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UBS
BRIEFING
«WIE KANN ICH ASIENS FINANZMÄRKTE VERSTEHEN?»
VON URS SCHOETTLI, OKTOBER 2016, TOKYO
WOLFSBERG, ERMATINGEN
Vorbemerkung
Ungeachtet aller Aufs und Abs gilt weiterhin, dass das 21. Jahrhundert das asiatische Jahrhundert ist.
Temporäre Rückschläge beim Wirtschaftswachstum können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Asien angesichts
der Demografie und des enormen Nachholbedarfs in allen Industrie- und Dienstleistungsbereichen über manche
Jahrzehnte hinweg die Wachtumslokomotive der Weltwirtschaft sein wird.
Vor diesem Hintergrund spielen bei global ausgerichteten Portfolios die Anlagen in Asien eine wichtige Rolle. Entsprechend ist die Kenntnis der Besonderheiten von Asiens Gesellschaften eine Voraussetzung für den Erfolg auf
diesen Märkten.
Noch markanter als auf westlichen Finanzmärkten sind in Asien kulturelle und soziale Rahmenbedingungen sowie
Traditionen zentrale Kriterien für eine kompetente Beurteilung von Risiken und Chancen.
Asien ist nicht nur der bei weitem bevölkerungsreichste, sondern auch der bei weitem vielfältigste Kontinent der
Erde, und jeder der verschiedenen Kulturräume hat eine sehr eigenständige Identität.
Diese Vielfalt in Verbindung mit uralten Kulturen sorgt dafür, dass bei der Bewertung von Stabilität und Zukunftsaussichten jenseits der harten Wirtschaftsdaten auch sogenannte weiche Faktoren zu berücksichtigen sind.
Handel unter dem Banyanbaum
Die Bombay Stock Exchange (BSE) in der indischen Finanzmetropole ist Asiens älteste Börse. Ihre Geschichte reicht
ins Jahr 1855 zurück, als sich Händler unter einem Banyanbaum vor dem Bombayer Stadthaus trafen, um mit Anteilsscheinen zu handeln. Bereits fünfzehn Jahre später eröffnete der Markt an dem Ort, wo sich der heutige Büroturm
der BSE befindet.
In Schanghai, das im 19. Jahrhundert unter ausländischer Kontrolle stand, wurde der erste Börsenhandel 1866 registriert. Nach der Machtübernahme der KPC im Jahre 1949 wurde der Schanghaier Aktienmarkt, der in seiner beinahe
hundertjährigen Existenz eine Reihe von Spekulationsblasen und Börsenkrächen überdauert hatte, geschlossen. Am
26. November 1990, zwölf Jahre nach dem Beginn der von Deng Xiaoping betriebenen historischen Wirtschaftsreformen, nahm die Shanghai Stock Exchange (SSE) den Wertpapierhandel wieder auf. Heute ist sie gemessen an der
Marktkapitalisierung die fünftgrösste Börse der Welt.
Belege für den Handel mit Aktien gibt es im Falle Hongkongs ebenfalls bereits für das Jahr 1866. Formell wurde die
Börse in der britischen Kolonie 1891 etabliert. Bis 1997 stand Hongkong unter britischer Obrigkeit, was die Metropole
im Delta des Pearl River vor den kommunistischen Exzessen des Festlands bewahrte.
Die Singapurer Börse wurde in ihrem heutigen Format erst 1973 etabliert – acht Jahre nach dem Hinauswurf Singapurs aus der malaysischen Föderation.
Die unter Kaiser Meiji im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vorangetriebene Modernisierung und Öffnung Japans
führte 1878 auch zur Gründung der ersten japanischen Börse in Tokyo. Nach der Katastrophe des Pazifischen Kriegs
und der Kapitulation nahm der Tokyoter Ring 1949 in der Form der heutigen Tokyo Stock Exchange (TSE) seine Tätigkeit wieder auf. Heute rangiert die TSE im weltweiten Vergleich auf Platz vier.
