Ulrich_Sandra_Examensarbeit

Werbung
Judenverfolgung von 1933-1945 am
Beispiel jüdischer Kinder und der
„Kindertransporte“ unter
Berücksichtigung der Haltung der
Kirchen, Freikirchen und religiösen
Gruppen
Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten
Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe I.
Dem Staatlichen Prüfungsamt Essen für Erste
Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen
vorgelegt von: Sandra Ulrich
Oberhausen, 28.September 1999
Themensteller:
Dr. Aaron Schart, Universität GH Essen, Fachbereich I,
Evangelische Theologie
Inhaltsverzeichnis
0. Vorbemerkung
6
1. Einleitung
7
1.1. Anmerkung zur verwendeten Literatur
9
2. Übersicht der historischen Ereignisse in Deutschland
von 1933 bis 1945
11
3. Jüdische Kindheit unterm Hakenkreuz
18
3.1. Die Entwicklung des jüdischen Schulwesens
18
3.1.1. Weimarer Verfassung
18
3.1.2. Der Plan zur Ausschließung der Juden aus dem
deutschen Schulwesen
19
3.1.3. Jüdische Schulen vor 1933
19
3.1.4. Die Ausschließung der Juden aus dem
deutschen Schulwesen
20
3.1.5. Die Errichtung jüdischer Bekenntnisschulen
21
3.1.6. Auswirkungen des Reichsbürgergesetz und des
Novemberpogroms auf das jüdische Schulwesen
23
3.2. Der Schulalltag jüdischer Kinder während der Nazi-Zeit
25
4.
3.3. Außerschulische Diskriminierung
29
3.4. Kleine Gesten der Sympathie
29
Die Haltung der Kirchen, Freikirchen und religiösen
Gruppen
31
2
4.1. Bekennende Kirche
31
4.1.1. Vorgeschichte der BK
31
4.1.2. Anfänge des Kirchenkampfs
32
4.1.3. Die großen Bekenntnissynoden
33
4.1.3.1. Barmen
33
4.1.3.2. Berlin Dahlem
35
4.1.4. Innere Opposition
35
4.1.5. Der Arierparagraph
37
4.1.6. Pfarrernotbund
39
4.1.7. Verschärfter Kirchenkampf der BK
40
4.1.8. Verstärkter Terror gegen die BK
42
4.1.9. Das „Büro Grüber“
43
4.2. Katholische Kirche
4.2.1. Das Konkordat
48
48
4.2.2. Der Kampf der Bischöfe und der Institution Kirche
51
4.2.2.1. Konrad Graf von Preysing
51
4.2.2.2. Bischof Clemens August Graf von Galen
52
4.2.2.3. Erich Klausner
53
4.2.2.4. Bernhard Lichtenberg
54
4.2.2.5. Weitere Geistliche im Kampf
54
4.2.3. Der Papst zum Kirchenkampf, die Enzyklika
„Mit brennender Sorge“
4.2.4. Das Hilfswerk
4.3. Die Quäker
55
57
59
4.3.1. Hilfsaktionen während des Nationalsozialismus
59
4.3.1.1.
Das Engagement der Quäker im Hinblick
auf die Kindertransporte
61
4.3.2. Das internationale Hilfsbüro
61
3
4.3.3. Weitere Hilfe nach Kriegsbeginn
63
4.4. Die Zeugen Jehovas
4.4.1.
Die
65
Vorgeschichte
der
„Ernsten
Bibelforschervereinigung“ (Zeugen Jehovas)
65
4.4.2. Widerstand und Verfolgung im Dritten Reich
66
4.4.3. Die Zeugen Jehovas im KZ
68
5. Zur britischen Flüchtlingspolitik
70
5.1. Flüchtlingspolitik vor 1933
70
5.2. Britische Flüchtlingspolitik seit 1933
72
5.2.1. Die Konferenz von Evian
76
5.2.2. Palästina als britisches Mandatsgebiet
78
5.2.3. Reaktionen auf den Novemberpogrom
80
6. Die Anfänge der Kindertransporte
6.1.
82
Die Aufnahme der jüdischen Kinder durch das
„Children’s Inter Aid-Committee“
82
6.2. Die Vorläufer der Kindertransporte
84
6.3. Antrag für den Kindertransport
85
6.3.1. Kindertransport als Vorbild für andere
Aufnahmeländer?
7. Organisation und Ablauf der Kindertransporte
90
91
7.1. Vorbereitungen für die ersten Transporte
91
7.2. Auch Österreich bereitet sich vor
93
7.3. Vorbereitungen in England
96
7.3.1. Mithilfe der britischen Flüchtlingsorganisationen bei
den Kindertransporten
7.4. Das „Refugee Children’s Movement“ (RCM)
7.4.1. Aufgabenbereiche des RCM
98
99
99
4
7.4.2. Die Subkomitees
100
7.4.3. Personalprobleme
102
7.4.4. Kosten der Kindertransporte
103
7.4.4.1. Kosten für die Kinder
103
7.4.4.2. Finanzierung des RCM
104
7.4.5. Finanzielle Probleme
105
7.5. Vorbereitungen für die Abreise
7.6. Abreise
108
111
8. Das neue Leben in England
116
8.1. Ankunft in England
116
8.1.1. Aufnahmelager für die „nicht-garantierten Kinder“
117
8.2. Suche nach geeigneten Pflegeeltern
119
8.3. Unterbringung
121
8.3.1. In Familien
121
8.3.2. In Heimen
124
8.3.2.1. Youth Aliyah
125
8.3.2.2. Harris House
126
8.3.2.3. Das Haus der Schlesingers
127
8.4. Das Problem der Schulausbildung
129
8.5. Aussichten auf dem Arbeitsmarkt
132
8.6. Probleme bei der religiösen Erziehung der Kinder
134
8.
Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die
Kindertransporte
9.1. Der letzte Kindertransport
137
137
9.2. Re-Emigration
139
9.3. Evakuierung
140
9.4. Internierung
142
5
9.
Kriegsende und die damit verbundenen rechtlichen
Fragen
10.1. Vormundschaft
10.2. Staatsbürgerschaft und Adoption
146
146
147
10.3. Suche nach den Familien und Aussichten auf
Wiedervereinigung
10.4. Das Ende des RCM
148
150
11. Rückblick
151
Literaturverzeichnis
154
6
0. Vorbemerkung
Diese Arbeit ist in der neuen Rechtschreibung verfasst, und zwar
auf der Basis des Bertelsmann Rechtschreibkonverters.
7
1. Einleitung
Es wurde oft gesagt, dass man im Grunde viel mehr hätte tun
müssen, um die Vernichtung der Juden oder das Fortschreiten des
Hitlerregimes zu stoppen. Auch hört man oft, dass etliche viel mehr
hätten ausrichten können, wenn sie nur gewollt hätten.
In dieser Arbeit jedoch wird aufgezeigt, dass es Menschen gab, die
ungeachtet der Gefahr, in die sie sich begaben oft bis zum bitteren
Ende und mit letzter Kraft versucht haben, viele Menschenleben zu
retten, oder das Leben der Verfolgten so weit wie möglich zu
erleichtern. Dennoch soll keinesfalls ein beschönigender Eindruck
entstehen. Der Nationalsozialismus und das Dritte Reich ist eines
der dunkelsten Kapitel unserer Weltgeschichte. Auch wenn es
Menschen gab, die Widerstand leisteten, so war es doch nur ein
sehr geringer Anteil. Selbst diejenigen, die einfach nur wegsahen,
machten sich im Grunde mitschuldig.
Diese Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Zu Beginn soll die
Entwicklung der politischen Situation im Dritten Reich kurz in einer
tabellarischen Form dargestellt werden. Im ersten Teil wird speziell
auf die Situation der jüdischen Kinder eingegangen, die oftmals gar
nicht verstanden, was in dieser Zeit passierte: Plötzlich durften sie
nicht mehr mit ihren „arischen“ Freunden spielen und mussten
sogar die Schule verlassen, die sie zuvor jahrelang besucht hatten.
