414 52 5 414 35 5 416 31 7 416 52 7 410 3 1 die Internationale 2006 Titel AutorIn Heft Seite Monat Thesen zur Linkspartei und zur poli- Revolutionär Sozialisti- 410 23 1 tischen Lage scher Bund/IV. Internationale (RSB) Zeit für Alternativen. Zur politischen internationale sozialisti- 410 27 1 Situation und den Aufgaben einer sche linke (isl) sozialistischen Linken Einheitsfront, neue Linkspartei und Thies Gleiss 412 17 3 Rolle der PDS – Bewegung in der Bewegung Wie Phoenix aus der Asche B. B. 412 19 3 Manfred Behrend 1930 – 2006 D. B. 412 23 3 „Zeiten der Hoffnung – Zeiten des Hanna Behrend 412 23 3 Zorns“ Manfred Behrends Vorwort zu sei- Manfred Behrend 412 26 3 nem Buch „Eine Geschichte der PDS“ Zum „Karikaturenstreit“ und dem Erklärung des RSB 412 29 3 drohenden Angriff der Großmächte auf den Iran www.dielinke.at: „die linke“ in Öster- 412 31 3 reich geht online Titel AutorIn Simonne Minguet (1920–2005) Jean-Michel Krivine Cyrano de Bergerac und die Geduld Rudolf Segall des Revolutionärs Zurück zu den Quellen: Einheitsfront Manuel Kellner und politische Formierung Cyrano von Bergerac und die Geduld Rudolf Segall des Revolutionärs (Teil II) Dolf Segall zum Andenken Helmut Dahmer Der Spanische Bürgerkrieg – aus der Sicht von Hans David Freund Briefe aus Madrid Hans David Freund Doppelherrschaft in der Spanischen Revolution – Die Problematik der Komitees Hans David Freund (1912–1937), Friedrich Dorn Biographische Notiz Bolschewismus und Stalinismus Daniel Bensaïd Ungarn 1956: eine Revolution wird Charles-André Udry entstellt Heft Seite Monat 412 31 3 414 23 5 414 27 5 416 23 7 416 418 31 23 7 9 418 418 23 27 9 9 418 29 9 420 420 21 28 11 11 inprekorr 422/42351 G9861 Gemeinsame Abschlusserklärung der G8-Aktionskonferenz „Rostock II“ vom 10. bis 12. November 2006 Im Juni 2007 wird eine große Aktionswoche zum G8-Gipfel in Heiligendamm stattfinden. Die G8 stehen für eine sozial ungerechte, ökologisch unverantwortliche und militaristisch imperiale Politik. Hiergegen werden zehntausende Menschen aus der Region, aus dem ganzen Bundesgebiet, aus Europa und der ganzen Welt protestieren und Alternativen zu der herrschenden Globalisierung sichtbar machen. Wir begrüßen die Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Ausland und freuen uns auf eine der größten internationalen Demonstrationen seit Jahren. Alle Spektren der globalisierungskritischen Bewegung werden in den kommenden Monaten ihre Inhalte und Aktionsvorschläge verstärkt in die öffentliche Diskussion einbringen – hier in der Region wie auch in den jeweiligen Orten und Ländern, aus denen sie kommen. Mehr als 450 Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Eu­ ropa haben sich auf der zweiten Aktionskonferenz in Rostock auf den Fahrplan für die Protestwoche gegen den G8-Gipfel verständigt. Die Aktionswoche beginnt mit der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel am Samstag, 2. Juni. Am Sonntag, 3. Juni, gibt es eine große Auftaktveranstaltung, die gemeinsam mit unseren internationalen Freundinnen und Freunden gestaltet wird. Am Montag, 4. Juni, wird ein migrationspolitischer Aktionstag mit inhaltlichen, aktionistischen und kulturellen Beiträgen veranstaltet – unter dem Motto „Für globale Bewegungsfreiheit! Gleiche Rechte für alle!“. Am Dienstag, 5. Juni, wird im Rahmen des Aktionstags gegen Militarismus, Krieg, Folter und den globalen Ausnahmezustand der Flughafen Rostock Laage blockiert und um- zingelt, um die ankommenden Regierungschefs zu begrüßen. Am Dienstagabend startet der Alternativgipfel, der bis zum Donnerstag, 7. Juni, gehen wird. Eine Reihe von „Satellitenveranstaltungen“ des Alternativgipfels begleiten die gesamte Aktionswoche (zum Beispiel auf dem Camp und bei den Aktionen). Am Mittwoch, 6. Juni, beginnen die Blockaden des G8Gipfels. Am Donnerstag, 7. Juni, finden ein Konzert mit Herbert Grönemeyer unter dem Motto „Music and Messages“ weitere Blockaden, und Demonstrationen statt. Prominente internationale Sprecherinnen und Sprecher des Alternativgipfels werden am Auftakt der Demonstrationen teilnehmen. Wer sich den G8-Gipfel einlädt, lädt sich auch den Protest ein. Wir fordern das Land Mecklenburg-Vorpommern, den Landkreis Bad Doberan und die Hansestadt Rostock auf, dass die nötige Infrastruktur für die Unterbringungen der Menschen in Camps und für das Austragen der Veranstaltungen zur Verfügung gestellt wird. Rostock, 12. November 2006 Kontakt: • Monty Schädel, Rostocker G8-Bündnis und DFG-VK, Tel. 0177-887 10 14 • Christoph Kleine, Interventionistische Linke / Block G8, Tel. 0172-900 61 61 • Sabine Zimpel, Erlassjahr, Tel. 0177-784 41 54 • Sibylle Gundert-Hock, Eine-Welt-Netzwerk, Tel. 0160-336 62 68 • Peter Wahl, Attac, Tel. 0160-823 43 77 Erklärung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern Vom 10.–12. November haben VertreterInnen sozialer BeweDie Regierenden der G8 haben dafür das globale Feld pogungen und Initiativen in Rostock auf einer Internationalen litisch bereitet und eine grenzenlose Spirale des Lohn- und Aktionskonferenz über die Proteste gegen den im Juni 2007 Sozialdumpings durch die Standortkonkurrenz ausgelöst. in Heiligendamm stattfindenden G8-Gipfel beraten. Deshalb protestieren wir gegen das Gipfeltreffen der G8. Die teilnehmenden Gewerkschafterinnen und Gewerk- Wir rufen auf, der internationalen Standortkonkurrenz unsere schafter aus verschiedenen europäischen Ländern laden ihre gewerkschaftliche Solidarität entgegenzusetzen. Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen sowie die Gewerkschaften ein, sich an diesen Protesten und an lokalen Anti- Rostock, 11. November 2006 G8-Bündnissen zu beteiligen. Mit diesen Protesten soll ein Zeichen gegen Sozialabbau, Rentenklau, Massenarbeitslosigkeit, Stand- Neuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 Köln ortkonkurrenz und Privatisierung öffentlichen Eigen- Postvertriebsstück, DPAG, Entgelt bezahlt tums gesetzt werden. G9861 #5037280137* Infineon, AEG, Bosch-Siemens-Hausgeräte, BenQ, Allianz – das ist nur die Spitze eines Eisberges. Arbeitsplätze werden im Tausenderpack vernichtet, durch Rationalisierung und Arbeitsplatzverlagerung. Das Kapital macht sich mit dem von Generationen von Arbeitern und Angestellten erarbeiteten Reichtum davon; dorthin, wo niedrige Löhne und Sozialleistungen hohe Profite versprechen und keine gewerkschaftliche Kraft die Unternehmermacht einschränkt. 52 inprekorr 422/423