"offenem Herzen" gegen Demenz

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Medizinisches Thema
KV-Blatt 08.2009
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Mit „geöffneter Hand“ und „offenem Herzen“
gegen Demenz
A. Berlins demente Bürger:
Aktuell ist der durchschnittliche Berliner 42 Jahre alt und hat eine Lebenserwartung von 77 Jahren. Sein Demenzrisiko liegt bei ca. 6 %. In Berlin leben
zwischen 40.000 und 50.000 demente
Bürger; die Mehrzahl (70 %) sind
Frauen. Jährlich kommen schätzungsweise 8.000 an Demenz neu erkrankte
Menschen hinzu. Die Wahrscheinlichkeit, wegen der Demenz irgendwann in
eine Pflegeeinrichtung zu kommen, ist
mit über 80 % hoch. Das stellt uns vor
große Herausforderungen, denn diese
Pflegeform ist sehr kostenaufwendig.
Andererseits wünschen sich die meisten Betroffenen, möglichst lange in der
eigenen häuslichen Umgebung verbleiben zu können. Folgerichtig konzentrieren sich die Anstrengungen darauf,
ambulante Behandlungsmöglichkeiten
zu optimieren.
B. Verhaltener Optimismus gegenüber
dem Altern ist berechtigt („offenes
Herz“):
Zunehmend reift die Erkenntnis, dass
offensichtlich eine positive Einstellung
zu Alten und zum Altern in jungen­Jahren ein in späteren Jahren statistisch
niedrigeres Mortalitäts-Risiko bewirkt.
So wurden jedenfalls die Ergebnisse
einer 20-jährigen Langzeitstudie aus
Ohio interpretiert, bei der bei entsprechenden Probanden eine um bis zu
sieben Jahre längere Lebenszeit festgestellt wurde. Der „SelbstabschaffungsMonolog“, wie ihn Schirrmacher in seinem Buch „Das Methusalem-Komplott“
nennt, beschreibt dagegen unser aller
Altersrhetorik, die uns reflex­artig den
Satz entlockt: „So alt will ich gar nicht
werden.“ Schirrmacher spricht vom
„gerontophobischen Altersrassismus“
und „Ageism“. Er beklagt das Fehlen
geriatrischer Helden in unserer noch
vom Jugendwahn besessenen Kultur
und Lebensphilosophie. Auch wir Mediziner könnten uns angesprochen fühlen. Unsere selektive Wahrnehmung von
dem „kranken Alten“ könnte die Sicht
auf das Gesunde verstellen. Die Bevölkerungsgruppe, die derzeit am meisten wächst, sind die über 85-Jährigen
– und von denen sind 75 % eben nicht
dement. Die jüngste Diskussion um die
Salutogenese, um Resilienz und Reservekapazität hat bereits ein Umdenken in
der Altersmedizin eingeläutet.
C. Wir niedergelassenen Haus- und
Fachärzte sind gefordert:
„Die Demenzdiagnostik soll in der Regel
ambulant erfolgen.“ So steht es in der
Leitlinie der Expertengruppe der Deutschen, der Österreichischen und der
Schweizer Gesellschaft für Neurologie
von 2008. Wir ambulant tätigen Ärzte
haben im Rahmen der integrierten Versorgungskonzepte die Leitstellenfunktion inne und sollten diese zum Wohl
unserer Patienten auch verantwortlich
wahrnehmen. In seinem Grußwort zum
IX. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP), der vom 17. bis
20. Juni 2009 in Berlin stattfand, appellierte derPräsident, Prof. Dr. Hans Gutzmann, an uns alle, die gerade anlaufende Priorisierungsdebatte offen und
ehrlich zu führen. Dazu passt, dass das
Bewusstsein für die demografische Entwicklung und speziell auch das „Leuchtturmprojekt Demenz“ der Bundesregierung die öffentliche Aufmerksamkeit für
diese Krankheitsgruppe deutlich erhöht
haben. Die Einsicht des gewachsenen
Anzeige
Die Statistiker liefern uns Jahr für
Jahr ernüchternde Zahlen: Das Risiko,
an Demenz zu erkranken, steigt in
unserem Land rapide an. Bundesweit
gibt es derzeit bereits über eine Mil­
lion Menschen – und es werden immer
mehr. Das stellt uns vor große Heraus­
forderungen in der medizinischen Ver­
sorgung und pflegerischen Betreuung.
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Medizinisches Thema
KV-Blatt 08.2009
Fortsetzung von Seite 19
Versorgungsdrucks steht im Gegensatz
zur „stillen“ Rationierung der letzten
Jahre.
lich ist, trotz geringer Effektstärken in
das Behandlungsprogramm eingebaut
werden.