Ihre Eltern waren von heute auf morgen arbeitslos oder wurden
sogar kurzfristig verhaftet, und auf der Straße wurden sie
beschimpft. Teilweise verließen sie sogar mit ihren Familien das
Land. Für die Kinder brach die Welt, in der sie aufgewachsen
waren, zusammen, und niemand konnte ihnen einen plausiblen
Grund dafür nennen.
Aber nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen fühlten
sich in der Situation überfordert. Sie versuchten Hilfe bei der
Auswanderung
oder
finanziellen
und
seelischen
Nöten
zu
8
bekommen, wo es nur möglich war. In diesem Zusammenhang wird
aufgezeigt, in welcher Weise die Kirchen und religiösen Gruppen
auf die entstandene Situation reagierten. Neben der direkten Hilfe
an ihren „nichtarischen“ Mitbürgern wird dargestellt, wie sich die
Kirchen
dem
Nationalsozialismus
stellten
und
welche
Schwierigkeiten sich daraus für sie ergaben. Hierbei werden die
Bekennende Kirche, die Katholische Kirche und die Quäker
angeführt und deren Widerstand und Hilfsaktionen aufgezeigt. Am
Schluss wird kurz auf die Zeugen Jehovas eingegangen, die zwar
keine direkte Hilfe an ihren Mitmenschen leisteten, aber dennoch
einen beachtenswerten Widerstand gegen den Nationalsozialismus
geleistet haben, der ihre radikale Verfolgung bis in den Tod zur
Folge hatte.
Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt im dritten Teil, in dem eine
eindrucksvolle Hilfsaktion für jüdische Kinder aus Deutschland
akzentuiert werden wird: Die Aktion der „Kindertransporte“. Wobei
vorneweg zu bemerken wäre, dass der Begriff „Kindertransport“
ebenso negativ ausgelegt werden kann. In der niederländischen
Interpretation beispielsweise wird unter diesem Begriff der
Transport
von
Kindern
in
Konzentrationslager
und
Vernichtungslager, verstanden.
Durch die Kindertransporte gelang es etwa 10.000 jüdischen
Kindern, Deutschland über Holland zu verlassen, um von dort aus
mit einem Schiff nach England auszuwandern, so dass sie dort eine
Möglichkeit erhielten, ihr Leben zwar ohne die Eltern, aber auch vor
dem nationalsozialistischen Terrorregime geschützt, zu führen. Sie
wurden entweder von englischen Familien aufgenommen, oder
kamen in extra für diesen Zweck eingerichtete Heime.
Um die Situation, in der die „Kindertransporte“ entstanden, zu
verdeutlichen wird sowohl auf die britische Flüchtlingspolitik zu
dieser Zeit, als auch auf die Umstände, die zur Verwirklichung
dieser Transporte führten, eingegangen. Dabei ist zu bemerken,
dass es nicht nur die „Kindertransporte“ über Holland nach England
9
gab, sondern vergleichbare Aktionen auch schon nach dem Ersten
Weltkrieg oder in der Tschechoslowakei stattfanden.
Diese Arbeit beschäftigt sich aber ausschließlich mit den englischen
„Kindertransporten“ und verdeutlicht, vor welche Probleme die
Kinder gestellt wurden. Nicht nur, dass sie ihre Eltern verloren, die
sie zum Teil nie mehr wieder sahen, sondern auch, dass sie in ein
für sie völlig fremdes Land kamen und meist noch nicht einmal die
Sprache verstanden. Diejenigen Kinder, die keinen Platz in einer
Familie bekamen, mussten in Heimen leben und fühlten sich oft
sehr einsam. Ein weiteres Problem stellte die schulische
Ausbildung
oder
die
Berufswahl
dar.
Auf
Grund
ihres
Flüchtlingsstatus hatten sie natürlich nicht die gleichen Rechte wie
britische Kinder.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Kinder
vor weitere Probleme, wie die Evakuierung oder Internierung,
gestellt. Darüber hinaus mussten besondere Regelungen für ihre
Adoption oder den Erhalt der britischen Staatsbürgerschaft
eingeführt werden.
Diese Arbeit zeigt auf, dass durch die Aktion der Kindertransporte
zwar vielen Kindern das Leben gerettet wurde, sie doch darüber
hinaus vor vielen Problemen standen, die bei der Planung der
Kindertransporte nicht unbedingt vorher absehbar waren.
1.1. Anmerkung zur verwendeten Literatur
Das Thema der Kindertransporte, mit denen Kindern die Flucht aus
Deutschland gelang, wurde lange Zeit in der literarischen
Verarbeitung
des
Nationalsozialismus
nicht
behandelt.
Der
Nationalsozialismus in Deutschland und seine Folgen ist sehr
ausführlich in der Literatur dokumentiert.
Seit kurzem erst jedoch wendet sich die aktuelle Literatur auch dem
Thema der Kindertransporte zu, wobei diese hauptsächlich auf
10
Aussagen ehemaliger „Kinder“ beruht. Darüber hinaus beschäftigt
sich zum überwiegenden Teil die englische Literatur mit diesem
Thema, da es kaum deutsches Archivmaterial zu dieser Aktion gibt.
Aus diesem Grund war es sehr schwer, ausreichend Literatur zu
diesem Thema zu finden.
11
2.
Übersicht der historischen Ereignisse in
Deutschland von 1933 bis 1945
Die Übersicht der historischen Ereignisse ist in tabellarischer Form
ausgearbeitet, wobei die hier aufgeführten Daten aus dem
fortlaufenden Text entnommen sind. Sollten die Daten nicht aus
dem Text erkennbar, aber dennoch wichtig für den historischen
Überblick sein, sind Literaturhinweise angegeben. Genauere
Ausführungen beispielsweise der Gesetzesinhalte, sind ebenfalls
dem Text zu entnehmen.
Dieser zweite Punkt dient lediglich dazu, dem Leser einen
historischen Überblick über die Ereignisse zu ermöglichen.
30.1.1933 – Adolf Hitler wird durch den Reichspräsidenten
Hindenburg zum Reichskanzler berufen.1
23.3.1933 – „Ermächtigungsgesetz“: Der neue Reichstag sollte
Hitler umfassende Vollmachten geben. Vor allem sollte das Recht
der Gesetzgebung auf die Reichsregierung übertragen werden.2
1.4.1933
–
Boykott
Geschäftsinhaber,
der
jüdischen
Professoren,
Geschäfte:
Lehrer,
Jüdische
Studenten,
Schüler,
3
Rechtsanwälte und Ärzte werden boykottiert.
7.4.1933
–
Gesetz
Berufsbeamtentums“,
„zur
daraufhin
Wiederherstellung
Entlassung
von
des
politisch
missliebigen und „nichtarischen“ Beamten.
7.4.1933 – „Gleichschaltungsgesetz“: In den Ländern werden
Reichsstatthalter eingesetzt, die die Länderregierung ernennen um
1
Walter Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 – 1945. Fischer
Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1957, Zeittafel S. 368
2
Walther Hofer, S. 46
3
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH
& Co. KG, München 1982, S. 205
12
Gleichschaltung voranzutreiben.4
25.4.1933 – Gesetz „gegen Überfüllung deutscher Schulen und
Hochschulen“.
26.4.1933 – Hitler ernennt Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zu
seinem Vertrauensmann für die evangelische Kirche.5
14.7.1933 – Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“:
Unter dem Schlagwort „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“
werden Menschen mit bestimmten Erbkrankheiten sterilisiert.6
20.7.1933 – Abschluss des Reichskonkordates mit dem Vatikan.