Asien im Wandel
Asien ist der vielfältigste, bevölkerungsreichste und grösste aller Kontinente. Sieht man von Westasien (dem Mittleren Osten) ab, so existieren drei markante Grossregionen: Südasien (Indischer Subkontinent), Südostasien (Indochina,
ASEAN) und Ostasien. Aufgrund ihrer alten Kultur, ihrer reichen Geschichte und ihrer Dimensionen sind Indien und
China eigenständige Grossmächte, zu denen sich Japan durch seine Wirtschaftsstärke und aussergewöhnlich starken nationalen Kohäsion als dritter Pol gesellt.
Ungeachtet aller Vielfalt sehen wir im heutigen Kontext drei Entwicklungen von gesamtasiatischer Relevanz. Dabei
handelt es sich um den momentanen Generationenwechsel, um tektonische Veränderungen in der Geopolitik sowie
um tiefgeifende Veränderungen im sozio-ökonomischen Status der Frau. Alle drei Entwicklungen bergen riesiges
ökonomisches Potenzial in sich.
In Asien ist folglich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geopolitisch viel in Bewegung. Dies hat vor allem mit dem
historischen Wiederaufstieg Chinas zur asiatischen Vormacht und Weltmacht zu tun.
Auch mit Rücksicht auf die angestrebte Diversifizierung bauen die Investoren in Nordamerika und Westeuropa verstärkt ihre Positionen auf den aufstrebenden asiatischen Märkten aus. Hinzu kommt, dass die intra-asiatischen
Handels- und Finanzströme, die bereits in den letzten Jahren substanziell gewachsen sind, noch viel mehr Gewicht
gewinnen werden. Dabei wird Geopolitik ein zentraler Wachstumstreiber sein. Zu bedenken ist in diesem Kontext
auch, auf welche Weise und in welchem Ausmasse sich westliche Unternehmen und Investoren in diese Entwicklung einklinken können.
Von den vorstehenden Bemerkungen zum Hintergrund, zur Geschichte und erwähnten Entwicklungen der Finanzmärkte im asiatischen 21. Jahrhundert gehen wir nun auf die spezifischen Aspekte, Risiken und Chancen in Japan,
China, Indien und Indonesien ein.
Verkannte Stärken, verkannte Schwächen: JAPAN
Fehl- und Vorurteile über fremde Kulturen und ferne Länder sind nichts Aussergewöhnliches. Auch im Zeitalter der
quasi totalen Vernetzung der Welt bestehen sie weiter fort. Japan ist dennoch ein Fall für sich, wobei die Urteile hier
besonders stringent auszufallen scheinen. In den 1970er und 1980er Jahren wurde Japan als kommende Supermacht
gepriesen und gefürchtet. Jeder Manager, der etwas auf sich hielt, predigte die Überlegenheit des japanischen Managementmodells. Dann platzte Ende 1989 die Spekulationsblase und fortan gewannen die Japan-Pessimisten die
Oberhand. Bis heute wird Japan von vielen als hoffnungsloser Fall der ewigen Stagnation und der Deflation gesehen.
Vor allem in den angelsächsischen Medien wird häufig bewusst verzerrt berichtet und kommentiert.
Im Falle Japans werden wichtige Stärken und ebenso wichtige Schwächen von vielen verkannt. Zunächst zu den
Stärken: Japan ist der einzige Grossstaat mit einem funktionierenden Gesellschaftsvertrag und einer kohärenten
Bevölkerung ohne nennenswerte Minderheiten. Dies verschafft dem Land eine einzigartige soziale Stabilität. Japan
verfügt über keine Rohstoffe oder Energieträger und wegen des knappen Agrarlandes sowie des schwierigen Klimas kann es nicht einmal die Hälfte seines Nahrungsmittelbedarfs aus einheimischen Quellen decken. Dies hat zu
einer hohen Wertschätzung von Frugalität und zu grosser Innovationskraft geführt.
In seiner jüngeren Geschichte hat Japan durch die Übernahme von westlichen Institutionen und Technologien Quantensprünge in seiner sozio-ökonomischen Entwicklung vollzogen. Es hat gleich mehrere Spitzenpositionen unter
den Industriestaaten errungen, unter anderem auch im Bereich der Dienstleistungen. Nach aussen hin nahezu vollständig verwestlicht, ist Japan aber auch das asiatische Land, das am hartnäckigsten und erfolgreichsten an seinen
Werten und Traditionen festhält. Dies hat zu einer einzigartigen Fähigkeit geführt, kulturelle Differenzen unbeschädigt zu überbrücken, sofern dies für die eigene Modernisierung nötig ist.