Dennoch haben sich die ambulant
tätigen Ärzte der Herausforderung
gestellt. Die medikamentöse Versorgung dementer Patienten mit Antidementiva ist weiterhin die Domäne der
Nervenärzte, Psychiater und Neurologen. Sie tragen – trotz eines enormen
Regressrisikos – mehr als die Hälfte
dieser Verordnungen (Bohlken J: Verordnungshäufigkeit von Antidementiva
– eine Bilanz aus Berlin, Neurotransmitter 2009; 5, 22–30). Die hausärztlichen Kollegen, das sei hier ebenfalls festgestellt, holen aber auf. Mit
großem Interesse verfolgen die an der
Demenzversorgung beteiligten Ärzte
die in Forschung befindlichen Behandlungsansätze, die schon in einigen
Jahren zugelassen werden könnten
und dann die Priorisierungsdiskussion
noch einmal anheizen dürften. Hierbei
stehen die passive und aktive Immunisierung sowie die Sekretasen-Modulatoren im Vordergrund. Auch neuere
diagnostische Früherkennungsverfahren wie das PIB-PET, mit dem Amyloidablagerungen sichtbar gemacht werden
können, oder die Liquoranalytik, bei
der ein hoher Quotient von AmyloidPeptiden (A-ß42 zu A-ß40) die Wahrscheinlichkeit einer Alzheimer-Demenz
scheinbar erhöht, sind Verfahren, die
trotz der Kostendebatte Hoffnung
aufkommen lassen. Allerdings erhielt
gerade diese jüngst einen Dämpfer,
nachdem in wissenschaftlichen Studien zwar Tiere, nicht aber Menschen
hinsichtlich ihrer Kognition von der
Beseitigung von Amyloidablagerungen
profitierten.
D.Die fünf Herausforderungen
(„offene Hand“):
Andere Ansätze, wie z. B. die Behandlung mit reinen unselektiven Histaminantagonisten oder Methylenblau,
dürften ebenfalls erst in einigen Jahren
Marktreife erlangen. Motorische Bewegungsprogramme und andere nicht
medikamentöse Konzepte könnten größere Bedeutung gewinnen und sollten,
sofern dies im individuellen Fall mög-
„Doktor, ich bin so vergesslich!“ Diese
Äußerung eines Patienten in unserer
Praxis ist und bleibt eine tägliche
Herausforderung. Fünf Varianten von
Patienten sind zu unterscheiden:
1. Subjektive kognitive Störung:
Handelt es sich bei diesem „Fall“ um
eine nicht objektivierbare, sondern nur
subjektiv empfundene Beeinträchtigung (solide Testung und ADL-Anam­
nese sind wichtig), so sind mit sachlicher Aufklärung und empathischer
Zuwendung häufig andere Probleme
des Patien­ten zu eruieren. Auch der
Ausschluss eines demenziellen Prozesses ist nicht selten therapeutisch
wirksam. Viele hypochondrische
Ängs­te treiben die Menschen wegen
schon geringer Fehlleistungen zum
Arzt. Häufig reicht bereits der Hinweis
auf das zumeist nicht zutreffende Zeitkriterium „halbes Jahr“ und die fehlende „Alltagsrelevanz“, welche im
ICD 10 für eine manifeste Demenz
gefordert werden, um den Patienten zu
beruhigen. Doch bedenken wir: Diese
Menschen kommen zu uns, weil sie
Rat suchen und sich in Not befinden.
Ein nicht selten überheblich wirkendes
Belächeln oder der im Kollegenkreis
immer noch nicht verbannte Satz: „Sie
haben nichts!“, sind in einer solchen
Situation völlig fehl am Platz. Eine
Angsterkrankung mit „nichts“ abzutun, wird dem Anliegen des Patien­
ten und unserer ärztlichen Profession
nicht gerecht. Es bedarf ggf. einer spe­
zifischen Behandlung. Die Möglichkeiten reichen von einfachen supportiven und geduldigen Gesprächen
in der Praxis über wiederholte psychoedukative Sitzungen oder eine
antrags- und genehmigungspflichtige
Verhaltenstherapie bis hin zur medikamentösen Behandlung (z. B. SSRI).
2. Vorübergehende leichte kognitive
Defizite:
Einige unterschwellige (lediglich kurz
objektivierbare) kognitive Defizite treten­
nur vorübergehend auf und besitzen in
der Regel auch keinen progredienten
Charakter, wie z. B. bei Überforderungssituationen in einer Ausbildung oder
im Beruf (schon der Input von Information ist gestört) oder der lückenhafte
oder „blockierte“ Wissensabruf bei Prüfungen („Black out“). Viele von diesen
Patienten sind in der fokussierten Aufmerksamkeitstestung der Praxis völlig
unauffällig, schildern aber glaubhafte
Beeinträchtigungen in den entsprechenden Alltagssituationen, wenn sie
z. B. mehrere Dinge gleichzeitig bewältigen müssen (geteilte Aufmerksamkeit).
Einen nachhaltigen Charakter können
reversible Gedächtnisstörungen, z. B.
bei langen und schweren depressiven
Erkrankungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und somatoformen
Störungen, haben. Nur in seltenen Fällen erreichen sie dabei das Ausmaß
eines „Demenzsyndroms bei ...“ (früher
„Pseudodemenz“ genannt). Siehe hierzu
Punkt 5.