22.9.1933 – Gründung der „Reichskulturkammer“: Juden werden
von der obligatorischen Mitgliedschaft in den verschiedenen
Einzelkammern der Reichskulturkammer (Theater, Presse, Musik,
Film) ausgeschlossen.7
17.9.1933 – Gründung der „Reichsvertretung der deutschen
Juden“: Die neu gegründete „Reichsvertretung der deutschen
Juden“ (Vorsitz: Rabbiner Dr. Leo Baeck) für alle jüdischen
Menschen und Vereinigungen, leistet Hilfe bei der Auswanderung
und beim Berufswechsel, bei der Gründung jüdischer Schulen und
auf sozialen und kulturellen Gebieten.8
Mai 1934 – Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen
Kirche in Barmen.
Juni/Juli
1934
–
„Röhm-Putsch“:
aus
Angst
vor
einer
sozialistischen Revolution werden der Stabschef der SA, Ernst
Röhm und weitere politische Gegner ermordet.9
2.8.1934 – Tod von Hindenburgs, Hitler übernimmt das Amt des
Reichspräsidenten.10
19./20.10.1934 – Bekenntnissynode der zweiten vorläufigen Leitung
der Bekennenden Kirche in Berlin-Dahlem.
4
Ebd., S. 195
Eberhard Bethge (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften, Zweiter
Band, Chr. Kaiser Verlag, München 1965, aus der Zeittafel, die dem Buch extra
beiliegt.
6
dtv-Atlas zur Weltgeschichte S. 205
7
Ebd., S. 195
8
Ebd., S. 205
9
Ebd., S. 195
5
13
16.3.1935 – Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht.11
10.9.1935 – Erlass über die „Rassentrennung an öffentlichen
Schulen“.
15.9.1935 – „Nürnberger Gesetze“: „Reichsbürgergesetz“ (Verlust
der bürgerlichen Gleichberechtigung für Juden), „Gesetz zum
Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (Verbot
„rassischer“
zwischen
Mischehen
Juden
und
und
des
„außerehelichen
Staatsangehörigen
Verkehrs
deutschen
oder
artverwandten Blutes“). Für Juden ist das Hissen der Reichsflagge
verboten
und
die
Beschäftigung
nichtjüdischer
weiblicher
Angestellter unter 45 Jahren.
Während der nächsten Jahre Erlass von 13 Ergänzungsverordnungen zum „Reichsbürgergesetz“, um den Ausschluss der
Juden aus der staatlichen Gemeinschaft auf juristischem Weg
rechtskräftig machen zu können.12
26.8.1936 – Hitler fordert in einer geheimen „VierjahresplanDenkschrift“ die Armee und die Wirtschaft auf, binnen vier Jahren
kriegsfähig zu sein.13
August 1936 – Olympische Sommerspiele in Berlin.14
30.9.1937 – Bekanntgabe des Himmlererlasses vom 29. August
betreffend des Verbots von Ersatzhochschulen und Ausbildung der
BK.15
4.2.1938
–
Hitler
wird
Oberbefehlshaber
der
deutschen
Wehrmacht.16
13.3.1938 – „Anschluss“ Österreichs: Österreich wird mit dem
Deutschen Reich wieder vereinigt.17
28.3.1938
–
Die
jüdischen
Kultusvereinigungen
werden
10
Ebd.
Walther Hofer, Zeittafel S. 369
12
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205
13
Walther Hofer, S. 84
14
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 197
15
Eberhard Bethge, Zeittafel
16
Ebd.
17
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 197
11
14
„eingetragene Vereine“.18
26.4.1938 – Verordnung über die Anmeldung jüdischen Vermögens
über 5.000 RM ( –› Vorbereitung für die Ausschaltung der Juden
aus dem Wirtschaftsleben).19
25.7.1938 – Jüdischen Ärzten wird die Zulassung entzogen,
ausgenommen bei der Behandlung von Juden. Sie dürfen ab jetzt
nur den Titel „Krankenbehandler“ führen.20
17.8.1938 – Es sind nur noch bestimmte Vornamen für Juden
erlaubt. Soweit sie noch andere Vornamen tragen, müssen sie ab
dem 1.1.1939 „Israel“ bzw. „Sara“ ihren Vornamen zufügen.21
27.9.1938 – Jüdischen Rechtsanwälten wird die Zulassung
entzogen;
als
Rechtsberater
von
Juden
heißen
sie
jetzt
„Konsulenten“.22
5.10.1938 – Alle Reisepässe deutscher Juden werden mit einem “J“
gekennzeichnet.23
7.11.1938 – Attentat auf den Gesandtschaftsrat von Rath in Paris
durch Herschel Grynszpan.24
9./10.11.1938 – Organisierte Pogrome in ganz Deutschland
(„Reichskristallnacht“): Als Grund wurde die Ermordung des
deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath in der Deutschen
Botschaft in Paris von Herschel Grynszpan am 7.11.1938
angegeben. In der Nacht vom 9. Auf den 10. November begannen
Gewaltaktionen gegen jüdische Geschäfte, Wohnungen, Schulen
und Synagogen.25
10.11.1938 – Die Geschäftsstelle der „Reichsvertretung der
deutschen Juden“ wird geschlossen, die meisten ihrer führenden
Persönlichkeiten
verhaftet
und
Leo
Baeck
unter
Hausarrest
18
Ebd., S. 205
Ebd.
20
Ebd.
21
Ebd.
22
Ebd.
23
Ebd.
24
Ebd.
25
Ebd.
19
15
gestellt. Als die Gestapo die Wiedereröffnung von Leo Baeck
fordert, stellt er die Bedingung, dass Otto Hirsch und Arthur
Lilienthal aus dem KZ entlassen werden.26 Die „Reichsvertretung“
wird am 4.7.1939 zur „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“
und war in ihrer Funktion stark eingeschränkt.27
12.11.1938 – „Sühneleistung“: Den Juden wird 1 Milliarde
Reichsmark als Sühneleistung für die Wiederherstellung der
Sachschäden, die durch den Novemberpogrom entstanden sind,
auferlegt (–› Ausschaltung der Juden aus dem deutschen
Wirtschaftsleben (››Zwangsarisierung‹‹).28
15.11.1938 – Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen
mehr besuchen.
3.12.1938 – Anordnung des Chefs der Deutschen Polizei: „Mit
sofortiger Wirkung untersage ich sämtlichen in Deutschland
wohnenden Juden deutscher Staatsangehörigkeit das Führen von
Kraftfahrzeugen aller Art.“29
3.12.1938 – Alle ››kulturellen‹‹ Institute, Bäder und Straßen im
Regierungsviertel sind für Juden verboten.30
Ab Juni 1939 – Zwangsverkäufe jüdischen Eigentums: Außer
Eheringen müssen Juden alle Gegenstände aus Gold, Silber, Platin
sowie Edelsteine und Perlen abgeben. Darüber hinaus dürfen sie
keine Grundstücke mehr erwerben.31
26
Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1945: Die Geschichte einer
Austreibung. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main,
unter Mitwirkung des Leo Baeck Instituts, New York. Buchhändlervereinigung,
Frankfurt am Main 1985, S. 251
27
Walther Hofer, S. 273
28
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205
29
Hans Donald Cramer: Das Schicksal der Goslarer Juden 1933-45. Eine
Dokumentation, Selbstverlag des Geschichts- und Heimatschutzvereins Goslar
e.V., Goslar 1986, S. 41
30
Dr. Hermann Meyer und Wilhelm Langenbeck (Hrsg.): Weltgeschichte im
Aufriss. Arbeits- und Quellenbuch. Von der Französischen Revolution bis zur
Gegenwart, Verlag Moritz Diesterweg, Berlin 1970, S. 217; zitiert nach: Jochen
Klepper: Unter dem Schatten Deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre
1932-1942, Stuttgart 1956.
31
Ebd.
16
1939 – Durch die Verschärfung der Lage der deutschen Juden,
vermehrte Auswanderungsbestrebungen.
1.9.1939 – Beginn des deutschen Angriffs auf Polen. Mit der
Besetzung Polens beginnt die Liquidation von Juden in Polen.