Kohäsion, Innovationskraft und Adaptionsfähigkeit sind die drei grossen Stärken Japans. Aus ihnen resultieren aber
paradoxerweise auch seine Schwächen. Die einzigartige Kohäsion der Bevölkerung hat zu Insularität und Selbstabschliessung geführt. Dies manifestiert sich auch im erschwerten Zugang auswärtiger Konkurrenten zum japanischen Markt.
Die Kenntnis dieser ambivalenten Stärken und Schwächen ist für eine sachliche Beurteilung des japanischen Finanzmarkts unerlässlich. In mancher Hinsicht ist Japan ein vollwertiger Teilhaber und Teilnehmer an der westlich geprägten globalen Finanzarchitektur, was bei China ungeachtet aller jüngeren Modernisierungsbemühungen nach wie vor
nicht der Fall ist.
Es darf nicht übersehen werden, dass Japan weiterhin ein Fall sui generis ist. Die Überkreuzbeteiligung unter den
grossen Keidanren-Firmen ist nach wie vor sehr ausgeprägt. Dies hat auch mit dem „old boys network“ von öffentlicher Verwaltung, Politik, Medien und Privatwirtschaft zu tun. Dieses Netz rekrutiert sich traditionell aus der juristischen Fakultät an der Universität von Tokyo. Beim Argwohn, der den Ausländern entgegen gebracht wird, ist jedes
Scheitern einer Öffnung ein willkommener Anlass, an der bewährten japanischen Exklusivität festzuhalten.
Die Bank of Japan interveniert häufig auf den Märkten und tätigt auch umfangreiche Aktienkäufe. Dessen ungeachtet ist die Tokyoter Börse gegenüber des Geschehens auf den globalen Finanzmärkten nicht immun. Tokyo blickt
traditionell auf die Wall Street und das dortige Geschehen beeinflusst auch die Kursentwicklungen in Tokyo.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich Japans öffentliche Verschuldung von 170 auf über 230 Prozent des BIP erhöht. Japans Schuldenquote ist damit beinahe zweimal so hoch wie jene Italiens. Zu bedenken ist allerdings, dass
über 95 Prozent der Staatsschuld in japanischen Händen ist. Dieser Sachverhalt ist auch im Kontext der starken nationalen Kohäsion zu sehen. Da Japan eine Nation sui generis ist, halten ihr die Menschen in einzigartigem Ausmass
und mit bemerkenswerter Leidensbereitschaft die Treue.
Marktbeobachter sehen Engpässe in der Zukunft, da ein Grossteil der japanischen Staatspapiere von Pensionsfonds
gehalten wird und diese wegen der rasch voranschreitenden Überalterung in den kommenden Jahren immer grössere Auszahlungen werden tätigen müssen. Abgesehen davon, dass an der Bereitschaft der Japaner, im Gesamtinteresse Opfer (u.a. höheres Rentenalter) zu erbringen, nicht zu zweifeln ist, ist auch zu beachten, dass mit der Alterung der Bevölkerung das jährlich anfallende Erbschaftsvolumen drastisch ansteigen wird. Da der japanische Staat
im Erbfall massive Einnahmen verzeichnet, werden somit die Steuereinnahmen stark ansteigen.
Insgesamt: Auf der positiven Seite stehen Japans Innovationskraft im Bereich der Technik, Industrie und Dienstleistungen, seine nationale Kohäsion und seine ausserordentliche soziale Stabilität; auf der negativen Seite sind Japans
Abgeschlossenheit, sein exzessives Beharrungsvermögen und das undurchlässige politische und soziale Netzwerk.
Das Bermuda Dreieck von Partei, Kasino und Markt: CHINA
China hat die längste staatliche Kontinuität der Welt. Ungeachtet dessen, wie die gerade bestehende Staats- und
Regierungsform genannt wird, denkt China seit Jahrtausenden in Dynastien. Seit dem 1. Oktober 1949 herrscht in
China die Dynastie der Kommunistischen Partei (KPC). Wir wissen, dass mit Sicherheit auch diese Dynastie dereinst
zu ihrem Ende kommen wird. Wann dies der Fall sein wird ist jedoch unklar. In der langen chinesischen Geschichte
haben Dynastien einig Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gedauert.
