monographien aus dem gesamtgebiete der psychiatrie

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MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER PSYCHIATRIE
MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER PSYCHIATRIE
Herausgegeben von
H. SaG, Aachen· H. Sauer, lena· F. Muller-Spahn, Basel
Band 89
Borna Disease Vuus
Miigliche Ursache neurologischer und psychiatrischer Stiirungen des Menschen
Von K. Bechter (ISBN 3-7985-1I40-3)
Band 90
Psychiatrische Komorbiditlit bei A1koholismus und Verlauf der Abhingigkeit
Von M. Driessen (ISBN 3-7985-1169-1)
Band 91
Psychopatbologische und SPECT-Befunde bei der produktiven Schizophrenie
Von R.D. Erkwoh (ISBN 3-7985-1187-X)
Band 92
Soziokulturelle Faktoren und die Psychopatbologie der Depression
Ernpirische Untersuchungen zurn pathoplastischen EinfluB
soziokultureller Lebensformen bei der Melancholie
Von D. Ebert (ISBN 3-7985-1I85-3)
Band 93
Selbstbild und Objektbeziehungen bei Depressionen
Untersuchungen mit der Repertory Grid-Technik und dern GieSen-Test
an 139 Patientlnnen mit depressiven Erkrankungen
Von H. Boker (ISBN 3-7985-1202-7)
Band 94
Elektrokrampftherapie
Untersuchungen zurn Monitoring. zur Effektivitlit und zurn pathischen Aspekt
Von H. W. Folkerts (ISBN 3-7985-1204-3)
Band 95
Der Nerve Growth Factor bei neuropsychiatrischen Erkrankungen
Ein pleiotroper Modulator mit peripherer und zentralnervoser Wirkung
Von R. Hellweg (ISBN 3-7985-1205-1)
Band 96
Aufklarung und Einwilligung in der Psychiatrie
Ein Beitrag zur Ethik in der Medizin
Von J. Vollrnann (ISBN 3-7985-1206-X)
Band 97
Tabakabhingigkeit
Biologische und psychosoziale Entstehungsbedingungen
und Therapiernoglichkeiten
Von A. Batra (ISBN 3-7985-1212-4)
Band 98
Die psychosozialen Folgen schwerer UnfaJIe
Von U. Schnyder (ISBN 3-7985-1213-2)
Band 99
Kilrperliche Aktivitiit und psychische Gesundheit
Psychische und neurobiologische Effekte von Ausdauertraining bei Patienten
mit Panikstorung und Agoraphobie
Von A. Broocks (ISBN 3-7985-1240-X)
Band 100
Das dopaminerge Verstarkungssystem
Funktion. lnteraktion mit anderen Neurotransrnittersysternen
und psychopathologische Korrelate
Von A. Heinz (ISBN 3-7985-1248-5)
Band 101
Versorgungsbedarf und subjektive Sichtweisen
schizophrener Patienten in gemeindepsychiatrischer Betreuung
Evaluationsstudie im Jahr nach Klinikentlassung in der Region Dresden
Von Th. Kallert (ISBN 3-7985-1263-9)
Band 102
Psychopatbologie von Leib und Raum
Phiinornenologisch-ernpirische Untersuchungen
zu depressiven und paranoiden Erkrankungen
Von Th. Fuchs (ISBN 3-7985-1281-7)
Band 103
Wahrnehmung der frUben Psychose
Untersuchungen zur Eigen- und Frerndanamnese der beginnenden Schizophrenie
Von M. Hambrecht (ISBN 3-7985-1292-2)
Martin Hambrecht
Wahrnehmung
der friihen Psychose
Untersuchungen zur Eigen- und Fremdanamnese
der beginnenden Schizophrenie
Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht
Klinik fUr Psychiatrie und Psychotberapie
Universitat zu KOin
0-50924 KOin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hambrecht. Martin: Wahrnehmung der frlihen Psychose: Untersuchungen zur Eigen- und Fremdanamnese
der beginnenden Schizophrenie I Martin Hambrecht. - Darmstadt: Steinkopff. 200 I
(Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie; Bd. 103)
ISBN 978-3-642-51096-0
ISBN 978-3-642-51095-3 (eBook)
DOl 10.1007/978-3-642-51095-3
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Steinkopff Verlag. Darmstadt
ein Untemehmen der BertelsmannSpringer Science+Business Media GmbH
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© 2001 by Dr. Dietrich Steinkopff Verlag. GmbH & Co. KG Darmstadt
Sof'tcover reprint of the hardcover lst edition 200 I
VerJagsredaktion: Dr. Maria Magdalene Nabbe - Herstellung: Renate MUnzenmayer
Umschlaggestaltung: Erich Kirchner. Heidelberg
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Vorwort
Die richtige Diagnose ist grundlegende Voraussetzung sowohl flir eine erfolgreiche
Therapie des einzelnen Patienten als auch fUr valide und reproduzierbare Forschungsergebnisse an Patientengruppen. Diagnostische Entscheidungen basieren auf
Inforrnationen, die im Rahmen der Anarnnese erhoben, durch korperliche Untersuchung und Beobachtung des spontanen und ausgelosten Verhaltens gewonnen und
durch apparative Zusatzuntersuchungen erglinzt werden. In der psychiatrischen Diagnostik komrnt der Exploration des Patienten besondere Bedeutung zu. Wie Wilhelm Mayer-Gross bereits 1920 in seiner Arbeit "Uber die Stellungnahme zur abgelaufenen akuten Psychose" argumentierte, sind aufgrund der Identitat des Subjekts
der Wahrnehmung mit ihrem Objekt streng "objektive" eigenanarnnestische Angaben nicht zu erwarten, und zwar besonders dann nicht, wenn es sich urn emotional
besetzte Inhalte handelt.
Bei vielen psychiatrischen Krankheitsbildem ist der Zugang zur Vorgeschichte mittels Befragung des Patienten nicht nur durch dessen affektive Beteiligung, sondem
auch durch fehlende Krankheitseinsicht, durch Gedachtnis- oder BewuBtseinsstorungen oder durch Wahn und "Verlust der Uberstiegsfahigkeit" (Conrad 1958) behindert oder gar vollig unmoglich. Fremdanarnnestische Angaben sind deshalb vor
allem bei psychotischen Storungen flir die diagnostische Einschatzung von erheblicher Bedeutung. Dies gilt gerade auch im friihen Verlauf und bei Erstaufnahme eines Patienten, wenn noch keine weiteren Inforrnationen (z.B. Berichte aus friiheren
Behandlungen) vorliegen. Die klinische Erfahrung zeigt allerdings, daB Wahrnehmungsverzerrungen und eigene psychische Befindlichkeit auch bei Angehorigen die
Zuverlassigkeit anamnestischer Angaben schmalem konnen. Die vorliegende Arbeit
berichtet tiber systematisch wissenschaftliche Untersuchungen zur Eigen- und
Fremdwahrnehmung beginnender Psychosen, die erstrnals tiber allgemeine Angaben
etwa zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns hinausgingen.
Das erste Kapitel faBt zusamrnen, weshalb diese Fragestellung flir die klinische Praxis, aber auch fUr psychiatrische Grundlagenwissenschaften wie die Psychopathologie und die Epidemiologie von besonderer Bedeutung ist. Die vie len offenen Fragen
und der resultierende Bedarf an systematischer Forschung auf diesem Gebiet werden
deutlich. Das zweite Kapitel gibt eine Ubersicht fiber die relevanten Grundkonzeptionen und die bereits vorliegenden Ergebnisse zur Selbst- und Fremdwahrnehmung
psychischen Erlebens und Verhaltens aus phanomenologisch-psychopathologischer
Perspektive, aus der psychosozialen Familienforschung bei Schizophrenie sowie aus
der Sozialpsychologie mit ihren Konzepten zur norrnalpsychologischen sozialen
Wahrnehmung.
