Judenverfolgung von 1933-1945 am Beispiel jüdischer Kinder und der „Kindertransporte“ unter Berücksichtigung der Haltung der Kirchen, Freikirchen und religiösen Gruppen Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe I. Dem Staatlichen Prüfungsamt Essen für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen vorgelegt von: Sandra Ulrich Oberhausen, 28.September 1999 Themensteller: Dr. Aaron Schart, Universität GH Essen, Fachbereich I, Evangelische Theologie Inhaltsverzeichnis 0. Vorbemerkung 6 1. Einleitung 7 1.1. Anmerkung zur verwendeten Literatur 9 2. Übersicht der historischen Ereignisse in Deutschland von 1933 bis 1945 11 3. Jüdische Kindheit unterm Hakenkreuz 18 3.1. Die Entwicklung des jüdischen Schulwesens 18 3.1.1. Weimarer Verfassung 18 3.1.2. Der Plan zur Ausschließung der Juden aus dem deutschen Schulwesen 19 3.1.3. Jüdische Schulen vor 1933 19 3.1.4. Die Ausschließung der Juden aus dem deutschen Schulwesen 20 3.1.5. Die Errichtung jüdischer Bekenntnisschulen 21 3.1.6. Auswirkungen des Reichsbürgergesetz und des Novemberpogroms auf das jüdische Schulwesen 23 3.2. Der Schulalltag jüdischer Kinder während der Nazi-Zeit 25 4. 3.3. Außerschulische Diskriminierung 29 3.4. Kleine Gesten der Sympathie 29 Die Haltung der Kirchen, Freikirchen und religiösen Gruppen 31 2 4.1. Bekennende Kirche 31 4.1.1. Vorgeschichte der BK 31 4.1.2. Anfänge des Kirchenkampfs 32 4.1.3. Die großen Bekenntnissynoden 33 4.1.3.1. Barmen 33 4.1.3.2. Berlin Dahlem 35 4.1.4. Innere Opposition 35 4.1.5. Der Arierparagraph 37 4.1.6. Pfarrernotbund 39 4.1.7. Verschärfter Kirchenkampf der BK 40 4.1.8. Verstärkter Terror gegen die BK 42 4.1.9. Das „Büro Grüber“ 43 4.2. Katholische Kirche 4.2.1. Das Konkordat 48 48 4.2.2. Der Kampf der Bischöfe und der Institution Kirche 51 4.2.2.1. Konrad Graf von Preysing 51 4.2.2.2. Bischof Clemens August Graf von Galen 52 4.2.2.3. Erich Klausner 53 4.2.2.4. Bernhard Lichtenberg 54 4.2.2.5. Weitere Geistliche im Kampf 54 4.2.3. Der Papst zum Kirchenkampf, die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ 4.2.4. Das Hilfswerk 4.3. Die Quäker 55 57 59 4.3.1. Hilfsaktionen während des Nationalsozialismus 59 4.3.1.1. Das Engagement der Quäker im Hinblick auf die Kindertransporte 61 4.3.2. Das internationale Hilfsbüro 61 3 4.3.3. Weitere Hilfe nach Kriegsbeginn 63 4.4. Die Zeugen Jehovas 4.4.1. Die 65 Vorgeschichte der „Ernsten Bibelforschervereinigung“ (Zeugen Jehovas) 65 4.4.2. Widerstand und Verfolgung im Dritten Reich 66 4.4.3. Die Zeugen Jehovas im KZ 68 5. Zur britischen Flüchtlingspolitik 70 5.1. Flüchtlingspolitik vor 1933 70 5.2. Britische Flüchtlingspolitik seit 1933 72 5.2.1. Die Konferenz von Evian 76 5.2.2. Palästina als britisches Mandatsgebiet 78 5.2.3. Reaktionen auf den Novemberpogrom 80 6. Die Anfänge der Kindertransporte 6.1. 82 Die Aufnahme der jüdischen Kinder durch das „Children’s Inter Aid-Committee“ 82 6.2. Die Vorläufer der Kindertransporte 84 6.3. Antrag für den Kindertransport 85 6.3.1. Kindertransport als Vorbild für andere Aufnahmeländer? 7. Organisation und Ablauf der Kindertransporte 90 91 7.1. Vorbereitungen für die ersten Transporte 91 7.2. Auch Österreich bereitet sich vor 93 7.3. Vorbereitungen in England 96 7.3.1. Mithilfe der britischen Flüchtlingsorganisationen bei den Kindertransporten 7.4. Das „Refugee Children’s Movement“ (RCM) 7.4.1. Aufgabenbereiche des RCM 98 99 99 4 7.4.2. Die Subkomitees 100 7.4.3. Personalprobleme 102 7.4.4. Kosten der Kindertransporte 103 7.4.4.1. Kosten für die Kinder 103 7.4.4.2. Finanzierung des RCM 104 7.4.5. Finanzielle Probleme 105 7.5. Vorbereitungen für die Abreise 7.6. Abreise 108 111 8. Das neue Leben in England 116 8.1. Ankunft in England 116 8.1.1. Aufnahmelager für die „nicht-garantierten Kinder“ 117 8.2. Suche nach geeigneten Pflegeeltern 119 8.3. Unterbringung 121 8.3.1. In Familien 121 8.3.2. In Heimen 124 8.3.2.1. Youth Aliyah 125 8.3.2.2. Harris House 126 8.3.2.3. Das Haus der Schlesingers 127 8.4. Das Problem der Schulausbildung 129 8.5. Aussichten auf dem Arbeitsmarkt 132 8.6. Probleme bei der religiösen Erziehung der Kinder 134 8. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Kindertransporte 9.1. Der letzte Kindertransport 137 137 9.2. Re-Emigration 139 9.3. Evakuierung 140 9.4. Internierung 142 5 9. Kriegsende und die damit verbundenen rechtlichen Fragen 10.1. Vormundschaft 10.2. Staatsbürgerschaft und Adoption 146 146 147 10.3. Suche nach den Familien und Aussichten auf Wiedervereinigung 10.4. Das Ende des RCM 148 150 11. Rückblick 151 Literaturverzeichnis 154 6 0. Vorbemerkung Diese Arbeit ist in der neuen Rechtschreibung verfasst, und zwar auf der Basis des Bertelsmann Rechtschreibkonverters. 7 1. Einleitung Es wurde oft gesagt, dass man im Grunde viel mehr hätte tun müssen, um die Vernichtung der Juden oder das Fortschreiten des Hitlerregimes zu stoppen. Auch hört man oft, dass etliche viel mehr hätten ausrichten können, wenn sie nur gewollt hätten. In dieser Arbeit jedoch wird aufgezeigt, dass es Menschen gab, die ungeachtet der Gefahr, in die sie sich begaben oft bis zum bitteren Ende und mit letzter Kraft versucht haben, viele Menschenleben zu retten, oder das Leben der Verfolgten so weit wie möglich zu erleichtern. Dennoch soll keinesfalls ein beschönigender Eindruck entstehen. Der Nationalsozialismus und das Dritte Reich ist eines der dunkelsten Kapitel unserer Weltgeschichte. Auch wenn es Menschen gab, die Widerstand leisteten, so war es doch nur ein sehr geringer Anteil. Selbst diejenigen, die einfach nur wegsahen, machten sich im Grunde mitschuldig. Diese Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Zu Beginn soll die Entwicklung der politischen Situation im Dritten Reich kurz in einer tabellarischen Form dargestellt werden. Im ersten Teil wird speziell auf die Situation der jüdischen Kinder eingegangen, die oftmals gar nicht verstanden, was in dieser Zeit passierte: Plötzlich durften sie nicht mehr mit ihren „arischen“ Freunden spielen und mussten sogar die Schule verlassen, die sie zuvor jahrelang besucht hatten. Ihre Eltern waren von heute auf morgen arbeitslos oder wurden sogar kurzfristig verhaftet, und auf der Straße wurden sie beschimpft. Teilweise verließen sie sogar mit ihren Familien das Land. Für die Kinder brach die Welt, in der sie aufgewachsen waren, zusammen, und niemand konnte ihnen einen plausiblen Grund dafür nennen. Aber nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen fühlten sich in der Situation überfordert. Sie versuchten Hilfe bei der Auswanderung oder finanziellen und seelischen Nöten zu 8 bekommen, wo es nur möglich war. In diesem Zusammenhang wird aufgezeigt, in welcher Weise die Kirchen und religiösen Gruppen auf die entstandene Situation reagierten. Neben der direkten Hilfe an ihren „nichtarischen“ Mitbürgern wird dargestellt, wie sich die Kirchen dem Nationalsozialismus stellten und welche Schwierigkeiten sich daraus für sie ergaben. Hierbei werden die Bekennende Kirche, die Katholische Kirche und die Quäker angeführt und deren Widerstand und Hilfsaktionen aufgezeigt. Am Schluss wird kurz auf die Zeugen Jehovas eingegangen, die zwar keine direkte Hilfe an ihren Mitmenschen leisteten, aber dennoch einen beachtenswerten Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, der ihre radikale Verfolgung bis in den Tod zur Folge hatte. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt im dritten Teil, in dem eine eindrucksvolle Hilfsaktion für jüdische Kinder aus Deutschland akzentuiert werden wird: Die Aktion der „Kindertransporte“. Wobei vorneweg zu bemerken wäre, dass der Begriff „Kindertransport“ ebenso negativ ausgelegt werden kann. In der niederländischen Interpretation beispielsweise wird unter diesem Begriff der Transport von Kindern in Konzentrationslager und Vernichtungslager, verstanden. Durch die Kindertransporte gelang es etwa 10.000 jüdischen Kindern, Deutschland über Holland zu verlassen, um von dort aus mit einem Schiff nach England auszuwandern, so dass sie dort eine Möglichkeit erhielten, ihr Leben zwar ohne die Eltern, aber auch vor dem nationalsozialistischen Terrorregime geschützt, zu führen. Sie wurden entweder von englischen Familien aufgenommen, oder kamen in extra für diesen Zweck eingerichtete Heime. Um die Situation, in der die „Kindertransporte“ entstanden, zu verdeutlichen wird sowohl auf die britische Flüchtlingspolitik zu dieser Zeit, als auch auf die Umstände, die zur Verwirklichung dieser Transporte führten, eingegangen. Dabei ist zu bemerken, dass es nicht nur die „Kindertransporte“ über Holland nach England 9 gab, sondern vergleichbare Aktionen auch schon nach dem Ersten Weltkrieg oder in der Tschechoslowakei stattfanden. Diese Arbeit beschäftigt sich aber ausschließlich mit den englischen „Kindertransporten“ und verdeutlicht, vor welche Probleme die Kinder gestellt wurden. Nicht nur, dass sie ihre Eltern verloren, die sie zum Teil nie mehr wieder sahen, sondern auch, dass sie in ein für sie völlig fremdes Land kamen und meist noch nicht einmal die Sprache verstanden. Diejenigen Kinder, die keinen Platz in einer Familie bekamen, mussten in Heimen leben und fühlten sich oft sehr einsam. Ein weiteres Problem stellte die schulische Ausbildung oder die Berufswahl dar. Auf Grund ihres Flüchtlingsstatus hatten sie natürlich nicht die gleichen Rechte wie britische Kinder. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Kinder vor weitere Probleme, wie die Evakuierung oder Internierung, gestellt. Darüber hinaus mussten besondere Regelungen für ihre Adoption oder den Erhalt der britischen Staatsbürgerschaft eingeführt werden. Diese Arbeit zeigt auf, dass durch die Aktion der Kindertransporte zwar vielen Kindern das Leben gerettet wurde, sie doch darüber hinaus vor vielen Problemen standen, die bei der Planung der Kindertransporte nicht unbedingt vorher absehbar waren. 1.1. Anmerkung zur verwendeten Literatur Das Thema der Kindertransporte, mit denen Kindern die Flucht aus Deutschland gelang, wurde lange Zeit in der literarischen Verarbeitung des Nationalsozialismus nicht behandelt. Der Nationalsozialismus in Deutschland und seine Folgen ist sehr ausführlich in der Literatur dokumentiert. Seit kurzem erst jedoch wendet sich die aktuelle Literatur auch dem Thema der Kindertransporte zu, wobei diese hauptsächlich auf 10 Aussagen ehemaliger „Kinder“ beruht. Darüber hinaus beschäftigt sich zum überwiegenden Teil die englische Literatur mit diesem Thema, da es kaum deutsches Archivmaterial zu dieser Aktion gibt. Aus diesem Grund war es sehr schwer, ausreichend Literatur zu diesem Thema zu finden. 11 2. Übersicht der historischen Ereignisse in Deutschland von 1933 bis 1945 Die Übersicht der historischen Ereignisse ist in tabellarischer Form ausgearbeitet, wobei die hier aufgeführten Daten aus dem fortlaufenden Text entnommen sind. Sollten die Daten nicht aus dem Text erkennbar, aber dennoch wichtig für den historischen Überblick sein, sind Literaturhinweise angegeben. Genauere Ausführungen beispielsweise der Gesetzesinhalte, sind ebenfalls dem Text zu entnehmen. Dieser zweite Punkt dient lediglich dazu, dem Leser einen historischen Überblick über die Ereignisse zu ermöglichen. 30.1.1933 – Adolf Hitler wird durch den Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler berufen.1 23.3.1933 – „Ermächtigungsgesetz“: Der neue Reichstag sollte Hitler umfassende Vollmachten geben. Vor allem sollte das Recht der Gesetzgebung auf die Reichsregierung übertragen werden.2 1.4.1933 – Boykott Geschäftsinhaber, der jüdischen Professoren, Geschäfte: Lehrer, Jüdische Studenten, Schüler, 3 Rechtsanwälte und Ärzte werden boykottiert. 7.4.1933 – Gesetz Berufsbeamtentums“, „zur daraufhin Wiederherstellung Entlassung von des politisch missliebigen und „nichtarischen“ Beamten. 7.4.1933 – „Gleichschaltungsgesetz“: In den Ländern werden Reichsstatthalter eingesetzt, die die Länderregierung ernennen um 1 Walter Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 – 1945. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1957, Zeittafel S. 368 2 Walther Hofer, S. 46 3 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1982, S. 205 12 Gleichschaltung voranzutreiben.4 25.4.1933 – Gesetz „gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“. 26.4.1933 – Hitler ernennt Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zu seinem Vertrauensmann für die evangelische Kirche.5 14.7.1933 – Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“: Unter dem Schlagwort „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ werden Menschen mit bestimmten Erbkrankheiten sterilisiert.6 20.7.1933 – Abschluss des Reichskonkordates mit dem Vatikan. 22.9.1933 – Gründung der „Reichskulturkammer“: Juden werden von der obligatorischen Mitgliedschaft in den verschiedenen Einzelkammern der Reichskulturkammer (Theater, Presse, Musik, Film) ausgeschlossen.7 17.9.1933 – Gründung der „Reichsvertretung der deutschen Juden“: Die neu gegründete „Reichsvertretung der deutschen Juden“ (Vorsitz: Rabbiner Dr. Leo Baeck) für alle jüdischen Menschen und Vereinigungen, leistet Hilfe bei der Auswanderung und beim Berufswechsel, bei der Gründung jüdischer Schulen und auf sozialen und kulturellen Gebieten.8 Mai 1934 – Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen. Juni/Juli 1934 – „Röhm-Putsch“: aus Angst vor einer sozialistischen Revolution werden der Stabschef der SA, Ernst Röhm und weitere politische Gegner ermordet.9 2.8.1934 – Tod von Hindenburgs, Hitler übernimmt das Amt des Reichspräsidenten.10 19./20.10.1934 – Bekenntnissynode der zweiten vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche in Berlin-Dahlem. 4 Ebd., S. 195 Eberhard Bethge (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften, Zweiter Band, Chr. Kaiser Verlag, München 1965, aus der Zeittafel, die dem Buch extra beiliegt. 6 dtv-Atlas zur Weltgeschichte S. 205 7 Ebd., S. 195 8 Ebd., S. 205 9 Ebd., S. 195 5 13 16.3.1935 – Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht.11 10.9.1935 – Erlass über die „Rassentrennung an öffentlichen Schulen“. 15.9.1935 – „Nürnberger Gesetze“: „Reichsbürgergesetz“ (Verlust der bürgerlichen Gleichberechtigung für Juden), „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (Verbot „rassischer“ zwischen Mischehen Juden und und des „außerehelichen Staatsangehörigen Verkehrs deutschen oder artverwandten Blutes“). Für Juden ist das Hissen der Reichsflagge verboten und die Beschäftigung nichtjüdischer weiblicher Angestellter unter 45 Jahren. Während der nächsten Jahre Erlass von 13 Ergänzungsverordnungen zum „Reichsbürgergesetz“, um den Ausschluss der Juden aus der staatlichen Gemeinschaft auf juristischem Weg rechtskräftig machen zu können.12 26.8.1936 – Hitler fordert in einer geheimen „VierjahresplanDenkschrift“ die Armee und die Wirtschaft auf, binnen vier Jahren kriegsfähig zu sein.13 August 1936 – Olympische Sommerspiele in Berlin.14 30.9.1937 – Bekanntgabe des Himmlererlasses vom 29. August betreffend des Verbots von Ersatzhochschulen und Ausbildung der BK.15 4.2.1938 – Hitler wird Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht.16 13.3.1938 – „Anschluss“ Österreichs: Österreich wird mit dem Deutschen Reich wieder vereinigt.17 28.3.1938 – Die jüdischen Kultusvereinigungen werden 10 Ebd. Walther Hofer, Zeittafel S. 369 12 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205 13 Walther Hofer, S. 84 14 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 197 15 Eberhard Bethge, Zeittafel 16 Ebd. 17 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 197 11 14 „eingetragene Vereine“.18 26.4.1938 – Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens über 5.000 RM ( –› Vorbereitung für die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben).19 25.7.1938 – Jüdischen Ärzten wird die Zulassung entzogen, ausgenommen bei der Behandlung von Juden. Sie dürfen ab jetzt nur den Titel „Krankenbehandler“ führen.20 17.8.1938 – Es sind nur noch bestimmte Vornamen für Juden erlaubt. Soweit sie noch andere Vornamen tragen, müssen sie ab dem 1.1.1939 „Israel“ bzw. „Sara“ ihren Vornamen zufügen.21 27.9.1938 – Jüdischen Rechtsanwälten wird die Zulassung entzogen; als Rechtsberater von Juden heißen sie jetzt „Konsulenten“.22 5.10.1938 – Alle Reisepässe deutscher Juden werden mit einem “J“ gekennzeichnet.23 7.11.1938 – Attentat auf den Gesandtschaftsrat von Rath in Paris durch Herschel Grynszpan.24 9./10.11.1938 – Organisierte Pogrome in ganz Deutschland („Reichskristallnacht“): Als Grund wurde die Ermordung des deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath in der Deutschen Botschaft in Paris von Herschel Grynszpan am 7.11.1938 angegeben. In der Nacht vom 9. Auf den 10. November begannen Gewaltaktionen gegen jüdische Geschäfte, Wohnungen, Schulen und Synagogen.25 10.11.1938 – Die Geschäftsstelle der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ wird geschlossen, die meisten ihrer führenden Persönlichkeiten verhaftet und Leo Baeck unter Hausarrest 18 Ebd., S. 205 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 19 15 gestellt. Als die Gestapo die Wiedereröffnung von Leo Baeck fordert, stellt er die Bedingung, dass Otto Hirsch und Arthur Lilienthal aus dem KZ entlassen werden.26 Die „Reichsvertretung“ wird am 4.7.1939 zur „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ und war in ihrer Funktion stark eingeschränkt.27 12.11.1938 – „Sühneleistung“: Den Juden wird 1 Milliarde Reichsmark als Sühneleistung für die Wiederherstellung der Sachschäden, die durch den Novemberpogrom entstanden sind, auferlegt (–› Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben (››Zwangsarisierung‹‹).28 15.11.1938 – Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. 3.12.1938 – Anordnung des Chefs der Deutschen Polizei: „Mit sofortiger Wirkung untersage ich sämtlichen in Deutschland wohnenden Juden deutscher Staatsangehörigkeit das Führen von Kraftfahrzeugen aller Art.“29 3.12.1938 – Alle ››kulturellen‹‹ Institute, Bäder und Straßen im Regierungsviertel sind für Juden verboten.30 Ab Juni 1939 – Zwangsverkäufe jüdischen Eigentums: Außer Eheringen müssen Juden alle Gegenstände aus Gold, Silber, Platin sowie Edelsteine und Perlen abgeben. Darüber hinaus dürfen sie keine Grundstücke mehr erwerben.31 26 Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1945: Die Geschichte einer Austreibung. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, unter Mitwirkung des Leo Baeck Instituts, New York. Buchhändlervereinigung, Frankfurt am Main 1985, S. 251 27 Walther Hofer, S. 273 28 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205 29 Hans Donald Cramer: Das Schicksal der Goslarer Juden 1933-45. Eine Dokumentation, Selbstverlag des Geschichts- und Heimatschutzvereins Goslar e.V., Goslar 1986, S. 41 30 Dr. Hermann Meyer und Wilhelm Langenbeck (Hrsg.): Weltgeschichte im Aufriss. Arbeits- und Quellenbuch. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Verlag Moritz Diesterweg, Berlin 1970, S. 217; zitiert nach: Jochen Klepper: Unter dem Schatten Deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942, Stuttgart 1956. 31 Ebd. 16 1939 – Durch die Verschärfung der Lage der deutschen Juden, vermehrte Auswanderungsbestrebungen. 1.9.1939 – Beginn des deutschen Angriffs auf Polen. Mit der Besetzung Polens beginnt die Liquidation von Juden in Polen. Zunächst werden sie in Ghettos und Arbeitslagern untergebracht; bis 1941 Ermordung am Ort bzw. ab 1942 Transport in die Vernichtungslager.32 1.9.1939 – Anordnung der örtlichen Polizeibehörden über die Ausgehzeit der Juden: Juden dürfen sich im Sommer nach 21 Uhr und im Winter nach 20 Uhr nicht außerhalb ihrer Wohnung aufhalten.33 3.9.1939 – Kriegserklärung der Westmächte.34 Oktober 1939 – „Euthanasieprogramm“: ››unheilbar Kranken wird der Gnadentod gewährt‹‹. „Für die Durchführung der verbrecherischen Willkürakte (Tötung von 70.000 Menschen bis August 1941) sind neben dem Krankheitsmerkmal auch ››Arbeitsunfähigkeit‹‹ und ››Rasse‹‹ ausschlaggebend.35 4.8.1940 – Fernsprechanschlüsse von Juden werden eingezogen.36 21.7.1941 – „Endlösung der Judenfrage“: SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich wird durch Göring mit der „Endlösung der Judenfrage“, der biologischen Vernichtung des Judentums, beauftragt.37 1.9.1941 – Juden müssen ab Vollendung des 6. Lebensjahres auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest angenäht einen gelben „Judenstern“ tragen.38 23.9.1941 – Versuchsvergasungen in Auschwitz.39 32 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 197f Hans Donald Cramer, S. 47 34 Eberhard Bethge, Zeittafel 35 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205 36 Dr. Hermann Meyer und Wilhelm Langenbeck (Hrsg.), S. 217 37 dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205 38 Walther Hofer, S. 297 39 Ebd., Zeittafel S. 371 33 17 16.10.1941 – Erste nächtliche Massendeportation von Juden aus Berliner Häusern.40 20.1.1942 – „Wannsee-Konferenz“: Arbeitseinsatz in Arbeitskolonnen; Abtransport aller europäischen Juden nach Osten.41 Besprechung über die Endlösung der Judenfrage.42 9.6.1942 – Anordnung über die Ablieferung von Kleidungsstücken: Juden haben alle entbehrlichen Kleidungsstücke abzuliefern.43 19.6.1942 – Anordnung über Ablieferung von optischen Geräten.44 26.6.1942 – Anordnung über die Einhaltung von Einkaufszeiten: Juden haben die für sie festgelegten Einkaufszeiten genau einzuhalten.45 30.6.1942 – Bis zu diesem Zeitpunkt müssen sämtliche jüdische Schulen geschlossen werden, ab dem 1.7.1942 ist die Beschulung jüdischer Kinder verboten. 18.2.1943 – so Genannte „Sportpalastrede“ (Aufruf Goebbels an die Bevölkerung und die Verkündung des „totalen Krieges“.)46 20.7.1944 – Von Stauffenbergs misslungenes Attentat auf Hitler.47 30.4.1945 – Selbstmord Hitlers.48 9.5.1945 – Bedingungslose Kapitulation Deutschlands und Ende der Feindseligkeiten in Europa.49 40 Eberhard Bethge, Zeittafel dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205 42 Walther Hofer, Zeittafel S. 371 43 Hans Donald Cramer, S. 55 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Walther Hofer, S. 250 47 Eberhard Bethge, Zeittafel 48 Ebd. 49 Walther Hofer, Zeittafel S. 372 41 18 3. Jüdische Kindheit unterm Hakenkreuz 3.1. Die Entwicklung des jüdischen Schulwesens 3.1.1. Weimarer Verfassung Der nationalsozialistische Terror, dem die jüdischen Kinder schon früh ausgesetzt waren, begann zunächst langsam und versteckt. Dennoch war es so, dass sich der Terror gegen die Kinder in einem ganz besonderen Maß darstellte. „Weil jüdische Kinder als eine Gefahr für die Sicherheit des Staates galten, war ihre Zukunft seit Beginn der Besatzung besiegelt.“50 In der Weimarer Verfassung war die Gleichberechtigung der jüdischen Schüler/innen und Schulen noch fest verankert. So besagt §146, dass „bei der Aufnahme eines Kindes nur seine Anlage und Neigung, nicht aber die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend sind. Die Erziehungsberechtigten können die Einrichtung besonderer Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung beantragen.“ Die Weimarer Verfassung blieb zunächst auch im Dritten Reich noch in Kraft. Der Paragraph 145, der die allgemeine Schulpflicht der Kinder regelt, war sogar bis Mitte 1942 auch für jüdische Schüler/innen bindend.51 50 George Eisen: Spielen im Schatten des Todes. Kinder im Holocaust, Piper Verlag, München , 1993, S. 31 51 Joseph Walk: Jüdische Schule und Erziehung im Dritten Reich. Verlag Anton Hain Meisenheim GmbH, Frankfurt am Main 1991, S. 47 19 3.1.2. Der Plan zur Ausschließung der Juden aus dem deutschen Schulwesen Schon im Parteiprogramm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP) vom 24.2.1940 ist das Vorhaben der Ausschließung der jüdischen Bevölkerung aus dem deutschen Staats- bzw. Schulwesen zu erkennen: Punkt 4 des Programms besagt: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“52 Die preußische Landesfraktion der NSDAP forderte Anfang März 1933 sogar schon, dass sämtliche jüdische Lehrpersonen mit sofortiger Wirkung von Unterrichtsanstalten zu beurlauben bzw. zu entlassen seien und dass die Anzahl jüdischer Schüler/innen und Studentinnen und Studenten einen bestimmten Prozentsatz an öffentlichen Schulen oder Hochschulen nicht überschreiten darf. Diese Forderungen konnten anfänglich jedoch nicht verwirklicht werden.53 Der preußische Erziehungsminister Rust führte daraufhin am 20.2.1933 die Prügelstrafe wieder ein, die sich in erster Linie gegen die jüdischen Schüler/innen richtete, um die „Schulzucht“ aufrecht zu erhalten.54 3.1.3. Jüdische Schulen vor 1933 Schon vor 1933 gab es eine große Anzahl jüdischer Schulen, in denen sich aber die streng jüdische Erziehung meist nur auf den zweistündigen wöchentlichen jüdischen Religionsunterricht beschränkte. Statistische Zahlen hierzu sind leider nur sehr 52 Das Programm der NSDAP mit Erläuterungen, in: Joseph Walk, S. 48 Israelitisches Familienblatt, in: Joseph Walk, S. 49 54 Benno Schmoldt (Hrsg.): Schule in Berlin. Gestern und Heute. S. 64, in: Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler in der NSZeit – Leerstellen deutscher Erziehungswissenschaft?, Verlag Wehle, Bonn 1998, S. 123 53 20 lückenhaft. So besuchten im Schuljahr 1931/32 28.639 jüdische Kinder öffentliche Volksschulen, was etwa 0,38% der Gesamtzahl ausmacht. Zahlen für höhere Schulen lagen im Jahr 1932 nur für Preußen vor. So betrug der Anteil der jüdischen Jungen 3,1% und der Anteil der jüdischen Mädchen 5,1%. Im Jahr 1932/33 gab es etwa 60.000 schulpflichtige jüdische Kinder und etwa 150 jüdische Schulen insgesamt, wobei es meist kleine Volksschulen waren. Nur in größeren Orten gab es auch größere Schulen.55 3.1.4. Die Ausschließung der Juden aus dem deutschen Schulwesen Die Ausschließung der jüdischen Schüler/innen und Lehrer/innen aus dem deutschen Schulwesen begann zunächst langsam. Die ersten offiziellen Maßnahmen begannen Anfang 1933. Am 25.4.1933 erging das Gesetz „gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“, wonach bei „Neuaufnahmen der Anteil der Reichsdeutschen, die [...] Nichtarier sind, einheitlich für das Reichsgebiet 1,5% nicht übersteigen soll“56. Ausgenommen waren nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, „Reichsdeutsche nichtarischer Abstammung, deren Väter im Ersten Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder seiner Verbündeten gekämpft haben, sowie auf Abkömmlinge aus Ehen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen sind, wenn ein Elternteil oder zwei Großeltern arischer Abkunft sind.“57 Im Mai 1933 forderte der Münchener Stadtverordnete Josef Bauer die Errichtung von jüdischen Bekenntnisschulen für jüdische Kinder, unter dem Vorwand, „das Empfinden und Fühlen der jüdischen 55 S. Adler-Rudel: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1974, S. 19f 56 Ebd., S. 21 57 Reichsgesetzblatt, herausgegeben vom Reichsministerium des Innern, Berlin 21 1933-1939, in: Joseph Walk, S. 49 22 Schulkinder könnte beim neu einzuführenden Rassekundeunterricht verletzt werden“. Im Prinzip wollte er jedoch schlicht die jüdischen Schüler/innen aus dem deutschen Schulwesen verdrängen.58 3.1.5. Die Errichtung jüdischer Bekenntnisschulen Im Zuge der offensichtlich werdenden Verdrängung aus dem deutschen Schulwesen beschloss die Reichsvertretung der jüdischen Landesverbände Deutschlands am 25.6.1933, einen Erziehungsausschuss einzusetzen, der sich zum einen um den Erhalt jüdischer Bildungsanstalten in Deutschland und dessen Förderung kümmern, auf der anderen Seite neue jüdische Schulen gründen sollte. Des Weiteren sollte das jüdische Erziehungswesen neu gestaltet werden. Nach der Gründung der Reichsvertretung der deutschen Juden am 17. September 1933 wurde das Schulreferat dort eingegliedert.59 Immer mehr jüdische Schüler/innen wechselten nun auf die konfessionell geführten Schulen, was nicht nur auf die staatlichen Forderungen zurückzuführen war. Die Ablehnung im Land wurde immer größer. Oft mussten sich die jüdischen Kinder Anfeindungen von Klassenkameraden, Lehrern oder sogar von anderen Eltern gefallen lassen. So schreibt beispielsweise die Elternschaft einer Volksschule in Hamburg 1935, dass „es doch wohl nicht ganz richtig sei, dass jüdische Kinder in deutschen Schulen unterrichtet werden“. Als Gründe werden u.a. genannt: „1. Die Gegenwart der Juden verletzt das germanische Empfinden; 4. Der Deutsche baut die Schulen und Schulheime, der Jude macht sich breit, oft sogar in unverschämter Weise.“60 Am 7.8.1935 wurde den Ländern bekannt gegeben, dass die 58 Ebd., S. 51 S. Adler-Rudel, S. 21f 60 Wilhelm Sommer: Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus, Klett Verlag, Stuttgart 1984, S. 18 59 23 Errichtung jüdischer Bekenntnisschulen in Vorbereitung sei. Die einzig mögliche gesetzliche Lösung lag jedoch darin, dass die jüdischen Schulen von staatlichen und städtischen Zuschüssen gefördert werden mussten, da die Schulabteilung der Reichsvertretung der deutschen Juden zu wenig Möglichkeiten für die Finanzierung neuer Einrichtungen hatte.61 Auf Grund der weiterhin bestehenden Schulpflicht für jüdische Kinder sollten öffentliche Volksschulen für Juden errichtet werden. Hierfür mussten aber mindestens 20 Schüler/innen vorhanden sein. Gerade für die ca. 11.000 schulpflichtigen Kinder in kleineren Orten ergaben sich daraus Probleme, da sie diese Mindestzahl an Schüler/innen oft nicht vorweisen konnten. Man errichtete darum Bezirksschulen, was längere Schulwege oder möglicherweise die direkte Unterbringung vor Ort in Gastfamilien oder Heimen zur Folge hatte. Die daraus resultierenden höheren Kosten konnten die jüdischen Gemeinden kaum aufbringen. Darüber hinaus bestanden Probleme bei der Raumbeschaffung. So musste die Schulabteilung also weitere behördliche Maßnahmen abwarten. Doch die Entwicklung des jüdischen Schulwesens stagnierte zunächst, da die Neuregelungen der Nationalsozialisten nicht erfolgten. Man ging dazu über, jüdische Schüler/innen in besonderen Schuleinrichtungen zusammenzufassen.62 Die Ausgrenzung nahm dann schnell andere Formen an: Schulgeld, freie Lehrmittel oder Erziehungshilfen wurden gestrichen. Auch der Besuch von Landschulheimen wurde den jüdischen Kindern untersagt. Die jüdischen Schüler/innen wurden immer mehr in die Rolle von „Gastschülern“ gedrängt. Sogar die Aufnahme an höheren Schulen wurde ihnen verweigert. Obwohl gesetzlich noch nichts festgelegt war, „wurde ihr Lebensraum systematisch eingeengt“. Auch die Neueinstellung jüdischer Lehrer/innen wurde verhindert.63 Am 10.9.1935 erging der Erlass 61 Joseph Walk, S. 52 S. Adler-Rudel, S. 27 63 Joseph Walk, S. 52f 62 24 über die „Rassentrennung an öffentlichen Schulen“. Dieser sollte keinesfalls gewalttätig durchgeführt werden, da auf Grund der bevorstehenden Olympiade das ausländische Interesse an Deutschland recht groß war und man kein unangenehmes Bild von den Zuständen in Deutschland präsentieren wollte. Finanzielle Unterstützung für die bestehenden oder neu zu gründenden Privatschulen wurde zugesagt, ohne jedoch genaue Angaben über ihren Umfang zu machen.64 3.1.6. Auswirkungen des Reichsbürgergesetz und des Novemberpogroms auf das jüdische Schulwesen Am 15.9.1935 trat das Reichsbürgergesetz (Nürnberger Rassegesetz) in Kraft. Daraufhin mussten jüdische Beamte mit Ablauf des 31. Dezembers 1935 in den Ruhestand treten. Sie durften nur noch an öffentlichen jüdischen Schulen unterrichten.65 Da im Zuge Auswanderung der Nürnberger nach Israel Gesetze gerechnet vermehrt wurde, mit der setzte die Reichsvertretung der deutschen Juden ihre Schwerpunkte im Schulwerk auf die „Hinführung zu handarbeitenden Berufen und das Erlernen der hebräischen Sprache“.66 1937 besuchten bereits 61,27% der jüdischen Schüler/innen jüdische Schulen. Weiterhin wurde versucht, das jüdische Schulwesen mit den begrenzten Mitteln so weit wie möglich zu fördern. Im Juli 1937 wurde ein neuer Erlass veröffentlicht Reichsbürgergesetz auf mit das dem Titel: Schulwesen“. „Auswirkung In ihm des wurde festgehalten, dass die Erziehung jüdischer Schüler/innen zu gegebener Zeit gesetzlich geregelt werden soll. Weiterhin sollen besondere Sammelklassen dort errichtet werden, wo keine Möglichkeiten für abgesonderte Schulen bestehen. Diese mussten 64 65 Ebd., S. 53 Ebd. 25 als „Bestandteil der öffentlichen Schulen nach allgemeinen Vorschriften“ unterhalten werden. Die Lehrer/innen 66 S. Adler-Rudel, S. 25 26 sollten entweder Juden oder „Mischlinge“ sein, bei gleichem Verdienst wie arische Lehrer/innen. Das Gesetz gegen die Überfüllung bei mittleren, höheren und Fachschulen wurde nochmals hervorgehoben. Die „verschärfte Abtrennung“, wie bereits 1935 gefordert, erfolgte jedoch nicht.67 Ende 1937 wurden auch die jüdischen Lehrer/innen an öffentlichen jüdischen Schulen aus dem Beamtentum entlassen, was zu dem Ausschluss des jüdischen Lehrers aus dem deutschen Schulwesen führte.68 Im Mai 1938 besuchten nur noch ca. 25% der jüdischen Schüler/innen deutsche, nichtjüdische Schulen.69 Auf den Novemberpogrom folgte am 15. November 1938 der Erlass, dass alle jüdischen Schüler/innen mit sofortiger Wirkung vom allgemeinen Schulwesen auszuschließen sind: „Eine halbe Stunde später kam der Direktor herein und hielt einen langen Vortrag über ich weiß nicht mehr was. Auf einmal sagte er zu mir: „Raus mit dir, du Drecksjude!