Das oberste Organ der KPC ist der siebenköpfige ständige Ausschuss des Politbüros des Zentralkomitees. An seiner
Spitze steht Xi Jinping, Generalsekretär der KPC, Staatspräsident und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission.
Die Hauptaufgabe der Führung ist, den Fortbestand der KPC-Dynastie zu sichern. Seit Urzeiten berufen sich Chinas
Herrscher auf das „Mandat des Himmels“, aufgrund dessen sie ihre Macht ausüben. Im Unterschied zum feudalistischen Gottesgnadentum in Europa ist das „Mandat des Himmels“ widerrufbar, woraus sich auch die lange Abfolge
von Dynastien erklärt.
Im heutigen Kontext erwirbt sich die chinesische Führung ihr „Mandat des Himmels“ primär aus dem wirtschaftlichen Erfolg, aus der Renaissance Chinas als geachtete und gefürchtete Weltmacht und aus der Stabilität des Riesenreichs im Innern. Die Führung ist sich dabei stets bewusst, dass dieses Mandat widerrufen werden kann.
Es kann keinen Zweifel geben, dass die profunden sozio-ökonomischen Reformen der vergangenen drei Jahrzehnte
China von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine kapitalistisch geprägte Wirtschaftsordnung transformiert haben. Heute werden rund zwei Drittel des BIP durch private Wirtschaftsakteure erwirtschaftet. Heisst dies nun, dass
China eine Marktwirtschaft ist? Die Antwort lautet klar nein und zwar aus folgenden zwei Gründen: Zum einen wegen des absoluten Primats der Politik über die Wirtschaft zum anderen wegen des Fehlens einer rechtsstaatlichen
Ordnung.
Das absolute Primat der Politik bzw. der Partei über die Wirtschaft manifestiert sich im Finanzsektor. Im Grunde
genommen waren der Aufbau einer hochmodernen Verkehrsinfrastruktur, die Schaffung gigantischer Industrieparks sowie die präzedenzlose Urbanisierung der „einfachere“ Teil der Jahrhundertreformen. Im Finanzsektor präsentieren sich Öffnung und Modernisierung als erheblich schwierigere Unterfangen, da hier Transparenz und good
governance eine Schlüsselrolle spielen. Auch ist China in diesem Bereich mit Kräften konfrontiert, über die es keine
Kontrolle hat. Die schweren Turbulenzen um die chinesische Währung und am chinesischen Aktienmarkt reflektieren diese strukturellen Schwierigkeiten.
Unter dem „Mandat des Himmels“, welches auf dem absoluten Primat der Politik beruht, muss die Partei auf jeden
Fall die Kontrolle über den Finanzsektor behalten. Dabei pflegt die Führung - wie dies auch während der Finanzkrise
von 2008/10 der Fall war - zur Stabilisierung der Wirtschaft auf recht unkonventionelle Weise Finanzinstrumente
wie etwa die riesigen Devisenreserven einzusetzen. Damit hat sich die chinesische Führung als sehr entschlussfreudig und kompetent erwiesen.
In der chinesischen Zivilisation gibt es eine traditionelle Faszination für Zahlen. Chinesen befassen sich nicht mit Metaphysik, dafür ist der Aberglaube, der auch mit Zahlenmystik zu tun hat, weit verbreitet. Ins gleiche Kapitel gehört
die Faszination für das Glücksspiel. Die traditionell hohe Volatilität an chinesischen Börsen (nicht nur in der Volksrepublik, sondern auch in Hongkong und in Taiwan) ist diesem Kontext geschuldet. Daher ist es naheliegend, wenn
ausländische Beobachter die chinesischen Börsen mit einem Kasino vergleichen. Ihrem Spieltrieb Rechnung tragend,
engagieren sich denn auch unzählige Kleinstanleger (u.a. Hausfrauen, Rentner, Studenten) an der Börse.