1m dritten Kapitel werden eine explorative Analyse von Daten einer groBen transnationalen Studie der Weltgesundheitsorganisation zur Anarnnese erster schizophrener
VI
Vorwort
Episoden vorgestellt, aus denen sich weitergehende empirisch priifbare Hypothesen
ableiten lieBen.
1m Anschlul3 postuliert und prUft das vierte Kapitel ein ,,Kontinuitatsmodell der Beobachtbarkeit beginnender Psychosen". Grundlage hierfiir sind systematische Paarvergleiche zur Eigen- und Fremdwahrnehmung der beginnenden Erkrankung aus der
Mannheimer ABC-Schizophrenie-Studie. Erste, noch explorative, auf Gruppenvergleichen beruhende Analysen zu Unterschieden zwischen verschiedenen fremdanamnestischen Informationsquellen schlieBen sich an. Das fiinfte Kapitel berichtet
schlieBlich uber die "Mehr-AngehOrigen-Studie", bei der fUr jeden Krankheitsfall
sowohl yom Patienten als auch von mehreren AngehOrigen die Wahrnehmung der
beginnenden Psychose erhoben wurde. Neben der Validierung der Resultate aus der
ABC-Schizophrenie-Studie zum Vergleich von Eigen- und Fremdanamnese konnten
durch direkten Vergleich verschiedener fremdanamnestischer Angaben zum einzelnen Erkrankungsfall Hypothesen dazu gepriift werden, welche individuellen und interaktionellen Faktoren Einflul3 auf die Fremdwahrnehmung haben. 1m Schlul3kapitel werden die Resultate dieser empirischen Untersuchungen synoptisch zusammengestellt und Folgerungen fUr jede der in den einleitenden Kapiteln genannten Arbeitsrichtungen (klinische, epidemiologische, psychopathologische, familienbezogene und sozialpsychologische Perspektive) aufgestellt.
Diese Arbeit ware nicht moglich gewesen ohne die vorausschauende Initiative und
tatkriiftige Forderung durch den ehemaligen Direktor des Zentralinstituts fUr Seelische Gesundheit in Mannheim, Herrn Professor Dr. Dr. Ores. h.c. Heinz Hiifner, der
mich von Anfang an ermutigte und nachhaltig unterstiitzte und dem ich dankbar
verbunden bin. GroBen Dank schulde ich auch allen Mitarbeitem des Projekts S 1
des Sonderforschungsbereichs 258, die die Daten der ABC-Schizophrenie-Studie erhoben und mir in vielen Fragen zur Seite standen, insbesondere Dr. Walter Loffler
fiir die Berechnungen zur ABC-Studie. Prof. Fred Rist, jetzt Universitat Munster,
war ein engagierter Begleiter dieser Arbeit. Bei den eigenen statistischen Analysen
berieten mich Frau Dr. lennen-Steinmetz und Herr Dipl.Phys. Wolf von der Abteilung fUr Biostatistik des Zentralinstituts sehr kompetent und konstruktiv. Wertvolle
Hinweise bei der Planung der Studie erhielt ich auch von Herrn Prof. Angenneyer
(Leipzig) und Herrn Prof. Witte (Hamburg).
Beziiglich meiner eigenen Erhebungen danke ich sehr allen Patienten und deren AngehOrigen fUr ihre Bereitschaft zur Mitarbeit und ihr groBes Vertrauen. Diesen und
allen anderen betroffenen Familien, die sich zum Beispiel in Koln in der Initiative
Rat und Tat e.V. erfolgreich zusammengeschlossen haben, mochte ich diese Arbeit
in Respekt und Anerkennung widmen.
Koln, im Dezember 2000
Martin Hambrecht
Inhaltsverzeichnis
1
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdanamnese
fiir psychiatrische Praxis und Forschung ........................................................... l
2 Grundlagen der Selbst- und Fremdwahrnehmung psychischer Auffalligkeit
2.1
Phanomenologisch-psychopathologische Grundlagen ...................................... ll
2.2
Grundlagen aus der Familienforschung bei Schizophrenie .............................. 17
2.3
Sozialpsychologische Grundlagen ................................................................... 27
3 Eine explorative Auswertung transnationaler Anamnesen ..............................35
3.1
Aufbau der explorativen Studie ...................................................................... .35
3.2
Vergleich von Eigen- und Fremdanarnnesen .................................................. .40
3.3
Vergleich von Fremdanarnnesen durch Eltem und durch Partner .................. .43
3.4
Vergleich von Fremdanarnnesen durch Miitter und durch Vater .................... .46
3.5
Resiimee aus der explorativen Studie .............................................................. .49
4
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
Selbst- und Fremdwahrnehmung der beginnenden Schizophrenie:
Ein Kontinuitatsmodell der Beobachtbarkeit .................................................53
Gibt es systematische Unterschiede zwischen Selbstund Fremdwahmehmung beginnender Psychosen ? ....................................... .55
Aufbau der Studie ............................................................................................. 57
Priifung des Kontinuitatsmodells ...................................................................... 63
Exp10rativer Verg1eich der Fremdwahrnehmungen
durch verschiedene Bezugspersonen ................................................................ 80
Resiimee zum Vergleich von Se1bst- und Fremdwahmehmung ...................... 89
5 Einfliisse auf die Fremdwahrnehmung der beginnenden Schizophrenie .......95
5.1
Was determiniert die Fremdanarnnese? .......................................................... 96
5.2
Die Mehr-Angehorigen-Studie ......................................................................... 99
5.3
Replikation des Verg1eichs von Selbst- und Fremdwahmehmung ................ .113
5.4
Die wichtigsten Einfliisse auf die Fremdwahmehmung
durch Bezugspersonen ................................................................................... 119
5.5
Resiimee zu den Determinanten der Fremdwahmehmung ............................ 133
6 Diskussion und Ausblick ................................................................................... 143
7 Kurze Zusammenfassung ..................................................................................153
Literaturverzeichnis ................................................................................................155
1
Die Bedeutung von Eigen- und
Fremdanamnese fur psychiatrische Praxis und
Forschung
Viele Patienten berichten ihrem Arzt nie von ihren Beschwerden und Symptomen,
vor aHem wenn es sich dabei urn psychische Auffalligkeiten wie Angste, Suchtprobleme, depressive Verstimmungen oder kognitive Defizite handelt. Wenn der Betroffene zum Beispiel depressive Symptome vorschneH auf Lebenskrisen oder korperliche Erkrankungen zutiickfiihrt, neigt er gleichzeitig dazu, diese Symptome erst
gar nicht als depressive Beschwerden zu berichten. In Bevolkerungsbefragungen
wird deshalb die Verbreitung depressiver St6rungen offenbar unterschlitzt (Eaton et
al. 2000). Wiederholte sorgfaltige Exploration im Rahmen einer stationiiren Behandlung scheint die Validitat eigenanamnestischer Angaben allerdings zu verbessem. So konnte bei katarnnestischen Untersuchungen ein halbes Jahr nach einer Depression noch bei 80 % der Patienten aufgrund deren eigener Angaben retrospektiv
die korrekte Diagnose einer mqjor depression gestellt werden (Kuhner 1999).