“ Ich hörte, was er sagte, aber das konnte doch gar nicht sein! Das ist doch der Herr Direktor, das ist doch ein guter Mann, seine Tochter ist eine meiner Klassenkameradinnen, er kann das doch gar nicht gesagt haben. Da habe ich ihn gebeten, das zu wiederholen, und er hat es wiederholt und nahm mich am Ellbogen und schubste mich aus der Tür.“70 Das stellte die Reichsvertretung der deutschen Juden vor unüberwindbare Schwierigkeiten, da die Finanzierung des Schulwesens kaum möglich war. Durch die Zerstörung von Gebäuden während des Pogroms gab es kaum noch Möglichkeiten für die Unterbringung von Bezirksschulen. Auch die Auswanderung vieler jüdischer Familien erschwerte die 67 Ebd., S. 29 Joseph Walk, S. 54 69 S. Adler-Rudel, S. 30 70 Entnommen aus einem Vortrag von Hedy Epstein: „Vergesse deine lieben Eltern nicht.“ Sie selbst ist im Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England gekommen. Dieser Vortrag wurde vor Schüler/innen der Berufsbildenden Ennepetal am 18.6.1991 gehalten und ist eine Abschrift der Videoaufnahme. Leider kann ich keine näheren Literaturangaben machen, da dieser Vortrag aus 68 27 Suche nach neuen dem Internet entnommen ist und ich keine Homepage-Adresse dazu habe. 28 vorübergehenden Wohnplätzen für die Schüler/innen, die die Bezirksschulen besuchten. Zudem wurden die erforderlichen Zuzugsgenehmigungen verweigert.71 Zuletzt verordnete der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, „sämtliche jüdische Schulen bis zum 30. Juni 1942 zu schließen und ihren Mitgliedern bekannt zu geben, dass ab dem 1. Juli 1942 jegliche Beschulung jüdischer Kinder durch besoldete und unbesoldete Lehrkräfte untersagt ist“.72 3.2. Der Schulalltag jüdischen Kinder während der Nazi-Zeit In der Zeit des Nationalsozialismus mussten die jüdischen Kinder große menschliche Enttäuschungen hinnehmen. Oft zerbrachen Freundschaften an dem nationalsozialistischen System. Da aber gerade im Schulalltag die Freundschaft sehr wichtig ist, kann man sich vorstellen, wie schlimm diese Diskriminierungen für die Kinder waren. Teilweise entstand ein irreparabler Bruch. Sie wurden von ihren Mitschülern, mit denen sie zuvor jahrelang befreundet waren, ausgestoßen, verachtet und geschlagen, nur weil sie Juden waren.73 „Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich das letzte Jahr der Volksschule überspringen durfte. Der einzige andere Schüler, der mit mir übersprungen hat, war ein Junge mit Namen Edgar Feucht. Wir haben mehrere Nachhilfestunden zusammen in Freundschaft genommen. Aber nach dem Regierungswandel war er sehr böse zu mir, hat mich geschlagen und andere auf mich gehetzt.“74 71 S. Adler-Rudel, S. 31f Ebd., S. 33 73 Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 179 74 Benjamin Ortmeyer (Hrsg.): Berichte gegen Vergessen und Verdrängen von 72 29 1936 nahmen die Diskriminierungen immer mehr zu, als die jüdischen Schüler/innen zunehmend von den öffentlichen Schulen vertrieben wurden und gezwungen waren, jüdische Klassen oder Schulen zu besuchen. Leider gibt es keine oder nur kaum ehrliche Schilderungen von nichtjüdischen Schüler/innen, wie und warum sie plötzlich die zuvor engen Freundschaften mit ihren jüdischen Mitmenschen lösten. Die bösartigen Aggressionen gegen ihre jüdischen Mitschüler/innen nahmen im Laufe der Zeit unglaubliche Ausmaße an, worüber die meisten Opfer bis heute noch nicht hinweggekommen sind.75 Doch es gab nicht nur die Schulen oder Klassenräume selber, in denen die jüdischen Kinder gepeinigt wurden. Auch in den Pausen oder bei außerschulischen Veranstaltungen wurde kein Hehl aus der Abneigung gegen sie gemacht. Das Schlimmste schien allerdings der Schulweg zu sein. Hier waren die jüdischen Kinder ganz massiv den Anfeindungen ausgesetzt. Sie wurden beschimpft, bespuckt oder verprügelt. In vielen Berichten von jüdischen Schüler/innen ist von der „täglichen Qual auf dem Weg zur Schule“ die Rede. Bezeichnend war auch, dass sich die „kleinen Nazis“ zunächst die Allerschwächsten, wie beispielsweise die Behinderten aussuchten, um sie zu beschimpfen oder zu schlagen.76 „Der Weg zur Schule war eine tägliche Qual, da uns die „deutschen“ Kinder ununterbrochen mit Schimpfwörtern peinigten wie: „Schweinehund“, „Schweinejude“, usw. Unseren jüdischen Jungen wurden vielmals die Mütze vom Kopf runtergerissen. Wenn wir „deutsche“ Kinder entgegenkommen sahen, kreuzten wir die Straße, aber meistens verfolgten sie uns dann auf der anderen Seite.“77 Auffallend in den Berichten der jüdischen Kinder ist auch, dass sie ihren Eltern nur selten von den täglichen Qualen erzählten, da sie 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt am Main, Verlag Wehle, Witterschlick/Bonn, 1995, S. 64 75 Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 179 76 Ebd. S. 181f. 77 Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen, S. 28 30 wussten, wie sehr die Eltern unter dieser Situation, in der die Kinder waren, litten. „Die Eltern litten mit den Kindern, die Kinder mit den Eltern und so wurde gegenseitiger Trost schwer, oft sogar unmöglich und die alltägliche Qual dadurch noch größer.“78 Das Schlimme an dieser Situation war auch, dass die jüdischen Kinder keinerlei Hilfe und Unterstützung von den Lehrern oder der Polizei erwarten konnten. Das Gegenteil war oft sogar der Fall. Auch die Lehrer/innen zeigten ganz deutlich ihre Abneigung gegen die jüdischen Schüler/innen und diskriminierten sie während des Unterrichts. Marcel Reich-Ranicki bezeichnet den Prototyp des durchschnittlichen Nazi-Lehrers als „korrekt und hirnlos“, der, wenn man von ihm verlangt hätte, dass jüdische Kinder nur stehend unterrichtet werden durften oder nur barfuß die Schule hätten betreten dürfen, es ohne Skrupel getan hätte. 79 Viele Kinder kamen mit den Gemeinheiten, die ihnen entgegengebracht wurden, nicht klar und oft brachten sie ihr Leben aus dem Gleichgewicht: „Folgendes trug sich in einer Zeichenstunde zu: Unsere Lehrerin war ein älteres Fräulein und glühende Nazi-Anhängerin. Wir sollten ein Gesicht malen, und ich, unfähig dazu, selbst wenn mein Leben davon abhinge, produzierte eine seltsame Mischung aus Mondgesicht und Profil. Vielleicht hätte das Ganze als ein früher Picasso durchgehen können, es war aber sicherlich unvereinbar mit dem nationalsozialistischen Realismus. Aber statt mich freundlich zurechtzuweisen und mir zu helfen, ließ die Lehrerin mich vor die Klasse treten und den spottenden Kameraden das Ergebnis meiner Bemühungen zeigen. Dabei ging sie auch noch näher ein auf die verdrehte Weltanschauung meines jüdischen Geistes. Sie beendete ihre Lektion mit einem plötzlichen, harten Schlag mitten in mein Gesicht. Diese Wunde ist nie ganz verheilt, ich fühle sie immer 78 Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 183 Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Meine Schulzeit im Dritten Reich, in: Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 185 79 31 noch.“80 Die sadistischen Handlungen der Lehrer nahmen immer extremere Formen an. „Ein Judenhasser erster Klasse. Auf mich hatte er einen besonderen Piek. Obwohl er wusste, dass ich Jude war, musste ich ihm immer wieder Nazilieder vorsingen, und er begleitete mich auf seiner Geige. Oft musste ich „Köpfe rollen, Juden heulen“ singen, bis einmal meine Mutter zu ihm ging und ihm klar machte, dass wir Österreicher seien, und wenn er sich nicht ändern würde, müsse er angezeigt werden. Danach wurde es etwas besser, jedoch verschlechterten sich meine Noten. In seiner sadistischen Weise bekam ich seinen Geigenbogen öfters auf meinem Kopf und meinen Händen zu spüren.“81 Für viele jüdische Schüler/innen war jedoch das schlimmste Beispiel von Antisemitismus die „Rassenkunde“. Auf Grund dieses Faches verließen viele Kinder die öffentlichen Schulen und wechselten zu den jüdischen. Ein weiteres Anliegen der NaziLehrer lag darin, aufzuzeigen, dass der Jude an sich dumm sei. So war es für jüdische Kinder kaum noch möglich, gute Noten zu bekommen: „Jüdische Kinder konnten keine bessere Note als drei erhalten“. Dies war zwar offiziell nirgendwo festgehalten, die Praxis zeigt jedoch, dass die jüdischen Schüler/innen in der Notengebung benachteiligt wurden.82 80 Ya’acov Friedler: Die leisen Abschiede. Geschichte einer Flucht, Reiner Padligur Verlag, Hagen 1993, S. 25f. Anmerkung: Ya’acov Friedler kam ursprünglich aus Oberhausen-Sterkrade – meiner Heimatstadt – und ging kurzfristig sogar auf die gleiche Schule wie ich. Seine Eltern führten ein kleines Geschäft, wahrscheinlich auf der Steinbrinkstrasse. Dort wo das Geschäft einmal gestanden hat, ist heute ein Parkplatz. Der Buchladen, indem ich dieses Buch gekauft habe ist direkt gegenüber des ehemaligen Geschäfts der Friedlers. Auf dieses Buch hin angesprochen erklärte mich der Buchhändler, dass seine Eltern sehr gut mit den Friedlers bekannt waren, da sie eben genau gegenüber von ihnen gewohnt haben. Im Oberhausener Stadtarchiv ist aber nichts über das Geschäft der Friedlers bekannt. Wie ich später aus dem Buch entnommen habe, liegt es daran, dass das Geschäft unter den Mädchennamen der Mutter geführt wurde, da dieser Name – Kaufmann – wesentlich deutscher klang, als Friedler. 81 Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen, S. 150 32 82 Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 188f 33 3.3. Außerschulische Diskriminierung Nicht nur in der Schule waren die jüdischen Kinder den antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Nach 1933 veränderte sich die gesamte gesellschaftliche Atmosphäre. Oft ist es sogar so, dass sich die Kinder gar nicht mehr daran erinnern können, was am Schlimmsten war, oder wo das alles anfing: Ob es die Schilder an den Läden waren mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“, oder die Aufmärsche der SA und deren Lieder, das Verbot der Besuche der Stadien, Theater, Schwimmbäder, Eislaufhallen oder öffentliche Plätze.83 Neben diesen Alltagsdiskriminierungen bekamen die Kinder natürlich auch die zentralstaatlich gesteuerten antisemitischen Terroraktionen mit, wie den Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933, die Nürnberger Rassengesetze 1935 oder den Novemberpogrom am 9./10.11.1938. Die Geschäfte der Eltern wurden geschlossen, ihre Existenzgrundlage zerstört und oft mussten sie sogar fliehen.84 Sie fühlten sich fast immer allein gelassen und „hatten schon vergessen, wie man lacht.“ „Die Leute um mich herum haben entweder gelacht oder auf die schlechten Juden geschimpft. Ich hatte plötzlich das Gefühl, eine Aussätzige zu sein, der sich keiner nähern wollte, denn ich war eine Jüdin, und mit Juden wollte keiner zu tun haben. Allein zu sein, das war ein schreckliches Gefühl.“85 3.4. Kleine Gesten der Sympathie Trotz der konsequenten Diskriminierung der Juden und speziell 83 Ebd., S. 189ff Ebd., S. 191f 85 Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen, S. 98f 84 34 der jüdischen Kinder gab es in dieser Zeit auch einige Menschen, die sich nicht dem Sog des Nationalsozialismus hingaben und versuchten dies, durch kleine Gesten ihren jüdischen Mitmenschen gegenüber deutlich zu machen. Oft waren es diese Gesten, die den jüdischen Kindern von damals bis heute in Erinnerung geblieben sind. Felix Adler schreibt über seinen Lehrer: „Wann immer es möglich war, mir ein gutes Wort zu geben oder eine freundliche Geste zu zeigen, tat er das, obwohl er sich damit gefährdete. Man konnte sehen, dass er ein Mensch war, der nicht billigte, was vor sich ging. „Stramme Nazis“ gab es viele, aber Ansätze von Widerspruch oder sogar Widerstand war meiner Erfahrung nach nicht existent.“86 Dennoch muss man sagen, dass diese Menschen die Ausnahme waren, und dass man durch sie keinesfalls die Taten der breiten Masse herunterspielen oder abmildern kann, denn im Grunde zählen auch die Personen zu dem Täterkreis, die gar nichts taten und stillschweigend zusahen, was vor sich ging. Tatsache ist aber auch, dass sich die Menschen, die versuchten, den Juden zu helfen, selbst schuldig machten Wenn man mit Juden gesehen wurde oder mit ihnen sprach, musste man mit gerichtlichen Konsequenzen rechnen. Man konnte sogar wegen Hochverrats angeklagt werden. 86 Ebd., S, 30 35 4. Die Haltung der Kirchen, Freikirchen und religiösen Gruppen 4.1. Bekennende Kirche (BK) 4.1.1. Vorgeschichte der BK Im Dritten Reich gab es ”nicht die Kirchenpolitik des Staates oder der NSDAP“87, sondern verschiedene Instanzen, die alle ihre eigene Politik betrieben. Aus diesem Grund ergibt sich ein sehr unübersichtliches Bild dieser Aktionen. Die evangelische Kirche war gegliedert in Landeskirchen, die selbstständige und unabhängige Verwaltungssysteme darstellten. 1922 kam es zum Zusammenschluss , dem „Deutschen Evangelischen Kirchenbund“. Dennoch blieben die Landeskirchen selbstständig. Auch konnte man bei den Kirchen einen versteckten, theologisch begründeten Antisemitismus nicht ganz von der Hand weisen, was Hitler dazu veranlasste, voraussetzen zu können, dass sie der Ausschaltung der Juden aus den öffentlichen Ämtern und der Volksgemeinschaft nicht im Wege stehen würden. In den Kirchen wurde oft die Meinung vertreten, dass man nicht gleichzeitig Jude und Deutscher sein konnte. Das galt für sie als Alternative.88 87 Andreas Lindt: Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische Heilslehren und ökumenischer Aufbruch. Verlag W. Kohlhammer GmbH. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1981. S. 169 88 Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Institut Kirche und Judentum, Tahlheimer Verlag, Berlin 1993, S. 37 36 4.1.2. Anfänge des Kirchenkampfs „In der Frage des Arierparagraphen wie überhaupt in der Judenfrage Kirche hat aufopferungsvolle die Bekennende Arbeit des Büros versagt, die nach der Grüber 89 Reichskristallnacht ausgenommen.“ Offensichtlich hatte Hitler nicht von Anfang an die Absicht, die Kirchen auszuschalten. Vielmehr versuchte er, die Kirchen gleichzuschalten, um sie dann nach und nach seinem Parteiprogramm anpassen zu können. Als er jedoch bemerkte, dass sich dieses Vorhaben nicht realisieren ließ, begann der Kampf zwischen Staat und Kirche, wobei Hitler es niemals ganz schaffte, die Kirchen auszuschalten. Auch nicht, als er den Kirchen immer größere Sanktionen auferlegte und immer stärker versuchte, sie zu unterdrücken. 1934 wurde der von vielen für unfähig gehaltene Reichsbischof Müller durch Göring und Hitler in seiner instabilen Position noch einmal gefestigt und August Jäger zum ”Rechtswalter der Reichskirche” ernannt. Dieser nötigte die Landeskirchen dazu, sich der Reichskirche anzugliedern, um so eine leichtere Gleichschaltung zu ermöglichen. Im Herbst 1934 scheiterte dieser Versuch allerdings in Bayern und Württemberg. Bischof Hans Meiser (Bayern) und Bischof Wurm (Württemberg) wurden unter Hausarrest gestellt. Daraufhin kam es zu einer Welle der Solidarisierung mit den Bischöfen, die sich in Fürbittegottesdienste, Massendemonstrationen und Petitionen Ausdruck verschaffte. Auch England äußerte Kritik an der Vorgehensweise von Jäger und Müller.90 Hitler fühlte sich durch den öffentlichen Protest unter Druck gesetzt und entließ daraufhin Jäger aus seinem Amt. Die arrestierten Bischöfe wurden sofort freigelassen und zu Hitler, dem 89 Wörterbuch des Christentum, Herausgegeben von Volker Drehsen, Hermann Häring u.a., Orbis Verlag, München 1995, S. 623 90 Andreas Lindt, S. 169 37 selbst ernannten Führer, nach Berlin geladen, wo sie vollständig rehabilitiert wurden. ”Für Württemberg, Bayern und Hannover hatte so der Kirchenkampf mit einem eindeutigen Abwehrsieg geendet. Für sie hatte sich Hitler wieder einmal als Helfer in der Not erwiesen [...] und dem man nach allem erst recht vertrauen durfte.”91 Doch es gab auch diejenigen, die ansatzweise verstanden, was da in ihrem Land vor sich ging. So fanden sich ab dem Jahr 1934 immer öfter Vertreter des christlichen Glaubens zu freien Synoden zusammen, um vor der Totalität des Staates zu warnen. Dieser anfängliche Widerstand wurde schnell von dem national- sozialistischen Herrschaftssystem registriert. 4.1.3. Die großen Bekenntnissynoden Im Mai 1934 und Oktober 1934 traf die BK zu zwei großen Bekenntnissynoden zusammen, „die einen verheißungsvollen Auftakt“92 für den evangelischen Kirchenkampf bedeuteten. Vertreter von Gemeinden und Regionen oder der Landeskirchen (auf Reichsebene) fanden sich zusammen, um Verantwortung für die Kirche zu übernehmen und sich von den eigenen Glaubensvoraussetzungen her, der Gleichschaltung zu widersetzen. 4.1.3.1. Barmen Ende Mai 1934 versammelte sich in Barmen die „Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“. Die dort erarbeiteten „Theologischen Erklärungen zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ gingen dann als „Barmer Bekenntnisse“ in die Geschichte ein. Die aufgeführten Texte stammen im Wesentlichen von Karl Barth, dem an der Universität Bonn wirkenden, dann aber aus Deutschland ausgewiesenen 91 92 Ebd., S. 170 Wörterbuch des Christentum S. 623 38 Schweitzer reformatorischen Theologen.93 In einem Kampfruf gegen die deutsch-christlichen Ketzereien: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“94, auch ein Aufruf zur Sammlung, zur energischen Konzentration auf den eigentlichen Auftrag der Kirche: „Die Kirche sollte in ihrer Verkündigung, ihrer Theologie, ihrem ganzen Leben sich zur kritischen Überprüfung ihres Denkens und Handelns mahnen lassen. Sie sollte sich fragen lassen, wo denn eigentlich die Quelle ihrer Verkündigung sei.“95 Die BK stand also vor der Frage, ob sie sich auf den Nationalsozialismus ausrichten, oder sich weiterhin streng an die Bibel halten solle. Das schien die Grundfrage der „Barmer Bekenntnisse“ zu sein. In Anbetracht der politischen Situation um 1934 war dieses „Barmer Bekenntnis“ schon ein großer Schritt im Widerstand der BK gegen den Nationalsozialismus, welcher auch von dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem registriert wurde. So heißt es in dem „Lagebericht des Chefs des Sicherheitsamts des Reichsführers SS“ über die Kirche: „Die Richtung Barths muss als wirkliche Gefahr bezeichnet werden. Er schafft in seiner Theologie Inseln, auf denen Menschen sich isolieren, um so die Forderung des heutigen Staates unter religiöser Begründung ausweichen zu können.“96 93 Andreas Lindt, S. 172 Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. 1933-1944. (Evangelische Kirche im Dritten Reich), in: Walter Hofer, S. 143 95 Andreas Lindt, S. 172 96 Heinz Bobach (Hrsg.): Briefe zur Lage der evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland, Dezember 1933 bis Februar 1939, in: Andreas Lind, S. 174 94 39 4.1.3.2. Berlin-Dahlem Am 19./20. Oktober 1934 traf in Berlin-Dahlem, dem Sitz der 2. Vorläufigen Leitung der BK, eine weitere Bekenntnissynode zusammen. Die beiden Bischöfe Meiser und Wurm standen noch unter Hausarrest. Die Synode forderte nun die Gemeinden auf, sich von der Reichsregierung zurückzuziehen und stellte fest, dass sich die Reichskirche durch ihr Handeln „an das Kirchenregiment statt an Christus gebunden hat“.97 Auf Grund dieser Situation wurde das kirchliche Notrecht ausgerufen, das die Bekennende Kirche dazu berechtigt, eine neue, „an Schrift und Bekenntnis gebundene“ Leitung der BK zu berufen.98 Diese Erklärung wurde dann der Reichsregierung zugestellt, mit der Bitte um Kenntnisnahme und Anerkennung, dass „in Sachen Kirche, ihrer Lehre und Ordnung die Kirche, unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts, allein zu urteilen und zu entscheiden berufen ist."99 4.1.4. Innere Opposition Durch die Entlassung Jägers aus seinem Amt und die Freilassung Meisers und Wurms, begann sich nun die Bekennende Kirche (BK) zu spalten. Auf der einen Seite gab es diejenigen, die in Hitler den ”Retter in der Not” sahen. Sie schlossen sich zu den Deutschen Christen zusammen und wollten eine hitlerhörige Kirche aufbauen: „Aus dieser Gemeinde Deutscher Christen soll im nationalsozialistischen Staat Adolf Hitlers die das ganze Volk umfassende Deutsche Christliche Nationalkirche erwachsen.“100 Am 13.11.1933 distanziert sich die Glaubensbewegung der Deutschen Christen von der BK und schreibt: „Wir bekennen, 97 Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch..., in: Walther Hofer, S. 140 Ebd., S. 141 99 Ebd., S. 141 100 Ebd., S. 131 98 40 dass der einzige 41 wirkliche Gottesdienst für uns der Dienst an unseren Volksgenossen ist, und fühlen uns als Kampfgemeinschaft vor unserem Gott verpflichtet, mitzubauen an einer wahrhaften völkischen Kirche, in der wir die Vollendung der deutschen Reformation Martin Luthers erblicken und die allein dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates gerecht wird.“101 Auf der anderen Seite standen diejenigen, die sich von der Reichskirche getrennt hatten und sich dem Pfarrernotbund (vgl. dazu Kapitel 4.1.6.) anschlossen.102 Dies führte natürlich zu Verlusten seitens der BK. Dennoch berief sie sich im Zuge der Dahlemer Bekenntnissynode auf Art. 1 der Kirchenverfassung vom 11.7.1933: „Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die Vollmachten, deren die Kirche für ihre Sendungen bedarf, bestimmt und begrenzt.“103 Auf Grund des Verstoßes der Deutschen Christen gegen diesen ersten Artikel der Kirchenverfassung, erhob die BK den Anspruch, als die legitime Kirche anerkannt zu werden.104 Den Vorsitz sollte Bischof Marahrens erhalten. Doch Ludwig Müller, der immer noch auf die Rückendeckung Hitlers vertraute, ließ sich nicht aus seinem Amt drängen. Die Spaltung der Kirche wurde immer extremer, denn auch die Lutheraner schlugen sich auf Hitlers Seite: ”In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, dass er unserem Volk in seiner Not den Führer als frommen und getreuen Oberherrn geschenkt hat...”105. 101 Ebd., S. 132 Andreas Lindt, S. 175 103 Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch..., in: Walther Hofer, S. 140 104 Andreas Lindt, S. 176 105 Kurt Dietrich Schmidt (Hrsg.): Die Bekenntnisse des Jahres 1934, in: Andreas Lindt, S. 177 102 42 4.1.5. Der Arierparagraph Nach §3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufs- beamtentums (7.April 1933), waren „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind“, in den Ruhestand zu versetzen. Ausgenommen von dieser Bestimmung waren Beamte, „die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg für das Deutsche Reich ... gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind.“106 Ein Hauptgrund, der innerhalb der BK zur inneren Opposition führte, lag vor allem in der Einführung des Arierparagraphen, demzufolge auch nichtarische Geistliche aus dem Amt entlassen werden sollten. Bonhoeffer beispielsweise lehnte die Einführung dieses Paragraphen konsequent ab, und schrieb sogar in einem Flugblatt im August 1933: „Darum gibt es einer Kirche gegenüber, die den Arierparagraphen in dieser radikalen Form durchführt, nur noch einen Dienst der Wahrheit, nämlich den Austritt. Dies ist der letzte Akt der Solidarität mit meiner Kirche, der ich nie anders als allein mit der ganzen Wahrheit und allen ihren Konsequenzen dienen kann.“107 Mit diesem Flugblatt erhoffte er sich, eine Wirkung im Hinblick auf die großen Synoden am 24. August und am 5./6. September 1933 zu erzielen. „Die Reichskirchenverfassung hat den Arierparagraphen zwar nicht aufgenommen, aber durch Stillschweigen bekundet, dass sie das Studentenrecht, das den juden-christlichen theologischen Nachwuchs verhütet, als für die Kirche bindend anerkennt, d.h. sie erkennt den Ausschluss der Juden-Christen vom kirchlichen Amt in Zukunft an.“108 106 Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1, Propyläen Verlag, Frankfurt am Main 1977, S. 345 107 Eberhard Bethge (Hrsg.):Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften, S. 65f 108 Otto Dudzus (Hrsg.): Bonhoeffer – Auswahl 2 Gegenwart und Zukunft der Kirche 1933-1936, Siebenstern Taschenbuch Verlag, München 1970, S. 82 43 Durch die Einführung dieses abgemilderten Arierparagraphen sah 44 sich Bonhoeffer zu einer radikalen Opposition gezwungen – dem Kirchenaustritt. Doch viele Gleichgesinnte wie u.a. Pfarrer Martin Niemöller und der Theologe Karl Barth rieten ihm von diesem Schritt ab. Karl Barth schreibt ihm am 11. September 1933: „In dieser Schlacht werden es diejenigen gewinnen, die mit ihrer Munition zuerst am sparsamsten umgehen, dann aber auch am genauesten zu zielen und am rücksichtslosesten zu schießen wissen.“109 Man riet ihm davon ab, „dass man sein ganzes Pulver ausgerechnet an der Front des Arierparagraphen verschießen“ sollte.110 Barth schreibt in einem Brief an Bonhoeffer, dass er im Übrigen in der Tat für Abwarten sei, und „dass sie nur unter den Letzten sein dürften, die das sinkende Schiff wirklich verlassen“.111 Doch Bonhoeffer schien als Einziger schon damals erkannt zu haben, dass es zwar im Moment „nur“ um die Geistlichen ging, mit der Zeit aber wohl um alle nichtarischen Gemeindemitglieder.112 Bonhoeffer und Niemöller schickten am 7. September 1933 eine Erklärung zur Verbreitung an Pfarrer Bodelschwingh, in der sie der Kirche vorwerfen, gegen christliche Gesetze zu verstoßen. Diese Erklärung wurde in einer abgemilderten Form akzeptiert. Daraufhin verschickte Niemöller am 12. September 1933 die ersten Notbundverpflichtungen mit dem Versprechen, „sich für die Verfolgten verantwortlich zu wissen“113. Zwei Wochen später entstand der Aufruf „An die Deutsche Nationalsynode“, in der sie beschworen wird, „bekenntniswidrige landeskirchliche Gesetze“ wie den Arierparagraphen aufzuheben. Nun folgte eine Unterschriftensammlung für ein Selbstverpflichtungsformular, das am Jahresende bereits 6.000 Unterschriften vorweisen konnte. Später schlossen sich die Unterschreibenden zum Pfarrernotbund 109 Eberhard Bethge (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften, S. 129 110 Wolfgang Gerlach, S. 61 111 Otto Dudzus, S. 93 112 Wolfgang Gerlach, S. 62 113 Ebd., S. 64 45 zusammen.114 Im Laufe der Zeit entstanden viele Diskussionen um den Arierparagraphen. Am 22. September 1933 wurde in einer Sitzung gefordert, dass getaufte Christen jüdischer Abstammung nicht vom Abendmahl ausgeschlossen werden und dass christlich getaufte Pfarrer jüdischer Abstammung ihr Amt weiter ausüben dürfen. Dennoch konnte man erkennen, dass eine endgültige Klärung nicht zu Stande kam. Das lässt erkennen, wie unvorbereitet die Kirche mit der Judenfrage konfrontiert wurde.115 4.1.6. Pfarrernotbund Auf Grund der Gewaltpolitik der Reichskirchenleitung tat sich die innerkirchliche Opposition 1933 unter der Leitung von Pfarrer Niemöller zum Pfarrernotbund zusammen. Hier versuchte er, die verschiedenen Gruppen, die in Opposition zum deutschen Kirchenregiment standen, zusammenzufassen. Im Herbst 1933 schlossen sich etwa 3.000 Pfarrer diesem Notbund an. Anfang 1934 steigerte sich die Zahl auf 4.000 von etwa 18.000 Pfarrern im ganzen Reich.116 Die Mitglieder verpflichteten sich auf folgenden Wortlaut:“1. Ich verpflichte mich, mein Amt als Diener des Wortes auszurichten allein in der Bindung an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisse der Reformation als die rechte Auslegung der Heiligen Schrift. 2. Ich verpflichte mich, gegen alle Verletzungen solchen Bekenntnisstandes mit rückhaltlosem Einsatz zu protestieren. 3. Ich weiß mich nach bestem Vermögen mit verantwortlich für die, die um solchen Bekenntnisstandes willen verfolgt werden. 4. In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des 114 Ebd., S. 65 Ebd., S. 71 116 Andreas Lindt, S. 162f – Wobei sich hier die Zahlen in verschiedenen Werken unterscheiden! 115 46 Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist."117 Damit ist gemeint, dass jeder nach seinem eigenen Ermessen handeln soll („Rücksichtnahme auf die Schwachheit des Mutes“)118, da die Christen scheinbar überfordert waren. Damit ist zu beachten, dass die Gefahr zu dieser Zeit nicht unbedingt vom Staat, sondern von der Kirche ausging. Der protestantische Pfarrer von Rabenau sieht die Aufgabe des Pfarrernotbundes darin, einen defensiven kirchenpolitischen Kampf dahingehend zu führen, „dass das Berufsbeamtengesetz einschließlich des Arierparagraphen, das die Generalsynode beschlossen hat, nicht zur Ausführung kommt,...“119 Martin Niemöller wurde auf Grund seiner herausragenden Tätigkeit im Pfarrernotbund und seinem aufopferungsvollen Widerstand gegen den Terror des Nazi-Regimes überall zur Symbolfigur christlichen Widerstandes gegen Hitler. 4.1.7. Verschärfter Kirchenkampf der BK Im Juni 1935 kam es nach einer vorhergegangenen Massenverhaftung von Pfarrern in Augsburg durch die SS zu einer Einigung der zunächst auseinander strebenden Gruppen der BK. Auch die Regierung war im Begriff, die Beendigung des lästigen Streits mit einem neuen Mann und neuen Methoden zu versuchen.120 Am 16. Juli des Jahres wurde Hanns Kerrl, der zuvor mit Raumplanungsaufgaben beschäftigt war, zum Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten uneingeschränkte Vollmacht ernannt. Er bekam „zu Wiederherstellung die geordneter 117 Wilhelm Niemöller: Der Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden Bruderschaft, Friedrich Wittig Verlag, Hamburg 1973, S. 37 118 Wolfgang Gerlach, S. 83 119 Joachim Ganger (Hrsg.); 1. Teil: Vom Aufkommen der ››Deutschen Christen‹‹ 1932 bis zur Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934, in: Walther Hofer, S. 133 47 Zustände in der 120 Andreas Lindt, S. 177 48 Deutschen Evangelischen Landeskirchen“.121 Am 5. Kirche und Dezember den 1935 Evangelischen verbot er den Bruderräten jede kirchenleitende Funktion, um somit die Tätigkeit der BK lahm legen zu können. Durch das Auftreten Kerrls wurde die Zerrissenheit innerhalb der BK wieder größer, sie schien mittlerweile sogar fast unlösbar. Die Lutheraner von Bayern, Württemberg und Hannover taten sich mit denen aus Sachsen, Mecklenburg und Thüringen zum so genannten Luther-Rat zusammen.122 Im Januar 1936 veröffentlichte Martin Niemöller eine von Otto Dibelius verfasste Flugschrift mit dem Titel „Die Staatskirche ist da!“. In ihr kritisiert er öffentlich Kerrl und seine Methoden. Dibelius tat sich nun mit seinem ehemaligen Kontrahenten Karl Barth zusammen, um gegen die kompromisslose Ablehnung des Totalstaates das Wort zu erheben.123 Im Sommer 1936 wagte die BK eine direkte Anklage gegen die Theologie und Praxis des Hitlerregimes, die „Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirchen an den Führer und Reichskanzler“, die am 28. Mai in der Reichskanzlei abgegeben wurde. In ihr wird deutlich die Abkehr des deutschen Volkes vom kirchlichen Christentum aufgezeigt und angeprangert und dass das Regime Hitlers gegen die Gebote Gottes verstößt.124 Die Regierung nahm aber zu dieser Denkschrift nie Stellung. Als sie ins Ausland gelang und dort öffentlichen Zuspruch erhielt, begann die Regierung diejenigen, die man für die Verbreitung der Denkschrift verantwortlich machte in KZs zu bringen. Die Autoren blieben zunächst verschont, da man wegen der im Sommer 1936 stattfindenden Olympiade nicht allzu großes Aufsehen erregen wollte. Die lutherischen Bischöfe und der Reichskirchenausschuss distanzierten sich schnell von diesem gefährlichen Dokument.125 121 Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, Teil I, Nr. 104, in: Walther Hofer, S. 139 Andreas Lindt, S. 179 123 Andreas Lindt, S. 180 124 Ebd. 125 Ebd., S. 181 122 49 Diese Denkschrift stellte einen deutlichen Wendepunkt im Kampf der BK dar, da sie sich in dieser Schrift nicht mehr in erster Linie nur für die Kirche, sondern „für die durch den Nationalsozialismus in Weltanschauung und Praxis aufs schwerste gefährdeten sittlichen und rechtlichen Grundlagen des Lebens von Volk und Staat“ einsetzt.126 4.1.8. Verstärkter Terror gegen die BK Im Februar 1937 trat der Reichskirchenausschuss zurück, nachdem Zoellner von Kerrl verschiedentlich aufs Gröbste brüskiert worden war und seine Lage sich als völlig unmöglich erwiesen hatte. Nun begann die Zeit der öffentlichen Konfrontation zwischen Staat und Kirche. Es entwickelte sich ein regelrechter Kleinkrieg um Kollektengelder, kirchliche Räume, Redeverbot der Geistlichen etc. Die Finanzen wurden unter staatliche Verwaltung gestellt und immer häufiger kam es zu Verhaftungen von Pfarrern.127 Am 14. Juni 1937 wurde fast die gesamte Spitze der preußischen BK festgenommen. Anfang Juli wurde auch Martin Niemöller verhaftet.128 Nach seiner gerichtlichen Freisprechung wurde er noch vor dem Gerichtsgebäude abgefangen und direkt ins KZ gebracht, wo er bis zum Ende des Krieges und der Befreiung durch die Amerikaner 1945 gefangen blieb.129 „Mit dem Instinkt des Machtmenschen hatte Hitler in Niemöller seinen Hauptfeind erkannt und ließ ihn nicht mehr aus dem KZ.