Zunächst werden sie in Ghettos und Arbeitslagern untergebracht;
bis 1941 Ermordung am Ort bzw. ab 1942 Transport in die
Vernichtungslager.32
1.9.1939 – Anordnung der örtlichen Polizeibehörden über die
Ausgehzeit der Juden: Juden dürfen sich im Sommer nach 21 Uhr
und im Winter nach 20 Uhr nicht außerhalb ihrer Wohnung
aufhalten.33
3.9.1939 – Kriegserklärung der Westmächte.34
Oktober 1939 – „Euthanasieprogramm“: ››unheilbar Kranken wird
der
Gnadentod
gewährt‹‹.
„Für
die
Durchführung
der
verbrecherischen Willkürakte (Tötung von 70.000 Menschen bis
August
1941)
sind
neben
dem
Krankheitsmerkmal
auch
››Arbeitsunfähigkeit‹‹ und ››Rasse‹‹ ausschlaggebend.35
4.8.1940 – Fernsprechanschlüsse von Juden werden eingezogen.36
21.7.1941 – „Endlösung der Judenfrage“: SS-Obergruppenführer
Reinhard Heydrich wird durch Göring mit der „Endlösung der
Judenfrage“,
der
biologischen
Vernichtung
des
Judentums,
beauftragt.37
1.9.1941 – Juden müssen ab Vollendung des 6. Lebensjahres auf
der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest angenäht einen
gelben „Judenstern“ tragen.38
23.9.1941 – Versuchsvergasungen in Auschwitz.39
32
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 197f
Hans Donald Cramer, S. 47
34
Eberhard Bethge, Zeittafel
35
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205
36
Dr. Hermann Meyer und Wilhelm Langenbeck (Hrsg.), S. 217
37
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205
38
Walther Hofer, S. 297
39
Ebd., Zeittafel S. 371
33
17
16.10.1941 – Erste nächtliche Massendeportation von Juden aus
Berliner Häusern.40
20.1.1942
–
„Wannsee-Konferenz“:
Arbeitseinsatz
in
Arbeitskolonnen; Abtransport aller europäischen Juden nach
Osten.41 Besprechung über die Endlösung der Judenfrage.42
9.6.1942 – Anordnung über die Ablieferung von Kleidungsstücken:
Juden haben alle entbehrlichen Kleidungsstücke abzuliefern.43
19.6.1942 – Anordnung über Ablieferung von optischen Geräten.44
26.6.1942 – Anordnung über die Einhaltung von Einkaufszeiten:
Juden haben die für sie festgelegten Einkaufszeiten genau
einzuhalten.45
30.6.1942 – Bis zu diesem Zeitpunkt müssen sämtliche jüdische
Schulen geschlossen werden, ab dem 1.7.1942 ist die Beschulung
jüdischer Kinder verboten.
18.2.1943 – so Genannte „Sportpalastrede“ (Aufruf Goebbels an
die Bevölkerung und die Verkündung des „totalen Krieges“.)46
20.7.1944 – Von Stauffenbergs misslungenes Attentat auf Hitler.47
30.4.1945 – Selbstmord Hitlers.48
9.5.1945 – Bedingungslose Kapitulation Deutschlands und Ende
der Feindseligkeiten in Europa.49
40
Eberhard Bethge, Zeittafel
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, S. 205
42
Walther Hofer, Zeittafel S. 371
43
Hans Donald Cramer, S. 55
44
Ebd.
45
Ebd.
46
Walther Hofer, S. 250
47
Eberhard Bethge, Zeittafel
48
Ebd.
49
Walther Hofer, Zeittafel S. 372
41
18
3.
Jüdische Kindheit unterm Hakenkreuz
3.1. Die Entwicklung des jüdischen Schulwesens
3.1.1. Weimarer Verfassung
Der nationalsozialistische Terror, dem die jüdischen Kinder schon
früh ausgesetzt waren, begann zunächst langsam und versteckt.
Dennoch war es so, dass sich der Terror gegen die Kinder in einem
ganz besonderen Maß darstellte. „Weil jüdische Kinder als eine
Gefahr für die Sicherheit des Staates galten, war ihre Zukunft seit
Beginn der Besatzung besiegelt.“50
In der Weimarer Verfassung war die Gleichberechtigung der
jüdischen Schüler/innen und Schulen noch fest verankert. So
besagt §146, dass „bei der Aufnahme eines Kindes nur seine
Anlage
und
Neigung,
nicht
aber
die
wirtschaftliche
und
gesellschaftliche Stellung oder Religionsbekenntnis seiner Eltern
maßgebend
sind.
Die
Erziehungsberechtigten
können
die
Einrichtung besonderer Volksschulen ihres Bekenntnisses oder
ihrer Weltanschauung beantragen.“ Die Weimarer Verfassung blieb
zunächst auch im Dritten Reich noch in Kraft. Der Paragraph 145,
der die allgemeine Schulpflicht der Kinder regelt, war sogar bis
Mitte 1942 auch für jüdische Schüler/innen bindend.51
50
George Eisen: Spielen im Schatten des Todes. Kinder im Holocaust, Piper
Verlag, München , 1993, S. 31
51
Joseph Walk: Jüdische Schule und Erziehung im Dritten Reich. Verlag Anton
Hain Meisenheim GmbH, Frankfurt am Main 1991, S. 47
19
3.1.2.
Der Plan zur Ausschließung der Juden aus dem
deutschen Schulwesen
Schon im Parteiprogramm der Nationalsozialistischen Deutschen
Arbeiter Partei (NSDAP) vom 24.2.1940 ist das Vorhaben der
Ausschließung der jüdischen Bevölkerung aus dem deutschen
Staats- bzw. Schulwesen zu erkennen: Punkt 4 des Programms
besagt: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist.
Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne
Rücksichtnahme
auf
Konfession.
Kein
Jude
kann
daher
Volksgenosse sein.“52 Die preußische Landesfraktion der NSDAP
forderte Anfang März 1933 sogar schon, dass sämtliche jüdische
Lehrpersonen mit sofortiger Wirkung von Unterrichtsanstalten zu
beurlauben bzw. zu entlassen seien und dass die Anzahl jüdischer
Schüler/innen und Studentinnen und Studenten einen bestimmten
Prozentsatz an öffentlichen Schulen oder Hochschulen nicht
überschreiten darf. Diese Forderungen konnten anfänglich jedoch
nicht verwirklicht werden.53 Der preußische Erziehungsminister Rust
führte daraufhin am 20.2.1933 die Prügelstrafe wieder ein, die sich
in erster Linie gegen die jüdischen Schüler/innen richtete, um die
„Schulzucht“ aufrecht zu erhalten.54
3.1.3. Jüdische Schulen vor 1933
Schon vor 1933 gab es eine große Anzahl jüdischer Schulen, in
denen sich aber die streng jüdische Erziehung meist nur auf den
zweistündigen
wöchentlichen
jüdischen
Religionsunterricht
beschränkte. Statistische Zahlen hierzu sind leider nur sehr
52
Das Programm der NSDAP mit Erläuterungen, in: Joseph Walk, S. 48
Israelitisches Familienblatt, in: Joseph Walk, S. 49
54
Benno Schmoldt (Hrsg.): Schule in Berlin. Gestern und Heute. S. 64, in:
Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler in der NSZeit – Leerstellen deutscher Erziehungswissenschaft?, Verlag Wehle, Bonn