Bei dementiellen Erkrankungen ist Krankheitseinsicht eine Funktion des verb liebenen kognitiven Leistungsniveaus. Die Moglichkeit, eine Eigenanarnnese zu erheben,
hangt stark yom Grad der Demenz abo Zur fortschreitenden Erkrankung gehOrt eine
zunehmende Anosognosie, so daB fremdanamnestischen Angaben eine wichtige
Rolle bei dementiellen Entwicklungen zukommt (Verhey et al. 1993).
Obwohl hierzu keine systematischen Untersuchungen vorliegen, erscheint plausibel,
daB die korrekte Mitteilung von Symptomen an den Arzt an mehrere Voraussetzungen gebunden ist. Grundvoraussetzung ist ein MindestrnaB an kognitiver Leistungsfahigkeit, die durch Debilitat oder Demenz eingeschrankt sein kann. Adaquate
Symptomwahrnehmung und -attribution bilden weitere intrapsychische, die suffIziente Symptomkommunikation eine der wesentlichen interpersonellen Voraussetzungen. Die Kommunikationsfahigkeit des Wahrgenommenen kann durch sprachliche Hemrnnisse oder durch Krankheitssymptome selbst (z.B. Aphasie, Aphonie
oder Neologismen) reduziert sein. Wahrgenommene Symptome konnen aber auch
aus Schamgefiihl oder Norrnorientierung im Sinne sozialer Erwiinschtheit oder deshalb verschwiegen werden, weil die Symptome nicht als Ausdruck von Krankheit
verstanden bzw. fehlattribuiert werden (Ubersicht in Tab. 1).
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdanamnese flir psychiatrische Praxis und Forschung
2
Tabelle 1: Voraussetzungen einer validen Eigenanamnese
Fahigkeiten
Basis:
Krankheitseinsicht:
Symptomkommunikation:
Kognitive und mnestische Grundfunktionen
Reduziert oder aufgehoben
z.B. bei
Demenz. Debilitat
Selbstwahmehmung
Demenz. "Alexithymie"
Attribution
Nicht-medizinische Erklarungen
Fremdsprache. Neologismen.
Mutismus
MilMrauen. Scham. Paranoia
Kommunikationsfilhigkeit
Kommunikationsbereitschaft
Hindemisse ftiT eine valide Eigenanamnese konnen krankheitsunabhangig oder
krankheitsabhlingig sein. Beispiele fUr krankheitsunabhlingige Einflusse auf die Erhebung der Eigenanamnese sind Sprachbarrieren oder bestimmte Personlichkeitsmerkmale, krankheitsabhangig sind bei Demenz die intellektuelle Leistungsfahigkeit, bei Psychosen fehlende Krankheitseinsicht, die wahnbedingte Fehlattribution
des Wahrgenommenen oder die autistische Fehlhaltung. Psychologische Faktoren
(z.B. Einstellungen) beeinflussen, ob beispielsweise Halluzinationen mitgeteilt werden. Miller et al. (1993) bestlitigen die bekannte klinische Erfahrung, daB Patienten
ihre Halluzinationen teilweise als angenehm, bereichemd oder nutzlich erleben.
Diese Studie vermittelt aber leider keine Daten dariiber, ob positiv bewertete Halluzinationen auch hliufiger berichtet werden.
Die Beurteilung der Krankheitseinsicht bildet einen wichtigen Schritt in der Erhebung des psychopathologischen Befundes. Bei der retrospektiven Erfassung der
Krankengeschichte manifestiert sich in der Stellungnahme des Patienten zur Erkrankung ein wesentlicher Aspekt der Krankheitsbewliltigung. Diese kann nach einer abgelaufenen Psychose in einer Integration der Erfahrung in die eigene Biographie, eventuell in einer positiven Bewertung (mitunter Oberbewertung) oder in
Verleugnung der psychotischen Erfahrungen bestehen (Mayer-Gross 1920; s. Kapitel2).
"Denial in schizophrenia serves a defensive function" schreiben McGlashan and
Carpenter (1976); Verleugnung sei eine Form der Abwehr. Ein Jahr nach der akuten
Psychose will eine Gruppe von Patienten lieber nichts mehr davon wissen und die
Erlebnisse isolieren, andere wollen ihren Erfahrungen mitteilen, diskutieren, integrieren (McGlashan et al. 1975). Dies entspreche verschiedenen Bewliltigungsstrategien, wie sie auch nach anderen traumatischen Erfahrungen zu beobachten seien.
Mangelnde Einsicht sei insofem nicht spezifisch flir Schizophrenie (Amador et al.
1991). Allerdings zeigten viele Patienten mit Psychosen geringe oder fehlende
Krankheitseinsicht, hliufig bereits nach einer ersten Episode. Fur eine besondere
Bedeutung der Krankheitseinsicht bei schizophrenen Erkrankungen sprechen die
Ergebnisse einer clusteranalytischen Differenzierung von Subtypen der Schizophrenie dUTCh Carpenter et al. (1976), in die auch die Krankheitseinsicht als differenzierendes Merkmal einbezogen wurde. Dabei galt ein Patient als krankheitseinsichtig,
wenn er "some awareness of emotional illness" hatte, als krankheitsuneinsichtig,
wenn er "vigorously denied he was disturbed". Trotz dieser konservativen Defmiti-
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdananmese flir psychiatrische Praxis und Forschung
3
on war mangelnde Krankheitseinsicht eines der stabilsten Merkmale einer "typischen Schizophrenie".
Das Phanomen der Krankheitseinsicht bzw. ihrer Verleugnung ist jedoch komplexer, als es die vereinfachenden Operationalisierungen z.B. von Carpenter et al. widerspiegeln. Dies wird beispielsweise an der "doppelten Buchfiihrung" vieler schizophrener Patienten deutlich. Dabei lebt der Patient in einer privaten schizophrenen
Welt mit eigenem Werte- und Bezugssystem und orientiert sich gleichzeitig am allgemeinen, vollig wesensverschiedenen Ordnungssystem. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Welten wird widerspruchslos hingenornrnen. Eine Form der "doppelten
Buchftihrung" ist bei Patienten zu sehen, die sich trotz vollig fehlender Krankheitseinsicht ohne auBeren Druck zu einer Behandlung bereitfmden. Fiir die Vielschichtigkeit von Einsicht spricht auch die Beobachtung, daB mangelnde Krankheitseinsicht in der Regel zwar zu schlechterer Compliance in der Therapie flihrt,
die psychiatrische Exploration aber nicht behindern mull.
1m Kontrast zum psychologischen Verstandnis von Wahrnehmungs- und KornrnunikationsdefIziten flir Krankheitsanzeichen (im Sinne einer Verleugnung als Abwehr der bedrohlichen Erfahrung) stehen neurobiologische Konzepte zur Erkilirung
fehlender Krankheitswahrnehmung, die sich am neurologischen Symptom der Anosognosie (Babinski 1914) orientieren. DefIzite in der Selbstwahrnehmung werden
dabei neuropsychologisch verstanden und auf funktionelle oder strukturelle Schadigungen des Gehirns zuriickgeftihrt (zur Obersicht s. Amador et al. 1991).
Unklare Begriffe und auf verschiedenen Paradigmata basierende Konzepte haben
den systematischen wissenschaftlichen Zugang zum komplexen Phanomen der
"Krankheitseinsicht" erschwert. Der Vereinheitlichung und Prlizisierung der Begrifflichkeit sowie der Systematisierung der Einsichtsforschung dient ein von Amador et al. (1991) vorgeschlagenes, aus vier Komponenten bestehendes Stadienmodell: (1) bewul3tes Wahrnehmen von Anzeichen, Symptomen und Konsequenzen
der Krankheit, (2) Attributionen zur Krankheit allgemein und den Symptomen speziell, (3) Formung/lntegration des Selbstkonzepts, (4) psychische Abwehrvorgange.