Selbst gemäss offiziellen Zahlen der KPC gibt es jedes Jahr Tausende von Zwischenfällen zwischen Sicherheitsorganen und aufgebrachten Bürgern. Die Chinesen sind, entgegen weit verbreiteten westlichen Vorurteilen, kein Sklavenvolk. Wenn sie sich ungerecht behandelt oder übervorteilt fühlen, werden sie rasch aufgebracht, besonders
wenn es um Geld geht. Dies bedeutet, dass die Obrigkeit, so es zu schweren finanziellen Verwerfungen kommt,
rasch intervenieren muss, um die Ausbreitung von Unzufriedenheit einzudämmen. Dabei greift sie, falls nötig, auch
zu unkonventionellen Mitteln, welche mit der in westlichen Industriegesellschaften üblichen Rechtssicherheit nicht
zu vereinbaren sind. Dass dabei auch die Interessen von Ausländern, die ohnehin nur geduldet werden, häufig hintanstehen müssen, muss jedem Investor bewusst sein.
Insgesamt: Nachdem China im 19. und 20. Jahrhundert von fremden Mächten gedemütigt worden war und sich auch
selbst unsägliches Leid zugefügt hatte, ist das Land heute wieder die Weltmacht und der asiatische Hegemon, wie
es dies bis vor zweihundert Jahren über mehrere Jahrtausende hinweg gewesen war. Diese Position wird, auch auf
den Finanzmärkten, mit allen Mitteln machtvoll verteidigt. Individuelle Rechte und Interessen gelten dabei wenig,
die Erhaltung der Dynastie der KPC ist hingegen alles. Sofern sie diesem Ziel dienen, können sich die Finanzmärkte
öffnen. Drohen sie hingegen die etablierte Ordnung zu verunsichern, so sind rasche und sehr drastische Korrekturen
gleich zur Stelle.
In einem aufstrebenden Land mit einer hochpragmatischen, ambitionierten und talentierten Bevölkerung, mit enormen Potenzialen und ebenso enormer Nachfrage sind die Auftriebskräfte naturgemäss sehr ausgeprägt. Andererseits müssen eine angeborene Kasinomentalität und die systemimmanente Intransparenz des Finanzsektors auch
als entsprechend hohe Risiken gewertet werden. Auf jeden Fall ist China keine Anlagedestination, bei der man die
Realisierung von Renditen auf die lange Bank schieben sollte. Wie im Spiel, so muss auch bei Anlagen der Gewinn im
Hier und Jetzt erfolgen.
Inseln der ersten Welt: INDIEN
Indien ist ein Rätsel, indem bei jeder Aussage mit gutem Recht auch das Gegenteil behauptet werden kann. Indiens
Bevölkerung ist in religiöser, sprachlich-kultureller, ethnischer und sozialer Sicht sehr viel vielfältiger als die chinesische Bevölkerung, bei welcher die Han Chinesen rund 92 Prozent ausmachen.
Die jüngste Geschichte hat Indien und China sehr verschiedene Schicksale beschert. Indien wurde zur britischen Kolonie, während die europäische Präsenz sich in China auf ein paar Enklaven beschränkte. Obschonschon die Briten
mehr an ihrer Bereicherung und ihrem imperialen Ruhm denn an der Wohlfahrt der Untertanen interessiert waren,
haben sie beim Abzug im Jahr 1947 ein Erbe hinterlassen, das in mehrfacher Hinsicht auch dem heutigen Indien grosse Benefizien bringt. Wir denken als erstes an die englische Sprache, sodann an das Justizwesen und die Verwaltung
sowie an die Privatwirtschaft.
Die Teilung des Indischen Subkontinents in Pakistan und Indien war eine Katastrophe mit bis heute spürbaren, fatalen Folgen. Doch im Gegensatz zu China, wo 1949 die kommunistische Volksrepublik ausgerufen wurde, ist Indien
nie unter eine totalitäre Herrschaft gefallen, noch wurde das Recht auf Privateigentum eliminiert. Im Unterschied zu
China, einer tendenziell neureichen Gesellschaft mit der ersten Generation an Reichtumsakkumulation, verfügt Indien über sowohl alten als auch neuen Reichtum. Zwar hatten die Engländer Indiens Anschluss an die industrielle Revolution im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gezielt unterbunden, doch anders als im feudalistischen China der
späten Ming Dynastie existierte in Indien im späten 19. Jahrhundert einheimische Industrie und einheimisches Unternehmertum. Die Ursprünge des heutigen Tata Konzerns reichen bis ins Jahr 1868 zurück und Bombay sollte sich
damals zum „Manchester of the East“ entwickeln.