1998, S. 123
53
20
lückenhaft. So besuchten im Schuljahr 1931/32 28.639 jüdische
Kinder öffentliche Volksschulen, was etwa 0,38% der Gesamtzahl
ausmacht. Zahlen für höhere Schulen lagen im Jahr 1932 nur für
Preußen vor. So betrug der Anteil der jüdischen Jungen 3,1% und
der Anteil der jüdischen Mädchen 5,1%. Im Jahr 1932/33 gab es
etwa 60.000 schulpflichtige jüdische Kinder und etwa 150 jüdische
Schulen insgesamt, wobei es meist kleine Volksschulen waren. Nur
in größeren Orten gab es auch größere Schulen.55
3.1.4. Die Ausschließung der Juden aus dem deutschen
Schulwesen
Die Ausschließung der jüdischen Schüler/innen und Lehrer/innen
aus dem deutschen Schulwesen begann zunächst langsam. Die
ersten offiziellen Maßnahmen begannen Anfang 1933. Am
25.4.1933 erging das Gesetz „gegen Überfüllung deutscher
Schulen und Hochschulen“, wonach bei „Neuaufnahmen der Anteil
der Reichsdeutschen, die [...] Nichtarier sind, einheitlich für das
Reichsgebiet 1,5% nicht übersteigen soll“56. Ausgenommen waren
nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“,
„Reichsdeutsche nichtarischer Abstammung, deren Väter im Ersten
Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder seiner
Verbündeten gekämpft haben, sowie auf Abkömmlinge aus Ehen,
die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen sind, wenn ein
Elternteil oder zwei Großeltern arischer Abkunft sind.“57
Im Mai 1933 forderte der Münchener Stadtverordnete Josef Bauer
die Errichtung von jüdischen Bekenntnisschulen für jüdische Kinder,
unter
dem
Vorwand,
„das
Empfinden
und
Fühlen
der
jüdischen
55
S. Adler-Rudel: Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939, J.C.B.
Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1974, S. 19f
56
Ebd., S. 21
57
Reichsgesetzblatt, herausgegeben vom Reichsministerium des Innern, Berlin
21
1933-1939, in: Joseph Walk, S. 49
22
Schulkinder
könnte
beim
neu
einzuführenden
Rassekundeunterricht verletzt werden“. Im Prinzip wollte er jedoch
schlicht
die
jüdischen
Schüler/innen
aus
dem
deutschen
Schulwesen verdrängen.58
3.1.5. Die Errichtung jüdischer Bekenntnisschulen
Im Zuge der offensichtlich werdenden Verdrängung aus dem
deutschen
Schulwesen
beschloss
die
Reichsvertretung
der
jüdischen Landesverbände Deutschlands am 25.6.1933, einen
Erziehungsausschuss einzusetzen, der sich zum einen um den
Erhalt jüdischer Bildungsanstalten in Deutschland und dessen
Förderung kümmern, auf der anderen Seite neue jüdische Schulen
gründen sollte. Des Weiteren sollte das jüdische Erziehungswesen
neu gestaltet werden. Nach der Gründung der Reichsvertretung der
deutschen Juden am 17. September 1933 wurde das Schulreferat
dort eingegliedert.59 Immer mehr jüdische Schüler/innen wechselten
nun auf die konfessionell geführten Schulen, was nicht nur auf die
staatlichen Forderungen zurückzuführen war. Die Ablehnung im
Land wurde immer größer. Oft mussten sich die jüdischen Kinder
Anfeindungen von Klassenkameraden, Lehrern oder sogar von
anderen Eltern gefallen lassen. So schreibt beispielsweise die
Elternschaft einer Volksschule in Hamburg 1935, dass „es doch
wohl nicht ganz richtig sei, dass jüdische Kinder in deutschen
Schulen unterrichtet werden“. Als Gründe werden u.a. genannt: „1.
Die Gegenwart der Juden verletzt das germanische Empfinden; 4.
Der Deutsche baut die Schulen und Schulheime, der Jude macht
sich breit, oft sogar in unverschämter Weise.“60
Am 7.8.1935 wurde den Ländern bekannt gegeben, dass die
58
Ebd., S. 51
S. Adler-Rudel, S. 21f
60
Wilhelm Sommer: Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus, Klett
Verlag, Stuttgart 1984, S. 18
59
23
Errichtung jüdischer Bekenntnisschulen in Vorbereitung sei. Die
einzig mögliche gesetzliche Lösung lag jedoch darin, dass die
jüdischen Schulen von staatlichen und städtischen Zuschüssen
gefördert
werden
mussten,
da
die
Schulabteilung
der
Reichsvertretung der deutschen Juden zu wenig Möglichkeiten für
die Finanzierung neuer Einrichtungen hatte.61 Auf Grund der
weiterhin bestehenden Schulpflicht für jüdische Kinder sollten
öffentliche Volksschulen für Juden errichtet werden. Hierfür
mussten aber mindestens 20 Schüler/innen vorhanden sein.
Gerade für die ca. 11.000 schulpflichtigen Kinder in kleineren Orten
ergaben sich daraus Probleme, da sie diese Mindestzahl an
Schüler/innen oft nicht vorweisen konnten. Man errichtete darum
Bezirksschulen, was längere Schulwege oder möglicherweise die
direkte Unterbringung vor Ort in Gastfamilien oder Heimen zur
Folge hatte. Die daraus resultierenden höheren Kosten konnten die
jüdischen Gemeinden kaum aufbringen. Darüber hinaus bestanden
Probleme bei der Raumbeschaffung. So musste die Schulabteilung
also
weitere
behördliche
Maßnahmen
abwarten. Doch die
Entwicklung des jüdischen Schulwesens stagnierte zunächst, da
die Neuregelungen der Nationalsozialisten nicht erfolgten. Man ging
dazu
über,
jüdische
Schüler/innen
in
besonderen
Schuleinrichtungen zusammenzufassen.62
Die Ausgrenzung nahm dann schnell andere Formen an:
Schulgeld,
freie
Lehrmittel
oder
Erziehungshilfen
wurden
gestrichen. Auch der Besuch von Landschulheimen wurde den
jüdischen Kindern untersagt. Die jüdischen Schüler/innen wurden
immer mehr in die Rolle von „Gastschülern“ gedrängt. Sogar die
Aufnahme an höheren Schulen wurde ihnen verweigert. Obwohl
gesetzlich noch nichts festgelegt war, „wurde ihr Lebensraum
systematisch eingeengt“. Auch die Neueinstellung jüdischer
Lehrer/innen wurde verhindert.63 Am 10.9.1935 erging der Erlass
61
Joseph Walk, S. 52
S. Adler-Rudel, S. 27
63
Joseph Walk, S. 52f
62
24
über die „Rassentrennung an öffentlichen Schulen“. Dieser sollte
keinesfalls gewalttätig durchgeführt werden, da auf Grund der
bevorstehenden
Olympiade
das
ausländische
Interesse
an
Deutschland recht groß war und man kein unangenehmes Bild von
den Zuständen in Deutschland präsentieren wollte. Finanzielle
Unterstützung für die bestehenden oder neu zu gründenden
Privatschulen wurde zugesagt, ohne jedoch genaue Angaben über
ihren Umfang zu machen.64
3.1.6.
Auswirkungen des Reichsbürgergesetz und des
Novemberpogroms auf das jüdische Schulwesen
Am
15.9.1935
trat
das
Reichsbürgergesetz
(Nürnberger
Rassegesetz) in Kraft. Daraufhin mussten jüdische Beamte mit
Ablauf des 31. Dezembers 1935 in den Ruhestand treten. Sie
durften nur noch an öffentlichen jüdischen Schulen unterrichten.65
Da
im
Zuge
Auswanderung
der
Nürnberger
nach
Israel
Gesetze
gerechnet
vermehrt
wurde,
mit
der
setzte
die
Reichsvertretung der deutschen Juden ihre Schwerpunkte im
Schulwerk auf die „Hinführung zu handarbeitenden Berufen und
das Erlernen der hebräischen Sprache“.66 1937 besuchten bereits
61,27% der jüdischen Schüler/innen jüdische Schulen. Weiterhin
wurde versucht, das jüdische Schulwesen mit den begrenzten
Mitteln so weit wie möglich zu fördern. Im Juli 1937 wurde ein neuer
Erlass
veröffentlicht
Reichsbürgergesetz
auf
mit
das
dem
Titel:
Schulwesen“.
„Auswirkung
In
ihm
des
wurde
festgehalten, dass die Erziehung jüdischer Schüler/innen zu
gegebener Zeit gesetzlich geregelt werden soll. Weiterhin sollen
besondere Sammelklassen dort errichtet werden, wo keine
Möglichkeiten für abgesonderte Schulen bestehen. Diese mussten
64
65
Ebd., S. 53
Ebd.