Einsicht wird dabei als komplexes, mehrdimensionales Phanomen verstanden. So
konne es bei Psychosen Einsicht in einige, aber nicht alle Krankheitszeichen und
partielle Krankheitseinsicht geben. Wahn sei beispielsweise ein komplexes Symptom, so daB der Grad fehlender Einsicht in den Wahn nicht einfach dem AusmaB
an Wahngewi13heit entspreche. Einsicht setze sich zusarnrnen aus Wahrnehmung
und Attribution und mtisse getrennt fUr vergangene und gegenwlirtige Krankheitsphanomene erhoben werden, wobei gegebene Informationen tiber die Krankheit zu
beriicksichtigen seien. Krankheitseinsicht sei kulturabhangig und eher kontinuierlich als dichotom verteilt. Ausgehend von diesen Postulaten versuchte die Arbeitsgruppe, Einsicht mit einer "Scale to Assess Unawareness of Mental Disorder" systematisch zu erfassen. Dabei fand sich, daB Patienten mehr Einsicht flir vergangene
als flir aktuelle Symptome haben und daB ein schlechter Verlaufmit geringer Wahrnehmung und Attribution der Symptome korreliert. Der Bildungsstand korreliere
dagegen nicht mit Krankheitseinsicht. Eine Selbstbeurteilungsskala fUr Negativsymptome wurde von Selten et al. (1993) entwickelt. Erste Untersuchungen mit diesem von der SANS (Andreasen et al. 1984) abgeleiteten Instrument ergaben eine
4
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdanarrmese flir psychiatrische Praxis und Forschung
zufriedenstellende Stabilitat. Vergleiche von Selbst- und Fremdwahrnehrnung anhand dieser beiden Skalen stehen jedoch noch aus.
1m floriden Akutstadium einer schizophrenen Psychose sind - sei es aufgrund eingeschrankter oder krankhaft verzerrter Selbstwahrnehrnung oder wegen unzureichender Symptomkommunikation - zuverlassige anamnestische Angaben vom Patienten
oft nur schwer zu erheben. Fremdanarnnestische Informationen zum friihen Verlauf
psychischer Auffalligkeiten sind deshalb vor allem bei psychotischen Ersterkrankungen von groBer Bedeutung fiir eine zutreffende diagnostische Beurteilung, Therapieplanung und prognostische Einschatzung (vgl. Docherty et al. 1978).
Auch pramorbide Wesensziige konnen die Diagnose einer schizophrenen Storung
erschweren. Henderson (1985) beschreibt dies vor allem fur schiichterne, wenig
selbstbewuBte, zuriickgezogene Jugendliche, die seit Kindheit schlecht mit iiblichen
Belastungen zurechtgekommen sind. In solchen Fallen konnten AngehOrige wichtige Auskiinfte iiber Zeitpunkt und Art des Beginns der Symptornatik geben. Dabei
stellt sich aber die Frage, wie reliabel und valide die Mitteilungen von Familienmitgliedern, Freunden oder Arbeitskollegen sind. Ihre Angaben sind moglicherweise
durch eigene Krankheitskonzepte, emotionale Reaktionen auf den KrankheitsprozeB
usw. beeinfluBt.
In den friihen Studien von Yarrow et al. (1955) und Lewis und Zeichner (1960)
zeigte sich ein hohes AusmaB an Negation der psychotischen Erkrankung durch
Angehorige. Nach Lewis und Zeichner war die Psychose in 40 % der FaIle von einem Arzt oder von einer auBerhalb der Familie stehenden Person entdeckt worden.
Weissman et al. (1987) fanden, daB kinderpsychiatrische StOrungen von den Eltern
seltener berichtet werden, als es der tatsachlichen Anamnese entspricht. Mintz et al.
(1989) stellten bei Eltern schizophrener Patienten fest, daB bei einem hohen Grad an
"expressed emotion" in den Familien die Dauer der Symptomatik iiberschatzt, bei
niedrigem EE-Grad dagegen unterschatzt wird (s. Kapite12).
Aus einer Untersuchung bei ersterkrankten japanischen Patienten schlieBt Asai
(1987), daB bei einem subakuten Beginn die schizophrene Erkrankung von den AngehOrigen moglicherweise einige Zeit iibersehen wird, weil die Verhaltensweisen
und der Beginn nicht den japanischen stereotypen Vorstellungen von "Verriicktheit"
entsprachen. Andere Studien wiesen dagegen nach, daB Familien Krankheitssymptome sehr friih und adaquat beobachten konnen. Diese Untersuchungen betrafen
allerdings chronisch kranke schizophrene Patienten. In einer systematischen Untersuchung zeigten Herz und Melville (1980), daB Familienangehorige psychische
Veranderungen und eine Riickfallgefahr viel friiher als die Patienten selbst bemerken. DaB AngehOrige bei langerem Verlauf der Erkrankung diagnostische Fahigkeiten entwickeln, legen auch diskrirninanzanalytische Ergebnisse von Perlick et al.
(1992) nabe: Die Einschatzung der Schwierigkeiten des Patienten durch seine Familie hatte die groBte diskriminierende power (verglichen mit biologischen Markern, Beurteilung der Psychopathologie durch Experten oder Ersterkrankungsalter)
bei der Trennung der Gruppe der langzeit-hospitalisierten von den ambulantbetreuten Patienten. AngehOrigengruppen schizophrener Patienten diirften zu dieser
Lernerfahrung beitragen, denn hier wird in erster Linie iiber abweichendes Verhalten der Patienten gesprochen (Olbrich und WatzI1987).
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdananmese f1ir psychiatrische Praxis und Forschung
5
Die valide Fremdanamnese ist - in analoger Weise wie oben fUr die Eigenanamnese
postuliert - an mehrere Voraussetzungen gebunden. Dazu gehOren ein Mindestmal3
an kognitiver und mnestischer Befahigung, eine adaquate Wahrnehmung und eine
suffiziente Kommunikation des Wahrgenommenen (s. Tab. 1).
Eine rechtzeitige Wahrnehmung und korrekte Zuordnung der Beobachtungen hat
erhebliche sekundar-praventive Bedeutung. Bei chronischen Patienten konnte nachgewiesen werden, daB die Wahmehmung von Prodromalsymptomen eine friihe Intervention ermoglicht, mit der ein Rezidiv und eine stationare Wiederaufnahme haufig vermieden werden konnen (z.B. Birchwood et ai. 1989). Die Arbeitsgruppe von
Birchwood entwickelte ein Instrument, urn friihe Anzeichen eines Rezidivs zu erfassen. Dafiir werden Informationen aus der Selbstbeobachtung des Patienten (d.h.
aus der phanomenologischen Erfassung entscheidender Symptome) mit Verhaltensbeobachtungen durch AngehOrige kombiniert. So konnten frtihe Anzeichen (in erster Linie dysphorische Stimmung, Angespanntheit, Nervositat, Appetitmangel,
Konzentrations- und Schlafstorungen, Depressivitat und sozialer Riickzug) reliabel,
mit hoher Spezifitat, allerdings weniger guter Sensitivitat erfaBt und einen drohendes Rezidiv mit 79 %iger Sicherheit vorhergesagt werden. Prii- bzw. frtihe "psychotische" Symptome wie Argwohn, Angst vor Spott und Gerede, Beschaftigung mit
religiosen Themen konnten allerdings weniger zuverlassig erhoben werden. Urn die
V orhersagekraft des Instruments zu verbessem, empfehlen Birchwood et aI., auch
idiosynkratische Symptome, die spezifisch den einzelnen Patienten betreffen, zu beriicksichtigen. Die Autoren beobachteten, daB Krankheitseinsicht mitunter schon im
Friihstadium eines Ruckfalls fehlen konne, in der Regel aber erst in einer spateren
Phase des Rezidivs verlorengehe. Fremdanamnestische Angaben konnten mangelnde Einsicht beim Patienten kompensieren. Solange Einsicht gegeben sei, bestehe
aber eine enge Korrelation zwischen Eigen- und Fremdbeobachtung.