“130 Im Herbst 1937 erließ der Reichsführer der SS Heinrich Himmler dann das Verbot für alle Hochschulen und Lehrveranstaltungen der BK. In der Illegalität setzte man diese Ausbildung und Prüfungen 126 Ebd., S. 182 Ebd. 128 Unterschiedliche Daten in der Literatur: Andreas Lindt: 2. Juli (S. 182); Walther Hofer: 1. Juli (S. 124) 129 Andreas Lindt, S. 183 130 Walther Hofer, S. 124 127 50 jedoch bis 1941 fort.131 4.1.9. Das „Büro Grüber“ Als die Bedrohung der Juden immer mehr zunahm, sah sich die BK in die Enge getrieben und erkannte die Notwendigkeit für ein Hilfswerk. Die katholische Kirche unterhielt bereits den St. Raphaels-Verein, während die Jüdische Reichsvereinigung sich für die Bedürfnisse und Nöte der jüdischen Menschen einsetzte. Nur auf der evangelischen Seite gab es noch keine derart vergleichbare Initiative.132 Wer bei der Errichtung des Büro Grübers die ausschlaggebende Initiative ergriff ist nicht ganz eindeutig festzustellen, da dieser selbst in einem Schreiben vom 9.12.1968 schildert, das Büro sei auf seine eigene Initiative hin entstanden. Dagegen sprechen jedoch einige Dokumente aus dem Jahre 1938, die sogar teilweise von ihm selbst unterschrieben wurden und belegen, dass nicht Grüber die ausschlaggebende Initiative gab, sondern dass „P. Grüber [...] die Nichtariersache im Auftrag der VKL (Vorläufige Kirchenleitung) leitet...“.133 Im Allgemeinen kann man aber die Gründung des Büros auf Pfarrer Hermann Maas zurückführen, der schon seit Jahren in der Hilfe an Nichtariern engagiert mitgearbeitet hatte und die BK in die Pflicht drängte, sich für die verfolgten Christen jüdischer Herkunft einzusetzen. Auf seine Initiative hin erteilte die 2. VKL den Auftrag, ein Hilfswerk zu gründen. Ab dem Sommer 1938 begannen die Vorbereitungen für diese Einrichtung. Man entschied sich dafür, das Hilfswerk an einem zentralen Ort zu errichten und wählte aus diesem 131 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, Heft 2 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945, herausgegeben von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 1986, S. 32 132 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, Band 8 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945, herausgegeben von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 1994, S. 251f 51 133 vgl. Wolfgang Gerlach, S. 259, Fußnote 8. 52 Grund die Stadt Berlin aus. Die Leitung sollte Pfarrer Heinrich Grüber übernehmen, nachdem das Büro auch benannt wurde.134 Er wurde u.a. deshalb ausgewählt, da er „ein Mann der Tat“ und nebenamtlich Pfarrer einer holländischen Gemeinde war. Auf dieser Basis ließen sich gute Kontakte zum benachbartem Ausland knüpfen.135 Die englische Judenmission überließ Anfang Dezember 1938 Pfarrer Grüber das Büro in der Oranienburger Str. 20 (in Berlin). Die laufenden Kosten, die u.a. für die Miete errechnet wurden, betrugen etwa 800,- RM, wobei jeweils 300,- RM von der Berliner Stadtsynode und der evangelischen Kirchengemeinde Berlin übernommen wurden.136 Grüber bat auch den Pfarrernotbund um Hilfe und Mitarbeit.137 Das Büro arbeitete auch eng mit den Quäkern – einer Religionsgemeinschaft, die auf religiöse Dogmen, Bekenntnisse, Sakramente und eine Hierarchie verzichtet138 –, der katholischen Auswanderungsorganisation im St. Raphaelsverein und der jüdischen Reichsvereinigung zusammen. Durch die anfängliche Angst der antideutschen Ausländerpropaganda wurde das Büro Grüber zunächst von der Geheimen Staatspolizei toleriert. Die Errichtung des Büros fand großen Anklang bei der Bevölkerung und so gab es im Mai 1939 bereits 21 Hilfsstellen über fast alle Landeskirchen verteilt. Schnell wurden die Räume in der Oranienburger Straße zu klein und so zog die Auswanderungsabteilung und die Abteilung Altersheime am 25.1.1939 um in die Stechbahn 3-4.139 Das Büro war in folgende Aufgabenbereiche unterteilt: a) Auswanderung b) Stellenvermittlung im Ausland c) Fürsorge für Alte und Kranke d) Rechtsberatung 134 Ebd., S. 257 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 251 136 Wolfgang Gerlach, S. 260f 137 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 252 138 Wörterbuch des Christentums, S. 1019 139 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 252 135 53 e) Schulische Versorgung f) Allgemeine Seelsorge Zu den ersten und engsten Mitarbeitern des Büros zählten neben Pfarrer Werner Sylten, der als Stellvertreter für Grüber fungierte, Pfarrer Kurz, Ministerialrat i.R. Heinitz, Pfarrer von Bodelschwingh und Pfarrer Braune.140 Im Februar 1939 kamen etwa täglich 100 Schutzbedürftige in das Büro. Mit der Zusammenarbeit der Kirchen und anderen Hilfsorganisationen wurden Tausenden die Ausreise ermöglicht. Grübers diplomatisches Geschick im Umgang mit staatlichen Stellen und NS-Organisationen half ihm sehr in dieser Zeit.141 Hilfe bekam das Büro Grüber vom Berliner Polizeipräsidium – wenn auch nur sehr begrenzt –, dessen Leitung Regierungsrat vom Rath (Vater des Ermordeten Ernst vom Rath – siehe Kapitel 2.) inne hielt, der ein langjähriger Freund von Grüber war. Er war „durchaus ohne Illusion über den von den Nazis zweckdienlich hochgespielten Mord an seinem Sohn“142. Als dies bemerkt wurde, stellte man ihm den Regierungsrat Henning zur Seite, der anfangs durch große Begeisterung für den Nationalsozialismus auffiel. Doch auch er versuchte, Grüber zu helfen, wo er konnte.143 Ab 1940 musste das Büro Grüber viele Rückschläge hinnehmen und in vielen Fällen konnte das Erhoffte nicht mehr erreicht werden. Die Auswanderungshilfe schien unmöglich zu werden, da viele Länder ihre Grenzen schlossen und kaum noch Ausreisevisa erteilt wurden. Dennoch waren Grüber und seine Mitarbeiter noch nicht vollends entmutigt. Bis Anfang 1940 konnten sie fast ungehindert ihre Hilfsaktionen durchführen. Doch seit Kriegsbeginn wurde es für Juden immer schwieriger für weitere Auswanderungen. Als die USA 1941 ebenfalls in den Krieg eintraten gab es, von vereinzelten Glücksfällen abgesehen, keine Möglichkeiten mehr zur Flucht. Im 140 Wolfgang Gerlach, S. 260 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 254 142 Wolfgang Gerlach, S. 265 143 Heinrich Grüber: An der Stechbahn. Erlebnisse und Berichte aus dem Büro Grübers in den Jahren der Verfolgung, in: Wolfgang Gerlach, S. 265 141 54 Oktober 1941 erfolgte das endgültige Auswanderungsverbot. Bis dahin hatte rund die Hälfte der jüdischen Bevölkerung seit 1933 Deutschland verlassen können. Das evangelische Hilfsbüro hat dabei von Dezember 1938 bis Oktober 1940 ca. 1.700 bis 2.000 Menschen bei der Flucht geholfen.144 Im Zuge der Deportationen protestierte Grüber zunächst heftig dagegen. Von Maßnahmen seitens der Nazis gegen ihn wurde jedoch zunächst abgesehen, da man Angst hatte negative Aufmerksamkeit im Ausland zu erhalten. Daraufhin versuchte er in das südfranzösische Lager Gurs eingeschleust zu werden, um die Lage der dort Gefangenen selbst zu erkunden.145 Am 19.12.1940 wurde Grüber verhaftet und sein Mitarbeiter Sylten übernahm die Leitung des Büros. Grüber wurde in das KZ Sachsenhausen und später nach Dachau gebracht. Am 27.2.1942 wurde auch Sylten, der zum Teil jüdischer Herkunft war verhaftet und kam ins KZ Dachau. Der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) in Berlin erhielt jedoch keine Begründung für die Verhaftung Grübers und Sylten. Die Errichtung einer neuen Hilfsstelle scheiterte. Am 26.9.1942 wurde Sylten in Dachau umgebracht. Nur wenige der 55 Mitarbeiter des Büro Grübers erlebten das Kriegsende. Heinrich Grüber selbst war einer von ihnen. Er wurde am 23.6.1943 aus Dachau entlassen. Nun waren die verfolgten nichtarischen evangelischen Christen auf private Hilfe angewiesen. Die Hilfstätigkeit für die Verfolgten konnte nur noch geheim und unter eigener Lebensbedrohung stattfinden.146 Gisela Meißner erinnert sich 1992 an das Büro: „...Pfarrer Grüber gab uns wiederholt seelischen Halt. Äußerlich waren es lediglich Büroräume, doch wenn wir nicht mehr weiterwussten, gingen wir dorthin, um uns auszusprechen. [...] Pfarrer Grüber hatte immer Zeit, wenn wir seinen Beistand erbaten. Er war gütig, äußerst Vertrauen erweckend und besaß eine sehr volkstümliche Art, mit 144 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 257 Ebd. 146 Heinrich Grüber: An der Stechbahn, in: Wolfgang Gerlach, S. 269f 145 55 anderen umzugehen. Grüber wirkte auf uns damals fast übermenschlich, wie ein großer beschützender Vater.“147 In einer Denkschrift zum siebzigsten Geburtstag für Heinrich Grüber, schreibt Laura Livingstone – eine Mitarbeiterin des Quäkerbüros (Siehe Kapitel 4.3.2.) – über ihn: „Überall hat Pfarrer Grüber versucht, Mitgefühl und Hilfe für seine Familie zu gewinnen. Ich sage ››Familie‹‹, weil kein Vater sich mit mehr Liebe und Hingabe für die Seinen geopfert hat als Pfarrer Grüber für die nichtarischen Christen. Er hat damit auch seinem Land einen guten Dienst getan. In England fragte mich jemand mit einem ironischen Blick: ››Haben sie jemals einen Deutschen, einen Arier gefunden, der sich die Mühe gemacht hat, sich über das Schicksal der Juden zu informieren und zu schämen?‹‹ Ich konnte antworteten: ››Ja, mindestens einen.‹‹“148 Dass die Kirchen anfänglich so gut wie ungehindert den Juden bei der Auswanderung helfen konnten, lag daran, dass sich die Nazis versprachen, dass auf diese Art möglichst viele Juden das Land verlassen würden und sie somit aus dem Blickfeld der Deutschen verschwunden wären. Doch als dann das Scheitern der Kirchen in Bezug auf Aufnahmeländer bekannt wurde, begann man nach einer neuen „Lösung der Judenfrage“ zu suchen: DEPORTATION. „Hieß Emigration nur Verlust einer z.T. seit vielen Generationen bewohnten Heimat, Trennung von der Familie, Isolierung von gewohntem Denk- und Sprachbereich, so bedeutete Deportation die infernalische Hetze in den Massentod.“149 147 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 254. Leider ist aus dem Text nicht zu entnehmen, ob es sich hierbei um eine ehemalige Mitarbeiterin des Büro Grübers handelt, oder um eine Person, die durch dieses Büro Hilfe bekam. 148 Laura Livingstone: Aus Deutschlands dunklen Tagen, in: Rudolf Weckerling (Hrsg.): Durchkreuzter Hass. Vom Abenteuer des Friedens, Käthe Vogt Verlag, Berlin 1961, S. 45 149 Wolfgang Gerlach, S. 270 56 4.2. KATHOLISCHE KIRCHE 4.2.1. Das Konkordat In den Dreißiger Jahren betrug der Anteil der Katholiken in Berlin beispielsweise nur 11%150, was einen sehr geringen Prozentsatz ausmacht. Im Gegensatz zur Evangelischen Kirche wurde die hierarchische Struktur der katholischen Kirche anfangs nicht vom Nationalsozialismus angetastet. „Wohl wurden im Laufe der Jahre immer wieder Pfarrer eingesperrt, aber das gottesdienstlich sakramentale Leben der Kirche konnte doch überall weitergehen.“151 Die katholischen Kreise zeigten zunächst wenig Distanz zum neuen Staat.152 Außerdem gab es in der katholischen Kirche nie eine so große innere Opposition wie in der evangelischen. Das Zentrum der Kirche lag in Rom und somit bei dem katholischen Oberhaupt, dem Papst, dem die geistliche Zentralgewalt zugeordnet ist. Diese Tatsache musste auch das Hitlerregime akzeptieren und tat es auch durch den Abschluss des Reichskonkordats am 20.7.1933. Die katholische Kirche ging zunächst davon aus, dass sie durch den Abschluss des Konkordats vor der Gleichschaltung geschützt war. Sie wollte ihre Rechte im neuen Staat vertraglich sichern.153 Wichtig war der katholischen Kirche u.a. die Sicherung der konfessionellen Schulen. Hitler ließ eine Klausel in den Vertrag aufnehmen, in der allen katholischen Geistlichen jegliche politische Aktivität verboten wurde. Er bezweckte damit die „Entpolitisierung des Klerus“.154 Für Hitler ergaben sich drei Vorteile aus dem Abschluss des Konkordats: „1. Die Widerlegung der Behauptung, 150 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 264 Andreas Lindt, S. 188 152 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 264 153 Walther Hofer, S. 121 151 57 der Nationalsozialismus sei 154 Andreas Lindt, S. 141f 58 unchristlich und kirchenfeindlich; 2. Die rückhaltlose Anerkennung des neuen Regimes durch den Vatikan und 3. Die Vernichtung des christlichen Gewerkschaftswesens und der Zentrumspartei als politische Faktoren.“155 Dennoch ließ sich Hitler nicht durch das Konkordat aufhalten, den Einfluss der katholischen Kirche immer stärker in den Hintergrund zu drängen.156 Obwohl die katholische Kirche durch das Konkordat einen legitimen Stand im Staat hatte, wurde „Das Konkordat faktisch schon gebrochen, als die Tinte der Unterschriften [...] noch nicht trocken war.“157 Dabei ging es vor allem um das katholische Vereinswesen, das zwar rechtlich geschützt war, aber dennoch durch einen geschickten Schachzug von den Nazis untergraben wurde: Sie erließen das Verbot der Doppelmitgliedschaft in Vereinen. Für das berufliche Weiterkommen der Jugendlichen, sowie für die Arbeitsplätze in der Industrie war man quasi gezwungen, der Hitler-Jugend oder der Deutschen Arbeiterfront beizutreten. Auf Grund des Verbots der Doppelmitgliedschaft war es also unmöglich, den katholischen Jugendvereinen oder den Organisationen, die sich mit sozialen oder berufsständischen Aufgaben beschäftigten beizutreten.158 Doch nicht nur auf diese Weise wurde das Vereinsleben der katholischen Kirche beeinträchtigt und schikaniert, sondern beispielsweise auch durch das Verbot des Tragens „von einheitlicher Kleidung, von uniformähnlichen Bekleidungsstücken sowie von Abzeichen, durch welche die Zugehörigkeit zu einer katholischen Jugend- oder Jungmänner-Organisation zum Ausdruck gebracht wird.“159 Auch die Existenz der konfessionellen Schulen, die im Konkordat extra gesichert sein sollten, wurde immer stärker bedroht, da die 155 Walther Hofer, S. 121f Andreas Lindt, S. 189f 157 Ebd., S. 189 158 Ebd. 159 Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche 156 59 Widerstand, in: Walther Hofer, S. 149 60 Eltern unter Druck gesetzt wurden, ihre Kinder nicht auf konfessionelle Schulen zu schicken. Sie wurden vor die Wahl gestellt, entweder auf Partei und Staat oder auf Pfarrer und Bischof zu hören. Selbst vor den zunächst noch sehr einflussreichen kirchlichen Blättern und Zeitschriften machte die Regierung nicht Halt. Sie wurden zunehmend unter Aufsicht der Regierung des Propagandaministeriums unterstellt, so dass die kirchlichen Beiträge auf rein kirchlich-religiöse Nachrichten eingeschränkt und schließlich sogar verboten wurden.160 „Auf Grund der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat [...] wird für den Landesteil Oldenburg angeordnet: §1. Tageszeitungen, die im Landesteil Oldenburg gedruckt und verlegt werden, dürfen keine religiösen Beilagen haben.“161 Diese Aktionen wurden unter dem Schlagwort der „Entkonfessionalisierung“ bekannt. Das Christentum des Nationalsozialismus sollte gegen das konfessionelle Christentum ausgespielt werden. Ziel war es eine „romfreie Nationalkirche zu schaffen.162 Die katholische Kirche wurde weiterhin diffamiert, indem fingierte Devisenschiebungs- und Sittlichkeitsprozesse gegen Geistliche in der Öffentlichkeit zu regelrechten Schauprozessen ausgeschlachtet wurden. Es stellte sich heraus, dass sich die Hoffnungen auf Sicherung der katholischen Kirche in Deutschland durch das Konkordat als Illusion erwies. Die Versuche des Vatikan, sich dagegen zur Wehr zu setzen, blieben jedoch ohne Erfolg.163 160 Andreas Lindt, S. 190 Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz..., in: Walther Hofer, S. 149 162 Andreas Lindt, S. 190 163 Ebd., S. 190f 161 61 4.2.2. Der Kampf der Bischöfe und der Institution Kirche 4.2.2.1. Konrad Graf von Preysing Konrad Graf von Preysing wurde am 7. September 1935 zum 3. Bischof von Berlin ernannt. Bei seiner Begrüßungsfeier im Sportpalast wurde er von der Bevölkerung stürmisch empfangen. Man schien zu ahnen, dass dies die letzte Großkundgebung des Bistums Berlin sein würde.164 Auch die geladenen Vertreter der Reichsbehörden blieben dieser Feier fern. Es war bekannt, dass von Preysing ein erklärter Gegner des NS-Regimes war. Er war deshalb so auffällig, da er sich nicht wie die Deutsche Bischofskonferenz dem Nazi-Regime anbiederte, sondern deutlich Distanz hielt: „Wir sind in den Händen von Verbrechern und Narren“. Durch seine zurückhaltende Art bekam er den Spitznamen „Marmorbischof“165. Seinen Protest ließ er vor allem in Rundschreiben verlauten und betete auch keine Danksagungen bei Hitlers anfänglichen Siegen.166 Er ging davon aus, dass man dem NS-Regime nur mit öffentlichem Protest entgegentreten könne, um so die Rechte der katholischen Kirche wahren zu können.167 Dieser Protest war natürlich bei den Nationalsozialisten nicht gerne gesehen. In einem Schreiben von Reichsminister Kerrl wird ihm politisches Handeln, dass eigentlich im Rahmen des Konkordats untersagt wurde, vorgeworfen: „Ich sehe mich aber veranlasst, einmal darauf hinzuweisen, dass Weltanschauung und Religion, [...] grundsätzlich auseinander zu halten sind. [...] Leider muss festgestellt werden, dass die heutige Kirche und besonders die Wortführer der römisch-katholischen Kirche den Unterschied von Weltanschauung und Religion weder kennen noch kennen wollen, immer wieder das Gebiet der Religion verlassen, Weltanschauung 164 Dieter Hanky: Im Zeichen des Kreuzes. Von den mittelalterlichen Bistümern zum Bistum Berlin. Ein Gang durch 1000 Jahre Kirchengeschichte, Servi Verlag, Berlin 1998, S. 67 165 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 265 166 Ebd. 167 Andreas Lindt, S. 191 62 und Religion vermischen und so notwendig politisch werden.“168 4.2.2.2. Bischof Clemens August Graf von Galen Der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen teilte die Ansichten seines Vetters, Bischof von Preysing im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Schnell durchschaute er Hitlers Ideologie und wurde zu seinem erklärten Gegner. Immer wieder tat er öffentlich seine Abneigung kund.169 Durch sein mutiges Auftreten im Protest gegen das Regime erhielt er den Spitznamen „der Löwe von Münster“170. Seine bekannteste Protestaktion ist wohl im Zuge der Euthanasie zu nennen: Im Sommer 1940 wurde die Aktion zur „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ gestartet, bei der es zur regelrechten Massenexekution von körperlich und geistig behinderten Menschen kam. Viele Bischöfe waren damit nicht einverstanden. Doch von Galen ging wesentlich weiter als seine geistlichen Kollegen. Im Juli 1941 reichte er beim Landgericht Münster Strafanklage wegen Mordes gegen die für diese Befehle Verantwortlichen ein171: „Da ein derartiges Vorgehen nicht nur den göttlichen und natürlichen Sittengesetzen widerstreitet, sondern auch als Mord nach §211 des Reichsstrafgesetzbuches mit dem Tode zu bestrafen ist, erstatte ich gemäß §139 des RStrGB pflichtgemäß Anzeige und bitte, die bedrohten Volksgenossen unverzüglich durch Vorgehen gegen den Abtransport und die Ermordung beabsichtigten Stellen zu schützen und mir von dem Veranlassten Nachricht zu geben.“172 In seiner Predigt vom 3. August 1941 griff er den Nationalsozialismus so hart an, wie es vor ihm noch keiner gewagt hatte. Seine Predigt wurde eine Kampfansage an den Nationalsozialismus. Somit war der 168 Bischöfliches Ordinariat Berlin (Hrsg.): Dokumente aus dem Kampf der katholischen Kirche im Bistum Berlin gegen den Nationalsozialismus, in: Walther Hofer, S. 135f 169 Andreas Lindt, S. 192 170 Ebd., S. 213f 171 Ebd., S. 214 63 172 Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz..., in: Walther Hofer, S. 164 64 Bruch mit dem Regime vollzogen. Der Bischof wurde sofort verhaftet und man forderte seinen sofortigen Tod. Doch man wollte sich mit von Galen erst nach dem Endsieg des Krieges beschäftigen, da man befürchtete, ihn in der momentanen Situation zum Märtyrer zu machen.173 Noch im August 1941 gab Hitler die Anweisung, die „EuthanasieAktion“ vorläufig einzustellen. Schätzungsweise kamen 70.000 Insassen von Pflegeanstalten im Zuge dieser Aktion ums Leben.174 4.2.2.3. Erich Klausner Erich Klausner blieb als Leiter der katholischen Laienbewegung „Katholische Aktion“ unabhängig und stellte in diesem Zusammenhang einen zunehmenden Unruhefaktor für das NSRegime dar.175 Am 32. Märkischen Katholikentag am 24. Juni 1934 in Hoppegarten, an dem 60.000 Katholiken teilnahmen, ließ er deshalb Professor Emil Dovifat die Hauptansprache halten. Auf Grund der mitreißenden Stimmung ließ er es sich dann aber doch nicht nehmen, ein Schlusswort zu sprechen.176 Daraufhin wurde er am 30.6.1934 in seinem Büro von der Gestapo erschossen. Offiziell wurde seine Ermordung als Selbstmord deklariert. Dieses Ereignis führte zu einer Wende in dem Verhältnis der Katholiken zum Staat.177 Obwohl die Meistbetroffenen, die Mitglieder der Katholischen Aktion, von der „Ermordung“ Klausners wussten, verhielten sie sich still. So gesehen hatte „Hitler eine Schlacht gewonnen [und] Deutschland seine Ehre verloren.178 173 Andreas Lindt, S. 214 Ebd. 175 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstandin Mitte und Tiergarten, S. 264 176 Dieter Hanky, S. 63f 177 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 265 178 Dieter Hanky, S. 64 174 65 4.2.2.4. Bernhard Lichtenberg Bernhard Lichtenberg war bekannt für seine Zivilcourage. Als er im Juli 1935 erfuhr, wie die jüdischen Gefangenen im KZ Esterwegen behandelt wurden, übergab er dem Preußischen Staatsministerium sofort einen Bericht „mit der Bitte um Prüfung und Remedur“. Doch bewirkte dieser Antrag nur, dass die Gestapo von da an noch stärker auf seine Aktionen achtete. 179 Von 1938 bis 1941 war Lichtenberg ein engagierter Leiter des katholischen Hilfswerks. Am 23. Oktober 1941 wurde er verhaftet, woraufhin man vor dem Berliner Sondergericht Anklage gegen ihn erhob. Am 22. Mai 1942 wurde ihm der Prozess gemacht, bei dem er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Nach diesen zwei Jahren (die Untersuchungshaft mit einbezogen) wurde er ins KZ Dachau verschleppt, wo er bei einem Zwischenaufenthalt im November 1943 verstarb.180 4.2.2.5. Weitere Geistliche im Kampf Des Weiteren sollen Bischöfe und Geistliche vorgestellt werden, die sich ebenfalls im Kampf gegen das Nazi-Regime einen Namen gemacht haben. Hierzu zählt beispielsweise Emil Dovifat, der 1933 an der Seite des später ermordeten Erich Klausner bei der „Katholischen Aktion“ mitarbeitete. Nach dem Märkischen Kirchentag erhielt er vorübergehend ein Lehrverbot an der Universität. Doch nach einiger Zeit durfte er wieder unterrichten und verstand es weiterhin Kritik am Regime zu üben, indem er „zwischen den Zeilen sprach“.181 Er verstand es, so zu sprechen, dass ihn dem Inhalt seiner Reden nach keiner belasten konnte. Nur wer es verstand, ihm richtig zuzuhören erkannte, was er eigentlich mit seinen Reden bezweckte, dass er es nicht aufgab, gegen Hitler zu reden. 179 Ebd., S. 69 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 273 181 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Szeglitz und Lehlendorf, S. 119 180 66 „Werdet hart! Bleibet fest! Bleibet standhaft! Es kann sein, dass der Gehorsam gegen Gott, die Treue gegen das Gewissen, mir oder Euch das Leben, die Freiheit oder die Heimat kostet. Aber lieber sterben als sündigen!“182 So lautet die Aufforderung von Bischof von Gahlen in einer Predigt am 20.7.1941. Viele waren sich der drohenden Konsequenzen bewusst, leisteten aber trotzdem Widerstand. Doch auch Geistliche der BK fielen im Kampf gegen das Regime auf, wie beispielsweise Pastor Bodelschwingh, als er im Rahmen der „Euthanasie-Aktion“ die Auslieferung der Kranken aus der Betheler Anstalt verweigerte; oder Bischof Wurm, der in Briefen sowohl das Inland als auch das Ausland auf die Geschehnisse in Deutschland aufmerksam machte. Hitler ging nämlich davon aus, dass die Öffentlichkeit nichts von dem Treiben durch die Wirren des Krieges mitbekam. Die Aktivitäten von Bischof Wurm informierten dann weite Kreise über diese Aktionen.183 4.2.3. Der Papst zum Kirchenkampf, die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ Sowohl die Deutschen, als auch die Weltöffentlichkeit wunderte sich, warum der Vatikan bisher so wenig Reaktion auf das Handeln der Nazis in Deutschland gezeigt hatte. Auch die offensichtlich massiven Verstöße gegen das Konkordat konnten den Papst zunächst nicht zu einer Reaktion bewegen. 184 Im Januar 1937 berief der Kardinalssekretär Pacelli die drei deutschen Kardinäle Bertram, Faulhaber und Schulte sowie die beiden deutschen Bischöfe von Preysing und von Galen zu einer gemeinsamen Konsultation nach Rom. Der Vatikan wollte 182 Gedenkstätte Plötzensee, Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin, Otto H. Hess Verlag, Berlin 1967, S. 6 183 Andreas Lindt, S. 213 184 Ebd., S. 193 67 nun nicht mehr lamentieren, sondern ganz deutlich Stellung beziehen. Bei diesem Treffen einigte man sich auf eine öffentliche Erklärung an die deutschen Katholiken und die Weltöffentlichkeit, um den Ernst der Lage aufzuzeigen.185 In dieser Enzyklika namens „Mit brennender Sorge“, bezieht der Papst Stellung zu dem 1933 abgeschlossenen Konkordat um die damals guten Absichten zu beteuern, und „... anklagend zu zeigen, wie der Partner von damals zum Gegner von heute wurde.“186 Ferner werden die deutschen Christen dazu aufgefordert, weiterhin ihrem christlichen Gottesglauben die Treue zu halten und nicht auf den Wahnglauben an einen nationalen „deutschen Gott“ hereinzufallen. Stattdessen sollten sie weiterhin treu gegenüber Gott, Christus, der Kirche und dem Papst sein. 187 In dieser Enzyklika ging es zwar „ausdrücklich und ausschließlich um die Verteidigung der Rechte und Wahrheiten der Kirche, [es kam] aber auch eindeutig zu einer politischen Aussage“. 188 „Mit brennender Sorge“ galt als Niederlage des Totalstaates, da es der katholischen Kirche gelungen war, sie zu veröffentlichen, bevor Hitler und seine Staatspolizei eingreifen konnte. Gerade die Veröffentlichung im Ausland traf Hitler hart, da er immer noch darauf bedacht war, in der Weltöffentlichkeit nicht negativ in Erscheinung zu treten.189 Von daher musste er also reagieren, wobei er sich hütete, die Bischöfe zu bestrafen, um weiteres internationales Aufsehen zu vermeiden: „ 2. Sämtliche Personen, die sich mit der Verteilung der Schriften außerhalb der Kirchen und Pfarrhäuser befassen, sind, soweit es sich nicht um Geistliche handelt, sofort festzunehmen und umgehend dem Gericht zur strafrechtlichen Aburteilung zu überstellen. [...] 4. Druckereien und Verlage, in denen das Rundschreiben hergestellt bzw. verlegt wurde, sind 185 Ebd., S. 194 Ebd., S. 195 187 Ebd. 188 Ebd., S. 196 189 Ebd., S. 197 186 68 sofort zu schließen. Die verantwortlichen Personen (Verleger, Drucker, Schriftleiter) sind unverzüglich hierher zu melden, damit von hier aus weitere Maßnahmen gegen sie ergriffen werden können.“190 Der Staat wollte der katholischen Kirche und deren Anhängern somit demonstrieren, dass er die Macht habe, jeden, der sich von Papst und Bischöfen gegen den Staat aufhetzen ließe, zu vernichten.191 4.2.4. Das Hilfswerk Schon im März 1935 wurde das von Bischof Bares zuvor gegründete „Caritas-Notwerk“ zum „Hilfsausschuss für katholische Nichtarier“.192 Ab August 1938 kümmerte das Hilfswerk sich intensiver um die katholischen Nichtarier. Das „Hilfswerk vom Bischöflichen Ordinariat Berlin“ wurde von Domprobst Lichtenberg und Dr. Margarete Sommer geleitet. Weiterhin gab es sechs hauptamtliche und zehn ehrenamtliche Helfer, die nach den Nürnberger Rassegesetzen nichtarisch waren. Auch das katholische Hilfswerk arbeitete eng mit dem Büro Grüber und dem Internationalen Sekretariat der Quäker zusammen. Laut einem Bericht von 1946 wurden hier 3365 Menschen betreut, indem ihnen beispielsweise bei der Auswanderung oder der Wohnungssuche, aber auch in seelischen Nöten geholfen wurde. Etwa die Hälfte der dort betreuten Menschen waren Katholiken jüdischer Herkunft.193 1941 wurde Lichtenberg verhaftet und Frau Dr. Sommer übernahm neben Bischof von Preysing die Hauptarbeit. Allgemein wurde das Hilfswerk unter dem Namen „Büro Dr. Sommer“ bekannt.194 190 Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz..., in: Walther Hofer, S.154 Andreas Lindt, S. 197 192 Dieter Hanky, S. 70 193 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 270 194 Ebd. 191 69 Als dann 1941 die Auswanderungshilfe zwangsweise beendet wurde, sahen Frau Dr. Sommer und von Preysing ihre Aufgabe darin, sich um die Juden zu kümmern, die deportiert werden sollten. Von Preysing taufte weiterhin und durfte sogar im Sammellager die heilige Kommunion abhalten. Vergeblich versuchten beide den Papst auf die Geschehnisse in Deutschland aufmerksam zu machen. Auch Briefe an das päpstliche Büro in Berlin, in denen auf die Massenmorde an Juden aufmerksam gemacht wurde, blieben weitgehend unbeachtet.195 Man kann sagen, dass in diesem Punkt die katholische Kirche versagt hat. 195 Ebd. 70 4.3. Die Quäker Die Mitglieder der Quäker stellen eine international verbreitete Glaubensgemeinschaft dar, die im 17. Jahrhundert aus dem spiritualistischen Flügel des englischen Puritanismus entstanden sind. Sie haben die Überzeugung, dass alle Menschen vor Gott gleich sind und es deshalb auch keine Menschen zweiter Klasse gibt. Diese Einstellung baut auf der Lehre vom Inneren Licht auf (Joh. 1,9), „das als Anknüpfungspunkt zur religiösen Erleuchtung jedem Menschen von Gott eingepflanzt ist“. Sich selbst bezeichnen sie als Gesellschaft der Freunde.196 4.3.1. Hilfsaktionen während des Nationalsozialismus Im Nationalsozialismus stellten die Quäker eine kleine, aber sehr aktive Gruppe dar, die versuchte, den Verfolgten auf unterschiedliche Art Beistand zu leisten, wobei es hier völlig gleichgültig war, welcher Religions- oder Glaubensgemeinschaft die Personen angehörten. Das Internationale Sekretariat der Quäker hatte seinen Sitz in der Berliner Prinz-Louis-Ferdinand-Str. 5 (die heutige Planckstr. 20).197 Im Grunde kann man sagen, dass sich die Quäker um diejenigen kümmerten, die keiner großen Glaubensgemeinschaft angehörten – wie z.B. die konfessionslosen Juden –, da sich die Bekennende Kirche um die christlichevangelischen Nichtarier, die katholische Kirche um die christlichkatholischen Nichtarier und die jüdische Reichsvereinigung um die „Volljuden“ kümmerte. Wissenschaftlern „Heute solche erscheint Arbeitsteilung manchen nach jüngeren Konfessionen befremdlich. Sie waren jedoch aus sachlichen Gründen zwingend 196 197 Wörterbuch des Christentum S. 1019 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 277 71 notwendig."198 Auf Grund ihres Glaubens lehnten die Quäker gewaltsamen Widerstand ab, schreckten aber nicht vor öffentlichem Protest zurück. So verbreiteten sie beispielsweise in Zusammenarbeit mit dem protestantischen Pfarrer Wilhelm Mensching eine Schriftreihe unter dem Sammelnamen: „Aus deutschem (auch nordischem etc.) Erbgut“, in der Werke wie z.B. von Gandhi, Luther oder Schweitzer abgedruckt waren. Diese Hefte sollten den Menschen in dieser Zeit eine seelische Unterstützung geben und freiheitliches Gedankengut vermitteln. Als dann ein Zitat des Heimatdichters Peter Rosenegger abgedruckt wurde, dass sich gegen den Kriegsdienst aussprach: „Die für das Vaterland starben ehren wir am besten, wenn wir für das Vaterland leben!“, wurde der Quäkerverlag auf Betreiben der Nazis geschlossen und so fand auch diese Arbeit ein Ende.199 Im Zuge des Ausgehverbots für Juden und andere politisch und rassisch Verfolgte, veranstalteten die Quäker einmal im Monat gesellige Treffen, um diese Menschen nicht völlig von dem sozialen Leben in der Gesellschaft auszugrenzen. Katharina Provinski schreibt 1984 dazu: „In Berlin führte man innerhalb der Quäkergruppe z.B. einen monatlichen Abend ein, der – zunächst gesellig – bei Tee und Gebäck begann, um nachher einen Vortrag oder eine Lesung zu bieten für Menschen, die mit niemandem mehr gesellig zusammenkommen durften.“200 Doch die Quäker halfen den Verfolgten auch auf andere Weise. So betrieben sie z.B. in Bad Pyrmont ein „Rest-Home“ in dem Verfolgte abseits der von ihnen umgebenden Verzweiflung einige Wochen Ruhe finden konnten. Ein weiteres großes Anliegen der Quäker waren die Jugendlichen. Ihnen sollten trotz der schwierigen Zeit Werte wie Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit vermittelt werden. Dies galt in erster Linie für die nichtarischen oder sonstig verfolgten Kinder, die unter dem 198 Anna Sabine Halle: „Alle Menschen sind unsere Brüder...“, Artikel in: Tribüne, 23. 