25
als „Bestandteil der öffentlichen Schulen nach allgemeinen
Vorschriften“ unterhalten werden. Die Lehrer/innen
66
S. Adler-Rudel, S. 25
26
sollten entweder Juden oder „Mischlinge“ sein, bei gleichem
Verdienst wie arische Lehrer/innen. Das Gesetz gegen die
Überfüllung bei mittleren, höheren und Fachschulen wurde
nochmals hervorgehoben. Die „verschärfte Abtrennung“, wie bereits
1935 gefordert, erfolgte jedoch nicht.67 Ende 1937 wurden auch die
jüdischen Lehrer/innen an öffentlichen jüdischen Schulen aus dem
Beamtentum entlassen, was zu dem Ausschluss des jüdischen
Lehrers aus dem deutschen Schulwesen führte.68
Im Mai 1938 besuchten nur noch ca. 25% der jüdischen
Schüler/innen
deutsche,
nichtjüdische
Schulen.69
Auf
den
Novemberpogrom folgte am 15. November 1938 der Erlass, dass
alle
jüdischen
Schüler/innen
mit
sofortiger
Wirkung
vom
allgemeinen Schulwesen auszuschließen sind:
„Eine halbe Stunde später kam der Direktor herein und hielt einen
langen Vortrag über ich weiß nicht mehr was. Auf einmal sagte er
zu mir: „Raus mit dir, du Drecksjude!“ Ich hörte, was er sagte, aber
das konnte doch gar nicht sein! Das ist doch der Herr Direktor, das
ist doch ein guter Mann, seine Tochter ist eine meiner
Klassenkameradinnen, er kann das doch gar nicht gesagt haben.
Da habe ich ihn gebeten, das zu wiederholen, und er hat es
wiederholt und nahm mich am Ellbogen und schubste mich aus der
Tür.“70
Das stellte die Reichsvertretung der deutschen Juden vor
unüberwindbare
Schwierigkeiten,
da
die
Finanzierung
des
Schulwesens kaum möglich war. Durch die Zerstörung von
Gebäuden
während
des
Pogroms
gab
es
kaum
noch
Möglichkeiten für die Unterbringung von Bezirksschulen. Auch die
Auswanderung vieler
jüdischer
Familien
erschwerte
die
67
Ebd., S. 29
Joseph Walk, S. 54
69
S. Adler-Rudel, S. 30
70
Entnommen aus einem Vortrag von Hedy Epstein: „Vergesse deine lieben
Eltern nicht.“ Sie selbst ist im Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England
gekommen. Dieser Vortrag wurde vor Schüler/innen der Berufsbildenden
Ennepetal am 18.6.1991 gehalten und ist eine Abschrift der Videoaufnahme.
Leider kann ich keine näheren Literaturangaben machen, da dieser Vortrag aus
68
27
Suche nach neuen
dem Internet entnommen ist und ich keine Homepage-Adresse dazu habe.
28
vorübergehenden Wohnplätzen für die Schüler/innen, die die
Bezirksschulen besuchten. Zudem wurden die erforderlichen
Zuzugsgenehmigungen verweigert.71
Zuletzt verordnete der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung
und Volksbildung, „sämtliche jüdische Schulen bis zum 30. Juni
1942 zu schließen und ihren Mitgliedern bekannt zu geben, dass ab
dem 1. Juli 1942 jegliche Beschulung jüdischer Kinder durch
besoldete und unbesoldete Lehrkräfte untersagt ist“.72
3.2. Der Schulalltag jüdischen Kinder während der
Nazi-Zeit
In der Zeit des Nationalsozialismus mussten die jüdischen Kinder
große menschliche Enttäuschungen hinnehmen. Oft zerbrachen
Freundschaften an dem nationalsozialistischen System. Da aber
gerade im Schulalltag die Freundschaft sehr wichtig ist, kann man
sich vorstellen, wie schlimm diese Diskriminierungen für die Kinder
waren. Teilweise entstand ein irreparabler Bruch. Sie wurden von
ihren Mitschülern, mit denen sie zuvor jahrelang befreundet waren,
ausgestoßen, verachtet und geschlagen, nur weil sie Juden
waren.73
„Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich das letzte Jahr der
Volksschule überspringen durfte. Der einzige andere Schüler, der
mit mir übersprungen hat, war ein Junge mit Namen Edgar Feucht.
Wir haben mehrere Nachhilfestunden zusammen in Freundschaft
genommen. Aber nach dem Regierungswandel war er sehr böse zu
mir, hat mich geschlagen und andere auf mich gehetzt.“74
71
S. Adler-Rudel, S. 31f
Ebd., S. 33
73
Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 179
74
Benjamin Ortmeyer (Hrsg.): Berichte gegen Vergessen und Verdrängen von
72
29
1936 nahmen die Diskriminierungen immer mehr zu, als die
jüdischen Schüler/innen zunehmend von den öffentlichen Schulen
vertrieben wurden und gezwungen waren, jüdische Klassen oder
Schulen zu besuchen. Leider gibt es keine oder nur kaum ehrliche
Schilderungen von nichtjüdischen Schüler/innen, wie und warum
sie plötzlich die zuvor engen Freundschaften mit ihren jüdischen
Mitmenschen lösten. Die bösartigen Aggressionen gegen ihre
jüdischen Mitschüler/innen nahmen im Laufe der Zeit unglaubliche
Ausmaße an, worüber die meisten Opfer bis heute noch nicht
hinweggekommen sind.75
Doch es gab nicht nur die Schulen oder Klassenräume selber, in
denen die jüdischen Kinder gepeinigt wurden. Auch in den Pausen
oder bei außerschulischen Veranstaltungen wurde kein Hehl aus
der Abneigung gegen sie gemacht. Das Schlimmste schien
allerdings der Schulweg zu sein. Hier waren die jüdischen Kinder
ganz massiv den Anfeindungen ausgesetzt. Sie wurden beschimpft,
bespuckt oder verprügelt. In vielen Berichten von jüdischen
Schüler/innen ist von der „täglichen Qual auf dem Weg zur Schule“
die Rede. Bezeichnend war auch, dass sich die „kleinen Nazis“
zunächst die Allerschwächsten, wie beispielsweise die Behinderten
aussuchten, um sie zu beschimpfen oder zu schlagen.76
„Der Weg zur Schule war eine tägliche Qual, da uns die
„deutschen“ Kinder ununterbrochen mit Schimpfwörtern peinigten
wie: „Schweinehund“, „Schweinejude“, usw. Unseren jüdischen
Jungen wurden vielmals die Mütze vom Kopf runtergerissen. Wenn
wir „deutsche“ Kinder entgegenkommen sahen, kreuzten wir die
Straße, aber meistens verfolgten sie uns dann auf der anderen
Seite.“77
Auffallend in den Berichten der jüdischen Kinder ist auch, dass sie
ihren Eltern nur selten von den täglichen Qualen erzählten, da sie
100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in
Frankfurt am Main, Verlag Wehle, Witterschlick/Bonn, 1995, S. 64
75
Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 179
76
Ebd. S. 181f.
77
Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen, S. 28
30
wussten, wie sehr die Eltern unter dieser Situation, in der die Kinder
waren, litten. „Die Eltern litten mit den Kindern, die Kinder mit den
Eltern und so wurde gegenseitiger Trost schwer, oft sogar
unmöglich und die alltägliche Qual dadurch noch größer.“78
Das Schlimme an dieser Situation war auch, dass die jüdischen
Kinder keinerlei Hilfe und Unterstützung von den Lehrern oder der
Polizei erwarten konnten. Das Gegenteil war oft sogar der Fall.