3. Dauerhafte leichte kognitive Störung:
Sind objektivierbare kognitive Störun­
gen auch in der Testung dauerhaft vorhanden, aber nur leichter Ausprägung
und ohne Auswirkung auf die Alltagskompetenz, so sprechen wir von einer
leichten kognitiven Störung oder von
MCI (mild cognitive impairment). Hier
sollten wir zu einer halbjährlichen Kontrolle raten, denn immerhin ca. 20 %
dieser Patien­ten entwickeln später eine
Demenz. Da aber vier von fünf MCIPatienten jahrelang stabil bleiben, darf
gleichwohl ein vorsichtig optimistischer
Umgang obsiegen.
4. Progrediente (bisher nicht kurativ
behandelbare) Demenz:
Ist die Hirnleistungsschwäche deutlic­h
und sogar durch Fremdanamnese
gestützt, muss eine Differenzialdiagnos-
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tik veranlasst werden. Wird der Betroffene von einem Angehörigen gebracht,
so steigt bekanntlich die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine relevante
Beeinträchtigung handelt, die nicht selten sogar von dem Betroffenen selbst
nicht als solche wahrgenommen wird
(Anosognosie).
Ein Routinefall sollte professionell die
drei Säulen der Diagnostik durchlaufen
(Test, Bildgebung, Labor), um dann in
aller Regel (bei fehlender Kontraindikation oder Ablehnung) eine medikamentöse (Antidementivum und ggf. Antidepressivum oder Antipsychotikum) sowie
nicht medikamentöse Hilfe zu erfahren,
die den Angehörigen mit einschließt.
Erforderlich ist eine Unterscheidung
zwischen präseniler Demenz, d. h. vor
dem 65. Lebensjahr auftretend, und
„seniler“ Demenz. Bei der präsenilen
Demenz ist noch einmal die sehr seltene familiäre genetische Form von den
sporadischen Formen zu unterscheiden.
„Senile“ Demenzen (früher: „Altersdemenzen“) unterteilen wir in Abhängigkeit von ätiologisch-pathogenetischen
Erkenntnissen in die Untergruppen
„Alzheimer-Demenz“, „ParkinsonDemenz“, „Lewy-Körperchen-Demenz“,
„Frontotemporale Demenz“, „Vaskuläre
Demenz“ oder auch „Misch-Demenz“
i. S. einer Demenz vom Alzheimer Typ
mit vaskulärer Beteiligung.
Die unterschiedliche Symptomatik
in den ersten beiden Krankheitsstadien (im dritten Stadium besteht eine
gemeinsame symptomatische End­
strecke) erfordert auch eine jeweils
spezifische Behandlung. Zum Beispiel­
kann Logopädie oder Ergotherapie
vorübergehend genauso indiziert sein
wie Physiotherapie bei sekundär oder
bereits primär bestehender Parkinsonsymptomatik sowie Gangstörung mit
Sturz­neigung durch Schwindel, Spas­
tik, Ataxie, Gangapraxie usw. Weniger
der akademische Anspruch als vielmehr diese unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen begründen­
den Sinn der Differenzialdiagnose.
Im Übrigen zeigen Studien und klini­
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sche Erfahrung, im Gegensatz zum
herkömmlichen Glauben, „Alzheimer“
habe die schlechteste Prognose, dass
zum Beispiel die Prognose quod vitam
(Überlebenszeit) bei den vaskulären
Demenzen schlechter ist. Ebenso stirbt
durchschnittlich derjenige schneller, der
Pflegemaßnahmen aggressiv abwehrt.
5. „Heilbare“ Demenzsyndrome:
Pos. 24
Eine große Verantwortung haben wir
durch die Möglichkeit, dass wir es auch
einmal mit einer „heilbaren“ Demenz
oder einem Delir zu tun haben könnten.
Diese „Exoten“ herauszufiltern und
durch beherzte Intervention kurativ zu
bessern oder das Leiden zu beheben­
ist die größte Herausforderung bei
der Versorgung von Demenzpatienten
­(Folsäuremangel, subdurales Hämatom,
Enzephalitis, Normdruck-Hydrozephalus, zerebraler Tumor, Depression, iatrogene/medikamentöse Intoxikation usw.).
Der Arzt, der einen solchen Fall mal in
seiner Praxis erlebt hat, hat für immer
seinen Nihilismus bei dem Thema
Demenz abgelegt. Eine Substitutionsbehandlung, Antibiotika, Kortison, eine
OP, eine antidepressive Behandlung
oder auch nur die Elimination schädlicher Medikamente (vor allem anticholinerg wirksamer) bzw. Noxen können
das „Wunder der Heilung“ bewirken.
Dr. med. Gerd Benesch
Nervenheilkunde
10627 Berlin
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Pos. 37
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