1984, H. 90, S. 162 199 Ebd., S. 164 200 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 277f 72 Nazi-Regime keine Möglichkeit mehr hatten sich in solchen Gruppen zusammenzufinden. Die Berliner Quäker gründeten dann 1935 eine Jugendgruppe, die von 1938 bis 1942 von der deutschen Sozialpädagogin Katharina Provinski geleitet wurde. Die Verantwortung für diese Jugendgruppe wurde allein von den Berliner Quäkern getragen, um die Gesamtorganisation nicht zu gefährden.201 4.3.1.1. Das Engagement der Quäker im Hinblick auf die Kindertransporte Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, richteten die Quäker ebenfalls in Wien ein.202 Von hier aus wurden im Grunde die ersten Kindertransporte organisiert. Bis November 1938 gelang es den Quäkern 300 Kinder aus Deutschland rauszubringen. Nach dem Novemberpogrom entschlossen sich dann mehr Eltern ihre Kinder auf diese Weise aus dem Land zu bringen. Insgesamt waren es 900 Kinder, wovon 711 nach Großbritannien kamen. Dies geschah meist mit der Zusammenarbeit des „Refugee Children’s Movement“.203 In Zusammenhang mit den Kindertransporten tauchen die Quäker immer wieder auf. Viele von ihnen nahmen Kinder auf oder engagierten sich bei den organisatorischen Aufgaben der Kindertransporte. (Näheres dazu ab Kapitel 7.) 4.3.2. Das Internationale Hilfsbüro 201 A.S. Halle S. 162 Lawrence Danton: An Account of the Work of the Friends Committee for Refugees and Aliens, first known as the Germany Emergency Committee of the Society of Friends, 1933-1950, herausgegeben von The Friends Committee for Refugees and Aliens, 1954 S. 16 203 Ebd, S. 50 202 73 Das Internationale Hilfsbüro war ein empfohlener Ort der Zuflucht unter Regimegegnern. Hierhin kamen zunächst Menschen, denen die Kinderspeisung204 nach dem Ersten Weltkrieg noch in Erinnerung geblieben war. Durch dieser Kinderspeisung wurde verhindert, dass viele deutsche Kinder in den Nachkriegsjahren verhungerten. Der Spruch, den man im Warteraum des Berliner Büros lesen konnte, sollte den Menschen, die Hilfe suchend kamen, Trost Vergänglichkeit, spenden: „Das schweigend Ewige geht ist Gottes stille, Wille laut über die den Erdenstreit.“205 Zu Beginn waren die Anfragen um materielle Hilfe, so wie zur Unterstützung bei der Flucht aus Deutschland noch nicht so häufig. Dies änderte sich schlagartig mit dem Judenboykott vom 1. April 1933 (siehe Kapitel 2.). Durch die Kenntnis der engen Kontakte der Quäker ins Ausland kamen nun immer öfter Schutzbedürftige und baten um Hilfe bei der Ausreise. Nach der Einführung der Nürnberger Gesetze und dem Novemberpogrom waren die Quäker fast ausschließlich damit beschäftigt, Aufnahmeländer für die Flüchtlinge zu finden und sich um die finanziellen Aspekte, wie z.B. wer die Kosten für Pass und Überfahrt übernimmt, zu kümmern. Um dem großen Ansturm Herr zu werden, errichteten die Quäker das German Emergency Committe (GEC) in Berlin (siehe Kapitel 6.3.).206 Um die Auswanderungshilfe kümmerten sich vor allem Laura Livingstone und Corder Catchpool. 1941 übernahmen dann die Deutschen Olga Halle und Martha Röhn diese Arbeit, wobei sie von ca. 20 weiteren Helfern aus ganz Deutschland unterstützt wurden.207 Auf Grund dieser Tätigkeit wurde Olga Halle seit 1937 mehrmals von der Gestapo verhört. Im Zuge dieser Verhandlungen gelang es ihr sogar manchmal, KZ-Häftlinge frei zu bekommen.208 Mit Hilfe der Quäker in London konnten ca. 1.000 Menschen vor 204 Wörterbuch des Christentum, S. 1019 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 281 206 Lawrence Darton, S. 2f 207 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 279 208 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, S. 125 205 74 Kriegsbeginn nach England emigrieren. Doch auch hier musste die Auswanderungshilfe 1941 aus oben genannten Gründen beendet werden.209 4.3.3. Weitere Hilfe nach Kriegsbeginn Nachdem der Krieg begonnen hatte, versuchten die Quäker sich weiterhin für Verfolgte und Inhaftierte einzusetzen. Obwohl nun keine Auswanderung mehr möglich war, kamen täglich neue Menschen, die um Hilfe baten. In dem Quäkerbüro spielten sich grausame Szenen ab, die sich Olga Halle „tief und schmerzlich in ihr Herz eingegraben haben“. Sie schreibt dazu: „Aber hier stand mir ein unerbittliches Schicksal gegenüber, so dass sich auch mir die Frage nach Gott aufdrängte. So konnte ich nur antworten, dass, wenn sie trotz ihres Leidensweges Gott erleben würden, sie mehr von Gott wissen würden als ich.“210 Da nun keine Auswanderungshilfe mehr möglich war, versuchten die Quäker sich auf andere Art um die Verfolgten zu kümmern. So verschickten sie beispielsweise Pakete in die Ghettos und Konzentrationslager. In ihnen waren u.a. Bücher, Musikinstrumente und Spiele. Die einzige Bedingung seitens der Gestapo lag darin, dass in den Büchern keine handschriftlichen Bemerkungen oder Zeichen zu finden sein durften. Dieses hoch geschätzte Unternehmen der Quäker wollte man dann auch auf gar keinen Fall durch Einschmuggeln von Nachrichten gefährden.211 Auch die Mitglieder der von den Quäkern errichteten Jugendgruppe halfen dabei, die Bücher zu kontrollieren, um eventuelle handschriftliche Eintragungen zu entfernen. Obwohl die Mitglieder der Jugendgruppe selber verfolgt wurden, schreibt ein junges Mädchen 1941 in einem Rundbrief: „Ich bin dankbar für jeden Tag, an dem 209 Ebd. Begegnungen mit dem Judentum. Ein Gedenkbuch, (2.Heft der „Stimme der Freunde“), Herausgegeben von der Religiösen Gesellschaft der Freunde in Deutschland, 1962, S. 21 210 75 ich mich noch in Ruhe meiner Arbeit, meinem nächsten Menschen und mir selber widmen kann.“212 Trotz der massiven Bedrohung und Verfolgung der Quäker gaben sie nie auf und versuchten, soweit es ihnen möglich war, den Menschen in ihrer größten Not helfend zur Seite zu stehen. A. Cohen schreibt über Elisabeth Heim, die nach den Nürnberger Rassegesetzen selbst als Jüdin angesehen wurde und auf eigene Initiative hin verfolgte Juden versteckte: „... ich darf berichten von dem, was Menschen möglich geworden ist, und nicht nur von Idealen, die erfüllt werden sollten.“213 Elisabeth Heim verzichtete auf ihre Auswanderung und kam 1940 ums Leben. Zu ihrer anstehenden Deportation sagte sie: „Siehst du, bei jedem großen Unglück braucht es Freiwillige, jetzt kann ich eine solche Freiwillige sein; wie sollen die Jungen das Schicksal hinnehmen, wenn wir Alten davonliefen?“214 211 A.S. Halle S. 165 Ebd. 213 Begegnungen mit dem Judentum, S. 21 214 Ebd., S. 20 212 76 4.4. Die Zeugen Jehovas Obwohl die Zeugen Jehovas nicht durch große Hilfsaktionen während des Hitler-Regimes bekannt geworden sind, so haben sie doch einen erheblichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet, der an dieser Stelle aufgezeigt wird. 4.4.1. Die Vorgeschichte der Ernsten Bibelforscher- vereinigung (Zeugen Jehovas) Die Religionsgemeinschaft der „Ernsten Bibelforschervereinigung“ hatte ihren Ursprung in der Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts. Ihr Gründer war der US-Amerikaner Charles Taze Russell, der nach seinem Bruch mit den Adventisten 1874 verkündete, dass Christus unsichtbar wiedergekommen sei, um die Getreuen des Herrn um sich zu sammeln und nach 40-jähriger „Erntezeit“ würde dann die Erlösung, das „Tausendjährige Reich“ kommen. Seit Beginn der Neunzigerjahre fand die Zeitung „Zion´s Watch Tower“ auch in Europa Zuspruch. 1897 wurde der „Wachtturm“ erstmals in Deutsch veröffentlicht, 5 Jahre später errichteten die Bibelforscher ihre erste Zweigniederlassung in Elberfeld.215 Ende des Ersten Weltkrieges erlangten die 3868 „Verkündiger“ erstmals Aufmerksamkeit bei staatlichen Stellen und Glaubensgemeinschaften auf Grund ihrer Kriegsdienstverweigerung. Angriffen ausgesetzt. Seitdem Trotz waren dieser sie zunehmenden Angriffe auf die Bibelforschervereinigung konnte diese Religionsgemeinschaft einen regen Zulauf verzeichnen. 1926 zählten 22.535 Menschen zu den Bibelforschern.216 Unter dem zweiten Präsident der „Internationalen 215 Wolfgang Benz und Walther H. Pehle (Hrsg.): Lexikon des deutschen Widerstandes, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 322 77 Bibelforschervereinigung Heilsprophezeiungen (IBV) für den entstanden Beginn des neue christlichen Friedensreichs und eine Veränderung der Glaubenslehre: Die Christen sollen nicht der staatlichen Obrigkeit sondern nur der göttlichen Gehorsam schulden. Außerdem wurde von der endzeitlichen Entscheidungsschlacht „Harmagedon“ gepredigt, die den Untergang der „alten Welt“ und deren tragenden Mächte wie Politik, Kapital und Kirche ankündigte.217 Im Zuge der zunehmenden Diskriminierung der Bibelforschervereinigung wurden 1931 Polizeiverfügungen und Druckschriftverbote in Baden, Bayern und Württemberg immer häufiger.218 1931 nahmen die Bibelforscher den Namen „Zeugen Jehovas“ an, die alten Bezeichnungen blieben jedoch noch lange gebräuchlich.219 4.4.2. Widerstand und Verfolgung im Dritten Reich Obwohl die Zeugen Jehovas nur einen geringen Anteil der Gesamtbevölkerung darstellten, wurden sie zunehmend als Bedrohung von den Nationalsozialisten für „Volk und Staat“ angesehen. Ab April 1933 wurde die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas nach und nach in allen deutschen Ländern verboten.220 Trotzdem trafen sie sich heimlich, um ihre Ideen in Schrift („Wachtturm“) und Wort zu verbreiten. Dieses Verhalten führte zu zahlreichen Strafverfahren, meist in Massenprozessen, die nicht selten mit Gefängnisstrafen oder der Einweisung ins Konzentrationslager endeten.221 Seit der „Reichstags- brandverordnung“ vom 28.2.1933 waren sogar Bibellesungen im 216 Ebd. Ebd. 218 Ebd., S. 323 219 Ebd., S. 321 220 Ebd., S. 323 221 Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 282 217 78 Familienkreis verboten. Die Sanktionen gegen die Zeugen Jehovas reichten über Dienststrafverfahren, Entlassungen aus dem Staatsdienst, Beschlagnahmung des Vermögens und dem Verbot der Religionsgemeinschaft.222 Auf Grund ihres Gebotes, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen lehnten sie das autoritäre und totalitäre System der Nationalsozialisten völlig ab. Für sie war eine Rettung nur durch Jehova möglich, daher konnte Hitler keinesfalls der Retter der Menschheit sein.223 Keine andere Religionsgemeinschaft versagte sich in vergleichbarer Geschlossenheit den nationalsozialistischen Nötigungen. Ihre Weigerungshaltung gegen die Grußpflicht, die Eidesleistung und die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften führte zur Verschärfung des Konflikts. Trotz des Verbots und des hohen Risikos setzten mehr als 10.000 Zeugen Jehovas ihren Verkündigungsdienst fort. 1936 und 1937 wurden Flugblattkampagnen gestartet, die sich direkt an die Bevölkerung richteten. In den Flugblättern protestierten sie gegen die Einschränkung der Glaubensfreiheit. Gleichzeitig wollten sie die Öffentlichkeit über den verbrecherischen Charakter des NSRegimes aufklären. Diese Art von Widerstandskampf zeigte äußerlich große Ähnlichkeit zu dem von politischen Regimegegnern.224 Trotz der zahlenmäßigen Unbedeutsamkeit der Zeugen Jehovas erregten sie große Aufmerksamkeit. Zeitweise beschäftigten sich höchste Stellen der Justiz, Polizei und SS mit ihnen. Seit 1935 wurden sie zu Hunderten und Tausenden in Konzentrationslager und Gefängnisse gebracht.225 Durch die totale Verweigerung des Kriegsdienstes wurden viele von ihnen zum Tode verurteilt. Die Zeugen Jehovas wurden ebenfalls in den mit Deutschland verbündeten Ländern oder besetzten Ländern verfolgt.226 222 Anna Sabine Halle, S. 166 Ebd. 224 Wolfgang Benz, S. 323 225 Ebd. 226 Ebd., S. 324 223 79 4.4.3. Die Zeugen Jehovas im KZ In den Konzentrationslagern wurden die Häftlinge in Gruppen eingeteilt, die farblich gekennzeichnet wurden. Die Zeugen Jehovas wurden mit der Farbe Violett ausgewiesen. Zu Kriegsbeginn waren die Häftlinge besonderen Schikanen seitens der SS ausgesetzt. Sie wurden isoliert, in Strafkompanien eingewiesen und misshandelt, alles mit dem Hintergedanken, dass sie sich von ihrer Glaubensgemeinschaft abwenden sollten.227 Doch dies geschah nur sehr selten, obwohl sie, wenn sie auf einem Formular unterschrieben, dass sie nicht mehr den Zeugen Jehovas angehören, sofort aus den KZ´s entlassen worden wären. Ihre Überzeugung und ihr Glaube war ihnen wichtiger als das Leben. Am 29. September 1939 traf die erste Gruppe der Zeugen Jehovas aus Dachau im Konzentrationslager Mathausen ein. Bis zum 20. April 1944 sind nur sechs deutsche oder österreichische Zeugen Jehovas aus der Haft entlassen worden auf Grund ihrer Austrittserklärung aus der Glaubensgemeinschaft. Diese geringe Zahl lässt erkennen, wie stark die Zeugen Jehovas mit ihrem Glauben verbunden sind.228 Auf Grund ihres Glaubenszuversicht Zusammengehörigkeitsgefühls entwickelten sie einen und ihrer ausgeprägten Selbstbehauptungswillen. Es entstand ein Netz von Hilfsaktionen wie beispielsweise Geld- und Paketgemeinschaften. Des Weiteren versuchten sie, ihren Glauben durch heimliche Gottesdienste oder Bekehrung von Mitgefangenen zu praktizieren. In den Augen vieler Mithäftlinge waren sie die „erstaunlichste Gemeinschaft, die es im KZ gab“.229 „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas. Sie haben sich geweigert Arbeit zu tun und haben dafür 227 Ebd. Hans Hesse (Hrsg.): „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“. Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, Edition Temmen, Bremen 1998, S. 29 228 80 sehr harte Strafen, die bis zum Kostentzug gingen, zu erdulden gehabt, und sie 229 Wolfgang Benz, S. 324 81 sprachen ganz offen mit dem Lagerkommandanten, sie sagten ihm ins Gesicht: ›Hitler sei ein Antichrist und dem Teufel verschrieben.‹ Man hat ihnen zur Strafe die Bibel weggenommen, aber sie konnten die Bibel auswendig, sprachen im Chor oder halfen sich aus, wenn ihnen manche Stellen nicht ganz gegenwärtig waren.“230 Anhand von Zahlen soll das Ausmaß der Verfolgung der Zeugen Jehovas dargestellt werden: Von 25.000 zu Beginn des Dritten Reichs wurden 10.000 für unterschiedlich lange Zeit inhaftiert, davon über 2.000 in Konzentrationslagern. 1.200 Todesopfer hatte die Glaubensgemeinschaft zu verzeichnen, wovon etwa 250 hingerichtet wurden (häufig auf Grund des Kriegsdienstverweigerns). Diese Zahlen lassen erkennen, dass die Zeugen Jehovas die am härtesten verfolgte religiös- weltanschauliche Gruppe, gemessen an der Zahl der Angehörigen, während der NS-Zeit war.231 Die nonkonforme und radikale, gleichzeitig nicht-unterstüzlerische Haltung der Zeugen Jehovas kann in keine herrschende Kategorisierung der Widerstandshistographie eingegliedert werden. Sie waren keine Widerstandskämpfer, trafen aber bewusst die Entscheidung, sich unter Einsatz ihres Lebens dem NS-Regime entgegenzustellen. Sie wollten die politische Ordnung nicht verdrängen, sondern uneingeschränkte Glaubensausübung und Treue zum „biblischen Gebot“, letztendlich damit die Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber Gott. Widerstand war für sie ein Bekenntnisakt, ein Erfordernis religiöser Selbstbehauptung.232 230 Hans Hesse, S. 35 Wolfgang Benz, S. 324 232 Ebd., S. 325 231 82 5. Zur britischen Flüchtlingspolitik 5.1. Flüchtlingspolitik vor 1933 Zwischen 1826 und 1905 gab es keine Einwanderungsbeschränkungen für England, was sich auf die Ausländerzahlen auswirkte, die ständig stiegen. Im Jahr 1881 setzte ein Flüchtlingswelle von russischen Juden ein, in der etwa 100.000 Juden in einem Zeitraum 20 Jahren nach England kamen. Diese Welle brachte die britische Regierung dazu, über die liberalen Einreisebedingungen nachzudenken.233 Die jüdische Einwanderungswelle hatte auf Grund der Vielzahl der Einwanderer in Großbritannien hatte einen Antisemitismus zur Folge, der sich zunächst nur auf politische Randgruppen beschränkte, sich aber schnell zu einer großen öffentlichen Opposition entwickelte. Im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg wurden die Forderungen nach der Beschränkung der Einwanderungsbedingungen immer lauter. Seit 1905 galt als einziger Hinderungsgrund für die Einreise nach England, dass Grenzbeamte die Einreise bei „Unerwünschten“ verweigern konnten. Zu diesen „Unerwünschten“ gehörten beispielsweise Kranke, Geisteskranke, Kriminelle oder Personen, die den Anschein erweckten, der öffentlichen Fürsorge zur Last zu fallen.234 Wenn dies der Fall war, so wurden sie als „undesirable immigrants“ abgewiesen. Personen, die aus politischen, religiösen oder sozialen Gründen verfolgt wurden und deshalb um Asyl 233 Bernhard Wasserstein: Britische Regierung und die deutsche Emigration 1933-1945, in: Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien: Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1983, S. 44 (Im folgenden zitiert: Gerhard Hirschfeld) 234 Gerhard Hirschfeld, S. 45 83 baten, durften nicht abgewiesen werden.235 Zwischen 1906 und 1914 gingen die Einwanderungszahlen auf Grund dieser Regelungen wesentlich zurück.236 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 kam es zu einer weiteren Verschärfung der Gesetzgebung im Bereich der Einwanderungsbestimmungen. Am 5. August 1914 trat ein Gesetz in Kraft, das „im Kriege oder zur Zeit einer der Nation drohenden Gefahr oder großen Notstandes den Ausländern Beschränkungen auferlegen sollte“.237 Nach diesem Gesetz durften Angehörige eines Landes, das mit Großbritannien im Kriegszustand war, nicht aufgenommen werden.238 Alle Fremden mussten sich nun polizeilich melden und der Innenminister war dazu berechtigt, Ausländer auszuweisen und ohne Anhörung zu deportieren. 1914 wurden von den 50.000 Deutschen, die in England lebten ca. 40.000 interniert.239 Im Land verschlechterte sich die allgemeine Stimmung gegen Deutsche. In Deutschland oder Österreich geborene britische Staatsbürger gingen sogar soweit, dass sie in öffentlichen Loyalitätsbriefen z.B. in der Times ihre bedingungslose Treue zu England beteuerten. Geschäfte von Deutschen oder mit deutschklingenden Namen waren zunehmend tätlichen Angriffen ausgesetzt.240 1919 wurde der „Aliens Act” in den „Aliens Restriction Act” (Gesetz zur Beschränkung der Ausländer) erweitert und 1920 zum „Aliens Order“ (Fremdenerlass) nochmals verändert: Kein Ausländer durfte, wenn er nicht nur vorübergehend als Besucher im Land blieb, das Land ohne Genehmigung des Arbeitsministers betreten. Ausnahmen wurden nur bei Personen gemacht, die 235 Rebekka Göpfert: Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39, Campus Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 43, (Rebekka Göpfert [kurz: R.G.] zitiert Louise London: British Immigration Procedures and Jewish Refugees 1933-1939, in: Mosse u.a. (Hrsg.): Second Chance.) 236 Gerhard Hirschfeld, S. 45 237 Ebd. 238 Rebekka Göpfert, S. 43 239 Gerhard Hirschfeld, S. 45 240 Ebd., S. 46 84 einen ausreichenden Unterhalt nachweisen konnten und finanziell unabhängig waren. Im Allgemeinen konnte jeder von den Einwanderungsbeamten abgewiesen werden, wobei keine Berufung gegen diese Entscheide möglich waren.241 1927 wurde jedoch die Visumspflicht für die ehemals feindlichen Deutschen und Österreicher nach einem Abkommen, das England mit Deutschland und Österreich abgeschlossen hatte, abgeschafft, das im Gegenzug den britischen Staatsbürgern freie Einreise in das jeweilige Land gewährte.242 Diese Einwanderungsgesetze blieben nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis 1972 in Kraft.243 5.2. Britische Flüchtlingspolitik seit 1933 Schon wenige Wochen nach der Machtergreifung Hitlers begann die verstärkte Auswanderung aus Deutschland. Angesichts der Situation begann diese Auswanderung jedoch zunächst recht zaghaft und meistens waren es Anfragen nach ausgedehnten Auslandsurlauben. Viele unterschätzten die nationalsozialistische Rassenpolitik sogar noch nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933.244 Nur langsam erkannten die Auswanderer, dass es, wenn sie Deutschland verließen, Jahre dauern könne, bis sie zurückkehren konnten.245 Trotz der zunächst zaghaften Auswanderung machte sich diese neue Auswanderungswelle in Großbritannien bemerkbar. Waren es in den Jahren zuvor etwa 300 bis 400 Einreiseanträge pro 241 Ebd. Rebekka Göpfert, S. 43f. (R.G. zitiert Louise London: British Immigration Control Procedures..., S. 147) 243 Gerhard Hirschfeld, S. 46 244 Barry Turner: Kindertransport. Eine beispiellose Rettungsaktion, Bleicher Verlag, Gerlingen 1994, S. 16. Anmerkung: Leider gibt Barry Turner in seinem Buch keine Art von Literaturhinweisen an. Aufgrund der vielen authentischen Zeugnisse ist dieses Buch jedoch sehr ergiebig für diese Arbeit. 245 Ebd., S. 18 242 85 Monat, so mussten die Einwanderungsbehörden jetzt 50 bis 100 Anträge pro Tag bearbeiten. Großbritannien musste also reagieren, wobei anfangs die Meinungen über eine Lockerung oder eine Straffung der Einreisebedingungen auseinander gingen.246 Die feindselige Haltung gegenüber der deutschen und jüdischen Emigration war noch auf die Zeit des Ersten Weltkrieges zurückzuführen und so gab es auch aus der britischen Öffentlichkeit Widerspruch gegen den Zustrom.247 Der Abgeordnete von Tottenham North, E. Doran forderte im Unterhaus am 9. März 1933, dass man ausländische Juden daran hindern solle, Großbritannien von Deutschland aus zu betreten. Der Innenminister erwiderte jedoch, dass laut der „Aliens Order“ keinem auf Grund seiner politischen oder religiösen Ansichten die Einreise verweigert werden darf.248 Während der ersten Ausreisewelle verließen etwa 37.000 Juden Deutschland. Die britische Regierung musste also ihre Einwanderungspolitik überdenken: In einer Kabinettssitzung am 5. April 1933 wurde aus diesem Grund über die Aufnahme von Juden, die England von Deutschland aus betreten als „dringende Angelegenheit“ diskutiert. Das Ergebnis war die Bildung eines Kabinettsausschusses unter dem Vorsitz des Innenministers, das sich mit den Fragen der Ausländerbeschränkung beschäftigen sollte. Am 6. April stellte dieser Ausschuss fest, dass die Zahl der Ausländer in England im erheblichen Maße gestiegen sei. Die meisten waren Deutsche aus höheren Berufsschichten und wahrscheinlich Juden.249 Da schon 1931 die „Reichsfluchtsteuer“ eingeführt wurde, wonach 25% des Eigenkapitals in Deutschland verbleiben mussten, konnten zunächst vor allem Reiche sowie erfolgreiche Akademiker oder Künstler das Land verlassen. Sie hatten die besten Chancen im Ausland finanziell unabhängig zu 246 Rebekka Göpfert, S. 44 Gerhard Hirschfeld, S. 46 248 Ebd., S. 47 249 Ebd. 247 86 sein. Für die jüdischen Durchschnittsbürger war es weitaus schwieriger, da sie eine finanzielle Belastung für das Aufnahmeland bedeuteten. Außerdem stellten sie eine potenzielle Bedrohung für den dortigen Arbeitsmarkt und so schloss ein Land nach dem anderen die Grenzen. Man wollte das Problem noch nicht erkennen.250 Als die Flüchtlingszahlen zunahmen wurden weitere Bedingungen an die Einwanderer gestellt. Sie durften keinem Briten einen Arbeitsplatz wegnehmen. Die Flüchtlinge durften nur die Stellen annehmen, die bisher vergeblich auf dem britischen Arbeitsmarkt ausgeschrieben waren.251 Auf Grund der finanziellen Notsituation, in der sich die Flüchtlinge befanden, wurden immer mehr Flüchtlingsorganisationen gegründet, die sich bereit erklärten, für die finanzielle Diejenigen, Versorgung die keine der Flüchtlinge finanziellen aufzukommen. Möglichkeiten zur Auswanderung oder Verwandte und Bekannte im Ausland hatten, wandten sich an die von Leo Baeck gegründete Reichsvertretung der Juden in Deutschland, die legitimiert war, mit deutschen Behörden zu verhandeln und darüber hinaus Kontakte ins Ausland pflegte.252 Otto M. Schiff, der selbst 1896 als Sohn eines Bankiers nach England kam und ein hohes Ansehen in der jüdischen Gemeinde in England hatte, machte sich in der englischen Flüchtlingshilfe einen Namen. Er war gut über die Geschehnisse in Deutschland informiert und sorgte sich um die Juden in Deutschland. 253 Angeregt von der Initiative Leo Baecks erklärte der Londoner Börsenmakler Otto M. Schiff der britischen Regierung, dass man Vorkehrungen für die Versorgung der jüdischen Einwanderer getroffen habe: Jegliche finanziellen Belastungen werden von der jüdischen Gemeinde getragen, damit die Flüchtlinge dem Staat 250 Barry Turner, S. 18f siehe Fußnote 19 in: Rebekka Göpfert, S. 47 252 Barry Turner, S. 22 253 Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision. Anglo-Jewry’s Aid to Victims of the Nazi regime 1933-1945, Weidenfeld & Nicolson, London 1998, S. 7 251 87 nicht zur Last fallen.254 Otto Schiff gründete im März 1933 das „Jewish Refugees Committee” (JRC) um jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland zu helfen.255 Doch auch die nicht-arischen Christen sollten vom JRC unterstützt werden, da sich außer den Quäkern keine andere Organisation um diese kümmerte. Die christlichen Organisationen, unter der Leitung der Kirchen wurden erst 1938 eingerichtet.256 Daraufhin durfte eine beträchtliche Anzahl von Einwanderern nach England einreisen. Weiterhin durften Einwanderungsbeamte allerdings die Einreise auf Grund von Krankheit oder Kriminalität verweigern.257 „Britannien wurde in den Monaten vor September 1939 der wichtigste Hafen für jene [Menschen], die vor der Nazi-Unterdrückung flohen.“258 Otto Schiff rechnete zunächst mit 4.000 – 5.000 Flüchtlingen in den nächsten Jahren. Doch die Ernüchterung kam schnell: Die jüdische Gemeinde wurde mit Einwanderungsanträgen nur so überhäuft und es musste mehr Personal eingestellt werden. Die Geldsorgen des Flüchtlingskomitees nahmen immer mehr zu, da die meisten Flüchtlinge auf Grund eines Sperrkontos, auf dem das Vermögen der Juden in Deutschland festgehalten wurde, kaum noch geldliche Mittel mit ins Land bringen konnten. Lionel Rothschild ergriff daraufhin die Initiative und gründete im Mai 1933 den „Central British Fund of German Jewry” (Britischer Zentralfond für deutsche Juden). Er rief zu groß angelegten Spendenkampagnen auf, die in einem Jahr 250.000 Pfund einbrachten.259 Es entstanden immer mehr Flüchtlingsorganisationen, die sich zur finanziellen Versorgung der jüdischen Flüchtlinge bereiterklärten: In Hinsicht auf die nicht-arischen Christen u.a. die „Church of England“, die „Church of Scotland” und die „Catholic Church”. Die 254 Gerhard Hirschfeld, S. 48 Amy Zahl Gottlieb, S. 9 256 Ebd., S. 10 257 Gerhard Hirschfeld, S. 48 258 Tony Kushner and Katharine Knox: Refugees in an age of Genocide. Global, National and Local Perspectives during the Twentieth Century, Frank Cass, London 1999, S. 126 259 Barry Turner, S. 24f 255 88 „Society of Friends” (Quäker) arbeiteten eng mit den jüdischen Flüchtlingsorganisationen zusammen, sowohl bei der Unterbringung der Flüchtlinge, als auch bei den Verhandlungen mit dem Home Office. Eine weitere große Flüchtlingsorganisation war das „Academic Assistance Council” (AAC). Das Ziel dieser Organisation war es, verfolgte Forscher und Wissenschaftler und deren Familien aufzunehmen. Die Einreisegenehmigungen für diese Art von Flüchtlingen wurde aber nur unter der Voraussetzung erteilt, später in andere Länder zu emigrieren, also als Übergangslösung.260 Es zeigte sich, dass ausschließlich die Flüchtlingsorganisationen für die Abwicklung der Einreiseformalitäten und die Grundversorgung der Flüchtlinge verantwortlich waren. Der Staat erteilte lediglich die wichtigen Einreisegenehmigungen.261 Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938 stiegen die Einwanderungszahlen noch einmal stark an. Die finanzielle Garantie für die Einwanderer Flüchtlingsorganisationen kaum noch tragbar. 262 war für die Auf Grund der schlechten Situation auf dem Arbeitsmarkt und der finanziellen Belastung, die die Flüchtlinge darstellten, schlossen immer mehr Länder ihre Grenzen.263 Großbritannien führte auf Grund des starken Zustroms am 2. Mai 1938 für Österreicher und am 21. Mai für deutsche Einwanderer die Visumspflicht wieder ein. Dies sollte eine Entlastung für die Einwanderungsbehörden zur Folge haben, die den neuen Zustrom nicht mehr bewältigen konnten. 264 5.2.1. Die Konferenz von Evian 260 Rebekka Göpfert, S. 46f Ebd., S. 48 262 Gerhard Hirschfeld, S. 52f 263 Ebd. S. 51 264 Rebekka Göpfert, S. 48 (R.G. zitiert A.J. Shermann: Island Refuge. Britain Refugees from the Third Reich 1933-1939, S. 87) 261 89 Der Anschluss Österreichs und der damit verbundene Anstieg der Flüchtlingszahlen war aber nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit zu spüren. Im Juni 1938 schlug der Amerikanische Präsident Roosevelt eine gemeinsame Konferenz zwischen allen amerikanischen und europäischen Ländern – ausgenommen Deutschland – vor. Am 6. Juli 1938 trafen die Repräsentanten aus 31 Ländern in Evian zusammen. Deutschland war zusätzlich mit 100 Repräsentanten von Not leidenden Minderheiten vertreten. 265 Ursprünglich waren 33 Länder eingeladen, doch Italien und Südafrika lehnten eine Teilnahme an der Konferenz ab. 266 Im Vorfeld wurden in Großbritannien Überlegungen zur britischen Haltung während der Konferenz angestellt: Da auch andere Länder an der Konferenz teilnahmen, war es „wichtig, nicht den Eindruck zu erwecken, dass das Treffen derartige Erleichterung schaffen werde, mit dem Ergebnis, dass andere Länder dann ungestraft Teile ihrer Bevölkerung zur Auswanderung zwingen könnten.“267 Soweit gingen dann auch die Vertreter Polens und Rumäniens, die mit der Bitte vorsprachen, dass die Länder ihnen durch die Mehraufnahme von Flüchtlingen bei der Vertreibung der Juden aus ihren Ländern helfen solle. Diese Bitte wurde jedoch konsequent abgelehnt.268 Obwohl die englischen Flüchtlingsorganisationen sehr große Hoffnungen in diese Konferenz gelegt hatten, kam die Ernüchterung sehr schnell: Alle Länder stellten klar, dass ihre Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge ausgeschöpft seien.269 Auch Roosevelt stellte klar, dass die USA nicht bereit wären, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, da es bereits 10 Millionen Arbeitslose in den USA geben würde und man befürchte, durch die verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen ebenfalls antisemitische Gefühle in 265 Barry Turner, S. 37 Amy Zahl Gottlieb, S. 85 267 Gerhard Hirschfeld, S. 54 268 Rebekka Göpfert, S. 49 (R.G. zitiert Louise London: British Gouverment Plicy and Jewish Refugees 1933-45) 269 Ebd. 266 90 den USA heraufzubeschwören.270 Australien lehnte unter folgendem Vorwand ab, Flüchtlinge aufzunehmen: „As we have no real racial problem, we are not desirous of importing one.“271 Kanada hingegen zeigte sich bereit, Landwirte aufzunehmen mit der Bedingung, dass sie Eigenkapital mit ins Land bringen würden. Doch auf Grund der Tatsache, dass die deutschen Landwirte im Allgemeinen kein großes Eigenkapital besaßen und wenn doch sie den größten Teil ihres Besitzes in Deutschland zurücklassen mussten (Reichsfluchtsteuer), wurde nur Wenigen die Einreise nach Kanada genehmigt.272 Man appellierte an die deutsche Regierung für faire Bedingungen bei der Evakuierung und bildete ein zentrales Flüchtlingskomitee, das „Inter-gouvermental Committee“, das für internationale Flüchtlingsfragen zuständig sein sollte. Auch Großbritannien lockerte seine Einwanderungsbedingungen nicht, aus Angst Deutschland würde daraufhin noch rücksichtsloser mit der Evakuierung umgehen.273 Norman Bentwich, der Vertreter des britischen Zentralfonds, zu dem Ausgang der Konferenz in Evian: „Das offizielle Ergebnis schmeckte ähnlich schal wie das Mineralwasser von Evian.“274 5.2.2. Palästina als britisches Mandatsgebiet Großbritannien hatte deshalb so große Verantwortung gegenüber jüdischen Flüchtlingen aus Europa, weil Palästina unter britischen Protektorat stand.275 Außerdem bot Palästina für die ausgewanderten Juden eine verlockende Alternative. Doch Palästina hatte eine Einwanderungsquote von maximal 40.000 270 Amy Zahl Gottlieb, S. 85f Ebd. S. 86 272 Ebd. 273 Barry Turner, S. 39 274 Ebd. 275 Rebekka Göpfert, S. 44 271 91 und konnte daher bei ½ Millionen gefährdeter Menschen nur als Teillösung gelten, aber man hoffte auf eine Lockerung dieser Einwanderungsquote.276 Da sich die nationalsozialistische Gesetzgebung zunehmend auf die jüdische Jugend auswirkte, war Palästina ein großer Anziehungspunkt für sie. Immer häufiger wurde in Deutschland Kurse angeboten, die auf das Leben in Palästina sollten.277 vorbereiten Doch der neue Einwanderungszustrom nach Palästina brachte auch Probleme mit sich. Zum einen sollte Palästina England als Flüchtlingsland entlasten, zum anderen sollten aber auch die diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten durch den starken Zustrom der Einwanderer nicht gefährdet werden. Abgesehen von der Einwanderungsquote gab es keine zusätzlichen Einwanderungsbestimmungen für Palästina.278 Als Folge des starken Zustroms erhoben sich die palästinensischen Araber 1936 zu einem teilweise gewalttätigen Aufstand, um ein Umdenken bei der britischen Einwanderungspolitik zu erreichen. Großbritannien verschärfte daraufhin die Einwanderungsbedingungen, obwohl gerade jetzt die Suche nach Zufluchtsländern immer dringlicher wurde.279 Als Folge der beschränkten Einwanderungsbedingungen sowohl in Palästina als auch in anderen Ländern wandten sich die Flüchtlinge nun im verstärkten Maße an Großbritannien. 