Während es in manchen Schwellenländern an traditionellem Unternehmertum fehlt und Managementpositionen
im Wesentlichen mit Ausländern besetzt werden, hat Indien bei Unternehmertum und Management eine lange
Tradition. Entsprechend gering ist denn auch die Ausländerpräsenz, derweil im Gegenzug zahlreiche Inder in Übersee Karriere machen. Inzwischen finden sich kaum Chinesen an der Spitze von westlichen Konzernen, wohingegen
Inder prominente Führungspositionen einnehmen. Auch dies ist ein Fingerzeig darauf, dass Indien beim Anwerben
von Talent ein fruchtbarer Boden mit einem der ersten Welt vergleichbaren Angebot an hochqualifizierten Arbeitskräften ist.
Indien ist ohne Zweifel für die grosse Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor ein Entwicklungsland mit weit verbreiteter Armut und grossem Elend. Die Reformen von Deng Xiaoping haben China nicht nur neuen Reichtum gebracht,
sondern auch das wohl umfassendste Programm zur Armutsbekämpfung in der Geschichte der Menschheit realisiert. Die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung lebt deutlich besser als die Mehrheit der indischen Bevölkerung.
Doch in diesem Meer von Unterentwicklung und Armut hat Indien Inseln der ersten, der entwickelten Welt geschaffen.
Es ist hier nicht der Ort, ethische Bewertungen über das Reichtumsgefälle in den beiden Milliardenvölkern vorzunehmen. Politikwissenschafter mögen die Aufwägung von Demokratie und Autokratie vornehmen. Hier soll lediglich
ermittelt werden, was diese „Inseln der ersten Welt“ für den Anleger bedeuten.
Zunächst haben wir bei einer Risikobeurteilung zu Indien drei weiche Standortfaktoren zu berücksichtigen, die entscheidend mit der Transparenz des Finanzsektors zu tun haben. Zum einen handelt es sich um die nationale Verbreitung von Englisch als Nationalsprache, zum andern um Rechtsstaatlichkeit und Meinungsäusserungsfreiheit.
Es ist wichtig, dass man bei aller Volatilität und Unsicherheit, die naturgemäss den Finanzmärkten eignet, wenigstens die Gewissheit hat, nicht plötzlich und ohne Vorwarnung vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Wichtige
Quellen zu politischen Entwicklungen in Indien sind in englischer Sprache direkt zugänglich. Nicht nur einflussreiche
nationale Medien erscheinen in englischer Sprache, auch in der parlamentarischen Debatte wird Englisch verwendet. Gesetze und der Staatshaushalt werden vorangekündigt und im zweikammrigen Parlament ausgiebig und kontrovers diskutiert. Lobbying wird aktiv und häufig erfolgreich betrieben.
Das indische Rechtssystem mag häufig ineffizient und langsam sein, es ist jedoch auch für Ausländer transparent
und nutzbar. Man kann in Rechtsstreitigkeiten einen Anwalt heuern, der nicht nur linguistisch, sondern auch beim
Rechtsverständnis auf der gleichen Wellenlänge ist. Während es in konfuzianisch geprägten Gesellschaften unvorstellbar ist, dass der einzelne Bürger gegenüber einem allmächtigen Staat Recht bekommen kann, herrscht in Indien
das britisch geprägte common law.
Zu den „Inseln der ersten Welt“ gehören auch die grossen, an der Börse in Mumbai kotierten indischen Firmen. Inzwischen ist der Tata Konzern der grösste industrielle Arbeitgeber in Grossbritannien. Indische Firmen haben in
westlichen Industriestaaten weltbekannte Brands aufgekauft und auch in der IT-Industrie spielen indische Firmen
in der Spitzenliga mit. Der BSE Sensex gleicht in seiner Zusammensetzung dem Londoner FTSE oder dem Zürcher
SMI. Alle vom Sensex erfassten Unternehmen haben „due diligence“ durchlaufen. Blättert man durch den Geschäftsbericht von Larsen & Toubro, von Ambuja Cement, Tata Steel oder Hindustan Unilever, so findet man ebenso verlässliche und ausführliche Informationen (inklusive Treuhandbericht) wie im Geschäftsbericht der UBS oder von Nestlé.