Systematische Untersuchungen zur Wahmehmung der beginnenden Schizophrenie
und der einzelnen Symptome durch das soziale Umfeld liegen bei Ersterkrankten
mit Ausnahme einer japanischen Untersuchung an einem kleinen Sample (Ohta und
Nakane 1989), bei der die AngehOrigen (davon in 75 % der FaIle die Mutter) vorrangig produktive Symptome angaben, und einer unvollstandig referierten Validierungsstudie von Andreasen et al. (1992) bisher nicht vor.
Eigen- und Fremdanamnese in der klinischen Psychiatrie:
1. Eine valide Anamnese ist wiehtig far Diagnostik, Therapie und prognostisehe Beurleilung psyehiatriseher Erkrankungen.
2. Valide Angaben zur Symptomatik aus der Sieht von Patienten und AngehOrigen sind jedoeh an einige Voraussetzungen gebunden.
3. Eine wesentliehe Bedingung ist die adaquate Wahrnehmung des Krankheitsgesehehens.
4. Wahrnehmung von Symptomen ist zwar Bestandteil, aber nieht identiseh
mit Krankheitseinsieht.
5. Naeh den bisherigen Ergebnissen haben Angeh6rige bei einer Ersterkrankung meist eine inadaquate Wahrnehmung des Krankheitsgeschehens,
bei chronischem Verlauf hingegen eine gute Beobachtungsgabe far drohende Rezidive.
6
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdanamnese flir psychiatrische Praxis und Forschung
Eigen- und Fremdanamnese liefem auch Basisdaten fur die psychiatrische Forschung, inbesondere ftir die diagnostische Zuordnung (z.B. als "Phiinotypisierung"
im Rahmen genetischer Forschung). Die psychiatrische Epiderniologie hat sich besonders sorgfaltig mit dem diagnostischen Proze13 der Fallfindung und Falldefmition
befaBt - wird mit der diagnostischen Zuordnung doch das Fundament fur jede weitere wissenschaftliche Analyse gelegt.
Die Epidemiologie solI Daten iiber den Gesundheitszustand einer defmierten Bevolkerung und damit eine Grundlage fur gesundheits- und sozialpolitische Vorhaben und Entscheidungen liefem. Sie solI das klinische Bild von Krankheiten (z.B.
zu deren "natiirlichem" Verlauf) vervollstandigen, kausal wirksame Faktoren auffinden, individuelle Erkrankungsrisiken berechnen, historische Trends in der Morbiditatsentwicklung aufdecken und Gesundheitsdienste evaluieren. Zur Erftillung
dieser Aufgaben mul3 Epidemiologie sich auf Fallidentifikationen stiitzen konnen,
die objektiv, valide, trennscharf und zuverlassig sind. Hafner (1978) hat diese Anforderungen ausfuhrlich begrundet und iiber die zahlreichen Strategien berichtet, die
Erftillung dieser Giitekriterien in der psychiatrischen Epiderniologie sicherzustellen.
Auf diese Thematik solI deshalb an dieser Stelle nieht naher eingegangen werden,
zumal seit der Einfuhrung der 3. Version des "Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders, DSM-III" (APA 1980) prinzipielle Einwande gegenjegliche diagnostische Klassifikation leiser geworden sind.
Auch wenn Diagnosen nur noch als Konstrukte verstanden werden (z.B. von Spitzer
und Fleiss 1974), so mu13 die Forderung nach reliabler Erfassung der zugrundeliegenden Informationen und nach einer extemen Validierung der resultierenden diagnostischen Kategorien aufrecht erhalten werden. Nieht nur kategoriale, sondem
auch dimensionale Ansatze zur Erhebung von Krankheits- und Gesundheitsparametem in der Bev61kerung haben den Kriterien von Objektivitat, Reliabilitat und
Validitat zu geniigen.
In den letzten Jahren wurden - insbesondere auch bei der Entwicklung von ICD-l 0
(Dilling et al. 1991) und DSM-IV (APA 1993) - erhebliche Anstrengungen unternommen, die Qualitat psychiatrischer Diagnosesysteme im Sinne der obengenannten Kriterien zu verbessem. Durch Rekurs auf moglichst klar operationalisierte Basisinformationen und Beobachtungsdaten sollen Objektivitat, Reliabilitat und Validitat diagnostischer Klassifikationen optimiert werden. Fiir die psychiatrische Epidemiologie im Besonderen gilt ferner, da13 Diagnosekategorien auch prazise, umfassend und exklusiv sein sollen (Hafner 1978).
Diagnosen konnen nur so valide sein wie die Informationen, auf denen sie beruhen.
Anfang der 60er Jahre seien (so eine Studie von Beck et al. 1962) zwar nur 5 % der
Fehler bei der Diagnosestellung auf den Patienten zuruckzufuhren gewesen, wahrend sich die iibrigen 95 % auf Defizite in der Nomenklatur bzw. beim Diagnostiker
verteilt hatten, mit der Verbesserung und Operationalisierung der Diagnosesysteme,
besserem Training der Diagnostiker und damit besserer Kongruenz ihrer Krankheitskonzepte durfte dem yom Patienten induzierten "Fehler" mittlerweile jedoch
eine groBere Bedeutung zukommen.
.
1m Bereich der epidemiologischen Schizophrenieforschung hat die Untersuchung
der begirmenden Psychose fur die Aufklarung pathogenetischer Zusammenhange
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdananmese fUr psychiatrische Praxis und Forschung
7
groBe Bedeutung (Hafner et al. 1993b). "Der Zeitpunkt oder das Alter bei Krankheitsausbruch konnen ein Indikator genetischer Belastung oder psychosozialer
Auslosung sein. Die Aufeinanderfolge der ersten Symptome kann Hinweise auf zugrundeliegende pathophysiologische Prozesse und auf die Richtung kausaler Zusarnmenhlinge bei Komorbiditat geben. Dazu kornmt, daB die Symptomatik im Beginn wahrscheinlich starker von der Krankheit selbst und weniger von Umgebungs-,
Organismus- und Personlichkeitsfaktoren determiniert ist als nach langjahrigem
Verlauf' (Hafner und Maurer 1993, S.I).
Die Erforschung des fruhen Verlaufs der Psychose ist auBerdem fur die (Sekundlir-)
Pravention relevant, wenn dabei Wege zur Friiherkennung von schizophrenen Psychosen aufgezeigt werden konnen (Docherty et al. 1978). Eine valide Erhebung der
Symptomatik im Beginn der Erkrankung ist eine wichtige Voraussetzung flir dieses
Vorhaben. Diese ist allerdings mit einigen methodischen Problemen behaftet (Hafner und Maurer 1993a): Der Beginn einer seltenen Krankheit kann in der Bevolkerung nur mit unverhaltnismliBig hohem Aufwand prospektiv untersucht werden,
wobei eine fortlaufende direkte Beobachtung ohnehin unmoglich ist und deshalb
Teilabschnitte irnmer retrospektiv erfaBt werden mtissen. Auch High-Risk-Studien
stiitzen sich in der Regel auf retrospektive Erhebungen (wenngleich tiber kurze
Zeitabschnitte) und weisen zudem meist nur kleine Fallzahlen auf. Ublicherweise
werden deshalb Inanspruchnahmepopulationen retrospektiv zum friihen Verlauf
untersucht.