280 Im Mai 1939 wurde das „White Paper“ entwickelt, welches die Einwanderung nach Palästina regeln sollte. Ein Limit von 75.000 Einwanderern pro Jahr in den nächsten fünf Jahren wurde festgelegt, wovon die illegalen Einwanderer abgezogen wurden. Alle Einwanderer, die diese Zahl überstiegen, durften nur mit der offiziellen Zustimmung der palästinensischen Araber 276 Barry Turner, S. 26 Ebd., S. 27ff 278 Rebekka Göpfert, S. 45 279 Ebd. 280 Gerhard Hirschfeld, S. 51 277 92 einwandern.281 281 Rebekka Göpfert, S. 45 93 5.2.3. Reaktionen auf den Novemberpogrom Im Zuge des Novemberpogroms 1938 stiegen die Auswanderungszahlen in Deutschland sprunghaft an. Ca. 40.000 Juden emigrierten 1938, was sich auch auf den Andrang in Großbritannien auswirkte.282 Durch die unglaublichen Gewalttaten während des Pogroms gegen Juden in Deutschland war ein Umschwung der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Flüchtlinge deutlich erkennbar.283 Der Pogrom und seine Folgen wurden in jedem Teil Großdeutschlands erlebt. Für einige deutsche Juden war die „Kristallnacht“ vernichtend. Vor allem die ältere Generation litt unter dieser Situation, weil sie sich keinen anderen Ort als ihr Zuhause vorstellen konnten.284 So wurden in Wien etwa 49 Synagogen niedergebrannt, 4083 jüdische Geschäfte wurden geplündert und verwüstet, 40.000 Juden wurden in KZ verschleppt und über 700 Juden begangen Selbstmord. 285 Im „Völkischen Beobachter“ vom 11. November 1938 wird daraufhin ein Aufruf vom Reichsminister Goebbels veröffentlicht, unter der Schlagzeile: „Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat von Paris kommt noch – keine weiteren Aktionen mehr – Gesetzliche Regelung der Judenfrage angekündigt.“286 Es wird also angekündigt, dass die Nationalsozialisten so weit gehen werden und die Gesetze radikal gegen die Juden verändern werden. (siehe Kapitel 2.) Dieser Pogrom Gelegenheit, aufzurufen. 287 war zu für einer viele Parlamentsmitglieder großzügigeren eine Flüchtlingspolitik Die britische Regierung musste also Schritte 282 Gerhard Hirschfeld, S. 57 Barry Turner: S. 47 284 Tony Kushner and Katharine Knox, S. 138 285 Hugo Gold: Geschichte der Juden in Wien. Ein Gedenkbuch, Publishing House OLAMENU, Edition „OLAMENU“, Tel Aviv 1966, S. 89 286 Ebd. S. 94 287 Mr. Butcher, MP, in Hansard (HC), Vol. 341 Col. 1453 (21. November 1938) in: Tony Kushner and Katharine Knox, S. 140 283 94 unternehmen, um das überforderte Personal zu entlasten. Das Personal wurde aufgestockt, die Antragsverfahren wurden vereinfacht und die Flüchtlingsorganisationen konnten dem Home Office Listen mit politischen Flüchtlingen vorlegen, um für diese Personen Blockvisa zu erhalten. Bedingung für diese Blockvisa war nur die finanzielle Absicherung durch die Flüchtlingsorganisationen. Dennoch sollten die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland nicht unnötig gefährdet werden und es sollte auch nicht der Eindruck entstehen, Großbritannien habe eine unbegrenzte Aufnahmekapazität. 288 Übersiedlungspläne, nach denen der Flüchtlinge in britische Kolonien geschickt werden sollten, um somit Großbritannien zu entlasten, konnten nach Ausbruch des Krieges 1939 allerdings nicht weiter verfolgt werden.289 288 289 Rebekka Göpfert, S. 51 Gerhard Hirschfeld, S. 57 95 6. Die Anfänge der Kindertransporte 6.1. Die Aufnahme der jüdischen Kinder durch das „Children’s Inter-Aid Committee“ Die Kindertransporte begannen zwar erst im Dezember 1938, doch schon vorher gab es eine vergleichbare Aktion, während der seit 1936 Kinder nach England evakuiert wurden: Am 24. März 1936 gründeten der „Central British Fund“, der „Save the Children Fund“ die Quäker und weitere Organisationen das „Children’s Inter-Aid Committee“ (kurz „Inter-Aid“), um bedrohte Kinder, sowohl jüdische als auch nichtjüdische, in Deutschland zu retten.290 Das „Inter-Aid“ arbeitete dabei eng mit dem „Council for German Jewry”, den „Quäkern“, der „Diözese von Chichester”, der „West London Synagogue” und dem „Women’s Appeal Committee for German and Austrian Women and Children”. Finanziert wurden diese Transporte zu einem großen Teil vom „Save the Children Fund”, der bereits 1919 gegründet wurde.291 In Zusammenarbeit mit der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und den Quäkern wurden Kinder ausgesucht, deren Eltern entweder inhaftiert waren, oder Gefahr liefen inhaftiert zu werden, oder die selbst den Quälereien durch die Nazis ausgesetzt waren.292 Zwischen Mai 1936 und November 1938 konnten 471 Kinder nach Großbritannien gebracht werden. Die Kosten für diese Transporte und die Versorgung der Kinder belief sich auf 600 Pfund pro Jahr. Die Kinder kamen oft auf Einladung von Verwandten oder Bekannten der Eltern und sorgten für ihre Unterbringung und 290 Amy Zahl Gottlieb, S. 100 Rebekka Göpfert, S. 52 292 Amy Zahl Gottlieb, S. 100f 291 96 Ausbildung. Der „Save the Children Fund“ war die tragende Säule der organisatorischen Seite dieser Kindertransporte. Sein Ziel war es, sich um Kinder, die von ihren Familien getrennt und aus politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden, zu kümmern. Von den 471 Kindern waren 45% jüdischer Abstammung und 55% christlicher Abstammung, daran lässt sich erkennen, dass nicht nur religiös Verfolgte, sondern auch Kinder, die aus politischen Gründen verfolgt wurden, unter dem Schutz des „Save the Children Fund“ standen. Der Grund der Trennung von der Familie und den Kindern lag oft darin, dass die Eltern meist schon Einreisevisa für Übersee besaßen und die Kinder noch keine. Auch wurden die Kinder wegen der ungewissen Zukunft, die sie im Ausland erwartete, zurückgelassen. Den Kindern, die mit „Inter-Aid“ nach England kamen, wurde die Versorgung für ein Jahr garantiert, obwohl man sich darüber im Klaren war, dass man sie nicht nach einem Jahr wieder wegschicken konnte. In dieser einjährigen Garantie war die Suche nach einer geeigneten Unterkunft enthalten, wobei Internatsschulen verminderte oder gar keine Gebühren verlangten, sowie die Übernahme der anfallenden Kosten für Kleidung, Nahrung etc.. Außerdem versuchte man die Kinder, die während der Ferien nicht nach Deutschland zurückkommen konnten, was dem größten Teil entsprach, einen Platz in einem Ferienlager oder privat bei Familien zu beschaffen.293 Zunächst war keine Altersbeschränkung festgelegt, dennoch waren die meisten Kinder bei ihrer Flucht zwischen 13 und 14 Jahren. Jüngere Kinder wurden nur in Ausnahmefällen aufgenommen. Um die Versorgung der Kinder gewährleisten zu können, wurden zahlreiche jüdische und nichtjüdische Publikationsorgane um Unterstützung gebeten. Diese Unterstützung sah neben der finanziellen Hilfe auch die Aufnahme von Kindern in englischen Familien vor. Wurde ein Kind finanziell unterstützt, bekamen die 293 Rebekka Göpfert, S. 52 und 53 (R.G. zitiert Save the Children Fund/Inter-Aid 97 „Paten“ ein Foto von ihrem „Patenkind“ und das Versprechen des „Inter-Aid“, sich um alles zu kümmern.294 Doch auch privat versuchten deutsche Eltern ihre Kinder beispielsweise per Anzeige in einer eigenen Rubrik im Jewish Chronicle (eine große jüdische Londoner Wochenzeitung) in englische Haushalte zu vermitteln: „Bitte helfen Sie mir, zwei Kinder (Junge und Mädchen, 10 Jahre alt, aus guter Familie) aus Berlin herauszubringen – sehr dringender Fall – RK 96 Lordship Park, N16.“295 6.2. Die Vorläufer der Kindertransporte Die Idee, dass Kinder getrennt von ihren Eltern gerettet werden sollten, war nicht neu. Ende Oktober 1938 ist in der Korrespondenz des Foreign Office ein Vorschlag der „League of Nations“ zu finden, in dem Kinder, die aus Deutschland fliehen müssen, nach England einreisen dürfen. Als Antwort auf diesen Vorschlag verwies das Foreign Office auf das „Co-ordinating Committee Refugees“, das im April 1938 von mehreren Flüchtlingsorganisationen gegründet wurde, um bei der Bearbeitung der Visa-Anträge, deren Zahl nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland stark angestiegen war, behilflich zu sein.296 Es ist jedoch fraglich, ob diesen Überlegungen ein Vorschlag von jüdischer Seite vorausging, da in den Akten kein weiterer Verweis enthalten ist. Wahrscheinlicher ist, dass diese Überlegung eine Fortführung des Planes, 10.000 Kinder nach Palästina einreisen zu lassen, ist297: Palästina bot an, 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland zu holen. Auf Grund der Einwanderungsbeschränkung ließ sich dieser Plan jedoch nicht Committee for Children from Germany: First Annual Report, S. 5) 294 Rebekka Göpfert, S. 54 (Ebd., S. 13) 295 Barry Turner, S. 48 296 Rebekka Göpfert, S. 55 297 Rebekka Göpfert, S. 56 (R.G. zitiert Hansard – Niederschriften der britischen Unterhaussitzungen – Band 341, Sp. 1438 (21. Nov. 1938) und Sp. 2005-2105 98 verwirklichen. Wegen des Protektorats und der damit verbundenen Verantwortung der Juden aus Europa gegenüber Palästina, bot England an, 10.000 Kinder aufzunehmen.298 Gleichzeitig verfolgte der „Central British Fund“ seit 1936 einen Rettungsplan unter der Mitwirkung der „Youth Aliyah“: 80.000 bis 100.000 Kinder und junge Erwachsene sollten in Palästina ausgebildet und anschließend angesiedelt werden. Im Hinblick auf diesen Plan fand am 24. November eine Beratung im Unterhaus statt, wobei kein Bezug auf die Kindertransporte genommen wurde. In dieser Beratung wurde über das Palästina-Problem debattiert. Am 14. Dezember 1936 fanden nochmals Verhandlungen mit den palästinensischen Arabern statt, um über eine mögliche Einreise von 10.000 Kindern nach Palästina zu diskutieren. Da es aber sehr unwahrscheinlich war, dass diese Verhandlungen positiv verlaufen würden, wurden Überlegungen angestellt, die Kinder, denen die Einreise nach Palästina verwehrt wurde, eventuell in Großbritannien aufzunehmen.299 6.3. Antrag für den Kindertransport (24.Nov. 1938)) 298 Gerhard Hirschfeld, S. 57 299 Rebekka Göpfert, S. 56 99 Die erste Initiative auf Regierungsebene in Bezug auf die Kindertransporte ging von den Niederlanden aus. Am 11. November 1938 bat das holländische Flüchtlingskomitee den Ministerpräsidenten die Genehmigung für einen vorübergehenden Aufenthalt von einer unbegrenzten Anzahl von Kindern, zu erteilen. Dieser Antrag wurde akzeptiert, unter der Bedingung, dass das Komitee 100.000 Gulden als Bürgschaft für den Unterhalt der Kinder hinterlegen muss. Dieses Geld wurde direkt am 15. November aufgebracht.300 Am selben Tag sprach eine Delegation des „Council for German Jewry“ unter dem Vorsitz von Lord Samuel beim britischen 300 Barry Turner, S. 48 100 Premierminister Neville Chamberlain vor. Lord Samuel stellte klar, dass es nicht seine Absicht sei, Großbritanniens Türen für die geschätzten 300.000 Emigranten aus Deutschland zu öffnen, er bat den Premierminister lediglich darum, eine Ausnahmebestimmung für Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren (jüdische und christliche) zu erteilen.301 Die Kinder sollten in England zur Schule gehen und für die Re-Emigration ausgebildet werden.302 Die Übernahme der Kosten sollte wieder bei den Flüchtlingsorganisationen liegen. Es wurde eine Kollektivgarantie gegeben, dass keine öffentlichen Gelder in Anspruch genommen werden sollten. Dennoch sah Chamberlain für die Weiteremigration der Kinder Schwierigkeiten, da Palästina als einziges mögliches Ziel für die jungen Auswanderer gelten konnte. Auf Grund der begrenzten Einwanderungszahl nach Palästina sah Großbritannien jedoch keine Möglichkeit zur Weiteremigration. Chamberlains Antwort auf diese Anfrage fiel daher zunächst in einem „ziemlich negativen Ton“ aus. Am nächsten Tag änderte sich jedoch sein Standpunkt, als der Außenminister Lord Halifax Flüchtlingen vorübergehenden Aufenthalt genehmigen wollte, um durch dieses Umdenken in der Flüchtlingspolitik ein gutes Vorbild für die USA abzugeben.303 Außerdem ging man davon aus, dass die Aufnahme von Flüchtlingskindern auch auf große Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen würde. Um aufzuzeigen, dass hier keine leeren Versprechungen gemacht wurden, wurde umgehend angeboten, bei der Klärung der Formalitäten und den Verhandlungen mit dem Home Office im Hinblick auf die nötigen Einreisepapiere behilflich zu sein.304 Es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass man eine Politik der „offenen Tür“ in Bezug auf die Flüchtlinge betreiben werde, sondern eine Ausnahmebestimmung für Kinder und Jugendliche durchführen möchte.305 301 Amy Zahl Gottlieb, S. 105 Amy Zahl Gottlieb, S. 105 303 Barry Turner, S. 49 304 Rebekka Göpfert, S. 55 305 Barry Turner, S. 49 302 101 Am 21. November 1938 fand ein Treffen beim britischen Innenminister statt. Bei diesem Treffen waren sowohl Lord Samuel, als auch Vertreter anderer jüdischer Organisationen und Vertreter der Quäker anwesend, um über das weitere Vorgehen im Umgang mit verfolgten Kindern zu diskutieren. Zunächst verwies Lord Samuel auf mehrere Tausend belgische Kinder, die im Ersten Weltkrieg erfolgreich in England aufgenommen wurden. Außerdem erklärte er, dass er und die jüdischen Organisationen dazu bereit seien, die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen und dass das Home Office nur gebeten werde, die Visa für die Kinder auszustellen. Der Rest werde von den Flüchtlingsorganisationen getragen und organisiert.306 Ferner überlegte man, eine Organisation zu gründen, die mit „Inter-Aid“ zusammenarbeiten soll, um die zu erwartende Flut von Anträgen zu bewältigen. Anfangs hieß diese Organisation „Movement for the Care of Children from Germany“ (Fürsorge für Kinder aus Deutschland). Später wurde diese Organisation auf Grund des langen Namen in „Refugee Children´s Movement“ (Kinder Flüchtlingshilfe) umbenannt. Gegründet wurde „Refugee Children´s Movement“ (RCM) von Norman Bentwich und seiner Frau Mami.307 (siehe Kapitel 7.4.) Alle Komitees, die an der Durchführung der Kindertransporte beteiligt waren, sowohl in Berlin, Wien, Holland als auch in England waren interdenominationell. Das heisst, dass sie im Grunde konfessionslos waren und sich dementsprechend auch nicht nur um die jüdischen Kinder, die in Deutschland verfolgt wurden, kümmerten. Diese konfessionslosigkeit führte oft zu Konflikten zwischen den einzelnen Gemeinden (siehe dazu Kapitel 8.6.). Es wird angenommen, dass eine Höchstgrenze für die Anzahl der Kinder festgelegt wurde, dafür gibt es jedoch keine Beweis, da auch in der Parlamentssitzung am selben Tag (21. November) jede Art von Quote 306 abgelehnt wurde. Es sollten für alle Kinder Rebekka Göpfert, S. 57 102 Einreisegenehmi- 307 Barry Turner, S. 49 103 gungen erteilt werden, deren Unterhalt durch eigene Mittel oder von anderen Personen oder Flüchtlingsorganisationen sichergestellt war. Dazu wurde ein spezielles Reisedokument in London ausgestellt, um Pässe und Visa überflüssig zu machen.308Die Kinder benötigten also keine deutschen Reisedokumente mehr. Stattdessen wurde vom Innenministerium eine zweiteilige „identity card“ für jedes Kind ausgestellt. Ein Teil dieser „identity card“ würde vom Innenministerium zurückbehalten, den anderen Teil bekam das „Inter-Aid Committee“. Dieses war dazu berechtigt, die „identity cards“ an die Kinder auszugeben. Bei der Ankunft in England wurden die „identity cards“ dem zuständigen Einwanderungsoffizier vorgelegt. Hierauf waren persönliche Daten sowie ein Foto des jeweiligen Kindes (vgl. dazu auch Kapitel 8.1.).309 Die Debatte um die Kindertransporte wurde in den folgenden Tagen mehrfach seitens der Abgeordneten aufgenommen. Oft wurde über Fragen, wie beispielsweise nach der Dauer des Aufenthalts der Kinder oder ob sie nach dem Erreichen eines gewissen Alters das Land wieder verlassen werden, um keine Last für den englischen Arbeitsmarkt darzustellen, diskutiert.310 Im ersten Jahresbericht des RCM wird darauf hingewiesen, dass die Kinder eventuell über ihr 18. Lebensjahr hinaus in England bleiben werden. Auf die Frage nach finanzieller Unterstützung vom Staat wurde auf die Konferenz von Evian hingewiesen, in der die Flüchtlingsorganisationen garantierten, dass die Flüchtlinge dem Staat finanziell nicht zur Last fallen werden.311 Es herrschte weiterhin Unklarheit über die Anzahl der Kinder. Hinweise, die eine Festlegung betreffen könnten, waren verwirrend: Am 21. November 1938 schlug ein Parlamentarier vor, 10.000 Kinder aufzunehmen. Am selben Tag sprach der Innenminister zweimal davon, „a very large number” aufzunehmen. Am 12. 308 Ebd., S. 50 Amy Zahl Gottlieb, S. 107 310 Rebekka Göpfert, S. 57 311 Ebd., S. 58 309 104 Dezember warf ein weiterer Parlamentarier die Frage auf, ob der Innenminister überhaupt die Zustimmung des Unterhauses eingeholt habe, bevor er die Erlaubnis erteilte, 50.000 Kinder ins Land zu lassen. 312 Er antwortete, die Zahl der Kinder hinge von den finanziellen Mitteln der Flüchtlingsorganisationen ab. Auch die Angaben der Flüchtlingsorganisationen unterschieden sich: Das „German Emergency Council“ sprach am 28. November 1938 von „... a large number (up to 5.000)... up to the age of 17 plus“. Das „Co-ordinating Committee“ war im März 1939 der Meinung, „...no limit set by the Home Office... below the age of 18...“313 Die Zahl 10.000 tauchte erstmals im Zusammenhang mit dem Angebot aus Palästina auf, diese Anzahl von Kindern aus Deutschland zu adoptieren. Später wurde diese Zahl von den Britischen Zentralfonds aufgegriffen und von der Regierung als Höchstgrenze dessen, was durch freiwillige Spenden finanzierbar sei, akzeptiert.314 Rebekka Göpfert vermutet weiterhin, dass es keine Beschränkungen seitens der Regierung gab, sondern der Kriegsausbruch verhindert habe, dass noch mehr Kinder nach England einreisen konnten.315 Die Entscheidung, unbegleitete Kinder in großem Umfang nach England einreisen zu lassen, war in mehrfacher Hinsicht mit der Politik des Landes zu vereinbaren: die Kinder stellten zunächst noch keine Gefahr für den britischen Arbeitsmarkt dar und ihr Aufenthalt war nur als Übergangslösung gedacht.316 Außerdem erweckten die Kinder eher Mitleid in der Bevölkerung und man ging daher davon aus, dass sich die Kindertransporte vor der britischen Öffentlichkeit besser verantworten ließen. Des Weiteren hatte man die Absicht, als Vorbild für mögliche andere Aufnahmeländer zu fungieren. Gleich- 312 Rebekka Göpfert, S. 58 (R.G. zitiert Hansard, Band 341, Sp. 1472f (21. Nov. 1938) und Bd. 342, Sp. 18 (28. Nov. 1938)) 313 Rebekka Göpfert, S. 59 (R.G. zitiert Bulletin of the Co-ordinating Committee, März 1939) 314 Barry Turner, S. 50 315 Rebekka Göpfert, S. 59 105 316 Ebd., S. 60 106 zeitig übernahm Großbritannien die Verantwortung gegenüber Palästina auf Grund des Protektorats und somit auch den Juden aus Europa.317 6.3.1. Kindertransport als Vorbild für andere Aufnahmeländer? Seit der Konferenz von Evian übten Großbritannien und USA oft gegenseitig Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik. USA forderte von der britischen Regierung, mehr für die Flüchtlinge zu tun und nicht die ganze Arbeit und die finanzielle Belastung den Flüchtlingsorganisationen zu überlassen, während die britische Regierung nicht mit dem strengen Quotensystem der USA zufrieden war.318 Auf Grund dieses Konflikts zwischen USA und Großbritannien wies man während der Debatte am 16. November 1938 darauf hin, dass im Hinblick auf das Image in den USA keine negative Antwort bezüglich der Kindertransporte möglich sei. Man hoffte auch weiterhin auf die positive Einstellung aller Länder in Bezug auf die Kindertransporte bei den Flüchtlingsproblemen. Doch leider folgte kein Land dem Beispiel Großbritanniens. Robert Wagner schlug zwar dem amerikanischen Senat am 9. Februar 1939 vor, 20.000 Kinder in die USA zu holen und dort aufzunehmen, dieser Vorschlag wurde jedoch abgelehnt und es wurden lediglich 2.000 Kinder zugelassen. Daraufhin zog Robert Wagner seinen Vorschlag vollständig zurück.319 317 Ebd., S. 62 Rebekka Göpfert, S. 61f (R.G. zitiert A.J. Shermann: Island Refuge, S. 131 und S. 173) 319 Rebekka Göpfert, S. 62 (R.G. zitiert Saul Friedmann: No heaven for the oppressed. United States policy toward Jewish refugees 1938-45, S. 30f und S. 91ff) 318 107 7. Organisation und Ablauf der Kinder- transporte 7.1. Vorbereitungen für die ersten Transporte Nach dem positiven Entscheid für die Kindertransporte musste schnell gehandelt werden, da die Ankunft der ersten Transporte mit 500 Kindern in den nächsten zwei Wochen schon angekündigt war. Allerdings zählte der erste Transport, der am 1. Dezember 1939 Berlin verließ, nur 207 Kinder. Doch schon der Transport, der am 12. Dezember aus Wien eintraf, brachte mehr als 500 Kinder nach England.320 Da die Einreiseformalitäten seitens Großbritanniens bereits geregelt waren, mussten jetzt die Passformalitäten in Deutschland geklärt werden. Doch den deutschen Behörden schienen diese Kindertransporte sehr gelegen zu kommen, da auf diese Art sowohl viele Juden das Land verlassen würden, die gleichzeitig aber auch wenig Güter und Wertsachen aus dem Land bringen konnten. So schickte der SS-Reichsführer und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern am 31. Dezember die 1938 einen geheimen Schnellbrief an außerpreußischen Landesregierungen, in dem stand: „... Im Interesse der Förderung der Auswanderung der jüdischen Kinder und Jugendlichen ersuche ich daher, die Passbehörden umgehend anzuweisen, Kinderausweise und Reisepässe an die fraglichen Personen mit größtmöglicher Beschleunigung auszustellen, wenn einwandfrei nachgewiesen wird, dass die erwähnten Passpapiere zum Zweck der Auswanderung benötigt 320 Rebekka Göpfert, S. 65 108 werden.“321 Ende November (ca. eine Woche nach dem Beschluss des Sonderstatus von Flüchtlingskindern) war Norman Bentwich zu Gesprächen mit dem holländischen Flüchtlingskomitee nach Amsterdam gereist. Holland und das holländische Flüchtlingskomitee eignete sich am besten für das erste Stadium der Auswanderung: Zum einen lag Holland nah an dem dicht bevölkerten Ruhrgebiet und verfügte über ein weitläufiges Eisenbahnnetz, welches beide Länder (Holland und Deutschland) miteinander verband. Ähnliche Versuche in Frankreich scheiterten an der Unschlüssigkeit der Regierung.322 Während dieser Gespräche, die Norman Bentwich u.a. mit David Cohen, dem Leiter des „Council for German Jewry“ führte, wurden über die Möglichkeiten der Durchreise der Kinder auf ihrem Weg nach Großbritannien und auch über die Realisierung des Plans, einige Kinder in Holland unterzubringen, verhandelt.323 Norman Bentwich kehrte nach London zurück, mit der Zusage zur Kooperation, der Rückendeckung des niederländischen Ministerpräsidenten und mit der Bitte an das Außenministerium, Holland formell von der geplanten Kinderflüchtlingshilfe zu unterrichten.324 Nachdem die Reiseroute festgelegt war (mit dem Zug nach Hoek van Holland und von dort aus mit der Fähre nach Harwich), musste nun die Auswahl der Passagiere getroffen werden. Aus Holland hatte Bentwich eine Liste mit besonders dringenden Fällen mitgebracht, u.a. Kinder aus Waisenhäusern in Hamburg und Breslau, deren Schließung drohte.325 321 Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941: die Geschichte einer Austreibung, S. 249 322 Barry Turner, S. 51 323 Rebekka Göpfert, S. 67 324 Barry Turner, S. 53 325 Ebd. 109 7.2. Auch Österreich bereitet sich vor Der Anschluss Österreichs an Deutschland hatte fatale Auswirkungen auf das Leben der Juden in Österreich. Die jüdische Gemeinde war völlig durcheinander geraten. Nur die Quäker und die „Jugend-Alijah“ hatten ihre Stellung gehalten. Doch keine Gruppe, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierte, hatte mehr Kontakt zu höheren Beamten der Nazi-Administration.326 Aus diesem Grund schickte Josef Löwenberg, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Wien, am 28. November 1938 ein Gesuch nach London, wonach etwa 35.000 Jugendliche die Bedingungen für die Aufnahme in einem Kindertransport erfüllten. Trotzdem fürchtete man um die Kooperationsbereitschaft der Nazis. Man bat daher um die Entsendung eines Repräsentanten als „Beistand zur Durchsetzung unserer Pläne“. Es sollte jemand mit Durchsetzungsvermögen sein, denn Adolf Eichmann, der Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt sowie des Zentralbüros für jüdische Auswanderung ließ sich nur schwer und schon gar nicht von Juden überreden, die Transporte zu genehmigen.327 Man entschied sich für die Bankiersgattin Geertrudia WeijsmullerMeijer aus Amsterdam. Norman Bentwich und David Cohen baten sie während ihres Besuchs in Amsterdam um Hilfe bei den Verhandlungen mit den deutschen Behörden.328 Sie war entschlossen, energisch und ein Organisationstalent, außerdem war sie keine Jüdin und sprach gut Deutsch. Dennoch verfügte sie weder über Ortskenntnisse in Wien, noch hatte sie Beziehungen zur österreichischen Verwaltung.329 Am 3. Dezember 1938 flog Frau Weijsmuller-Meijer nach Wien. Dort wurde sie auf Grund eines Missverständnisses auf dem Weg 326 Ebd., S. 57 Ebd., S. 58 328 Rebekka Göpfert, S. 67 329 Barry Turner, S. 58 327 110 zum jüdischen Viertel in der Leopoldstadt, verhaftet, da man sie für eine Jüdin hielt. Als Entschädigung bat sie um einen Termin bei Adolf Eichmann, den sie daraufhin am 5. Dezember um 9.30 Uhr in seinem Hauptquartier traf.330 Die Verhandlungen verliefen zunächst jedoch nicht so leicht, wie man anfangs annahm, da Frau Wijsmuller-Meijer keine britischen Regierungsdokumente vorlegen konnte: „Dies schien ihm noch nie passiert zu sein und er war dadurch erschrocken, dass ich überhaupt nicht vor ihm erschrocken war, so dass er mich bat, ihm alles zu erzählen. [...] Dann fragte er mich: ››Verraten sie mir, gnädige Frau, haben sie auch Papiere bei sich, so dass sie die Kinder sofort mitnehmen können?‹‹ Ich sagte: ››Nein, Herr Doktor, es tut mir Leid, aber ich musste hierhin gehen um erst mit ihnen zu sprechen.‹‹ Danach sagte er: ››Würden sie so freundlich sein und mich einen Blick auf ihre Hände werfen lassen? Würden sie ihre Handschuhe ausziehen und ihre Hände gut sehen lassen?‹‹ Dann sagte er: ››Würden sie nun ihre Schuhe ausziehen und einmal vor mir auf und ab gehen und auch ihre Röcke über die Knie hochziehen?‹‹ Ich dachte: ja, es ist für einen guten Zweck, ich werde es einfach alles machen, aber merkwürdig fand ich es natürlich schon. Als ich das alles getan hatte und wieder zu ihm zurückgekommen war und mich wieder gesetzt hatte, sagte er: ››Unglaublich, so rein arisch und dann so verrückt.‹‹“331 Schließlich genehmigte Eichmann die Ausreise von zunächst 600 Kindern. Er stellte allerdings die Bedingung, dass die Kinder Wien bis zum 10. Dezember 1938 verlassen sollten. Dieses Ultimatum fiel aber ausgerechnet auf den Sabbat, an dem es Juden aus religiösen Gründen verboten war. Die Frage, ob es sich dabei um reinen Zufall, oder pure Absicht handelte, bleibt unbeantwortet.332 Sobald die Kindertransporte für Wien genehmigt waren, mussten die Mitglieder der Kultusgemeinde in Wien teilweise Tag und 330 Barry Turner, S. 58 Auszug aus einem Bericht von G. Wijsmuller-Meijer, den sie 1961 in YAD VASHEM gegeben hat. Dokument Archiv Amsterdam: Nederlands Instituutt for Oorlogs Documentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam. 332 Rebekka Göpfert, S. 68 331 111 arbeiten, um den ersten Kindertransport vorzubereiten: Die Kinder mussten ausgewählt werden (zunächst wurde diese ausgewählt, deren Rettung von größter Dringlichkeit erschien), dann wurden sie ärztlich untersucht, Pässe mussten beschafft und das Gepäck kontrolliert werden. Ein drittel der Kinder waren Rassejuden und von den Quäkern ausgesucht worden. Die Quäker waren intensiv an den Vorbereitungen für die Kindertransporte aus Wien beteiligt.333 Im Folgenden zwei Beispiele für eine Gepäckliste der Flüchtlinge, die bei der Auswanderung angefertigt wurde:334 (Hdgep. = Handgepäck; Reisegep. = Reisegepäck) 18.10.1939, Gut Winkel Ilse Sara Krüger Jude 22.4.1925 nach Dänemark Hdgep. 25 Pos. u.a. „Besteck Silber Familienbesitz“, Fotoalbum Reisegep. 68 Pos. Kopftücher Jüd. u.a. „Windjacke Jüd. Gemeinde“ „5(!) Gemeinde“, Grammophon, Fahrrad, Arbeitshosen, Bücherbrett, 6 Bücher 18.10.1939, Gut Winkel Eva Johanna Sara Loewy Jude 14.10.1924 nach Dänemark Hdgep. 16 Pos. Reisegep. 50 Pos. u.a. „4 Arbeitshosen selbst angef.“, „11 Blusen selbst angef.“, „4 Winterkleider selbstangef.“, 3 Koffer Der erste Transport startete von Wien am 10. Dezember, knapp zwei Stunden bevor Eichmanns Frist abgelaufen war. In Köln machte der Transport Halt, um weitere Kinder aufzunehmen.335 333 Rosa Rachel Schwarz: Zwei Jahre Fürsorge der Kultusgemeinde Wien unter Hitler, DÖW Signatur 2737 aus dem Archiv YAD VASHEN, Tel Aviv, Mai 1944, S. 4 334 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akte: Pr. Br. Rep. 36A, Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg /2278/ 335 Barry Turner, S. 61. Anmerkung: Barry Turner schreibt, dass der Transport am 11. Dezember startete. In dem Archiv YAD VASHEM jedoch steht zu dem ersten Kindertransport, der von Wien aus ging, dass er bereits am 10. 112 In einem Brief an den SS-Obersturmbannführer Rajakowitsch schreibt Frau Wijsmuller-Meijer am 26. August 1941: „Als Neutrale wurde ich im November 1938 für diese Komitee nach Hamburg geschickt um gemeinsam mit dem holländischen Konsul dort über die Möglichkeit der Auswanderung deutscher Kinder Bericht zu erstatten. Am 5.12.38 habe ich in Wien Herrn Eichmann (jetzt Sturmbannführer in Berlin) und Herrn Friedmann die technische Seite von Kindertransporten über Holland nach London mit der Eisenbahn – und anderen Behörden geregelt, und am 10.12.38 den ersten Transport von 600 Kindern von Wien bis nach London begleitet. Am 22.8.39 habe ich die Grenze Bentheim in dieser Eigenschaft zum fünfzigsten Male passiert.“336 7.3. Vorbereitungen in England Während die Kindertransporte in Berlin, Wien und an der holländischen Grenze schon im vollen Gange war, wurden in London noch Überlegungen zum gelungenen Abschluss der Reise unternommen. Vorerst musste jedoch der bestehende Konflikt zwischen dem neu gegründeten „Movement for the Care of Children from Germany“ und „Inter-Aid“ bereinigt werden: Die Zusammenarbeit beider Organisationen hätte nur Vorteile gebracht, doch „Inter-Aid“ hatte Bedenken bei der „jüdischen Übernahme einer nichtkonfessionellen Organisation“.337 Nach langen Diskussionen einigte man sich schließlich auf eine Zusammenarbeit und den Namen, „The World Movement for the Rescue of Children from Germany/British Inter-Aid Committee“. Auf Grund des langen Namens änderte man ihn letztendlich im März Dezember 1938 Wien verließ, an dem Tag, als Eichmanns Frist ablief. 336 Brief von Geertruida Wijsmuller-Meijer an den SS-Oberstrumbannführer im Sicherheitsdienst Den Haag, Herrn Rajakowitsch aus Amsterdam, den 26. August 1941. Dokument: Archiv in Amsterdam: Nederlands Instituut For Oorlogs Dokumentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam 113 337 Barry Turner, S. 64 114 1939 in „Refugee Children´s Movement“ (RCM).338 „Das RCM war von nun an verantwortlich für alle Kinder, die unter seiner Ägide nach England gekommen waren.