Insgesamt: Wer sich mit Indien einlässt – ein Unterfangen das zunächst mit vielen Hürden und Fallstricken verbunden sein kann – muss nicht nur sehr tolerant sein, sondern auch eine Begabung im Umgang mit grossen Komplexitäten haben. Nichts ist einfach in Indien. Dennoch können Engagements sehr ertragreich sein. Während der Staatssektor und die Bürokratie den für Entwicklungsländer typischen tiefen Standards entsprechen, stehen die
Spitzenplayer in der Privatwirtschaft ihren Gegenparts in den westlichen Industriestaaten um nichts nach.
Wer in Indien die „Inseln der ersten Welt“ ausfindig machen kann und sie zu nutzen versteht, wird als Investor hochkompetitive Renditen bei einem mittel- und längerfristigen Risikoprofil, das jenem der westlichen Industriestaaten
entspricht, realisieren können.
Regionalmacht im Werden: INDONESIEN
Südostasien wird, da es nicht weniger als zwölf Staaten umfasst und ein Zwischenland zwischen dem chinesisch
geprägten Ostasien und dem indisch geprägten Südasien darstellt, häufig nicht in seinem wahren wirtschaftlichen
Stellenwert und seinen vielfältigen Potenzialen wahrgenommen. In besonders starkem Masse gilt diese Nichtbeachtung oder auch Vernachlässigung für den bei weitem bevölkerungsreichsten Staat Südostasiens: Indonesien.
Indonesien musste einen schwierigen Start in die Unabhängigkeit und danach eine noch schwierigere Phase der
Nationsbildung bewältigen. Dies war sowohl der Geschichte als auch der Geografie zuzuschreiben. Seit dem Abtreten des langjährigen Autokraten Suharto im Jahr 1998 waren nochmals schwierige Zeiten der politischen und sozialen Unruhe zu bestehen.
Allen Prophezeiungen zum Trotz hat Indonesien die schwierigen Zeiten überstanden und den Prozess der nationalstaatlichen Einigung des ausgedehnten Archipels vorangetrieben. Dabei spielte die Armee eine Schlüsselrolle. Indonesien verfügt über die zahlenmässig grösste Muslimbevölkerung der Welt. Nicht nur für die Region selbst, sondern
weit darüber hinaus ist es deshalb elementar, dass Indonesien weiterhin auf dem Pfad eines gemässigten Islams
bleibt.
Lange Zeit hat sich Indonesien sehr zurückhaltend gegeben. Auf dem internationalen Parkett hatte es bei der Gründung der blockfreien Bewegung mit dem charismatischen ersten Staatspräsidenten Sukarno letztmals ein markantes Profil gehabt. Aktuell scheint es sich mit wachsendem Selbstbewusstsein (Mitglied der G-20) auf seine Rolle als
Regionalmacht in Südostasien zu konzentrieren.
Indonesien hat bereits vom geopolitischen Wachstumsschub in der Region profitiert. Sowohl die Japaner als auch die
Chinesen und Inder sind energisch dabei, ihre Investitionen in und Geschäftsbeziehungen mit Indonesien auszubauen. Im Blick haben sie dabei natürlich auch die gewaltigen, meist noch ungenutzten, Ressourcen des Riesenlands.
Insgesamt: In den kommenden Jahrzehnten wird Indonesien seine Ambitionen als regionale Vormacht durch einen
kräftigen Ausbau von Infrastruktur und Industrie festigen müssen. Bei der Erweiterung der Infrastruktur geht es
zudem nicht nur um Urbanisierung ausserhalb der völlig übervölkerten Hauptinsel Java, sondern auch um den Zugang zu Rohstoffen und Ressourcen, die bisher mangels Infrastruktur nicht erschlossen worden sind. Dies erfordert
eine Intensivierung der Kapitalbildung und die Stärkung der indonesischen Finanzmärkte.