Ftir Validitat und Reliabilitat der erhobenen Daten ist wesentlich, wie die Informationen von den Informanten (meist dem Patienten undloder seiner Familie) erhoben
werden. Die Giite der Erinnerung an bestirnmte Anzeichen und an den Zeitpunkt ihres Auftretens kann optimiert werden, indem man emotional bedeutsame Lebensereignisse erfragt, Ankerzeitpunkte definiert und den Erinnerungszeitraum in Abschnitte adaquater Lange aufteilt. Weitere Voraussetzungen fur eine gute Qualitat
anarnnestischer Angaben sind eine klare, einfache und gut verstandliche Sprache
und die Verwendung relevanter Beispiele. Bei den in der Epidemiologic Catchment
Area Study (Robins und Regier 1991) eingesetzten Interviews (Diagnostic Interview Schedule, DIS) konnte so die Psychopathologie auch durch (trainierte) Laien
reliabel und valide erfaBt werden, wie sich durch Vergleich mit fachpsychiatrischer
Beurteilung und zwischen prognostizierter und tatsachlicher spaterer Behandlungsbedtirftigkeit (im Sinne einer predicitive validity) ergab (Leaf et al. 1991).
Eine Reihe weiterer klinischer und epidemiologischer Studien (zusarnmengefaBt bei
Hafner et al. 1990) belegen, daB psychiatrische Symptome zumindest fUr die letzten
12 Monate vor einem Interview relativ zuverlassig durch retrospektive Befragung
des Patienten erhoben werden konnen.
Als AuBenkriterien kornmen flir die Validierung der Patientenangaben fremdanamnestische Mitteilungen sowie objektive Daten (z.B. Fehlzeiten am Arbeitsplatz, Medikamentenverbrauch) in Frage. Letztere erlauben allerdings nur einen indirekten
SchluB auf das Krankheitsgeschehen, z.B. auf dessen Schweregrad. Eine besondere
Form der Fremdanamnese bilden die Berichte von vorbehandelnden Arzten, die
aber nur sekundare Informationen und Daten aus der klinischen Beobachtung, nicht
aus dem Alltag enthalten. Die Qualitat der Fremdwahrnehmung psychischer Storungen ist sorgfaltig zu prufen und kritisch zu wiirdigen. So stiitzte sich etwa Ohaeri
8
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdananmese flir psychiatrische Praxis und Forschung
(1992) bei einer Untersuchung zum Ersterkrankungsalter fUr Schizophrenie ausschlieBlich auf die Fremdanamnese, ohne die Giite dieser Informationsquelle zu reflektieren.
Wie bereits ausgefUhrt, benotigt die Epidemiologie moglichst zuverlassige Daten
iiber den Beginn einer Erkrankung, urn das altersspezifische Erkrankungsrisiko berechnen zu konnen. Daraus lassen sich atiologische Hypothesen ableiten, wie Hiifner et al. (1993b) flir das Beispiel der Geschlechtsunterschiede bei Schizophrenie
darlegten. Neben Daten zum "wahren" Erkrankungsbeginn nach verschiedenen Definitionen sind hier valide Erkenntnisse zur pramorbiden Personlichkeit, zum sozialen und Symptomverlauf von besonderer Bedeutung. In der ABC-SchizophrenieStudie (ausfiihrlich hierzu Kap. 3) konnten Hafner et al. (1993a) zeigen, daJ3 bei
wichtigen Marksteinen im Friihverlauf der Schizophrenie (z.B. dem Zeitpunkt des
erstmaligen Auftretens einer psychischen Auffalligkeit oder des ersten psychotischen Symptoms) keine signifikanten Unterschiede zwischen den von Patienten,
von AngehOrigen oder in den schriftlichen Unterlagen gemachten Angaben bestehen (Tab. 2).
Tabelle 2: Vergleich von drei Inforrnationsquellen zum Erkrankungsalter flir Schizophrenie
nach verschiedenen Definitionen (n = 165 Faile; mittleres Alter in lahren)
Informationsquelie
Patient
Angehoriger
Berichte/Akte
p(ANOVA)
Erstes Anzeichen einer
psychischen Erkrankung
Erstes psychotisches
Symptom
Gesamteinschatzung des
Erkrankungsbeginns
Beginn der Indexepisode
25,4
25,6
25,9
.85
27,9
28,8
28,9
.30
28,1
28,4
27,8
.25
29,4
29,0
29,4
.61
Erstaufnahme wegen
Schizophrenie
30,0
30,0
30,0
-
In epidemiologischen Untersuchungen wurden fremdanamnestische Angaben nicht
nur zur Ergiinzung und Absicherung der yom Patienten erhobenen Daten verwandt,
sondem auch bei Fragestellungen erfa13t, bei denen eine direkte Exploration des Patienten zur Anamnese nicht (mehr) moglich ist, z.B. in der Demenz- oder der Suizidforschung.
Den Zusammenhang zwischen Selbstwahmehmung und Depressivitiit bei dementen
Patienten untersuchten Verhey et al. (1993), wobei sie die Adiiquatheit der Krankheitswahmehmung als Ubereinstimmung eigen- und fremdanamnestischer Angaben
anhand einer vierstufigen globalen Ratingskala durch Experten einschiitzen lieJ3en.
Die Studie zeigte, daJ3 die subjektive Krankheitswahmehmung signiftkant yom Grad
der Demenz abhiingt. Das Ausma13 an KrankheitsbewuBtsein korrelierte auBerdem
signifikant mit der Angstsymptomatik beim Patienten. Epiderniologische Feldstudien zur Demenz haben haufig fremdanamnestische Angaben benutzt. Bei diesen
Untersuchungen sind viele Personen in kurzer Zeit (oft durch trainierte Laien) zu
beurteilen. Hiiufig bedient man sich dabei Fremdratings durch Betreuungspersonen.
Die Bedeutung von Eigen- und Fremdanamnese flir psychiatrische Praxis und Forschung
9
So werden beispielsweise im "Canberra Interview for the Elderly" und beim
"Community Screening Interview for Dementia" jeweils Patient und ein betreuender
AngehOriger befragt. Untersuchungen von O'Connor et al. (1989) und Davis et al.
(1991) zeigten eine hohe Validitat der anarnnestischen Angaben von betreuenden
AngehOrigen.
In der Suizidforschung konnen fremdanarnnestische Angaben den Zusammenhang
zwischen Lebensereignissen, psychischer Gestortheit und Suizidalitat aufklaren helfen. Bei Personen, die durch Suizid verstorben sind, vorher jedoch nie in Behandlung waren, bilden diese Informationen oft den einzigen Zugang zur Vorgeschichte.
So fanden z.B. Boyer et al. (1993) durch standardisierte retrospektive Interviews mit
Bezugspersonen von Suizidenten, daB vor dem (vollzogenen) Suizid ein 32 mal hOheres Risiko fUr eine depressive Storung und ein fiinfmal hOheres Risiko ftir eine
Alkoholabhangigkeit besteht.