Auch die Lehrer/innen zeigten ganz deutlich ihre Abneigung
gegen die jüdischen Schüler/innen und diskriminierten sie
während des Unterrichts. Marcel Reich-Ranicki bezeichnet den
Prototyp des durchschnittlichen Nazi-Lehrers als „korrekt und
hirnlos“, der, wenn man von ihm verlangt hätte, dass jüdische
Kinder nur stehend unterrichtet werden durften oder nur barfuß
die Schule hätten betreten dürfen, es ohne Skrupel getan hätte. 79
Viele
Kinder
kamen
mit
den
Gemeinheiten,
die
ihnen
entgegengebracht wurden, nicht klar und oft brachten sie ihr Leben
aus dem Gleichgewicht:
„Folgendes trug sich in einer Zeichenstunde zu: Unsere Lehrerin
war ein älteres Fräulein und glühende Nazi-Anhängerin. Wir sollten
ein Gesicht malen, und ich, unfähig dazu, selbst wenn mein Leben
davon
abhinge,
produzierte
eine
seltsame
Mischung
aus
Mondgesicht und Profil. Vielleicht hätte das Ganze als ein früher
Picasso durchgehen können, es war aber sicherlich unvereinbar mit
dem nationalsozialistischen Realismus. Aber statt mich freundlich
zurechtzuweisen und mir zu helfen, ließ die Lehrerin mich vor die
Klasse treten und den spottenden Kameraden das Ergebnis meiner
Bemühungen zeigen. Dabei ging sie auch noch näher ein auf die
verdrehte
Weltanschauung
meines
jüdischen
Geistes.
Sie
beendete ihre Lektion mit einem plötzlichen, harten Schlag mitten in
mein Gesicht. Diese Wunde ist nie ganz verheilt, ich fühle sie immer
78
Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 183
Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Meine Schulzeit im Dritten Reich, in: Benjamin
Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 185
79
31
noch.“80
Die sadistischen Handlungen der Lehrer nahmen immer extremere
Formen an.
„Ein Judenhasser erster Klasse. Auf mich hatte er einen
besonderen Piek. Obwohl er wusste, dass ich Jude war, musste ich
ihm immer wieder Nazilieder vorsingen, und er begleitete mich auf
seiner Geige. Oft musste ich „Köpfe rollen, Juden heulen“ singen,
bis einmal meine Mutter zu ihm ging und ihm klar machte, dass wir
Österreicher seien, und wenn er sich nicht ändern würde, müsse er
angezeigt werden. Danach wurde es etwas besser, jedoch
verschlechterten sich meine Noten. In seiner sadistischen Weise
bekam ich seinen Geigenbogen öfters auf meinem Kopf und
meinen Händen zu spüren.“81
Für viele jüdische Schüler/innen war jedoch das schlimmste
Beispiel von Antisemitismus
die „Rassenkunde“. Auf Grund
dieses Faches verließen viele Kinder die öffentlichen Schulen und
wechselten zu den jüdischen. Ein weiteres Anliegen der NaziLehrer lag darin, aufzuzeigen, dass der Jude an sich dumm sei.
So war es für jüdische Kinder kaum noch möglich, gute Noten zu
bekommen: „Jüdische Kinder konnten keine bessere Note als drei
erhalten“. Dies war zwar offiziell nirgendwo festgehalten, die
Praxis zeigt jedoch, dass die jüdischen Schüler/innen in der
Notengebung benachteiligt wurden.82
80
Ya’acov Friedler: Die leisen Abschiede. Geschichte einer Flucht, Reiner
Padligur Verlag, Hagen 1993, S. 25f. Anmerkung: Ya’acov Friedler kam
ursprünglich aus Oberhausen-Sterkrade – meiner Heimatstadt – und ging
kurzfristig sogar auf die gleiche Schule wie ich. Seine Eltern führten ein kleines
Geschäft, wahrscheinlich auf der Steinbrinkstrasse. Dort wo das Geschäft
einmal gestanden hat, ist heute ein Parkplatz. Der Buchladen, indem ich dieses
Buch gekauft habe ist direkt gegenüber des ehemaligen Geschäfts der
Friedlers. Auf dieses Buch hin angesprochen erklärte mich der Buchhändler,
dass seine Eltern sehr gut mit den Friedlers bekannt waren, da sie eben genau
gegenüber von ihnen gewohnt haben. Im Oberhausener Stadtarchiv ist aber
nichts über das Geschäft der Friedlers bekannt. Wie ich später aus dem Buch
entnommen habe, liegt es daran, dass das Geschäft unter den Mädchennamen
der Mutter geführt wurde, da dieser Name – Kaufmann – wesentlich deutscher
klang, als Friedler.
81
Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen, S. 150
32
82
Benjamin Ortmeyer: Schicksale jüdischer Schülerinnen und Schüler, S. 188f
33
3.3. Außerschulische Diskriminierung
Nicht nur in der Schule waren die jüdischen Kinder den
antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Nach 1933 veränderte
sich die gesamte gesellschaftliche Atmosphäre. Oft ist es sogar
so, dass sich die Kinder gar nicht mehr daran erinnern können,
was am Schlimmsten war, oder wo das alles anfing: Ob es die
Schilder an den Läden waren mit der Aufschrift „Juden
unerwünscht“, oder die Aufmärsche der SA und deren Lieder, das
Verbot der Besuche der Stadien, Theater, Schwimmbäder,
Eislaufhallen oder öffentliche Plätze.83
Neben diesen Alltagsdiskriminierungen bekamen die Kinder
natürlich auch die zentralstaatlich gesteuerten antisemitischen
Terroraktionen mit, wie den Boykott der jüdischen Geschäfte am
1. April 1933, die Nürnberger Rassengesetze 1935 oder den
Novemberpogrom am 9./10.11.1938. Die Geschäfte der Eltern
wurden geschlossen, ihre Existenzgrundlage zerstört und oft
mussten sie sogar fliehen.84 Sie fühlten sich fast immer allein
gelassen und „hatten schon vergessen, wie man lacht.“
„Die Leute um mich herum haben entweder gelacht oder auf die
schlechten Juden geschimpft. Ich hatte plötzlich das Gefühl, eine
Aussätzige zu sein, der sich keiner nähern wollte, denn ich war
eine Jüdin, und mit Juden wollte keiner zu tun haben. Allein zu
sein, das war ein schreckliches Gefühl.“85
3.4. Kleine Gesten der Sympathie
Trotz der konsequenten Diskriminierung der Juden und speziell
83
Ebd., S. 189ff
Ebd., S. 191f
85
Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen, S. 98f
84
34
der jüdischen Kinder gab es in dieser Zeit auch einige Menschen,
die sich nicht dem Sog des Nationalsozialismus hingaben und
versuchten
dies,
durch
kleine
Gesten
ihren
jüdischen
Mitmenschen gegenüber deutlich zu machen. Oft waren es diese
Gesten, die den jüdischen Kindern von damals bis heute in
Erinnerung geblieben sind.
Felix Adler schreibt über seinen Lehrer: „Wann immer es möglich
war, mir ein gutes Wort zu geben oder eine freundliche Geste zu
zeigen, tat er das, obwohl er sich damit gefährdete. Man konnte
sehen, dass er ein Mensch war, der nicht billigte, was vor sich
ging. „Stramme Nazis“ gab es viele, aber Ansätze von
Widerspruch oder sogar Widerstand war meiner Erfahrung nach
nicht existent.“86
Dennoch muss man sagen, dass diese Menschen die Ausnahme
waren, und dass man durch sie keinesfalls die Taten der breiten
Masse herunterspielen oder abmildern kann, denn im Grunde
zählen auch die Personen zu dem Täterkreis, die gar nichts taten
und stillschweigend zusahen, was vor sich ging. Tatsache ist aber
auch, dass sich die Menschen, die versuchten, den Juden zu
helfen, selbst schuldig machten Wenn man mit Juden gesehen
wurde oder mit ihnen sprach, musste man mit gerichtlichen
Konsequenzen rechnen. Man konnte sogar wegen Hochverrats
angeklagt werden.