“339Am 29. November bezog das RCM 69 Büroräume in der Great Russel Street. Hier stand genügend Raum für die Bewältigung der zu erwartenden großen Menge von Korrespondenz zur Verfügung. Angesichts der großen Flut von Briefen, die täglich eintrafen, war es schwer für die Beamten eine Entscheidung zu treffen, welches Kind ausgewählt werden sollte. Aus diesem Grund einigte man sich darauf, die Organisationsleitung vor Ort (also in Berlin oder Wien) die Auswahl treffen lassen.340Um zu die Einreisegenehmigung vom Innenministerium zu erhalten, wurden dem RCM Namenslisten mit Fotos und Gesundheitsattesten zur Weiterleitung an das Innenministerium eingereicht. Doch das lief nicht immer ohne Probleme ab: man musste mit der Unberechenbarkeit der europäischen Luftpost, dem Drang der deutschen Polizei, in letzter Minute doch noch Änderungen vorzunehmen und mit dem Zaudern der Eltern im Hinblick auf die bevorstehende Trennung rechnen. Dies führte oft zu Verzögerungen und Fehler waren daher unvermeidbar.341Hinzu kam noch, dass die Ausländerabteilungen, die für die Kindertransporte zuständig waren, hoffnungslos unterbesetzt waren. Bis Ende 1938 blieben ca. 10.000 Anträge unerledigt. Diejenigen, die den Rückstand aufarbeiten sollten, waren größtenteils damit beschäftigt, Anrufe entgegenzunehmen, bei denen um sofortige Rettung gebeten wurde. Beschwerden über den „Amtsschimmel“ häuften sich. Das Außenministerium schob die Schuld der Verzögerung auf Deutschland. Doch auch das große Durcheinander der Flüchtlingsorganisationen und die Überforderung des Personals trugen ihre Teilschuld.342 338 Ebd. Rebekka Göpfert, S. 82 340 Barry Turner, S. 65 341 Ebd. 342 Ebd., S. 66 339 115 7.3.1. Mithilfe der britischen Flüchtlingsorganisationen bei den Kindertransporten Neben dem RCM gab es weitere Flüchtlingsorganisationen, die sich um die Kinder aus Deutschland kümmerten. Die größte Organisation war die „Jugend-Aliyah“, welche die Kinder auf ein weiteres Leben in Palästina vorbereiteten. Ferner gab es das „Jewish Refugees Committee“, den „B´nai B´rith Council for Refugee Children“ und für Kinder christlichen Glaubens, die nach den Rassegesetzen der Nazis ebenfalls zu den Juden gezählt wurden, die „Society of Friends“ (die Quäker), das „Catholic Children´s Sub-Committee“, das „Church of England Committee“ und das „Riversmead Methodist Committee“, um hier nur einige Flüchtlingsorganisationen zu nennen.343 Wegen dieser zahlreichen Organisationen war die Verwaltung der Kindertransporte völlig unüberschaubar geworden. In einer jährlich erscheinenden Auflistung des „Jewish Refugees Committee“ über die Flüchtlingsorganisationen, waren im Juli 1943 30 verschiedene Organisationen aufgeführt. Aus diesem Grund wurde im Mai 1938 das „Co-ordinating Committee“ gegründet. Zu seinen Aufgaben zählten u.a. auch die Kommunikation zwischen dem Home Office und den Flüchtlingsorganisationen, die für die Kindertransporte zuständig waren.344 Des Weiteren war das „Co-ordinating Committee“ dafür verantwortlich, Interessenskonflikte zwischen den verschiedenen Flüchtlingsorganisationen zu lösen, um so einen Meinungsaustausch zu ermöglichen.345 Im Februar 1939 wurden endlich sämtliche Flüchtlingsorganisationen unter ein Dach gebracht. Die britische Regierung stellte dem „Jewish Refugees Committee“ ein Haus in 343 Rebekka Göpfert, S. 83 Rebekka Göpfert, S. 84 (R.G. zitiert Bloomsbury House: The care of German and Austrian refugees, London 1942 und 1943) 344 116 der Bloomsbury Street zur Verfügung. Dieses sogenannte „Bloomsbury House“, entwickelte sich zur zentralen Anlaufstelle für alle Flüchtlinge, die aus Europa nach England kamen.346 7.4. Das „Refugee Children’s Movement“ (RCM) 7.4.1.Aufgabenbereiche des RCM Das RCM war für sämtliche Vorgänge, die mit den Kindertransporten zusammenhingen verantwortlich. Dazu zählten die Prüfung der Anträge, die Ausstellung der Permit-Nummern, die Organisation der Reise, die erste Aufnahme der Kinder in England, die Auswahl der Pflegeeltern oder der Heime, sowie die Finanzierung der Kindertransporte. Um die Arbeit bewältigen zu können, wurde das RCM in acht Abteilungen aufgegliedert: 347 Das „General Departement“ fungierte als Anlaufstelle für die alle Departements und beschäftigte sich mit komplizierten Beschwerden.Das „Guarantee Departement“ war für die Kinder zuständig, die bereits einen Sponsor gefunden hatten. Sie zählten zu den „garantierten Kindern“. Das „German Departement“ hielt Kontakt (solange dies noch möglich war) mit den zuständigen Ansprechpartnern in Deutschland („Reichsvertretung der Juden in Deutschland“, „Israelitische Kultusgemeinde in Wien“, den Quäkern und anderen Institutionen, die mit den Kindertransporten beschäftigt waren). Darüber hinaus war es zuständig für alle „nicht-garantierten Kinder“. Zu den „nicht-garantierten Kindern“ zählten diejenigen Kinder, für die von Deutschland aus kein Sponsor gefunden wurde und somit das RCM die Garantie für den Unterhalt des Kindes übernehmen musste.348 345 Barry Turner, S. 91 Rebekka Göpfert, S. 85 347 Ebd., S. 86 348 Ebd., S. 90 346 117 Das „Hospitality Departement“ kümmerte sich um die Unter- 118 bringung der „nicht-garantierten Kinder“, da „garantierte Kinder“ in der Regel bereits ein Heim gefunden hatten. Das „After Care Departement“ überprüfte die Unterkünfte der „garantierten Kinder“, die folglich nicht vom RCM, sondern bereits von Deutschland aus ausgesucht wurden. Mit dem Kriegsausbruch wurde die Arbeit dieses Departements in den Provinzen Englands fast unmöglich und so konzentrierte man sich auch auf die Unterkünfte der „nicht-garantierten Kinder und verteilte die Arbeit auf die zuständigen lokalen Subkomitees. Das „Camps and Hostels Departement“ war für die eigens errichteten Heime in ganz England zuständig. Diese Arbeit wurde ebenfalls nach Kriegsausbruch von den lokalen Subkomitees übernommen. Das „Transport Departement“ organisierte sämtliche Reisen innerhalb Englands. Dazu zählten neben den Reisen vom Ankunftsort zu den Gastfamilien bzw. Heimen auch in den seltensten Fällen Ferienfahrten. Das „Finance Departement“ betreute sämtliche Geldangelegenheiten des RCM. 7.4.2. Die Subkomitees Durch die weite Verstreuung der Kinder über ganz England, errichtete das RCM die „Local Sub-Committees“. Die Aufgabe der „Committees“ bestand darin, den Kontakt mit den Kindern im ganzen Land aufrecht zu erhalten. Jedes Kind, das privat untergebracht war, sollte mindestens zweimal pro Jahr besucht werden. Die Beobachtungen, die aus diesen Besuchen entstanden, wurden in dem so genannten „Welfare Report“ festgehalten. Dieser wurde dem „After-Care Departement“ in London zugeschickt, das dann gegebenenfalls erforderliche 119 Schritte einleiten konnte. Die Arbeit der Subkomitees nahm im Laufe der Zeit immer Platz ein.349 Anfangs waren die Subkomitees auf Initiative von kirchlichen und jüdischen Vereinen, unabhängig von der Londoner Zentrale des RCM, gegründet worden. Ihr Ziel war es anfangs, Spendengelder zu sammeln und Unterkünfte für die Kinder zu organisieren. Daher funktionierte die sinnvolle und effektive Zusammenarbeit mit dem RCM nicht auf Anhieb. Die Koordination der Organisationen nahm einige Zeit in Anspruch.350 Mit der Zeit verlagerte sich das Aufgabenfeld der Subkomitees: Aufgrund der Tatsache, dass immer mehr Kinder ins Land kamen, musste man sich nun um die langfristige Pflege und Fürsorge der Kinder kümmern. Regelmäßige Besuche in den Gastfamilien waren vonnöten. Durch den Kriegsausbruch wurde die Arbeit der Subkomitees allerdings erschwert: Die Kommunikation zwischen den Provinzen und London brach immer wieder zusammen. Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, die Kinder zu erreichen, da die öffentlichen Verkehrsmittel nur noch eingeschränkt zur Verfügung standen. Darüber hinaus wurden die Kinder zunehmend im Hinblick auf die bevorstehenden Luftangriffe von der Stadt aufs Land evakuiert.351 Auf Grund der weit verstreuten und der erschwerten Kommunikation, beschloss das RCM zwölf „Regional Committees“ einzurichten, die ihrerseits für die „Local Sub-Committees“ die Verantwortung übernehmen sollten. Die „Regional Committees“ verteilten sich folgendermaßen (in den Klammern steht die dazugehörige Anzahl der untergeordneten „Local Sub- Committees“352: Stadt London (11 „Local Sub-Committees“), Leeds (10), Nottingham (13), Cambridge (12), Kreis London (11), Oxford (20), Gloucester (23), Cardiff (4), Birmingham (18), 349 Ebd., S. 87 Rebekka Göpfert, S. 88 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 10) 351 Rebekka Göpfert, S. 88 352 Rebekka Göpfert, S. 89 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 11) 350 120 Manchester (14), Edinburgh (6) und Turnbridge Wells (21). Die Anzahl der „Local Sub-Committees“ entspricht in etwa der zahlenmäßigen Verteilung der Kinder im Land.353 Jedes der „Regional Committees“ verfügte über die nötigen Vollmachten, um eigenständige Entscheidungen treffen zu können, falls die Kommunikation mit der Londoner Zentrale unterbrochen war. Aus diesem Grund kamen auch die Unterlagen jedes Kindes, die vorher im „After-Care Departement“ verwaltet wurden in die einzelnen „Regional Committees“. Durch die Verlagerung der Aufgabenbereiche, nahm das „After-Care Departement“ nun eine neue Funktion ein. Es fungierte als Beratungsstelle für die einzelnen „Regional Committees“ und trat vor allem dann in Erscheinung, wenn ein Vermittler zwischen verschiedenen „Regional Committees“ vonnöten wurde.354 7.4.3. Personalprobleme In Anbetracht der Größe des RCM ergaben sich aber auch Probleme für die zu erledigende Arbeit in Hinsicht auf das Personal: Die meisten ehrenamtlichen Mitarbeiter verfügten über zu wenig Erfahrung. Darüber hinaus fehlte eine starke Leitung: „Es hätte besser sein können. Dass dem nicht so war, lag meiner Meinung nach an den inkompetenten Verantwortlichen, die für ihre Aufgabe nicht ausgebildet waren. Die Kinder machten einfach, was sie wollten.“355 Die Hinzuziehung der ehrenamtlichen Mitarbeiterin Lola HahnWarburg, eine Hamburger Bankierstochter, hatte eine ausgleichende Wirkung auf die Flüchtlingsorganisation. Sie und ihr Mann waren im September 1938 nach England gekommen 353 Rebekka Göpfert, S. 89 Ebd. 355 Harry Katz arbeitete mehrere Jahre in einem Wohnheim, in dem „nichtgarantierte Kinder unterkamen. In: Barry Turner, S. 171 354 121 und gehörten mit zu der Delegation, die auf die Kindertransporte gedrängt hatte. Im RCM übernahm sie die Rolle der Ansprechpartnerin für die Kinder, die Probleme mit ihren Pflegeeltern, Lehrern etc. hatten. Das war keine leichte Aufgabe, da mindestens eins von zehn Kindern als Folge des Erlebten, einen psychischen oder physischen Schaden davontrugen.356 Die zweite fähige ehrenamtliche Mitarbeiterin, die dem RCM den Rücken stärkte, war Elaine Blond, die jüngste Tochter von Michael Marks, dem Gründer des Marks & Spencer-Konzerns.357 Anfangs engagierte sie sich als Spendensammlerin, später wurde sie Schatzmeisterin des RCM. Auf Grund der ständig steigenden Kosten für die Kindertransporte wurde sie zur Sprecherin einer Initiative zur Beantragung von Regierungsgeldern. Die Flüchtlingsorganisationen sollten sich jedoch selber finanzieren. Ihnen wurde immer wieder die unwiderlegbare Garantie entgegengehalten, die Otto Schiff der britischen Regierung während der Konferenz von Evian gab, dass kein Flüchtling jemals finanziell der Öffentlichkeit oder der Regierung zur Last fallen würde.358 7.4.4. Kosten der Kindertransporte Die Gelder, die das RCM für die Kindertransporte aufbringen musste, wurden im Wesentlichen für zwei Bereiche benötigt. Zum einen für die Kinder selber, also für deren Unterhalt, Verpflegung, Kleidung etc. (dies galt vor allem für die „nicht-garantierten Kinder“), zum anderen mussten die laufenden Kosten des RCM ebenfalls gedeckt werden. 7.4.4.1. Kosten für die Kinder 356 Barry Turner, S. 67 Ebd. 358 Ebd., S. 68 357 122 Die Kosten für die „nicht-garantierten Kinder“ setzten sich dabei wie folgt zusammen: 1942 musste das RCM für etwa 1.000 Kinder aufkommen. Dabei betrug die wöchentliche Rate für ein Kind im Durchschnitt 17 Schilling, wenn es in einer Familie lebte und ca. 25 Schilling, wenn das Kind in einem Heim untergekommen war. Diese Zahl ergab sich aus den Kosten, die man für ein englisches Waisenkind berechnete. Dazu kamen noch Kosten für Kleidung, die vom RCM sowohl für „garantierte Kinder“, als auch für „nicht-garantierte Kinder“ übernommen wurden. Diesen Betrag legte man auf ca. einen Schilling pro Kind und Woche fest. Die große britische Kaufhauskette Marks & Spencer unterstützte den RCM, indem sie besonders günstige Konditionen für den Kauf von Kleidern anbot. Hinzu kamen Kosten für die Kinder, die im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch evakuiert werden mussten oder interniert wurden. Darüber hinaus wurden die Kinder, die bereits arbeiteten oder einen Ausbildungsplatz gefunden hatten und deren Lohn dennoch nicht für den Lebensunterhalt ausreichte, mit einem variablen Betrag von bis zu 24 Schilling in der Woche unterstützt. Außerdem gewährleistete das RCM eine religiöse Erziehung der Kinder, wobei sich die Kosten für diese religiöse Erziehung 1942 auf geschätzte 4.000 Pfund beliefen. Krankenversicherung und medizinische Behandlung der „nicht-garantierten Kinder“ übernahm das RCM ebenfalls, wobei aus Deutschland geflohene Ärzte oft kostenlose Behandlungen für die Kinder anboten.359 Ende März 1941 wurden die Kosten, die auf die Kinder entfielen auf 45.000 Pfund für das vorangegangene Jahr geschätzt.360 7.4.4.2. Finanzierung des RCM Obwohl die meisten Mitarbeiter des RCM ehrenamtlich, also 359 Die vorangegangenen Informationen sind entnommen, aus: Rebekka Göpfert, S. 98f 360 Ebd., S. 99 123 unentgeltlich arbeiteten, fielen bei der verwaltenden und organisatorischen Arbeit unvermeidbare Kosten an: So wurde für jedes Kind eine eigene Akte angelegt, in der die wichtigsten Daten zur Person festgehalten wurden. Durch Adressenänderungen, Todesfälle in der Familie und die regelmäßigen Besuche durch die „Regional Committees“, mussten die Akten ständig auf den neuesten Stand gebracht werden. Dazu kam die täglich anfallende Korrespondenz, die vom Home Office auf ca. 250 einund ausgehende Briefe und 60-70 Gespräche pro Tag geschätzt wurde und die gesamte Verwaltungsarbeit, die in den verschiedenen „Sub-Committees“ anfiel. 1942 beschäftigte das RCM 43 bezahlte Personen im „Bloomsbury House“ und 18 bezahlte Arbeitskräfte in den „Regional Committees“. Die Gehaltsleistungen für das Jahr 1941 wurden auf mehr als 18.000 Pfund geschätzt. 361 Der finanzielle Aufwand des RCM nahm etwa 40-45% der Gesamtkosten ein, folglich lagen die Kosten für den Unterhalt der Kinder bei 55-60%. Im Jahr 1942 hieß das konkret: 34.813 Pfund entfielen auf den Unterhalt der Kinder, die Verwaltungskosten betrugen 17.459 Pfund. Hinzu kamen 19.723 Pfund für die medizinische Versorgung und die religiöse Erziehung, so dass sich die Kosten für 1942 auf 71.995 Pfund beliefen. In den vorangegangenen Jahren betrug die Finanzierung 63.270 Pfund (1938/39) und 69.751 Pfund (1940).362 Diese Kostensteigerung führte im Laufe der Zeit zu finanziellen Problemen des RCM. 7.4.5. Finanzielle Probleme Bis zum Jahr 1942 konnten die Kindertransporte und die damit verbundenen Kosten durch Spendengelder finanziert werden. Der 361 Ebd. Rebekka Göpfert, S. 99 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 11 und S. 17 und Second Annual Report, S. 9) 362 124 große Zuwachs an Spenden war vor allen Dingen den groß angelegten Pressekampagnen zu verdanken, in denen Lord Samuel und Lord Selborne immer wieder dazu aufriefen, Geld zu spenden oder sogar ein Kind aufzunehmen. 363 So startete Lord Samuel beispielsweise am 15. November 1938 eine groß angelegte Werbekampagne, während der er einen Radioaufruf startete mit der Bitte, den zu erwartenden Flüchtlingskindern ein Heim zu geben. Das Ergebnis dieses Aufrufs war, dass mindestens 500 Angebote in Betracht gezogen werden konnten.364 Des Weiteren erschienen in den großen Zeitungen Englands wie z.B. der „Times“, dem „Daily Telegraph“, „News Cronicle“, „Daily Herald“ und dem „Manchester Guardian“ Artikel, die über die bevorstehenden Kindertransporte berichteten und die Not nach der Suche für Unterkünfte für die Kinder.365 Am 8. Dezember 1938 wurde der „Lord-Baldwin-Fund“ eröffnet. Da sich die Spendenaufrufe im Radio häuften, schlug die BBC vor, „einen großen Fonds zu gründen, der mit einem Appell für sich werben könnte. Aus dieser Idee entstand der ››Lord Baldwin Fund for Refugees‹‹.“366 Diesen Radioaufruf, der zu Gunsten der ››Opfer der Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen‹‹ gehalten wurde, presste man auf Schallplatten und verkaufte diese für acht Schilling das Stück. Der Erlös ging in den „Lord-Baldwin-Fund“.367 Bis dahin wurden bereits 357.000 Pfund gespendet. Die Namen der Spender wurden in allen großen Zeitungen aufgeführt. Die Spenden, die durch den „Lord-BaldwinFund“ zusammenkamen beliefen sich auf 500.000 Pfund. Davon kamen 255.000 Pfund dem RCM zugute. Hinzu kamen weitere Zahlungen vom „Council for German Jewry“, Spenden aus den Sammlungen zum britischen Muttertag, sowie direkte Spenden an 363 Ebd., S. 100 Barry Turner, S. 68 365 Rebekka Göpfert, S. 100, siehe Fußnote 114 366 Ebd., siehe Fußnote 115 367 Barry Turner, S. 90 364 125 den RCM.368 Im Herbst 1941 stellte sich heraus, dass die meisten Kinder, die eigentlich nur vorübergehend in England bleiben sollten, auf Grund des Kriegsausbruchs doch wohl für längere Zeit im Land bleiben würden. Darüber hinaus waren die Ressourcen des „LordBaldwin-Funds“ weitestgehend erschöpft und für viele Kinder waren die Garantien abgebrochen, was zur Folge hatte, dass sie nun ebenfalls vom RCM unterhalten werden mussten.369 Das RCM sah nun keinen anderen Ausweg mehr und bat das Home Office um Unterstützung. Hätte das RCM seine Arbeit aufgeben müssen, hätte die britische Regierung die komplette Finanzierung der Kindertransporte oder vielmehr die weiterlaufenden Kosten übernehmen müssen. Aus diesem Grund zeigte sich das Home Office äußerst kooperativ. Ein unabhängiger Gutachter wurde beauftragt, einen Bericht über das RCM anzufertigen, in dem über die Aufgaben und anfallenden Kosten Aufschluss gegeben werden sollte.370 In diesem Bericht waren gleichzeitig Verbesserungsvorschläge enthalten. So wurden beispielsweise kleinere Unterabteilungen mit dem „Jewish Refugees Committee“ zusammengelegt, um auf diese Weise verwaltungstechnische Vorgänge einzusparen. Die beiden Punkte, auf denen das Hauptaugenmerk dieser Einsparungen lagen, wurden jedoch nicht vom RCM durchgeführt: Zum einen sollte die Betreuung der Kinder nach Erreichen des einundzwanzigsten Lebensjahrs enden und zum anderen sollten die halbjährlichen Besuche der Kinder eingeschränkt werden. Man war lediglich dazu bereit, kleinere Einschränkungen bei der Unterhaltung der über 21-jährigen zu akzeptieren.371 Ab dem 1. Oktober 1942 trat die staatliche Unterstützung in Kraft: 368 Rebekka Göpfert, S. 101 Rebekka Göpfert, S. 102 (R.G. zitiert HO Report: S.H.G. Hughes: Refugee Children’s Administration, 14.1.1942, S. 5) 370 Rebekka Göpfert, S. 102 371 Rebekka Göpfert, S. 103 (R.G. zitiert RCM: Comments on the Specific Proposals contianed in MR. Hughe’s Report, with the Movement’s recommenda369 126 Für jedes „nicht-garantierte Kind“, das bei einer Pflegefamilie lebte, wurden 18 Schilling pro Woche gezahlt, für Kinder die in Heimen lebten, sah die Unterstützung ähnlich aus. Einen nach oben offenen Spielraum gab es für schwierigere Fälle. Jedem Kind wurden außerdem ein Schilling pro Woche für Kleidung gezahlt. Die Zuschüsse für Kinder, die zwar schon arbeiteten, deren Lohn aber nicht ausreichte, wurden vom staatlichen "Unemployement Assistance Board“ getragen.372 Die Kosten, die direkt für das RCM anfielen, wurden zu 75% vom Staat genehmigt, wobei die Gelder nicht direkt gewährt wurden, sondern zunächst an das „Central Committee for Refugees“ gezahlt wurden, dessen Aufgabe es war, die Tätigkeit des RCM im „Bloomsbury House“ zu überwachen.373 7.5. Vorbereitungen für die Abreise „Am 5. Januar verließ ich Deutschland mit einem Kindertransport. Noch immer spüre ich die gedrückte Stimmung, die im Abteil herrschte, bis wir die Grenze zu Holland hinter uns hatten.“ Kurt Heinz Heilbrunn374 Wenn die Formalitäten von den Flüchtlingsorganisationen erledigt waren, wurden die Eltern vom Abreisetermin in Kenntnis gesetzt. Dies geschah oft sehr kurzfristig, in der Regel 2-14 Tage vor der Abreise. Bei Kindern, die schon von Deutschland aus einen Sponsor gefunden hatten (meist Verwandte oder Bekannte der tions (Public Record Office HO 213/302 XC 09542)) 372 Rebekka Göpfert, S. 103 373 Ebd. 374 Rebekka Göpfert(Hrsg.): Ich kam allein. Die Rettung von zehntausend Kindern nach England 1938/39, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, S. 52 Anmerkung: Die Eltern von Kurt Heinz Helbronn besaßen ein bekanntes Modewarengeschäft in Goslar. Obwohl der Vater Vorsteher der Synagoge war, gelang Kurt Heinz die Flücht nach England mit der Hilfe der Quäker und nicht der jüdischen Gemeinde (siehe Hans Donald Cramer). 127 Eltern), konnte der Abreisetermin genauer festgesetzt werden. Trotzdem konnten auch diese Kinder erst nach Vergabe der Permitnummern abreisen.375 Viele Eltern informierten ihre Kinder erst kurz vor der Abreise und der damit verbundenen Trennung von den Eltern, da sie erst Gewissheit haben wollten, dass ihre Kinder auf jeden Fall mit dem Transport nach England kommen werden. „››Würdest du gern nach Holland oder England gehen, Plappermäulchen?‹‹ Ich starrte ihn an: ››Meinst du das wirklich? Kommt Max auch mit? Warum gehen wir weg? Kommen du und Mami auch?‹‹ Mein Vater sah mich ernst an. ››Du bist schon alt genug, um alles zu verstehen. Es ist eine Menge geschehen, während du im Krankenhaus warst. Für die Juden hat sich vieles geändert. Es ist sicherer für Max und dich, in ein anderes Land zu gehen. Mami und ich kommen später nach.‹‹ [...] Am folgenden Donnerstag fuhren wir nach England ab.“ Celia Lee376 Gerade für die jüngeren Kinder kam diese Nachricht oft überraschend.377 Doch vielleicht informierten die Eltern ihre Kinder erst so kurzfristig, da sie die Trauer über die bevorstehende Trennung nicht zeigen wollten, oder Angst vor den Reaktionen ihrer Kinder hatten, wenn diese von der Auswanderung in ein fremdes Land erfuhren: „Meine Eltern gaben sich den Anschein, als ob sie die Sache auf die leichte Schulter nähmen. Sie sagten, es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch sie nach England ausreisen dürften, wir würden uns also bald wieder sehen – in Wahrheit müssen sie gewusst haben, dass die Wahrscheinlichkeit eines Wiedersehens äußerst gering war.“ 375 Rebekka Göpfert, S. 75 Barry Turner, S. 56f 377 Rebekka Göpfert, S. 76 376 128 Paul Cohn378 Die letzten Tage vor der Abreise wurden meist mit den Besorgungen für die Reise verbracht. Überlegungen, was man einpacken sollte und wie Gepäck reduziert werden konnte, wurden angestellt.379 Jedes Handgepäckstück Kind und durfte zehn nur einen Reichsmark Koffer, ein mitnehmen. Die Kultusgemeinde ihn Wien gab eine Liste heraus, in der den Eltern empfohlen wurde, Schreibpapier, zusätzlich Postkarten, zur Kleidung eventuell auch adressierte Briefumschläge, ein Wörterbuch und für religiöse Kinder Tefillah und Gebetsbücher, einzupacken.380 Da die Kleidung oberste Priorität hatte, musste überlegt werden, inwieweit Spielzeug, Fotos oder sonstige Erinnerungsstück mitgenommen werden sollten.381 Die Kleidung war wichtig, da man oft nicht wusste, wie die Kinder untergebracht wurden und wie es dann in England mit der Versorgung von Bekleidung aussah. Aus diesem Grund versuchten die Eltern, denen es möglich war ihren Kindern eine völlig neue Garderobe mitzugeben, was dann oft dazu führte, dass die Kinder sehr gut ausgestattet in England ankamen. Da das aber nicht in das Bild eines verfolgten Flüchtlings passte, wurden einige Stimmen in der Öffentlichkeit und bei den Pflegeeltern laut, die sich über den Missbrauch der Spendengelder beklagten, da es den Kindern wohl offensichtlich nicht so schlecht gehen könne.382 Um die Ausfuhrbeschränkung von Wertgegenständen zu umgehen, versuchten Eltern, ihren Kindern heimlich ein paar Wertgegenstände wie Schmuck oder sogar Musikinstrumente, die 378 Rebekka Göpfert (Hrsg.): Ich kam allein, S. 108 Barry Turner, S. 54 380 Rebekka Göpfert, S. 76f (R.G. zitiert Schonfeld Papers, Ms 183/53/2/folder 1 (Parkes Libary)) 381 Rebekka Göpfert, S. 77 382 Rebekka Göpfert, S. 77 (R.G. zitiert Veronica Gillespie: My Bloomsbury House Days, in: The Spectator, S. 16) 379 129 im Laufe der Zeit an Wert gewinnen würden, mitzugeben. 383 „Mama war damit beschäftigt, meine Sachen in Kisten und Koffer zu packen. Ein SA-Mann in brauner Nazi-Uniform stand daneben. 383 Barry Turner, S. 54 130 Ich wusste nicht, warum er zusehen musste, denn er war ihr bloß im Weg. Als mein Cello an der Reihe war, wollte er wissen, ob das etwas Wertvolles sei. Mama wusste, Wertgegenstände mitnehmen durfte. dass ich keine Deshalb lachte sie und meinte: „Das alte Ding?“ Glücklicherweise wusste er nicht, dass Musikinstrumente manchmal um so wertvoller sind, je älter sie sind. Das Cello ging also mit auf die Reise...“ Olga Levi Drucker384 Doch die meisten hielten sich an die Vorschriften. Wurde man nämlich erwischt, konnte das unvorstellbare Folgen haben. Es war sogar möglich, dass die Ausreisegenehmigung für alle Kinder, die auf dem Transport waren, zurückgezogen wurde.385 7.6. Abreise Am Tag der Abreise wurden zum Teil noch letzte Verwandtschaftsbesuche unternommen. Ansonsten verlief dieser Tag bei den meisten Kindern ruhig. Viele beschreiben die gedrückte Stimmung, die in der Familie herrschte. Auch die Kinder waren bedrückt, da sie Angst vor der ungewissen Zukunft hatten, die sie ohne die Eltern verbringen würden. Die Kinder die alt genug waren, um die politische Situation zu verstehen, ahnten, dass sie ihre Eltern wahrscheinlich nie wieder sehen werden.386 Es gab aber auch Kinder, die nicht verstanden, warum ihre Eltern so bedrückt waren. Schließlich freuten sie sich auf die Reise, auf das neue Land und die Abenteuer, die sie dort erwarteten. Außerdem versprachen die Eltern teilweise ihren Kindern, dass sie bald nachkommen werden. „Bald kam der Abschied. In den Tagen vorher weinten die Eltern 384 Olga Levi Drucker: Kindertransport. Allein auf der Flucht, Lamuv Verlag, Göttingen 1995, S. 44 385 Barry Turner, S. 62 386 Rebekka Göpfert, S. 78 131 oft. Mir schien das sehr komisch, ich verstand es nicht. Ich freute mich nämlich schon auf das Wegfahren. Es war ja nicht das erste Mal, dass wir ohne Eltern wegfuhren. Wir waren schon einmal allein in Ungarn gewesen, bei Verwandten am Plattensee. Das waren herrliche Erinnerungen, vor allem an den Feigenbaum, der direkt vor meinem Fenster war. Auch am Semmering waren wir öfters übers Wochenende. Ich verstand daher nicht, warum es jetzt so eine Aufregung geben sollte.“ Hedwig Wahle387 Zum vereinbarten Zeitpunkt trafen die Eltern mit ihren Kindern am Treffpunkt ein. Dieser Treffpunkt war oft ein separater Warteraum oder ein abgelegener Teil des Bahnhofs, um zu vermeiden, dass die Öffentlichkeit die dramatischen Szenen bei der Veraschiedung mitbekamen: „Mutter konnte es nicht ertragen, zum Bahnhof mitzukommen. Ich ging mit meinem Vater. Es gab eine furchtbare Szene, als die Namen der Kinder aufgerufen wurden. Da war eine sehr aufgeregte Frau, und als ihre Kinder nicht auf der Liste standen, wurde sie hysterisch. Die Wachen schlugen sie mit Knüppeln und stießen sie zu Boden. Dann wurden wir auf den Bahnsteig gebracht. Ich hatte gerade noch Zeit, von meinem Vater Abschied zu nehmen. Die Reise war furchtbar. Überall unterwegs hatten sich Eltern eingefunden, um noch einen letzten Blick ihrer Kinder zu erhaschen. Ich bin froh, dass meine Familie nicht dabei war.“ Vera Coppard388 Zum Teil mussten die Eltern davon abgehalten werden, ihren Kindern nicht bis in den Zug zu folgen. „Unser Abschied von der Mutter vollzog sich nicht einfach. Weil sie wusste, dass wir sie verlassen wollten, klammerte sie sich an uns. Vater musste uns von ihr losreißen.“ 387 Hedwig Wahle: Mutter, Vater, Bruder, ich. Geschichte einer Familie, die den Holocaust überlebte. Artikel in: Entschluß – Spiritualität, Praxis, Gemeinde. 46. Jahrgang. Nr. 5/1991, S. 7 388 Barry Turner, S. 99f 132 Ya’acov Friedler389 Kinder, die ihre Väter zum ersten Mal weinen sahen, waren entsetzt. „Das Schwierigste für mich war der Abschied von meinen Eltern am Westbahnhof. Das war so was Fürchterliches. Ich sah zum ersten Mal meinen Vater weinen. Die Eltern durften uns nur zum Bahnsteig bringen. Irgendwelche Leute, die für den Transport verantwortlich waren, brachten uns zum Zug, einige Gleise entfernt. Im letzten Augenblick des Abschieds sagte die Mama: „Pass schön auf den Robertl auf, du bist alles, was er jetzt hat.“ Der Robert war ja nur achtdreiviertel Jahr alt, und ich war genau 13 Jahre alt.“ Renate Jeschauning-Rosner390 Doch auch viele Kinder wollten ihre Eltern nicht auf dem Bahnsteig zurücklassen. Sie weinten oder versuchten den Zug wieder zu verlassen. Mit einem Transport kamen zwischen 30 und 600 Kinder aus Deutschland heraus. Das Problem bestand allerdings darin, dass es zu wenig Betreuer für die einzelnen Transporte gab. Es liegen unterschiedliche Berichte vor, in denen man auf die Anzahl der Betreuer stößt: Martha Wertheim berichtet von drei bis vier Erwachsenen für etwa 120 Kinder,391 in einem Schreiben des Foreign Office an die holländische Botschaft ist die Rede von acht Begleitern für 200 Kinder392 und der erste Transport, der von Wien ausging, zählte 23 Betreuer für 600 Kinder.393 Ein Problem stellten daher auch die Säuglinge und Kleinkinder dar. Da es nicht genügend erwachsene Betreuer gab, konnte es passieren, dass 389 Ya’cov Friedler, S. 67 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.): Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Band 3: Jüdische Schicksale, Österreichischer Bundesverlag, Wien 1992, S. 349 391 Rebekka Göpfert, S. 80 (R.G. zitiert Hanno Loewy (Hrsg.): In mich ist die große dunkle Ruhe gekommen. Martha Wertheimer, S. 8 (Brief vom 23.7.1939)) 392 Rebekka Göpfert, S. 80 (R.G. zitiert Public Record Office (London) FO 371/22538 (W15742/104/98)) 393 Rebekka Göpfert, S. 80 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish Refugee Children, S. 85) 390 133 die Mütter ihre kleinen Kinder irgendwelchen älteren Kinder in die Arme drückten, damit sie sich dann um die Kleinkinder kümmerten.394 Die Züge hielten in mehreren Städten, um weitere Kinder aufzunehmen. Meistens verlief die Fahrt sehr ruhig. Die Kinder benahmen sich gut, teilweise weil sie Angst hatten, doch noch in Deutschland bleiben zu müssen, manche waren auf die neue Zukunft gespannt oder sie waren einfach traurig, da sie die Eltern verlassen hatten. „Als der Zug an jenem schicksalhaften Morgen im Januar 1939 seine Fahrt beschleunigte, stand ich am Fenster und warf einen letzten Blick auf die Welt, die bald hinter mir liegen sollte. Ich sah die immer kleiner werdende Gestalt meiner verwitweten Mutter, die meinen kleinen Bruder an der Hand hielt. Wieder und wieder taucht diese Szene während meines Erwachsenenlebens unwillkürlich vor mir auf. Aber ich war ja nicht die einzige, die von dieser Erinnerung heimgesucht werden sollte. Stumm und in sich gekehrt saßen die Kinder während der Fahrt auf ihren Sitzen.“ Paula Hill395 Auf einer Bahnreise durch Deutschland sahen die Fürsts: „einen Kindertransport, ein Abteil voll kleiner Kinder mit Pappschildern um ihren Hals. Ihre Namen und die Namen und Adressen ihrer Empfänger waren darauf deutlich geschrieben. Das war ein zu Herzen gehender Anblick. Die Kinder, zu menschlichen Päckchen reduziert, sahen schon wie Waisen aus.“396 Fast alle Kinder sprechen von dem Gefühl der Erleichterung das sie hatten, nachdem sie die Grenze nach Holland passierten. Zum einen mussten sie nun nicht mehr die mitreisenden Wachmänner fürchten. 394 Barry Turner, S. 98 Rebekka Göpfert (Hrsg.): Ich kam allein, S. 153 396 Desider Fürst and Lilian Fürst: Home Is Somwhere Else. Autobiography in Two Voices (New York, State University of New York Press, 1994) S. 13, in: Tony Kushner and Katharine Knox, S. 136 395 134 „Ich weiß noch, wie mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken lief, wenn ein uniformierter Beamter mit seiner Hakenkreuz-Binde an unserem Abteil vorbeikam.“ Ya’acov Friedler397 Diese konnten bei der Zollkontrolle die Kinder immer noch aufhalten oder ihnen die Wertsachen wegnehmen, die ihnen ihre Eltern heimlich mitgegeben haben. „Ich sah deutsche Soldaten auf- und abmarschieren. Sie hatten nichts mit uns zu tun; sie exerzierten nur. Aber es herrschte eine ungeheure Erleichterung, als wir endlich in den holländischen Bahnhof einfuhren.“ Kurt Weinberg398 Zum anderen wurden die Kinder sehr herzlich und freundlich in Holland empfangen: „Nach einer Weile konnten wir aussteigen. Wir strömten auf den Bahnsteig, wo wir von holländischen Frauen erwartet wurden. Wir bekamen heißen Kakao und Kekse. Auch die Frauen lächelten.