Bei vie len Familienuntersuchungen wurde versucht, fi.ir bereits verstorbene oder aus
anderen Griinden nicht mehr direkt untersuchbare AngehOrige anhand fremdanamnestischer Angaben eine psychiatrische Diagnose zu stellen. Neuere Familienuntersuchungen (z.B. Maier et al. 1990) haben diese indirekte Methodik jedoch aufgegeben, weil die Validitat der so gewonnenen Diagnosen nicht priitbar ist.
Foigerungen aus epidemiologischer Sicht:
1. Valide anamnestische Informationen insbesondere zum Krankheitsbeginn
sind fUr viele epidemiologische Fragestellungen unerlaf3lich.
2. Bei der Schizophrenie ergeben sich bei globalen Angaben zum FrOhverlauf in einer grof3en Stichprobe keine signifikanten Unterschiede zwischen
Selbst- und Fremdwahrnehmung der frOhen Psychose.
3. Da methodische Probleme bei der retrospektiven Erfassung des FrOhverlaufs jedoch schwer wiegen, sind detailliertere Analysen dieser Zusammenhange notwendig.
2 Grundlagen der Selbst- und Fremdwahrnehmung
psychischer Auffalligkeit
2.1 Phanomenologisch-psychopathologische Grundlagen
Zur Selbstwahrnehmung bei Schizophrenie
Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung bildeten Kemthemen der Phiinomenologie
Edmund Husserls. Fur Husserl (1913/1952) steHte jeder geistige Vorgang eine bewuBte Wahrnehmung von etwas dar. Die notwendige Wechselbeziehung zwischen
geistigen Prozessen und Objekten nannte er "Intentionalitat". Der zeitlichen Dimension ("ZeitbewuBtsein") widmete Husserl dabei besondere Aufmerksamkeit. Durch
Selbstwahrnehmung ("Innenreflexion") konstituiert sich das Ich selbst, und bewuBtes Ich manifestiert sich nur durch diesen Vorgang als Einheit eines sich konstituierenden und eines konstituierten Ichs. Margulies hat diesen ProzeB einer zirkuliiren
Selbst-Defmition folgendermaBen beschrieben: "The self can be defmed as that psychic structure that comes into being with the enigmatic process of self-reflection that is, the self as simultaneaously both subject and object" (1990, S.146).
Wie wirkt sich die "ontologische Krise" einer beginnenden Schizophrenie auf die
Selbst-Defmition aus ? Ausgehend von Husserls Phiinomenologie postulierten Wiggins et al. (1990): "Schizophrenia must be conceived from both of these perspectives: it consists in a disorder of the constituting self and, consequently, in a disorder
of the constituted self' (S.22). Die Wahrnehmung psychotischen Geschehens bei
sich se1bst hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Bemuhungen urn Se1bstDefinition (Margulies 1990).
Die Phanomenologie der beginnenden Schizophrenie wurde von zahlreichen Autoren anhand von Phasenmodellen mit stufenweiser Dekompensation beschrieben, die
von Docherty et al. (1978) in einer Obersicht zusammengefaBt wurden. Die Modelle
unterscheiden sich in ihrem Fokus teilweise recht deutlich - beispielsweise werden
als Ausgangspunkt der psychotischen Entgleisung einmal Entfremdungsgefiihle, in
anderen Modellen Oberstimulierung oder Versagen angenommen. Dennoch weisen
die Konzepte vor allem strukturell eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: (1) Es
handelt sich urn Phasenmodelle; (2) initial besteht haufig eine Oberforderungssituation; (3) im weiteren Verlauf wird in mehreren Modellen ein entscheidendes Ober-
12
Grundlagen der Selbst- und Frerndwahrnehrnung psychischer Auffalligkeit
gangsstadium postuliert; (4) besondere Bedeutung wird der Selbstwahrnehmung des
Patienten zugeschrieben.
In methodischer Hinsicht wiirden diese Studien zur Phiinomenologie der beginnenden Schizophrenie heute allerdings nur noch bescheidenen Anspriichen geniigen:
Keine der Studien war kontrolliert. In der Regel handelte es sich urn Fallstudien mit
(allerdings sorgfaltiger) retrospektiver Erhebung durch Befragung des Patienten und
seiner Familie. Einzelne Autoren verwendeten z.B. Tagebucheintragungen der Patienten, halbstrukturierte Interviews oder Berichte iiber vorangegangene Behandlungen. Nur 2 der durchgesehenen Ansatze basierten auf einer (iiber einen kurzen Zeitraum) begleitenden Beobachtung des Krankheitsgeschehens.
1m deutschen Sprachraum hat das Stadienmodell der beginnenden Schizophrenie
von Comad (1958) besonderen Eindruck hinterlassen. Seit ihrem ersten Erscheinen
zahlt seine Abhandlung "Die beginnende Schizophrenie" zu den eindriicklichsten
Beschreibungen der Erlebnisstruktur der friihen Krankheitsphasen. Comad ftihrte
eine "Gestaltanalyse des Wahns" unter der Uberlegung durch, daB der Wahnbildung
gestaltpsychologische GesetzmaBigkeiten zugrundeliegen, die auch andere psychische Prozesse, vor allem Wahrnehmung und Gedachtnis, bestimmen. Comad ging
bei seiner Untersuchung beschreibend vor, benutzte aber Methoden und Vokabular
der Gestaltpsychologie, wie sie vor allem in den Arbeiten von Lewin und Metzger
dargestellt worden war. Ausgehend von der auf solche Weise gewonnenen Abfolge
wahnhaften Erlebens entwickelte Comad ein Verlaufsmodell der friihen Schizophrenie mit 5 konsekutiven Phasen, wobei die Phasen 4 und 5 ("Konsolidierung"
und "Residualzustand") nicht mehr der beginnenden Schizophrenie zuzurechnen
sind.
Nach Comad kann die erste Phase ("Trema") Jahre dauern. Sie wird als "Lampenfieber" charakterisiert und kann verschiedene Aspekte aufweisen, etwa "unsinnige
Handlungen", Depressionen, Angst, Schulderleben, Kluft zur Umwelt, Mi13trauen
und schlie131ich Wahnstimmung. Am Ende des Trema geht die "Uberstiegsflihigkeit"
- Comad iibernahm diesen Begriff von Binswanger - verloren, narnlich die Flihigkeit zur Distanzierung yom wahnhaften Erleben, die Voraussetzung flir Realitatserkenntnis und Krankheitseinsicht ist. Nun beginnt die zweite Phase ("Apophmie"),
das "Offenbarwerden". Der Patient kann das Bezugssystem nicht mehr wechseln.
Abnormes Bedeutungsbewu13tsein tritt auf. "Offenbarungen" begegnen dem Patienten sowohl in seiner Umwelt (beispie1sweise als abnormes Bedeutungserleben,
Wahnwahmehmungen, Bekanntheits- und Entfremdungserleben, magisches Erleben
mit megalomanen Inhalten) als auch in einer Riickwendung ("Anastrophe") an sich
selbst (zum Beispiel im "Reflektionskrampf' und Weltrnittelpunktserleben). Diese
Offenbarungen manifestieren sich auch in Denkstorungen und als Korpersensationen. In der dritten, der "apokalyptischen" Phase werden die apophanen Phiinomene
noch urn eine Stufe gesteigert, und es kommt zu apokalyptischen Erlebniseinbriichen. Dabei fmdet ein Zerfall des Zusammenhanges der Wahrnehmung statt. Jetzt
drangen sich die Wesenseigenschaften der wahrgenommenen Objekte in den Vordergrund und machen sich weitgehend selbstandig. Der Hohepunkt psychotischen
Erlebens ist erreicht. In jeder der drei Phasen ist eine Umkehr des Prozesses moglich, und die Uberstiegsfahigkeit kann wiedererlangt werden. Diese ist Voraussetzung flir die "Objektivierung des Selbst", das hei13t flir die Moglichkeit objektivie-
Grundlagen der Selbst- und Fremdwahmehmung psychischer Auffalligkeit
13
render Selbstwahrnehmung (s.o.). Uberstiegsf<ihigkeit ist auch notig, urn tiber die
aufgetretenen subjektiven Symptome berichten zu konnen.