Ein Grossteil der ausländischen Direktinvestitionen wird aus Asien kommen, nicht zuletzt auch von den beiden neuen Instituten, der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und der New Development Bank (NDB). Doch werden
auch westliche Investoren ihre Präsenz in Indonesien ausbauen und dabei nicht nur die indonesischen Unternehmen, sondern auch diejenigen asiatischen Firmen im Visier haben, die vom indonesischen Wirtschaftswachstum
profitieren.
Jeder Investor muss sich bewusst sein, dass die Optionen der wirtschaftlichen Entwicklung in einem Land mit den
Ressourcen und Märkten, über welche Indonesien verfügen kann, glänzend sind. Anderseits darf auch nicht unterschlagen werden, dass Indonesiens interne wie externe Sicherheit sehr verletzlich ist. Grosse Opportunitäten ziehen
häufig auch gierige Prädatoren an!
Mein Fazit, meine Takeaways für die vier Finanzmärkte sind:
Auch wenn Kriterien bei der Bewertung von Entwicklungen an Finanzmärkten seit der Globalisierung weltweit sehr
ähnlich sind, so ist es für den Anleger, der in Japan vor allem mittel- und längerfristig erfolgreich sein will, essenziel,
dass er die einzigartigen Besonderheiten des japanischen Gesellschaftsmodells gebührend in Rechnung stellt. Sowohl die Risiken als auch die Chancen auf dem japanischen Markt sind ohne diesen Hintergrund nicht adäquat zu
bemessen.
Im Falle Chinas ist bei allem Respekt und aller Anerkennung der tiefgreifenden Modernisierung und Reform, die breite Spektren der Volkswirtschaft in den vergangenen vierzig Jahren erfahren haben, grosse Aufmerksamkeit für
strukturelle und politische Hindernisse und Probleme geboten. Finanzmärkte pflegen auf Ungewissheiten besonders empfindlich zu reagieren, was im Falle Chinas auf absehbare Zukunft hinaus für eine starke Volatilität sorgen
kann.
Indien ist wegen seiner wahrhaft ausserordentlichen Komplexität kein einfaches Pflaster. Wer sich in Indien engagiert, muss nicht nur starke Nerven, sondern auch grosse Weitsicht haben. Verloren ist auf jeden Fall der Anleger, der
sich nicht die Mühe nimmt, jene Werte und Titel zu eruieren, die mit den auf reifen westlichen Finanzmärkten üblichen Kriterien von Transparenz übereinstimmen. Wer hingegen diese Sorgfalt walten lässt, kann mit reichlichen
Erträgen rechnen.
Indonesien ist der wichtigste Newcomer in Südostasien und verdient als solcher in den bevorstehenden Jahrenmehr
Aufmerksamkeit, als ihm in der Vergangenheit zuteil geworden ist. Wie bei allen neuen Märkten ist besondere Vorsicht geboten, wobei im Falle Indonesiens die geopolitischen Rahmenbedingungen grosse Aufmerksamkeit beanspruchen, nicht nur wegen der geografischen Lage des Landes, sondern auch wegen religiöser Herausforderungen,
mit denen der Staat mit der weltweit grössten Muslimbevölkerung zu ringen hat.
Autor
Urs Schoettli
Journalist, Publizist und Asienkenner
Urs Schoettli ist Wirtschaftsberater in Asien, Tokyo und Mumbai. Er absolvierte ein Philosophiestudium in Basel. Nach
seiner Tätigkeit als Generalsekretär und Vizepräsident der Liberalen Internationalen mit Sitz in London war er Iberien-Repräsentant der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung in Madrid. Bis 2009 war er für die NZZ als Korrespondent in Delhi, Hongkong, Beijing und Tokyo tätig. Heute ist er NZZ-Kolumnist und selbstständiger Asienberater mit Sitz
in Tokyo und Mumbai und gilt als grosser Asien-Experte. Er ist Verfasser mehrerer Bücher, darunter «Geld, Gold und
Geist», «Die neuen Asiaten» und zuletzt «Aufbruch aus Europa».
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