“ Olga Levi Drucker399 Vereinzelt standen Frauen mit Geschenken und Spielsachen für die Kinder an den Bahngleisen.400 397 Ya’cov Friedler, S. 68 Barry Turner, S. 63 399 Olga Levi Drucker, S. 50 400 Barry Turner, S. 64 398 135 8. Das neue Leben in England 8.1. Ankunft in England Die Kindertransporte konnten drei verschiedene Häfen in England anlaufen: London, Southampton und Harwich, wobei Letzterer am häufigsten angesteuert wurde. Auf jedem Schiff gab es einen in ein Büro umfunktionierten Raum, in dem die Kinder für den Landgang registriert wurden. Sie wurden namentlich aufgerufen und mussten ihr Schild auf dem die Permitnummer und ihr Name stand, vorzeigen. Das vergleichbare Gegenstück wurde daraufhin vom „Passport Control Officer“ abgestempelt und die Kinder konnten von Bord gehen. An Land mussten sie erneut zur Zollkontrolle. Die Zollbeamten gingen jedoch sehr freundlich und umsichtig vor und kontrollierten nur selten das Gepäck. Wurden dennoch Wertgegenstände gefunden, gaben die Kinder an, es handele sich um ihren einzigen Besitz. Daraufhin wurden sie in den meisten Fällen von der Zollgebühr befreit. Nach der Zollabfertigung mussten sie noch, wie alle Einwanderer, ärztlich untersucht werden und bekamen vom Arzt einen weiteren Stempel auf ihre Permitkarte.401 Die Kinder, die bei Pflegeeltern unterkamen oder von Organisationen wie beispielsweise der „Youth Aliyah“ versorgt wurden, fuhren, sobald die Formalitäten geklärt waren, direkt weiter zu ihrem Zielort. Da die Gasteltern vorher informiert wurden, wann und wo die Kinder ankommen sollten, wurden sie entweder von ihnen selbst, oder anderen Personen die der Gastfamilie nahe standen, abgeholt. Amy Zahl Gottlieb stellt fest, dass schon bei 136 401 Rebekka Göpfert, S. 104 137 der Ankunft viele Kinder ein Trauma erlitten haben mussten, da sie nun mit völlig fremden Menschen in eine ihnen unbekannte Umgebung mit einer fremden Kultur, mitgenommen wurden und sich nicht einmal mit ihnen verständigen konnten.402 Die „nichtgarantierten Kinder“ wurden mit einem Bus in ihre Aufnahmelager gebracht, wo sie als Erstes eine richtige Mahlzeit bekamen, oft die Erste, seit der Abreise in Deutschland.403 8.1.1. Aufnahmelager für die „nicht-garantierten Kinder“ Das wichtigste Aufnahmelager, in dem die „nicht-garantierten Kinder“ vorübergehend untergebracht wurden, bis sie weitervermittelt werden konnten, war das „Dovercourt Bay Holiday Camp“, drei Kilometer von Harwich entfernt und mit einer direkten Bahnverbindung nach London.404 „Dovercourt Bay“ war ursprünglich, wie der Name schon sagt, ein Feriencamp oder Schullandheim für englische Schüler. Da dieses Schullandheim aber nur zwischen Frühjahr und Herbst genutzt wurde, konnte das im Winter leer stehende Lager gegen Miete den Kindern zur Verfügung gestellt werden. Doch leider war „Dovercourt Bay“ nicht mit einer Heizung ausgestattet. Das führte natürlich zu Problemen, da der Winter 1939/40 einer der kältesten seit langer Zeit war.405 Die Kinder, die in kleinen Hütten zu sechst oder zu acht untergebracht waren, wurden mit all ihren Kleidern und einer Wärmflasche ins Bett gebracht. Amy Zahl Gottlieb hebt allerdings den Vorteil heraus, dass die Kinder in diesen Aufnahmelagern wenigstens nicht alleine waren. Den Kindern, die hier lebten, war allen das gleiche Schicksal widerfahren: „[they] still had each other with whom they could communicate and share the experi- 402 Amy Zahl Gottlieb, S. 116f Rebekka Göpfert, S. 105 404 Barry Turner, S. 72f 405 Ebd., S. 69 403 138 ence, which made adjustment to the new setting a little less traumatic.“406 Die orthodoxen Kinder in den Heimen mussten natürlich koscher verpflegt werden. Aus diesem Grund beauftragte die Londoner jüdische Gemeinde, einen Rabbi, der sich um die religiöse Versorgung kümmern sollte. Auch die christlichen Kinder wurden regelmäßig religiös betreut.407 Darüber hinaus wurden einige Hütten in Klassenräume umfunktioniert, in denen die Kinder, die oft gar kein Englisch konnten, in dieser Sprache unterrichtet wurden.408 Da aber allein im Dezember 1938 ca. 1.500 Kinder nach England kamen und „Dovercourt Bay“ nur Platz für etwa 600 Kinder bot, mussten weitere Aufnahmelager gefunden werden. Das „Parkfield Hall Holiday Camp“ lag nur wenige Kilometer von „Dovercourt Bay“ entfernt und konnte ab Mitte Dezember als weiteres Aufnahmelager dienen. untergebracht. Zu Hier wurden „Parkfield Hall“ die älteren gehörten Kinder mehrere landwirtschaftlich genutzte Flächen und so bot der Besitzer an, 100 Jungen in seinem Betrieb aufzunehmen und auszubilden. 409 Wegen der großen Kälte musste „Parkfield Hall“ jedoch Ende Dezember evakuiert werden. Die Kinder kamen vorübergehend in Hotels und Schulen unter, die während der Weihnachtsfeiertage leer standen. Da aber auch „Dovercourt Bay“ nur bis März den Kindern zur Verfügung stand, musste das RCM andere Lager finden. In einem Dorf namens Claydon fand man diese Möglichkeit. Des Weiteren gab es in Westgate ein Heim, das ausschließlich orthodoxe Jungen aufnahm. 1942 wurde „Dovercourt Bay“ in ein Kriegsgefangenenlager umfunktioniert und nahm erst fünf Jahre später wieder Touristen auf. 410 406 Amy Zahl Gottlieb, S. 117f Rebekka Göpfert, S. 105 (R.G. zitiert News Cronicle, 3. Dezember 1938) 408 Barry Turner, S. 79 409 Rebekka Göpfert, S. 106 (R.G. zitiert Manchester Guardian, 13. Dezember 1938) 410 Barry Turner, S. 88 407 139 Diese Aufnahmelager sollten den Kindern aber nur vorübergehend Unterkunft gewähren, da sie so schnell wie möglich bei Pflegefamilien unterkommen sollten. 8.2. Suche nach geeigneten Pflegeeltern Anfangs war es so, dass die potentiellen Pflegeeltern an bestimmten Tagen in die Aufnahmelager kamen und sich die Kinder aussuchen konnten. Das hatte zur Folge, dass diese ganze Prozedur einem „Viehmarkt“411 glich und am Ende die weniger sympathischen, meist älteren Kinder übrig blieben: „Manche Familien suchten beispielsweise ein blondes, blauäugiges Mädchen in einem bestimmten Alter, in der Hoffnung damit eine Haushaltshilfe zu finden. Zum Glück war ich selbst niemals in einer solchen Situation. Manchmal hatten Ehepaare eine ziemlich klare Vorstellung von ihrem Wunschkind, und natürlich ››gingen‹‹ hübsche Kinder besser als weniger attraktive. Diejenigen mit einer emotional schwierigeren Geschichte waren am schwersten unterzubringen. Ich finde, man sollte die Art und Weise der Vermittlung nicht zu scharf kritisieren, da alles in großer Eile und unter enormen Druck organisiert wurde.“ Leslie Bent412 Um das den Kindern zu ersparen, suchte das RCM die Pflegeeltern schon im Vorfeld aus. Dabei wurden die Angaben der Kinder mit denen der Pflegeeltern verglichen. Wert wurde auf soziale Herkunft, Religiosität und Bildungsstand gelegt. Außerdem versuchte man die Wünsche der Pflegeeltern, Geschlecht oder Alter anging, zu berücksichtigen. was das 413 Durch das vorherige Auswählen der Pflegeeltern, wollte man den 411 Interview mit Michael Handler, S. 16, in: Rebekka Göpfert, S. 107 Barry Turner, S. 83f 413 Rebekka Göpfert, S. 107 412 140 Kindern zum einen die Angst nehmen, als ungewollt bei der direkten Auswahl im Aufnahmelager zurückzubleiben. Gleichzeitig wollte man verhindern, dass Kinder wieder zurückgebracht wurden, da sie nicht in die Familie passten.414 Entsprachen die potentiellen Pflegeeltern den Vorstellungen des RCM, wurden Mitglieder des RCM zu den Bewerbern geschickt, um die dortigen Verhältnisse zu überprüfen.415 Darüber hinaus wurden die Motive kontrolliert, welche die Bewerber dazu bewegte, Kinder bei sich aufzunehmen. Man wollte verhindern, dass Familien ein Flüchtlingskind bei sich aufnahmen, um so ein billige Haushaltshilfe zu bekommen. Doch leider konnte das nicht immer verhindert werden: „Sie sorgten leider nicht sehr gut für mich. Bei der Ankunft gaben sie mir etwas Warmes zu trinken, und schon eine Stunde später musste ich Wäsche für die ganze Familie bügeln, nachdem ich doch gerade erst in England eingetroffen war. Ich durfte nicht aus dem Haus; sie hatten Angst, ich würde ins „Bloomsbury House“ gehen. Sie waren sehr fromme Juden und sprachen jiddisch mit mir, weil ich kein Englisch konnte. Ich dachte, ich müsste diese ganze Arbeit als Gegenleistung für das tun, was ich sie kostete.“ Ursula Hutton416 Ferner war es wichtig, die Kinder in ihrer Religion weiterhin zu unterstützen. Gleichzeitig achtete man darauf, die zukünftigen Pflegeeltern von Auffälligkeiten im Verhalten der Kinder zu informieren, damit die Pflegefamilie vorbereitet war.417 Da das RCM aber im Prinzip auf jeden möglichen Platz angewiesen war, versuchten sie so viele Kinder wie möglich unterzubringen. Die Bewertungsmaßstäbe des RCM waren daher nicht sehr hoch angelegt. Gab es Probleme in einer Familie, wobei es sich hier sowohl um Probleme der Kinder mit der 414 Ebd., S. 108 Ebd. 416 Barry Turner, S. 124 417 Rebekka Göpfert, S. 110f 415 141 Pflegefamilie, als auch umgekehrt handelt, bestand die Möglichkeit, Kinder umzusiedeln. Insgesamt wurden aber nur etwa 50 Kinder umgesiedelt.418 Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass man den Pflegefamilien nicht den genauen Zeitpunkt nennen konnte, wann die Kinder eintreffen sollten. Da mehrere Schritte nötig waren, bis die Kinder auf den Transport gelangten, konnte man selten genaue Angaben machen.Als Folge dessen, wurden Pflegeeltern oft erst ein bis zwei Tage vor der Ankunft des Kindes informiert.419 Das RCM war zwar darauf bedacht, die Pflegefamilie sorgfältig auszuwählen, um das Wohlergehen der Kinder garantieren zu können, doch angesichts der Tatsache, dass es zu viele Kinder und zu wenig Angebote gab, verweigerte das RCM den Familien nur ungern die Aufnahme eines Kindes (s.o.). Eine Mitarbeiterin des RCM berichtet dazu: „In einer idealen Welt hätten wir die Kinder auf ihre Bedürfnisse hin geprüft und aus der Kartei eine Familie mit dazu passender Biographie herausgesucht. Aber in einer idealen Welt gäbe es keine Flüchtlingskinder.“420 8.3. Unterbringung 8.3.1. In Familien Die Ankunft in den neuen Familien war für die meisten Kinder sehr verwirrend, da sie von nun an in dieser Familie wie ein richtiges Familienmitglied behandelt wurden, obwohl sie noch ihre eigene Familie in Deutschland hatten. Die Erinnerung an den ersten Tag in der neuen Familie ist den meisten Kindern noch 418 Barry Turner, S. 141 Rebekka Göpfert, S. 112 420 Barry Turner, S. 86 419 142 sehr gut in Erinnerung. Die Kinder, die schon von Deutschland aus in eine Pflegefamilie vermittelt werden konnten oder bei Bekannten oder Verwandten der Eltern unterkamen, hatten wenigstens schon eine geringe Vorstellung über das zukünftige Leben. Im Gegensatz dazu kamen Kinder, die erst in England vermittelt werden konnten, in eine völlig fremde Umgebung. Waren in den Pflegefamilien schon Kinder vorhanden, konnte das dazu führen, dass sich die Flüchtlingskinder besser einlebten, da sie schneller Anschluss fanden. Aus dieser Situation heraus konnte aber auch Probleme entstehen, beispielsweise wenn die Pflegeeltern ihre leiblichen Kinder besser behandelten als die Flüchtlingskinder. Das RCM bat daher, alle Kinder in der Familie möglichst gleich zu behandeln: „Sie ist in einem sehr nervösen, aufgewühlten Zustand und sieht erschöpft und deprimiert aus. Sie will unter keinen Umständen länger bei Frau Payne bleiben; Hauptursache hierfür scheint eine gewisse Eifersucht zwischen ihr und Frieda [Frau Paynes 15jährige Tochter] zu sein. Eva behauptet, Frau Payne ergriffe immer Friedas Partei, besonders dann, wenn sie, Eva, etwas besser mache als Frieda, und dadurch fühle sie sich sehr ungerecht behandelt.“421 Ein weiteres Problem für die Kinder ergab sich aus der Tatsache, dass die Kinder, wenn überhaupt nur sehr wenig Englisch sprachen und die Gastfamilien kaum Deutsch. Das war natürlich besonders schlimm, da sich die Kinder gerade zu diesem Zeitpunkt sehr einsam fühlten und jede Unterstützung gebrauchen konnten: „Unser erster Tag in Birmingham war die Hölle. Ganz plötzlich wurde mir klar, dass wir in einem fremden Land waren, dessen 421 Entnommen aus einem Bericht des „Bloomsburry House“, in dem Eva vorsprach, um von ihren Problemen, die sie mit der Pflegefamilie hatte zu berichten. In: Barry Turner, S. 139 143 Sprache wir nicht kannten, ohne Verwandte oder Freunde, und ich versuchte verzweifelt, mich so tapfer zu verhalten, wie es sich für einen 13-jährigen Jungen gehörte. Den größten Teil des Tages verbrachte ich auf der Toilette, damit niemand meine Tränen sehen konnte.“ Herbert Holzinger422 Das RCM versuchte natürlich diese Sprachbarrieren so schnell wie möglich auszugleichen, was aber andererseits dazu führte, dass die Kinder das Deutsche teilweise oder sogar ganz verlernten. In Briefen, die bei den Eltern ankamen, war dies deutlich zu erkennen: „Mir geht es very gud. It is very nice and it is very cold. How geht it euch. Wisst you how it Tante Elli geht. Ich habe noch das ganze Briefpapier von Hackers nicht angefangen und das alte habe ich auch im Kloster nicht benützt aber das neue hat mann me als erstes gegeben und das hav I schon all verbraucht. I kan now English very gud I kan zimlich mutch English“ Hedwig Wahle423 Zu all dem kam noch hinzu, dass manche Pflegeeltern die Namen der Kinder änderten. Entweder weil die Namen der deutschen Kinder für Engländer nur schwer auszusprechen waren oder die Engländer eine Abneigung gegen deutsche Namen, auf Grund der dortigen politischen Situation, hatten. So wurde beispielsweise aus Peter Morgenstern Peter Morgan.424 Doch das waren nicht alle Probleme, mit denen die Kinder konfrontiert ungewohnte wurden. Da Umgebung, waren das beispielsweise neue für noch die die Kinder gewöhnungsbedürftige Essen oder die fremden Sitten, die in England herrschten.425 Darüber hinaus wussten die Kinder nicht, wie sie ihre Pflegeeltern ansprechen sollten. Meistens blieb es bei 422 Barry Turner, S. 119 Hedwig Wahle S. 8f. Brief an die Eltern Anfang April 1939. 424 Barry Turner, S. 177 425 Rebekka Göpfert, S. 119 423 144 „Mr.“ oder „Mrs.“. Baten die Pflegeeltern darum mit „Mum“ oder „Dad“ angesprochen zu werden, empfanden die Kinder dies als eine zwiespältige Situation, denn sie sahen darin einen Vertrauensbruch ihren leiblichen Eltern gegenüber.426 Die einzige Möglichkeit für die Kinder den Kontakt mit ihren Eltern teilweise aufrecht zu erhalten bestand darin, Briefe oder Postkarten zu schicken. Der Ausbruch des Krieges erschwerte diese Möglichkeit jedoch. Briefe kamen zu spät oder gar nicht an, was führte dazu, dass sich sowohl die leiblichen Eltern als auch die Kinder über gegenseitige Untreue beklagten.427 Die einzige Betreuung die die Kinder durch den RCM erfuhren, waren die halbjährlichen Besuche, bei denen aber in erster Linie den äußeren Gegebenheiten Beachtung geschenkt wurde. Das wichtigste Ziel des RCM war es, das Leben der Kinder zu retten, sie in die britische Gesellschaft zu integrieren und ihre grundlegenden materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, „doch sie haben dabei häufig versäumt, auch die psychische Verfassung der Kinder zu beachten“.428 8.3.2. In Heimen Kinder, für die keine Pflegefamilien gefunden wurden, kamen in Heimen unter. Ausgenommen war hier die „Youth Aliyah“, die von vornherein Kinder aus Deutschland „adoptierten“, sie aber dennoch in Heimen unterbrachten (siehe 8.3.2.1.). Hinzu kamen diejenigen, die bei Unstimmigkeiten in der Pflegefamilie umgesiedelt wurden oder die Kinder, bei denen die Pflegeeltern die Betreuung nicht mehr gewährleisteten.429 Im nun folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten Unterkünfte 426 Ebd. Ebd., S. 120 428 Ebd., S. 122 429 Ebd., S. 123 427 145 für die Kinder aufgezeigt werden: 8.3.2.1. Youth Aliyah Die „Youth Aliyah“ leitete eines der wichtigsten Heime. Hier wurden die Kinder auf ein Leben in Palästina vorbereitet. Die Ausbildung sollte also in England stattfinden und später würden die Kinder nach Palästina auswandern. Von 1935 bis 1938 gab es in Berlin die Schule der Jugend Aliyah. Diese Schule wurde von der Jüdischen Jugendhilfe gegründet und finanziert. Das Ziel dieser Schule war es, Kinder zwischen 14 und 17 Jahren, die nach Palästina auswandern wollten, auf diese Auswanderung und das Leben dort vorzubereiten.430 Schon vor 1939 organisierte die „Youth Aliyah“ solche Kindertransporte, unabhängig vom RCM, wobei die Organisation dieser Transporte ähnlich verlief, wie bei den vom RCM geleiteten Kindertransporten, die vom RCM geleitet wurden. Das Permitvisum wurde allerdings nicht von der Kultusgemeinde, sondern vom Palästina-Amt beantragt. Ab Juli 1939 wurden die Kinder der „Youth Aliyah“ ebenfalls von der Kultusgemeinde ausgewählt und unter der Aufsicht des RCM nach England gebracht. Das vereinfachte den organisatorischen Ablauf. Die finanzielle Garantie für die Kinder übernahm weiterhin die „Youth Aliyah“.431 Finanzielle Unterstützung bekam die „Youth Aliyah“ von Eddie Contor, einem Mitglied der amerikanischen jüdischen Gemeinde. Als es im Juli 1936 nach England kam, spendete er der „Youth Aliyah“ 100.000 Pfund.432 Auf Grund der intensiven Vorbereitung auf das Leben in Palästina wurden eigens Farmen angemietet, auf denen die Kinder untergebracht wurden. In ganz Großbritannien gab es etwa 20 430 Franz Ollendorff: Die Schule der Jugend Aliyah, in: Rudolf Weckerling: Durchkreuzter Hass, S. 58 431 Rebekka Göpfert, S. 124 432 Amy Zahl Gottlieb, S. 122 146 solcher sogenannten Hachschara-Zentren.433 In jedem dieser Hachschara-Zentren befand sich eine Schule, in der Hebräisch, die Grundkenntnisse der Landwirtschaft und die üblichen englischen Schulfächer auf dem Lehrplan standen. Des Weiteren wurden die Kinder entweder praktisch, handwerklich oder landwirtschaftlich ausgebildet.434 Dies geschah auf den dazugehörigen Farmen, wobei die landwirtschaftlichen Erträge zum Unterhalt der Kinder beitrugen.435 Der Vorteil der „Youth Aliyah“ bestand nebenbei auch darin, die Kinder viel intensiver und emotioneller betreuen zu können, als dies in den Pflegefamilien oft der Fall war, so berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter des „Youth Aliyah-Büros“: „Während die Kinder-Flüchtlingshilfe sich in der Hauptsache um das leibliche Wohl der Kinder kümmerte, pflegten wir auch ihre geistigen Werte und gaben ihnen einen Lebenszweck, ein Ziel, auf das sie hinarbeiten konnten.“436 Das Problem der Integration der Kinder in die englische Gesellschaft bemängelte das RCM allerdings.437 Nach Ausbruch des Krieges wurden noch etwa 500 Jungen und Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren von der „Youth Aliyah“ betreut.438 8.3.2.2. Harris House Das RCM unterhielt nur zwei eigene Heime, jeweils für 100 Jungen und 100 Mädchen. In diesen Heimen kamen die Kinder unter, für die keine Garantoren gefunden wurden. Da diese Plätze schnell knapp wurden, musste man auf weitere Heime ausweichen. Im Laufe der Zeit boten sich immer mehr Heime an, die 433 Rebekka Göpfert, S. 124 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish Refugee Children, S. 113) 434 Rebekka Göpfert, S. 125 435 Ebd., S. 126 436 Barry Turner, S. 182 437 Rebekka Göpfert, S. 126f 147 438 Amy Zahl Gottlieb, S. 122f 148 Garantie für einige Kinder zu übernehmen. Darüber hinaus stellten immer mehr Privatleute Häuser gegen geringe Mieten oder sogar kostenfrei zur Verfügung. Eines davon war das „Harris House“ in Southport.439 „Harris House“ wurde von Jose Harris extra für Flüchtlingskinder zur Verfügung gestellt. Zur Finanzierung der Einrichtung, wurde ein Benefizkonzert veranstaltet, deren Erlös dem Heim zugute kam. Zusätzlich wurden 500 Pfund von umliegenden Gemeinden gespendet. In „Harris House“ kamen 21 Mädchen zwischen vier und 17 Jahren unter, die von einer Mrs. Stone betreut wurden, die ebenfalls aus Wien geflüchtet war. Zuvor hatte sie als Psychologin an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder gearbeitet. Die Kinder im „Harris House“ wurden regelmäßig von Lehrern besucht, die sie in Englisch, Handarbeiten, Sport, Hebräisch und jüdischer Religion unterrichteten.440 Leider musste „Harris House“ 1940, kurz nach dem Kriegsausbruch, evakuiert werden, da es zu nah an der Küste lag.441 (siehe Kapitel 9.3.) 8.3.2.3. Das Haus der Schlesingers Das Haus der Familie Schlesinger bot 12 Kindern eine Unterkunft, die mit dem Leben in Heimen kaum vergleichbar war. Die 12 Kinder kamen alle mit dem gleichen Kindertransport nach England und wohnten in einem großen Haus der Schlesingers – nicht in deren Privathaus. Für die Garantiesumme und den Unterhalt kam das ursprünglich aus Deutschland stammende Ehepaar auf. Für die Betreuung der Kinder wurde eine Leiterin, eine Köchin und je eine Betreuerin für die Jungen und die Mädchen engagiert. Darüber hinaus wurde Wert darauf gelegt, den Kindern eine 439 Rebekka Göpfert, S. 127 Rebekka Göpfert, S. 128 (R.G. zitiert Lea. A. Johnson: Our First Year 19391940. Diary accounts by a gruop of young Jewish refugees evacuated from Nazi-occupied Europe to Southport. Veröffentlichung des Manchester Jewish Museums 1992/93) 441 Ebd. 440 149 gute Schulbildung zu bieten und dass sie ihr Leben gemäß den jüdischen Dogmen führten. In ihrer Freizeit kümmerte sich die Familie sehr liebevoll um die Flüchtlingskinder und sorgte dafür, dass der Kontakt zu ihnen und der Familie (die leiblichen Kinder eingeschlossen) auch dann noch aufrecht erhalten wurde, als die Kinder schon längst aus dem Haus waren.442 „[...] Während der nächsten sechs Jahre musste Win [Schlesinger] die Familie alleine zusammenhalten; sie machte diese für viele Millionen so tragischen Jahre zu einer glücklichen, ausgefüllten Zeit für uns Kinder. Während der Ferien gingen wir Reiten und Fahrradfahren, musizierten und machten Theateraufführungen, spielten im Haus, und wenn es zu voll wurde, in den Schweineställen, die wir Büros nannten. Win ließ uns nie etwas davon merken, wie unglaublich schwer es für sie gewesen sein muss, für sechs heranwachsende Kinder zu sorgen, in einem Haus, das oft von Besuchern wimmelte, und mit all den Ungewissheiten, die der Krieg mit sich brachte, während Bernhard [Schlesinger] am anderen Ende der Welt war.“443 Darüber hinaus wären namentlich noch die „Bunce Court School“ und die Heime des „Chief Rabbi’s Religious Emergency Council“ zu nennen, die sich ebenfalls auf unterschiedliche Art und Weise um die Flüchtlingskinder kümmerten, die mit einem Kindertransport nach England kamen. Viele Kinder haben gerade diese kleinen privaten Wohnheime die besten Erinnerungen, da hier oft eine familiärere Atmosphäre als bei Pflegeeltern herrschte. Außerdem waren die Beziehungen zu den freundlichen Betreuern nicht so intensiv, dass die Kinder einem Loyalitätskonflikt zwischen diesen Betreuern und den leiblichen Eltern entgehen konnten.444 442 Rebekka Göpfert, S. 129 Barry Turner, S. 148. Dick Levy lebte als Verwandter (ebenfalls ein Flüchtling) der Familie direkt im Haus. 444 Barry Turner, S. 145 443 150 8.4. Das Problem der Schulausbildung „Nach meinem Berufswunsch gefragt, antwortete ich: ››Arzt‹‹. Die Frau, die das Formular ausfüllte, sagte: ››Das kann ich nicht hinschreiben. Du darfst nicht vergessen, dass Du Flüchtling bist.‹‹“445 In England waren alle Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr schulpflichtig. Das galt ebenso für die Flüchtlingskinder. Da die Beschulung der Kinder Geld kostete, ergab sich für die vom RCM finanziell unterstützten Kinder nach Beendigung der Schulpflicht das Problem, dass die weitere Beschulung nicht finanziert werden konnte. Grundsätzlich entschied das RCM sich dafür, Kinder, die nicht mehr schulpflichtig waren, eine Ausbildung anfangen zu lassen. Das galt auch für Kinder, die auf Anhieb keinen Arbeitsplatz fanden.446 Ausnahmen wurden nur sehr selten gemacht. Auf einer Konferenz des RCM im Oktober 1942, hielt ein Beamter des Innenministeriums fest: „Ein Flüchtling sollte genauso wie ein englisches Durchschnittskind freien Grundschulunterricht erhalten. Außer in Fällen besonders hoher Begabung kann jedoch kein weiterführender Schulbesuch gewährt werden.“447 Insgesamt besuchten nur 27 von den ca. 1.400 Kindern, die vom RCM finanziert wurden, weiterführende Schulen.448 Bei den in Pflegefamilien lebenden Kindern, überließ man es den Pflegeeltern, über die weitere Form der Ausbildung zu entscheiden. Das RCM gab zu bedenken, dass nicht der Eindruck entstehen sollte, die Flüchtlingskinder seien finanziell so gut unterstützt, dass sie jede Art von Ausbildung genießen könnten, da sonst die Konkurrenz zu den englischen Schülern zu groß 445 Ebd., S. 187 Rebekka Göpfer, S. 132f 447 Barry Turner, S. 187 448 Rebekka Göpfert, S. 134 (R.G. zitiert einen Brief des Central Committees for 446 151 würde. Auf keinen Fall wollte man aber ein Universitätsstudium unterstützen. Wie bereits erwähnt: Die oberste Priorität bestand darin, das Leben der Kinder zu retten.449 Darüber hinaus gab es auch einige Pflegefamilien, die den Flüchtlingskindern eine bessere Ausbildung vorenthielten, da ihre eigenen Kinder schlechte in der Familie waren. Sie wollten verhindern, dass ihre eigenen Kinder hinter dem Bildungsstand des Pflegekindes zurückstanden: „Als Hauptgrund, warum sie Jean aus der Schule nehmen will, führt Frau Gross an, sie glaube nicht an Bildung. Ihre eigene Tochter sei Stenotypistin und habe auch kein Abitur. Also bestünde auch keine Veranlassung, Jean eine bessere Schulbildung zukommen zu lassen. Es sei im Gegenteil viel besser für das Mädchen, ebenfalls einen Stenographie- und Schreibmaschinen-Kursus zu machen, um so schnell wie möglich arbeiten gehen zu können.“450 Dennoch gab es einige private Schulen oder Internatsschulen, die es einigen Kindern ermöglichte, kostenlos am weiterführenden Unterricht teilzunehmen. Margaret Burkhill vom „Cambridge Refugee Committee“ versuchte bei Verhandlungen mit dem „International Students Service Co-operating Committee for England and Wales“ Stipendien für begabte Flüchtlingskinder zu erwirken, da diese kein Anrecht auf staatliche Stipendien oder Zuschüsse hatten. Dies gelang auch teilweise, doch leider wurden die Flüchtlingskinder bei der Vergabe der Stipendien immer benachteiligt, „mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Großbritannien“.451 Der Sekretär des „International Students Service Co-operating Committee for England and Wales“ schrieb im November 1943 an Margaret Burkhill: „Vielleicht bin ich zu Refugees an das Home Office, 2. Mai 1945) 449 Rebekka Göpfert, S. 133f 450 Bericht des RCM über eine Mutter, die nicht möchte, dass das Pflegekind eine bessere Ausbildung als ihr eigenes Kind erhält. In: Barry Turner, S. 188 451 Rebekka Göpfert, S. 135 (R.G. zitiert Brief, datiert vom 26.11.1943 (Imperial War Museum, Burkhill Coll.)) 152 vorsichtig, aber, obwohl ich mit Ihnen darin vollkommen übereinstimme, dass außergewöhnlich begabte Flüchtlingskinder dieselben Bildungschancen wie britische Schüler bekommen sollten, bezweifle ich doch, ob die Mehrheit der englischen Bevölkerung bereits fortschrittlich genug ist, um der Gewährung staatlicher Stipendien für Flüchtlinge zuzustimmen.“452 Neben dem Problem mit der englischen Sprache, mussten die Kinder erst einmal den leistungsmäßigen Anschluss an die Klasse finden. Aus diesem Grund wurden die Kinder meistens ein bis zwei Klassen tiefer eingestuft, um sie nicht zu überfordern. Darüber hinaus mussten anfangs noch Übereinstimmungen zwischen den deutschen und englischen Lehrplänen gefunden. So kam es oft dazu, dass viele Kinder sowohl von ihren Mitschülern, als auch von ihren Lehrern anders behandelt wurden. Vorurteile, die man gegen Deutsche hatte, wurden teilweise offen gezeigt: „Ich ging einfach weiter in die Schule und versuchte, nicht aufzufallen. Manchmal erregte eine ganz nebensächliche, unbewusste Geste Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich an einen Vorfall: Als wir einmal in einen ziemlich kalten Raum gingen, begann ich zu zittern. Die Lehrerin sagte mit ihrer wunderbar durchdringenden Oberschicht-Stimme: ››Engländer zittern nicht, wenn sie einen kalten Raum betreten. Es gibt nicht genügend Kohle, weil wir gegen die Deutschen kämpfen.‹‹“453 Im Laufe der Zeit konnte dieses Problem aus der Welt geschafft werden und die Kinder fanden, abgesehen von den Problemen mit der neuen Sprache, immer schneller Anschluss an den Unterrichtsstoff.454 452 Barry Turner, S. 193 Ebd., S. 190f 454 Rebekka Göpfert, S. 136 453 153 8.5. Aussichten auf dem Arbeitsmarkt Nach dem Abschluss ihrer schulischen Ausbildung, sollten die Kinder nach Möglichkeit eine berufliche Ausbildung anfangen. In dieser Beziehung waren sie jedoch abhängig vom englischen Arbeitsmarkt und den dortigen für Flüchtlinge geltenden Arbeitsbestimmungen. Hierfür war eine Arbeitserlaubnis nötig und die Bestätigung, dass sie keine Konkurrenz für den britischen Arbeitsmarkt darstellten.455 Zum Erhalt einer Arbeitserlaubnis mussten vier Bedingungen erfüllt werden:456 1. Die Arbeitsbedingungen für die Flüchtlinge mussten genauso gut sein, wie die der britischen Arbeiter. 2. Es durfte nicht unter dem Deckmantel einer Ausbildung ein Arbeitsplatz vergeben werden, der nur billige Handlangerarbeiten beinhalte. Die Ausbildung zu einem richtigen Beruf sollte also gewährleistet sein. 3. Es musste sichergestellt werden, dass keinem Briten der Arbeitsplatz weggenommen wurde. 4. Die Stellen, die den Flüchtlingen offen standen, mussten eigens für sie eingerichtet sein. Das waren meist Ausbildungsplätze in der Landwirtschaft. Wie überall in Europa zu dieser Zeit, gab es auch auf dem englischen Arbeitsmarkt nur wenig Chancen auf einen guten Arbeitsplatz. Der Kriegsausbruch führte einerseits zu einer Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt, da einige Betriebe evakuiert oder umstrukturiert wurden. Andererseits entstanden aus der Kriegswirtschaft neue Arbeitsmöglichkeiten, wie beispielsweise in der Waffenindustrie. Gleichzeitig stellte der Militärdienst neben der Industrie und der Landwirtschaft einen der wichtigsten Faktoren des Arbeitsmarktes für die männlichen Flüchtlingskinder dar. Die meisten Jungen allerdings kamen in der 455 456 Ebd. Barry Turner, S. 200 154 Landwirtschaft unter. Zum einen war das eine Folge der durch die „Youth Aliyah“ organisierte Ausbildung der Kinder in diesem Bereich, zum anderen führte der Kriegsdienst der Briten dazu, dass in der Landwirtschaft immer mehr Arbeitskräfte fehlten. Da die meisten Flüchtlingskinder aus größeren Städten in Deutschland kamen, waren die auf dem Land herrschende Einsamkeit nicht gewohnt und beklagten sich des Öfteren.457 Das RCM warb im Februar 1941 in einem Rundschreiben für die Tätigkeit als Landwirt, um möglichst viele Flüchtlinge in diesen Berufszweig zu bringen. Die Landwirtschaft wurde in den schönsten Ausführungen dargestellt. Leider verschwieg man den Flüchtlingen aber, dass sie, sollten sie unzufrieden mit ihrem Beruf sein, diesen nur sehr schwer wechseln konnten: „Als Landwirt hat mein ein gutes Leben und übt eine sehr wichtige Tätigkeit aus, die allerdings erlernt werden muss. In der Ausbildung wirst Du alle Vorteile entdecken, die das Leben in frischer Luft mit sich bringt. [...] Innerhalb eines Jahres wirst Du alle für Wachstum und Produktion notwendigen Vorgänge kennen und am Ende der Zeit mit Befriedigung die Früchte Deiner Arbeit ernten. Natürlich erhältst Du zusätzlich zur Berufsausbildung im Freien auch Unterricht in Englisch und Religion. Du lernst und lebst gemeinsam mit anderen Flüchtlingsjungen und –mädchen, die den gleichen Ehrgeiz haben wie Du. [...] Wenn Du Dich dieser Ausbildung mit Leib und Seele verschreibst, wirst Du großen Nutzen daraus ziehen.“458 Die Mädchen kamen vielfach in Pflegeberufen oder als Hauspersonal unter. Da diese Arbeitskräfte offenbar sehr gebraucht wurden, bekamen nur 20% der Mädchen (im Gegensatz zu 80% der Jungen) einen Ausreisebescheid.459 457 Rebekka Göpfert, S. 137f (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 15 und RCM: Meeting of the Regional Secretaries, 7.4.1941) 458 Barry Turner, S. 200f 459 Rebekka Göpfert, S. 138 (R.G. zitiert Bulletin of the Co-ordinating Committee, März 1939, S. 17) 155 8.6. Probleme bei der religiösen Erziehung der Kinder Das RCM legte großen Wert darauf, die Kinder in Haushalten mit gleichem Glauben unterzubringen, da sie auf Grund ihrer Auswanderung schon genug von ihren Wurzeln entfremdet wurden. Dennoch sollten christliche Kinder in christlichen Haushalten und jüdische Kinder in jüdischen Haushalten unterkommen. Dies war jedoch auf Grund der zu geringen Anzahl von Pflegefamilien oft nicht einzuhalten. Zusätzlich sollten die Kinder jüdischen Religionsunterricht erhalten.460 Hatte man den Eindruck, dass Kinder nicht gemäß ihrer Religion erzogen wurden oder drohten einige Pflegefamilien damit, die Garantie für ein Kind aufzuheben, wenn sie es nicht nach ihren religiösen Vorstellungen erziehen durften, so war sich das RCM darüber einig, lieber selbst die finanzielle Garantie für das Kind zu übernehmen, damit es nach seiner Religion erzogen werden konnte.461 Es stellte sich jedoch oft das Problem, dass es den Kindern wahrscheinlich noch mehr schaden würde, wenn man sie von Familien trennte, bei denen sie sich gerade eingelebt hatten.462 Auf Grund der Evakuierung vieler Kinder aufs Land nach dem Kriegsausbruch (siehe Kap. 9.2.), mussten noch mehr jüdische Kinder in christlichen Haushalten untergebracht werden, da die Dichte der jüdischen Bevölkerung auf dem Land sehr gering war. Diese Tatsache führte zu einer starken Protestwelle vieler jüdischer Organisationen, die dem RCM vorwarfen, sich nicht ausreichend um die religiöse Bildung der Kinder zu kümmern.463 Die christliche Gemeinde hingegen fühlte sich stark angegriffen und gab zu bedenken, dass es schließlich christliche Motive 460 Rebekka Göpfert, S. 140 Ebd., S. 142 462 Ebd., S. 143 463 Rebekka Göpfert, S. 143f (R.G. zitiert RCM: Extract from Board of Deputies 461 156 gewesen seien, die sie dazu bewegt hätten, ihre Gastfreundschaft gegenüber den jüdischen Flüchtlingskindern anzubieten. Gleichzeitig betonten sie, es sei besser, die Kinder im christlichen Glauben zu erziehen als sie, auf Grund des mangelnden Angebots an jüdischer Erziehung, „religiös“ verwahrlosen zu lassen. Schließlich einigte man sich darauf, die Kinder ab dem 16. Lebensjahr selbst entscheiden zu lassen, welcher Religion sie angehören möchten.464 Das RCM rechtfertigte sich seinerseits, indem es der jüdischen Gemeinde vorwarf, sich nicht genügend um die Flüchtlingskinder zu kümmern, sei es durch die mangelnde Bereitschaft, jüdische Kinder bei sich aufzunehmen oder die Bereitschaft den Kindern religiöse Unterstützung zu geben, sondern sich hauptsächlich durch Geldspenden um die Kinder kümmert.465 Außerdem gründete das RCM ein eigenes „Religious Teaching Special Religionszuständigkeit Committee“, zuständig das für war Fragen und der jüdische Veranstaltungen organisierte, um den Kinder ihre Religion nahe zu bringen. Darüber hinaus betonte das RCM, dass es eine konfessionslose Organisation sei und sich genauso um nichtjüdische Kinder kümmerte wie um jüdische.. Auf Grund dessen musste darauf geachtet werden, dass das RCM religiös neutral blieb.466 Im Januar 1944 entflammte diese Diskussion aufs Neue, als es darum ging, einen Vormund für die minderjährigen Kinder zu finden, der aller Voraussicht nach christlich sein würde (siehe Kapitel 10.1.). Die häufigsten Vorwürfe bezogen sich auf die Besetzung der wichtigsten Posten innerhalb des RCM. „Lediglich ein extrem liberaler Rabbiner der Londoner Reformgemeinde (nämlich Ephraim Levine) sei eingestellt worden, um sich um die Meeting, 27.5.1941) 464 Rebekka Göpfert, S. 145 (R.G. zitiert Memorandum von Rev. Robert Smith, Scottish Christian Council, September 1941) 465 Rebekka Göpfert, S. 145 (R.G. zitiert Brief von Siegmund Gstetner vom 5.6.1941) 466 Rebekka Göpfert, S. 146 (R.G. zitiert Memorandum des Cantral Committee 157 Kinder zu kümmern, doch keine einzige Schlüsselposition sei mit einem Vertreter der jüdischen Orthodoxie besetzt.