Voraussetzung fur eine Psychopathologie, die tiber die reine Beschreibung des beobachtbaren Verhaltens hinausgehen will, ist Kommunikation. Die Notwendigkeit
der Mitteilung inneren Erlebens impliziert Sprache, sei es in der Exploration und
durch spontane Selbstschilderungen. Weil Psychopathologie auf Sprache angewiesen ist, sei - so Spitzer (1990) - eine "reine", (vorannahmen- und theoriefreie) phanomenologische Psychopathologie im Sinne von Jaspers unmoglich. Jaspers selbst
habe sich - so Spitzer - entgegen seinem Anspruch und seiner Intention doch immer
wieder auf Vorannahmen und theoretische Konzepte gesttitzt. Ein rein deskriptiver
Ansatz sei nicht moglich, weil Konzepte auf dem Weg tiber die Sprache immer eingingen.
Vorannahmen und Konzepte (z.B. das eigene Krankheitsverstandnis) gehen schon
tiber die Sprache in den Bericht tiber inneres Erleben in der beginnenden Psychose
ein. Aber auch Prozesse der Krankheitsbewaltigung bei Schizophrenie modifizieren
Angaben tiber das Erlebte und konnen die Erhebung der Eigenanamnese erschweren. Mayer-Gross (1920) untersuchte, welche Merkmale bestimmter Erlebnisse "einer objektiven Stellungnahme" widerstreben. Nach seiner Auffassung ist "Objektivitat" vor allem dann erschwert, wenn nicht unmoglich, wenn sogenannte "Existenzwerte", d.h. dem Kern des Selbst besonders verbundene Regungen und Gegenstande des Seelenlebens, erschtittert seien und die Wahrnehmung in ihrer Kontinuitat bedroht sei, wie es bei der akuten Psychose geschehe. Von den verschiedenen
Reaktionen der Patienten auf ihre psychotischen Erfahrungen (von Mayer-Gross
"Verzweiflung", "Neues Leben", "Ausscheidung", "Bekehrung" und "Integration der
Erfahrung in das fortbestehende Selbst" genannt) verunmoglichen oder erschweren
einige dieser Bewaltigungsstrategien eine valide Eigenanamnese. Problematisch erscheint vor allem die Gruppe der "Ausscheider": Patienten, die die Erlebnisse der
Psychose leugnen, beispielsweise im hebephrenen Dauerzustand nach akuter Psychose verharren.
"Verstehen" und andere Formen der Fremdwahmehmung
Wie finden wir Zugang zu intrapsychischen Vorgangen (zum Erleben) eines anderen
Menschen ? - In den Geisteswissenschaften wurde mit der von Dilthey (1883) entwickelten hermeneutischen Methode "Verstehen" im Sinne eines erlebenden Nachvollzugs von Seelischem als Moglichkeit angesehen, zu einem Erkenntnisgewinn zu
gelangen. Erkenntnistheoretisch blieb diese Ansicht jedoch nicht unwidersprochen
(vgl. Thomae und Kachele 1985). So bedtirfe es immer eines gewissen Vorverstandnisses, durch das erst hermeneutische Auslegung von Texten und anderen AuBerungen moglich werde. In der Praxis spielen subjektive Evidenzerlebnisse beim "Verstehen" eine wesentliche Rolle. Es "wird davon ausgegangen, daB der Verstehende
die Komplexhaftigkeit seines eigenen seelischen Erlebens als Vergleichsbasis verwendet" (Peters 1984, S.564).
14
Grundlagen der Selbst- und Fremdwahrnehrnung psychischer Auffiilligkeit
Die Heidelberger Schule der Psychopathologie hat den Verstehensbegriff fUr die
Psychiatrie modiflZiert. Karl Jaspers (1912/1963) unterschied objektive von subjektiven psychopathologischen Symptomen, wobei letztere mit den Sinnesorganen
nicht wahrgenommen, sondem nur durch Hineinversetzen in die Seele, durch Einfiihlen erfaBt werden konnten. Ais Mittel (aber nicht Gegenstand) der phlinomenologischen Analyse konnten nach Jaspers die Beobachtung des Patienten, insbesondere
seiner Ausdrucksbewegungen, femer die geleitete Auskunft des Kranken uber sich
selbst (Exploration) und schlieBlich die als besonders wertvoll geltenden Selbstschilderungen Verwendung fmden. Grundlegendes Charakteristium schizophrener
Symptomatik sei allerdings ihre Unverstiindlichkeit fUr den Beobachter.
In der Psychotherapie hat vor allem Rogers (1973) die Empathie, das "einfiihlende
Verstehen", als wichtiges Agens in den Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses
gestellt. Introspektion und Empathie seien allerdings als "wissenschaftliche Instrumente" fUr systematische Beobachtungen und Entdeckungen, wie Kohut (1959, zit.
nach Thomae und Kiichele 1985) betonte, bereits von Freud nutzbar gemacht worden. Thomae und Kiichele (1985) kritisierten die von einigen Analytikem vertretene
Vorstellung, "daB die vom UnbewuBten zum UnbewuBten gehende empathische
Wahmehmung keiner weiteren Begrundung bedilrfe, womit ein eigenes psychoanalytisches Wahrheitsverstiindnis beansprucht wird" (S.92). Obwohl Empathie in der
jeweiligen Behandlung idealerweise zu intersubjektiver Ubereinstimmung fiihrt,
kann (solI und will) sie als psychotherapeutische Methode jedoch kein "Wahrheit"
im objektiv-wissenschaftlichen Sinne beanspruchen.
Das Problem der Validierung subjektiver Angaben
Bei Chapmans Untersuchungen zur beginnenden Schizophrenie (1966) galt Wiederholung als Kriterium fUr die Validitiit der Patientenangaben: "It was considered that
the experiences reported by the patients were not due to illusions of memory, because in relation to each category of altered subjective experience the report of the patient was not regarded as having any validity unless he had experienced the same
anomaly on numerous occasions" (S.228). Mit derartigen pragmatischen Losungen
kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, daB Patienten zum Beispiel durch Gediichtnisprobleme, durch Storungen des Zeiterlebens, durch affektive Beteiligung,
durch eigene Krankheitsvorstellungen etc. etc. immer wieder dieselben unzutreffenden Angaben machen.
Patientenberichte blieben jedoch bis in jungste Zeit Ausgangsmaterial fast aller Studien zur beginnenden Schizophrenie (s. oben). So beruhte zum Beispiel die Bonner
Ubergangsreihenstudie (Klosterkotter 1992) auf dieser Datengrundlage. In dieser
Studie, in die allerdings nur Patienten mit Basisstorungen im Sinne von Huber
(1983) aufgenommen wurden, wurden Kemsymptome der Schizophrenie als hochkomplexe, rein subjektiv gegebene Abwandlungen des bewuBten Erlebens und
Schliisse1symptome als Erlebnisveriinderungen angesehen. "Offenbar gehen die
Symptome ersten Ranges tatsiichlich aus der subjektiven Erfahrung von vorbestehenden Storungen der Wahmehmung, der Denk-, Sprech- und Gediichtnisleistungen,
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