“467 Zusammenfassend stellt Esther Judith Baumel fest, dass aus heutiger Sicht den Vorwürfen, das RCM habe sich nicht ausreichend um die religiöse Erziehung der Kinder bemüht, nicht unbedingt zugestimmt werden kann, wenn man die Turbulenzen und Schwierigkeiten bedenkt, die sich bei der Unterbringung der Kinder ganz allgemein ergaben.468 vom 3.12.1941) 467 Rebekka Göpfert, S. 147 (R.G. zitiert Union of Orthodox Hebrew Congregations: Child-Estraning Movement, S. 5 und S. 8) 468 Rebekka Göpfert, S. 151 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish Refugee Children, S. 141) 158 9. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Kindertransporte Die Folgen des Krieges waren verheerend: Die Grenzen wurden geschlossen, was den Kontakt zwischen Kindern und ihren Eltern auf ein absolutes Minimum reduzierte. Die Tatsache, dass die Grenzen geschlossen wurden, hatte zur Folge, dass viele Kinder erkannten, wie gering die Chancen standen, ihre leiblichen Eltern jemals wieder zu sehen. Außerdem konnten viele Kinder, die ihre Ausreisevisa bereits hatten nicht mehr durch die Kindertransporte gerettet werden. Im Mai 1940 brachte das letzte Schiff Kinder nach England (siehe Kapitel 9.1.). Gleichzeitig war nun die geplante Re-Emigration der Kinder unmöglich geworden (siehe Kapitel 9.2.). Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass mittlerweile sehr viele Ausländer in England lebten und die britische Regierung eine Unterwanderung durch feindliche Ausländer fürchtete. Daraufhin wurden viele Flüchtlinge, darunter auch zahlreiche Kinder, interniert (siehe Kapitel 9.4.). Darüber hinaus mussten viele Kinder im Hinblick auf die drohende Bombardierung evakuiert werden (siehe Kapitel 9.3.). 9.1. Der letzte Kindertransport Obwohl schon alle Grenzen geschlossen waren und am 10. Mai 1940 die deutsche Invasion nach Holland begann, gelang es Frau Wijsmuller-Meijer ein letztes Mal, Kinder von Holland nach England zu bringen: In bereitgestellten Reisebussen gelang es ihr am 14. Mai trotz einiger Straßensperren den Hafen Ymuiden zu 159 erreichen. Auf diesem letzten Transport kamen 80 Kinder aus einem Waisenhaus in Amsterdam – unter ihnen auch Ya’acov Friedler – und weitere holländische Kinder unter: „Unsere Fluchtbusse hielten im Hafen von Ymuiden. Schnell brachte man uns zum Pier, an dem ein alter holländischer Frachter, die S.S. Bodegraven, festgemacht hatte und schon unter Dampf stand. Frau Wijsmüller hatte sie für unsere Flucht nach England angeheuert.“469 Nachdem die Busse am Hafen ankamen, musste das Schiff schnell bestiegen werden und ablegen. Auf Grund der befürchteten Bombardierung waren die Kinder dazu angehalten, sich auf den Boden zu legen oder unter Deck zu gehen. „Als wir am Abend des 14. Mai 1940 an Deck des betagten holländischen Frachters SS Bodegraven den Hafen von Ymuiden bei Amsterdam verließen, mussten wir uns auf den Boden werfen – über uns kreisten im Tiefflug zwei deutsche Bomber, die das Schiff mit Maschinengewehrfeuer belegten. Es wurde allerdings niemand verletzt.“ Ya’acov Friedler470 Als das Schiff nach wenigen Stunden Harwich erreichte, verweigerte Großbritannien aus Angst vor der vermuteten feindlichen Besatzung jedoch zunächst die Landung. 471 Erst nach stundenlanger Verspätung erhielt das Schiff die Erlaubnis in Liverpool zu ankern, wo die Kinder von Bord gehen konnten. Die Kinder kamen vorläufig in Heimen in Manchester unter.472 Mehr Kindern gelang leider nicht die Flucht nach England . Unter anderem auch aus dem Grund, dass Großbritannien sich weigerte, weiterhin Personen, die direkt aus feindlichen Ländern kamen, aufzunehmen. Das bedeutete das Ende der Kindertransporte.473 469 Ya’acoc Friedler, S. 116 Rebekka Göpfert (Hrsg.): Ich kam allein, S. 102 471 Rebekka Göpfert, S. 156 472 Ebd., S. 157 473 Ebd. 470 160 9.2. Re-Emigration Wie schon mehrfach erwähnt, sollten die Kinder nur vorübergehend in England bleiben und nach ihrem 18. Lebensjahr in ein anderes Land auswandern. Sei es zu Verwandten nach Amerika oder andere Länder, oder zusammen mit ihren Eltern, wenn auch sie die Flucht aus Deutschland geschafft hatten. Doch schnell stellte sich heraus, dass unter anderem nach dem Ausbruch des Krieges die Auswanderung in weitere Länder nur schwer realisierbar wurde, zumal es den leiblichen Eltern der Kinder immer seltener gelang, Deutschland ebenfalls zu verlassen. Schon im Frühjahr 1939 ging das RCM davon aus, dass längst nicht alle Kinder auswandern werden.474 Das eigens vom RCM gegründete „Re-emigration Departement“ war mit dieser Re-Emigration beauftragt. Es sollte Kontakt zu den Eltern oder Verwandten im Ausland aufnehmen. 475 War es den Kindern trotz aller Schwierigkeiten möglich, ins Ausland auszuwandern, mussten sie erst einmal einen der begehrten Plätze auf einem Schiff bekommen, um England verlassen zu können. Außerdem benötigten sie noch ein Ausreisevisum vom Home Office, welches aber denjenigen, die in kriegswichtiger Industrie und den Mädchen, die als Krankenschwestern arbeiteten, meistens verweigert wurde.476 1.446 Kindern gelang bis 1941 die Re-Emigration. Da nach 1941 eine Re-Emigration so gut wie unmöglich war, wurde das „Reemigration Departement“ aufgelöst. Mittlerweile ging man davon aus, dass die meisten Kinder England nicht mehr verlassen würden.477 474 Rebekka Göpfert, S. 158 (R.G. zitiert Bulletin of the Co-ordinating Committee, April 1939, S. 5) 475 Rebekka Göpfert, S. 158 476 Rebekka Göpfert, S. 159 (R.G. zitiert Presland: A Great Adventure, S. 15) 161 477 Rebekka Göpfert, S. 160 162 9.3. Evakuierung In „Whitehall“ existierten Akten über mögliche Auswirkungen deutscher Luftangriffe auf London. Man ging davon aus, dass in der ersten zwei Wochen nach der Kriegserklärung 100.000 Bomben abgeworfen werden. Um eine großen Anzahl von Opfern zu verhindern, wurden englische Kinder unter 15 Jahren, die in Großstädten, in der Nähe von Industriegebieten oder „urban areas“ lebten, von der Regierung evakuiert und auf dem Land untergebracht.478 Dies geschah meist im Klassenverband und ohne die Eltern. An ihrem Zielort wurden die Kinder, soweit es möglich war, in Privathaushalten untergebracht.479 Mit den Kindern des Kindertransportes ging man ebenso vor. Für die evakuierten Kinder blieben jedoch die ursprünglichen „SubCommittees“ zuständig und nicht die Committees der Aufnahmegebiete. Die Garantien mussten ebenfalls von den Sponsoren, ob Privatfamilie oder dem RCM weiterhin übernommen werden. Diese Evakuierung hatte zur Folge, dass sich die Kinder wieder an neue Verhältnisse und Bezugspersonen gewöhnen mussten.480 Hinzu kam, dass die Menschen auf dem Land, die oft einfach gezwungen wurden, Flüchtlingskinder aufzunehmen, nicht immer sehr freundlich zu den Kindern waren. Außerdem war die Evakuierung ein weiteres traumatisches Erlebnis der Kinder: „Aus der Obhut meiner Pflegeeltern evakuiert zu werden, war das schlimmste Erlebnis meines Lebens. Mit dem wenigen Englisch, das ich konnte, wurde ich nach Nordengland in den Lake District geschickt. Wir standen im Gemeindehaus des Dorfes herum und wurden von Leuten ausgesucht, wenn ihnen unser Gesicht gefiel. Geschwister durften zusammenbleiben. Ich stand neben zwei Schwestern, die sehr nett zu mir waren. Wir wurden gefragt, ob 478 Barry Turner, S. 150 Rebekka Göpfert, S. 160 480 Ebd., S. 161 479 163 wir zur selben Familie gehörten, und ich antwortete: ››Nein, aber ich möchte gern mit den beiden zusammenbleiben.‹‹ Darum gingen die Mädchen zu zwei alten Damen, die erzählt hatten, auf einem Bauernhof in der Nachbarschaft würde noch ein Mädchen gebraucht. Doch was man dort tatsächlich benötigte, war ein Dienstmädchen. Als man von mir verlangte, den Küchenboden zu putzen, sagte ich, ich hätte das noch nie gemacht und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Trotzdem musste ich auf dem Bauernhof bleiben.“ Magda Chadwick481 Bis 1940 wurden fast 14.000 britische Kinder nach Übersee evakuiert, da die inländischen Aufnahmekapazitäten erschöpft waren. Es wurde jedoch abgelehnt, Flüchtlingskinder nach Übersee zu evakuieren, da es keine Einreisevisa für die Flüchtlingskinder geben würde und man wollte die britischen Kinder nicht der „infiltration“ durch jüdische Flüchtlingskinder aussetzten.482 Auf dem Land ergab sich für die Kinder wiederum das Problem mit der religiösen Erziehung, da es hier keine jüdische Bevölkerung und somit kein jüdisches Leben gab. Auch wussten die Menschen, die auf dem Land lebten nicht was, koscheres Essen ist, oder wie sich das religiöse Leben eines Juden gestaltete, und so kam es dazu, dass manche Kinder sich weigerten zu essen. Daraufhin richteten einige Gemeinden Volksküchen ein, in denen die jüdischen Kinder koscheres Essen bekamen.483 Auch das RCM bemühte sich so weit wie möglich den Kindern ihre jüdische Religion nahe zu bringen und versandte jüdische Lehrer oder eröffnete Kantinen, in denen koschere Mahlzeiten angeboten wurden.484 Doch nicht nur die Kinder, sondern auch „Bloomsbury House“ 481 Barry Turner, S. 152f Rebekka Göpfert, S. 161f (R.G. zitiert Central Council for Jewish Refugees: Minutes of Meeting of the Executive, 26.6.1940, S. 3 und 10.7.1940, S. 4) 483 Barry Turner, S. 154 484 Rebekka Göpfert, S. 163 (R.G. zitiert Presland: A Great Adventure, S. 9) 482 164 musste evakuiert werden. Für diesen Zweck wurde in Hindhead (in Südengland) ein Führsorgeabteilung mit Landhaus den Akten gemietet, in dem die der Kinder, sowie 15 Angestellte untergebracht wurden.485 9.4. Internierung Aus Angst, England könne von innen heraus durch den großen Anteil an Flüchtlingen aus feindlichen Ländern unterwandert werden, begann man im September 1939 mit der Planung von Internierungen. Für diese Arbeit setzte man Tribunale ein, deren Aufgabe es war, die „enemy aliens“ in unterschiedliche Kategorien einzuordnen.486 Als „enemy aliens“ galt „a person who, not being either a British citizen or a British protected person, [who] possesses the nationality of a state at war with His Majesty.“487 Es gab drei Kategorien, nach denen die „enemy aliens“ eingeteilt wurden: „Mit möglichst vielen Ausländern musste man in kürzester Zeit fertig werden, weil die Panik sich steigerte. Nach einer nur flüchtigen Anhörung wurden alle Ausländer der Kategorie A, B oder C zugeordnet. ››A‹‹ bedeutete, dass man ein ››gefährlicher und feindlicher Ausländer‹‹ war; ››B‹‹ stempelte einen zum ››feindlichen Ausländer‹‹ ab; das erlösende ››C‹‹ beförderte den Fremden zum ››befreundeten Ausländer‹‹.“488 In Kategorie C eingestufte Personen waren direkt zur Internierung vorgesehen. Man ging davon aus, dass von den Nazis verfolgte Personen, die aus diesem Grund nach England geflohen waren, und schon länger in Großbritannien lebende, zum Gemeinwesen beitragende, in die Kategorie C eingestuft werden konnten.489 485 Barry Turner, S. 155 Rebekka Göpfert, S. 163 487 Rebekka Göpfert, S. 163 f (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish Refugee Children, S. 147) 488 Ya’acov Friedler, S. 130 489 Rebekka Göpfert, S. 164 486 165 Bis Ende November 1939 wurden aber nur 348 von 35.000 Personen interniert. Im Laufe der Zeit nahm der Prozentsatz der Internierungen stetig ab. Die Tatsache, dass die Niederlande den Deutschen unterlagen, schürte die Angst vor Unterwanderung bei den Briten immer stärker und so kam es, dass man nach und nach auch die in die Kategorie B eingestuften „enemy aliens“ internierte.490 Nachdem Deutschland im Mai 1940 auch die Niederlande und Belgien überfallen hatte, wurden zur Vorsicht alle „feindlichen Fremden“ interniert, hierzu zählten auch die 16jährigen Kinder, die mit den Kindertransporten nach Großbritannien gekommen waren.491 Oft wurden die Menschen ohne eine vorangegangene Nachricht einfach aus ihrem Alltag heraus mitgenommen und kamen in Internierungshaft.492 Meist blieben diese aber nicht sehr lange in Internierungshaft, da sie in Privathaushalten untergekommen waren und die Pflegeeltern für die Kinder garantierten, oder weil kriegswichtige Arbeit ausübten und man dort nicht auf ihre Arbeitskraft verzichten konnte. Doch auch durch Selbsthilfe konnte man von der Internierung verschont werden: „Als der Krieg ausbrach, gingen mein Bruder und ich zum Verhör auf die Polizeistation in Kings Cross – mein Bruder an einem Morgen und ich am nächsten. Mein Bruder wurde als B (gefährlicher feindlicher Ausländer) klassifiziert. Ich fand das ungerecht und ging mit unseren Identitätskarten noch einmal allein zur Polizei, um ihnen mitzuteilen, sie hätten sich geirrt. Sie fragten mich, was ich damit meine, und ich sagte: ››Ich bin der Gefährliche und er ist der Freundliche.‹‹ Der Polizist, der einen ungewöhnlichen kleinen Jungen von 16 Jahren vor sich sah, lachte und sagte: ››Ich will sehen was ich tun kann.‹‹ Er ging zu 490 Rebekka Göpfert, S. 165 (R.G. zitiert Peter und Leni Gillmann: Collar the Lot. How Britain Interned and Expelled its Wartime Refugees, S. 45f) 491 Gerd Braune: Flucht ins Ungewisse. Kindertransporte retteten viele junge Juden vor den Nazis: zum Beispiel Helmut Kallmann, Artikel in: Frankfurter Rundschau, 19.6.1999, S. ZB 1 492 Amy Zahl Gottlieb, S. 169 166 dem Richter, nahm beide Ausweise mit hinein und als er zurückkam, erklärte er: 167 ››Jetzt seid ihr beide freundlich.‹‹ Henry Toch493 Da jedoch die Kapazitäten der britischen Internierungslager bald ausgeschöpft waren, ging man dazu über, die Internierten in britischen Provinzen nach Übersee zu deportieren (meist nach Kanada oder Australien).494 Nach dem Ausbruch des Krieges mussten sich alle über 16jährigen Kinder bei den zuständigen Polizeidienststellen melden. Das RCM stellte sicher, dass sie dieser Forderung Folge leisteten.495 Die Tribunale vor die die Kinder treten mussten, erhielten im Vorfeld der Anhörung einen Bericht über das jeweilige Kind vom zuständigen „Sub-Committee“. Zum größten Teil wurden diese Kinder auch in die Kategorie C eingestuft. Doch das RCM versuchte über das Home Office zu erreichen, dass die Kinder von vornherein in diese Kategorie eingestuft werden, ohne vorher vor das Tribunal treten zu müssen. Dies gelang dem RCM schließlich im April 1940.496 Auf Grund der durch den Krieg bedingten bedrohlichen Situation, begann man, die Sicherheitsmaßnahmen entlang der verwundbaren Abschnitte der Süd- und Ostküste zu verstärken. Ab dem 10. Mai 1940 wurden auch alle Deutschen und Österreicher der Kategorien B und C, die in diesen Gegenden lebten, interniert. Hierzu zählten auch Jugendliche über 16 Jahre, die man oft ohne weitere Erklärungen von ihren Pflegeeltern oder von der Schule abholte. 497 Gegen diese plötzlich Internierung der Flüchtlingskinder protestierten jedoch einige Mitarbeiter des „Bloomsbury House“: „Sie wurden in hastig errichtete Lager geschickt, von denen die größten in Huyton, in der Nähe von Liverpool, und auf der Isle of Man lagen. Das Leben dort war elend. Jung und Alt wurden bunt 493 Barry Turner, S. 157f Rebekka Göpfert, S. 167 495 Ebd. 496 Rebekka Göpfert, S. 168 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 12) 497 Barry Turner, S. 159 494 168 zusammengewürfelt und mussten sich Zimmer und Bett teilen. Ein jüdischer Jugendlicher, der allen Grund hatte, den Nationalsozialismus zu hassen, fand sich in Gesellschaft eines glühenden Hitlerverehrers. Und niemand wusste was vor sich ging. Unsere Beschwerden wurden, obwohl energisch vorgetragen, zunächst nicht ernst genommen. Ich war nicht die einzige Mitarbeiterin des Kinder –Flüchtlingshilfe der gegenüber Beamte des Innenministeriums die Internierung aller Flüchtlinge als Schutzmaßnahme darstellten: wie sonst konnte man sich vor wütenden Einheimischen schützen, die ihnen die Schuld am Krieg zuschoben? Wir versuchten, das Beste aus der Situation zu machen, indem wir Bücher schickten, Freiwillige als Lehrer engagierten (es gab Internierte, die sich auf das Abitur vorbereiteten) und den Aufsehern die Eigenheiten der koscheren Küche erklärten.“498 Wieder waren die Kinder einer neuen Umgebung ausgesetzt an die sie sich neu gewöhnen mussten. Doch scheinbar war für viele Kinder die Internierung nicht so schlimm, wie die Evakuierung: „Überraschenderweise war für die Jugendlichen das Leben hinter Stacheldraht mit allen dazugehörigen Nachteilen nicht so schlimm. Sie mussten lernen, mit Menschen verschiedenster Herkunft, die nur das gemeinsame Schicksal verband, zusammenzuleben. Immerhin gab es dort auch erwachsene, jüdische Flüchtlinge aus allen möglichen Gesellschaftsschichten. Viele junge Leute fanden dadurch zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in England wieder Zugang zu geistesverwandten älteren Menschen.“499 498 Ebd., S. 161 Bericht von Walter Friedmann, Leiter eines Jugendwohnheims in London, dem es gelungen war, der Internierung zu entgehen. In: Barry Turner, S. 163 499 169 10. Kriegsende und die damit verbundenen rechtlichen Fragen 10.1. Vormundschaft Als sich herausstellte, dass viele Menschen den Holocaust in Deutschland nicht überleben werden und darunter auch zahlreiche Eltern von Kindern der Kindertransporte, musste man Überlegungen anstellen, wie man aus rechtlicher Sicht mit den Kindern umgehen sollte. Alle Kinder, die unter 21 waren und beispielsweise ihre Religionszugehörigkeit wechseln oder heiraten wollten, brauchten dafür die Erlaubnis eines Vormundes. Da die Bestimmung eines Vormundes für jedes der immerhin noch 8.500 Kinder im Land viel zu aufwendig gewesen wäre,, schlug das Home Office 1943 vor, einen kollektiven Vormund für mehrere Kinder auszuwählen.500 Da diese Vorgehensweise in England bisher jedoch nicht zulässig war, kam es zu einigen Diskussionen, da man befürchtete, bestimme man einen ungeeigneten Vormund so hätte das fatale Auswirkungen auf mehrere Kinder gleichzeitig. Dennoch trat am 1. März 1944 das Gesetz in Kraft, das diese Vorgehensweise unterstützte. Somit war das RCM, befugt einen Vormund für die Kinder zu bestimmen. Diese Kinder mussten folgende Bedingungen erfüllen: Sie mussten unter 21 Jahre (bzw. die Mädchen unverheiratet) sein und nach 1936 in Land gekommen sein als Folge religiöser, politischer oder rassischer Verfolgung. Außerdem durften sie kein Elternteil in Großbritannien haben. Konnten die Kinder nach Kriegsende mit ihren leiblichen Eltern 500 Rebekka Göpfert, S. 172 170 oder Elternteilen wieder vereinigt werden, verlor die Vormundschaft ihre Gültigkeit.501 Als Vormund für alle Kinder sollte der langjährige Chairman des RCM, Lord Gorell, fungieren. Da es aber als Nichtjude die Vormundschaft für überwiegend jüdische Kinder erhielt, entstand ein Konflikt zwischen jüdischen Organisationen und dem RCM (siehe Kapitel 8.6.).502 Gorell blieb bis ins Jahr 1959 in seiner Tätigkeit als Vormund, da dann das letzte in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Kind sein 21. Lebensjahr vollendete.503 10.2. Staatsbürgerschaft und Adoption Bei der Adoption von Kindern wurden sie allerdings vor ein Problem gestellt, dass nur Kinder mit der britischen Staatsbürgerschaft adoptiert werden konnten. Die britische Staatsbürgerschaft wurde aber nur an Kinder unter 21 vergeben, sofern die Eltern ebenfalls in Großbritannien lebten. Doch nicht nur für eine Adoption war die Staatsbürgerschaft von Nöten, sondern auch für den Erhalt eines Passes, bei Erbschaftsangelegenheiten oder Stipendien.504 Da nun aber die meisten Kinder des Kindertransportes unter 21 waren, musste eine neue Regelung gefunden werden. In diesem Punkt zeigte sich das Home Office sehr großzügig: Kinder, die länger als fünf Jahre in England gelebt hatten, wahrscheinlich keine leiblichen Eltern mehr hatten und voraussichtlich das Land nicht mehr verlassen werden, konnten die Staatsbürgerschaft beantragen. Außerdem wurden sie von den damit verbundenen 501 Ebd., S. 173 Ebd. 503 Rebekka Göpfert, S. 174 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish Refugee Children, S. 177) 504 Rebekka Göpfert, S. 174f 502 171 Gebühren befreit. Nachdem die Anträge einzeln geprüft und bearbeitet wurden, erhielt trotz einiger Bedenken kein Kind, das adoptiert werden sollte, die britische Staatsbürgerschaft. 505 10.3. Suche nach der Familie und Aussichten auf Wiedervereinigung Nachdem der Krieg zu Ende war, begannen viele Kinder damit ihre Eltern und Familien in Deutschland zu suchen, da durch die Wirren des Krieges der Kontakt zur Familie meist abgebrochen war. Als man jedoch das ganze Ausmaß erkannte und herausfand, in welcher Form und mit welcher Brutalität die Juden in Deutschland verfolgt und am Ende umgebracht wurden, schwand bei vielen Kindern die Hoffnung, ihre Angehörigen lebend wieder zu sehen. Darüber hinaus war in den meisten Fällen nicht bekannt, ob, wann und wohin die Familie deportiert wurde und ob sie in diesen Lagern überhaupt überlebt hatten. Noch heute finden sich in den Verbandsorganen der „Kinder“ immer wieder Suchanzeigen nach Überlebenden des Holocaust. Diese Suchanzeigen führten in manchen Fällen dazu, die Todesumstände mancher Angehörigen klären zu können.506 War es tatsächlich einigen Eltern gelungen den Holocaust zu überleben, konnte es bisweilen Monate oder sogar Jahre dauern bis sie mit ihren Kindern Kontakt aufnehmen konnten.507 Auch das RCM versuchte den Kindern und Pflegefamilien bei der Suche nach Familienangehörigen in England zu helfen. Dies geschah meist mit der Unterstützung des britischen Militärs oder des Roten Kreuzes. Doch im Zuge des Krieges kam es durch Namensoder 505 Rebekka Göpfert, S. 175 (R.G. zitiert Norman Bentwich: They found Refuge. An account of British Jewry’s work for victims of Nazi oppression, S. 72) 506 Rebekka Göpfert, S. 178 507 Ebd., S. 179 172 Adressenänderungen und mangelnde Kommunikations- und Transportmöglichkeiten immer wieder zu Verwirrungen, Verzögerungen und falschen Informationen.508 Konnten die Eltern letztendlich mit ihren Kindern wieder vereinigt werden, ergaben sich neben der Freude über diese Zusammenführung auch neue Probleme für die Kinder: Zu den Problemen, die die Kinder inzwischen mit der deutschen Sprache hatten und dadurch die Verständigung zwischen Eltern und Kind erschwert wurde, kam hinzu, dass die Kinder mit Loyalitätskonflikten zu kämpfen hatten, da sie sich nun zwischen der Gastfamilie und ihren leiblichen Eltern entscheiden mussten. Zum wiederholten Male musste das Kind seine gewohnte Umgebung verlassen. Hinzu kam, dass viele Eltern durch die Geschehnisse in Deutschland traumatisiert waren und dadurch ein Zusammenleben mit den Kindern erschwert wurde, da sie teilweise selbst auf Unterstützung angewiesen waren.509 „Schließlich hörte ich, dass meine Mutter überlebt hatte. Sie wurde in der Leichenhalle des Lagers Mauthausen gefunden. Sie muss sich wohl bemerkbar gemacht haben, als das Lager befreit wurde – so kehrte sie von den Toten zurück. Sie war schwer krank. Zuerst kam sie nach Prag. Keiner von all den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, hatte überlebt. Als es ihr besser ging, kam sie hierher. Ich hatte sie das letzte Mal gesehen, als ich zwölf war, nun war ich 18. Es war eine ungeheure Kluft zwischen uns. Eines der ersten Dinge, die sie zu mir sagte, war, dass ich ihr als Einzige geblieben sei, um ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Das konnte ich nicht. Es gab keine Mutter-und-TochterBeziehung mehr. Ich durfte sie nicht aufregen. Wie geht man mit einer Mutter um, die Auschwitz überlebt hatte? Erst später wurde mir klar, dass ich nach dem Krieg eine andere Mutter zurückbekam."510 508 Ebd., S. 180 Barry Turner, S. 143 510 Ebd., S. 253 509 173 Darüber hinaus waren sich die Eltern und Kinder im Laufe der Zeit fremd geworden und sie sahen nun ihre Pflegefamilie als „richtige“ Eltern an. Es entstanden sogar Konflikte zwischen Eltern und Kindern und zwischen leiblichen und Pflegeeltern. Das hatte oft schwere Schuldgefühle seitens der Kinder zur Folge: „Liesls Mutter besuchte uns, nachdem sie nach einer Operation gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie ist furchtbar unglücklich, weil Liesls Pflegemutter, Frau Wynne, letzten Sonntag mit dem Kind zu ihr kam und sie, die leibliche Mutter aufforderte, per schriftlicher Erklärung das Sorgerecht auf die Pflegemutter zu übertragen. Frau Wynne drohte damit, Liesl nicht wieder zurückzunehmen und ein anderes Kind zu adoptieren, falls das entsprechende Formular nicht unterzeichnet würde. Liesl liebt sowohl ihre Mutter als auch ihre Pflegeeltern. Sie versprach, den Wynnes zu erklären, dass sie sehr an ihnen hänge und ein Formular, das die Vormundschaft regelt, unnötig fände, zumal sie auch ihre Mutter nicht verletzen wolle.“511 10.4. Das Ende des RCM „Auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung des „Refugee Children’s Movement“ am 21. Dezember 1948 wurde mit sofortiger Wirkung die Auflösung des RCM beschlossen. Zugleich wurden der gesamte Besitz des RCM – „after satisfaction of all its depts liabilities“ – dem „Central British Fund for Jewish Relief and Rehabilitation“ (CBF) zugeführt, wo sich die Akten der Kinder, soweit vorhanden, noch heute befinden. Auch die Betreuung der Kinder unter 21 Jahren wurde von da an durch das CBF erfüllt.“ 512 511 Ebd., S. 142. Anmerkung: Liesls Mutter gelang die Flucht nach England und wollte nun selbst für ihr Kind sorgen. Es entstand eine wahre Schlacht zwischen leiblicher Mutter und Pflegemutter. Bericht aus dem „Bloomsbury House“. 512 Rebekka Göpfert, S. 185 (R.G. zitiert Dokument, datiert vom 29. November 1948 (CBF, Reel 28, File 164)) 174 11. Rückblick Rückblickend auf die Kindertransporte bleibt leider bis heute die Frage unbeantwortet, warum nicht mehr Kinder oder allgemein mehr Menschen vor dem Wüten der Nationalsozialisten gerettet werden konnten. Ich denke, dass nicht nur der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhindert hat, mehr Kinder nach England zu bringen. Man hätte im Vorfeld viel mehr Kapazitäten zur Verfügung stellen müssen, um so die weitere Rettung von Kindern möglich zu machen. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass die britische Regierung viel früher auf den Nationalsozialismus in Deutschland hätte reagieren müssen und nicht erst eine Wartestellung einnehmen, bis das Treiben der Nazis und deren Ziele schon offensichtlich wurden. Gleichzeitig wäre es durch finanzielle Unterstützung der britischen Regierung gelungen, die benötigten Kapazitäten für die Kindertransporte zu erweitern. Ein weiterer Grund, der die Zahl der geretteten Kinder auf 10.000 beschränkte, war Flüchtlingsorganisationen die in Tatsache, dass jegliche nur sehr kurzer Zeit handeln mussten. Sie konnten also keine einschlägigen Erfahrungen vorweisen, zogen aber auch keine Experten hinzu, die sich beispielsweise mit dem persönlichen Umgang mit Flüchtlingskindern auskannten. Doch gerade in dieser, für die Kinder sehr schweren Zeit, fehlte es an der psychischen Betreuung. Leider erkannten die Flüchtlingsorganisationen diese Problem nicht, da ihr wichtigstes Anliegen die Rettung der Kinder war. In der heutigen Zeit ist man sich, im Gegensatz zu Damals dieser Problematik bewusst. Man ist sich mittlerweile über die Wichtigkeit der psychologischen Betreuung in solchen Aussnahmefällen im Klaren und großen Wert auf sie. Darüber hinaus fehlten auch die finanziellen Mittel. Die daraus resultierenden Folgen für die Kinder waren z.T. schwere 175 psychische Traumata. Teilweise fühlen sich die „Kinder“ bis heute heimatlos, was u.a. auch auf die Evakuierung und spätere Internierung zurückzuführen ist. Manche Kinder mussten in ihren ersten zehn Lebensjahren fünf Mal oder noch öfter ihren Wohnort wechseln, meist gerade wenn sie anfingen, sich heimatlich zu fühlen. Bis heute ist es teilweise so, dass viele „Kinder“ trotz eines britischen Passes immer wieder vor Augen gehalten bekommen, dass sie im Grunde immer noch Flüchtlinge seien und somit automatisch Menschen zweiter Klasse. Blickt man zurück auf die Arbeit der Kirchen und deren Hilfe an ihren Mitmenschen, so stellt man fest, dass auch hier im Grunde der Auftrag des christlichen Glaubens versagte. Abgesehen vom „Büro Grüber“, dem Hilfswerk der katholischen Kirche und der Arbeit der Quäker, waren die religiösen Gemeinden in erster Linie damit beschäftigt, die Rechte ihrer Institutionen zu verteidigen. Die Hilfe an ihren Mitmenschen musste vor den eigenen Interessen der Kirchen zurücktreten. Erst als man bemerkte, wie aussichtslos der Kampf war, wandte man sich den Hilfesuchenden zu. Bedenkt man jedoch die Umstände, unter denen die Kindertransporte organisiert wurden, muss betont werden, dass es schon eine beachtliche Leistung war, diese 10.000 Kinder nach England zu retten. Wobei ich hier auch die Arbeit des „Büro Grübers“ und die der Quäker hervorheben möchte. Viele Mitarbeiter dieser Institutionen oder der Flüchtlingsorganisationen begaben sich mit ihrer Arbeit in lebensgefährliche Situationen. Unbeirrt der drohenden Sanktionen versuchten sie so weit es möglich war, das Leben der „Kinder“ zu retten. Darüber hinaus wurde durch das Zusammenwirken der einzelnen Gruppen mit dem gleichen Ziel der jüdischen Gemeinde in Deutschland gezeigt, dass sie nicht allein gelassen wurden. Ebenfalls muss hervorgehoben werden, dass es nicht allen Kindern schlecht erging. Viele Kinder realisieren erst heute, dass ihnen ihr Leben neu geschenkt wurde, als sie mit einem 176 Kindertransport nach England kamen. Die meisten bedauern es, dass sie sich nicht mehr bei ihren Eltern dafür bedanken konnten. Darüber hinaus gibt es auch angenehme Erinnerungen an das Leben in England, wie beispielsweise die Kinder, die bei der Familie Schlesinger unterkamen und bis heute noch engen Kontakt zu den leiblichen Kindern der Schlesingers haben. Es steht jedoch außer Frage, dass diese 10.000 Kinder heute nicht mehr leben würden, wenn sie nicht die Chance gehabt hätten, mit einem Kindertransport nach England zu fliehen! 177 Literaturverzeichnis Primärliteratur Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akte: Pr. Br. Rep. 36A, Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg /2278/ Bericht von Geertrudia Wijsmuller-Meijer, den sie 1961 in YAD VASHEM gegeben hat. Dokument: Archiv Amsterdam: Nederlands Instituut for Oorlogs Documentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam. Brief von Geertrudia Wijsmuller-Meijer an den SS- Obersturmbannführer im Sicherheitsdienst Den Haag, Herrn Rajakowitsch, aus Amsterdam, den 26. August 1941, Dokument: Archiv Amsterdam: Nederlands Instituut for Oorlogs Documentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam. Drucker, Olga Levi: Kindertransport. Allein auf der Flucht, Lamuv Verlag, Göttingen 1995. Friedler, Ya‘acov: Die leisen Abschiede. Geschichte einer Flucht, Reiner Padligur Verlag, Hagen 1993. 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Ich bin damit einverstanden, dass diese Hausarbeit nach Abschluss meiner Ersten Staatsprüfung wissenschaftlich interessierten Personen oder Institutionen zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt wird und dass zu diesem Zweck Ablichtungen dieser Hausarbeit hergestellt werden, sofern diese keine Korrektur- oder Bewertungsvermerke enthalten. Oberhausen, 28. September 1999 184