86
Ebd., S, 30
35
4. Die Haltung der Kirchen, Freikirchen und
religiösen Gruppen
4.1. Bekennende Kirche (BK)
4.1.1. Vorgeschichte der BK
Im Dritten Reich gab es ”nicht die Kirchenpolitik des Staates oder
der NSDAP“87, sondern verschiedene Instanzen, die alle ihre
eigene Politik betrieben. Aus diesem Grund ergibt sich ein sehr
unübersichtliches Bild dieser Aktionen. Die evangelische Kirche war
gegliedert in Landeskirchen, die selbstständige und unabhängige
Verwaltungssysteme
darstellten.
1922
kam
es
zum
Zusammenschluss , dem „Deutschen Evangelischen Kirchenbund“.
Dennoch blieben die Landeskirchen selbstständig.
Auch konnte man bei den Kirchen einen versteckten, theologisch
begründeten Antisemitismus nicht ganz von der Hand weisen, was
Hitler dazu veranlasste, voraussetzen zu können, dass sie der
Ausschaltung der Juden aus den öffentlichen Ämtern und der
Volksgemeinschaft nicht im Wege stehen würden. In den Kirchen
wurde oft die Meinung vertreten, dass man nicht gleichzeitig Jude
und
Deutscher
sein
konnte.
Das
galt
für
sie
als
Alternative.88
87
Andreas Lindt: Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische Heilslehren und
ökumenischer Aufbruch. Verlag W. Kohlhammer GmbH. Stuttgart Berlin Köln
Mainz 1981. S. 169
88
Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die
Juden, Institut Kirche und Judentum, Tahlheimer Verlag, Berlin 1993, S. 37
36
4.1.2. Anfänge des Kirchenkampfs
„In der Frage des Arierparagraphen
wie überhaupt in der
Judenfrage
Kirche
hat
aufopferungsvolle
die
Bekennende
Arbeit
des
Büros
versagt,
die
nach
der
Grüber
89
Reichskristallnacht ausgenommen.“
Offensichtlich hatte Hitler nicht von Anfang an die Absicht, die
Kirchen auszuschalten. Vielmehr versuchte er, die Kirchen
gleichzuschalten,
um
sie
dann
nach
und
nach
seinem
Parteiprogramm anpassen zu können. Als er jedoch bemerkte,
dass sich dieses Vorhaben nicht realisieren ließ, begann der Kampf
zwischen Staat und Kirche, wobei Hitler es niemals ganz schaffte,
die Kirchen auszuschalten. Auch nicht, als er den Kirchen immer
größere Sanktionen auferlegte und immer stärker versuchte, sie zu
unterdrücken.
1934 wurde der von vielen für unfähig gehaltene Reichsbischof
Müller durch Göring und Hitler in seiner instabilen Position noch
einmal gefestigt und August Jäger zum ”Rechtswalter der
Reichskirche” ernannt. Dieser nötigte die Landeskirchen dazu, sich
der
Reichskirche
anzugliedern,
um
so
eine
leichtere
Gleichschaltung zu ermöglichen. Im Herbst 1934 scheiterte dieser
Versuch allerdings in Bayern und Württemberg. Bischof Hans
Meiser (Bayern) und Bischof Wurm (Württemberg) wurden unter
Hausarrest gestellt. Daraufhin kam es zu einer Welle der
Solidarisierung mit den Bischöfen, die sich in Fürbittegottesdienste,
Massendemonstrationen und Petitionen Ausdruck verschaffte.
Auch England äußerte Kritik an der Vorgehensweise von Jäger und
Müller.90 Hitler fühlte sich durch den öffentlichen Protest unter
Druck gesetzt und entließ daraufhin Jäger aus seinem Amt. Die
arrestierten Bischöfe wurden sofort freigelassen und zu Hitler, dem
89
Wörterbuch des Christentum, Herausgegeben von Volker Drehsen, Hermann
Häring u.a., Orbis Verlag, München 1995, S. 623
90
Andreas Lindt, S. 169
37
selbst ernannten Führer, nach Berlin geladen, wo sie vollständig
rehabilitiert wurden. ”Für Württemberg, Bayern und Hannover hatte
so der Kirchenkampf mit einem eindeutigen Abwehrsieg geendet.
Für sie hatte sich Hitler wieder einmal als Helfer in der Not erwiesen
[...] und dem man nach allem erst recht vertrauen durfte.”91
Doch es gab auch diejenigen, die ansatzweise verstanden, was da
in ihrem Land vor sich ging. So fanden sich ab dem Jahr 1934
immer öfter Vertreter des christlichen Glaubens zu freien Synoden
zusammen, um vor der Totalität des Staates zu warnen. Dieser
anfängliche
Widerstand
wurde
schnell
von
dem
national-
sozialistischen Herrschaftssystem registriert.
4.1.3. Die großen Bekenntnissynoden
Im Mai 1934 und Oktober 1934 traf die BK zu zwei großen
Bekenntnissynoden zusammen, „die einen verheißungsvollen
Auftakt“92
für
den
evangelischen
Kirchenkampf
bedeuteten.
Vertreter von Gemeinden und Regionen oder der Landeskirchen
(auf Reichsebene) fanden sich zusammen, um Verantwortung für
die Kirche zu übernehmen und sich von den eigenen Glaubensvoraussetzungen her, der Gleichschaltung zu widersetzen.
4.1.3.1. Barmen
Ende Mai 1934 versammelte sich in Barmen die „Bekenntnissynode
der Deutschen Evangelischen Kirche“. Die dort erarbeiteten
„Theologischen
Erklärungen
zur
gegenwärtigen
Lage
der
Deutschen Evangelischen Kirche“ gingen dann als „Barmer
Bekenntnisse“ in die Geschichte ein. Die aufgeführten Texte
stammen im Wesentlichen von Karl Barth, dem an der Universität
Bonn wirkenden, dann aber aus Deutschland ausgewiesenen
91
92
Ebd., S. 170
Wörterbuch des Christentum S. 623
38
Schweitzer reformatorischen Theologen.93 In einem Kampfruf
gegen die deutsch-christlichen Ketzereien: „Wir verwerfen die
falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen
besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung
menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der
Kirche erfüllen.“94, auch ein Aufruf zur Sammlung, zur energischen
Konzentration auf den eigentlichen Auftrag der Kirche: „Die Kirche
sollte in ihrer Verkündigung, ihrer Theologie, ihrem ganzen Leben
sich zur kritischen Überprüfung ihres Denkens und Handelns
mahnen lassen. Sie sollte sich fragen lassen, wo denn eigentlich
die Quelle ihrer Verkündigung sei.“95 Die BK stand also vor der
Frage, ob sie sich auf den Nationalsozialismus ausrichten, oder
sich weiterhin streng an die Bibel halten solle. Das schien die
Grundfrage der „Barmer Bekenntnisse“ zu sein.
In Anbetracht der politischen Situation um 1934 war dieses „Barmer
Bekenntnis“ schon ein großer Schritt im Widerstand der BK gegen
den
Nationalsozialismus,
welcher
auch
von
dem
nationalsozialistischen Herrschaftssystem registriert wurde. So
heißt es in dem „Lagebericht des Chefs des Sicherheitsamts des
Reichsführers SS“ über die Kirche: „Die Richtung Barths muss als
wirkliche Gefahr bezeichnet werden. Er schafft in seiner Theologie
Inseln, auf denen Menschen sich isolieren, um so die Forderung
des heutigen Staates unter religiöser Begründung ausweichen zu
können.“96
93
Andreas Lindt, S. 172
Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche
in Deutschland. 1933-1944. (Evangelische Kirche im Dritten Reich), in: Walter
Hofer, S. 143
95
Andreas Lindt, S. 172
96
Heinz Bobach (Hrsg.): Briefe zur Lage der evangelischen Bekenntnissynode
im Rheinland, Dezember 1933 bis Februar 1939, in: Andreas Lind, S. 174
94
39
4.1.3.2. Berlin-Dahlem
Am 19./20. Oktober 1934 traf in Berlin-Dahlem, dem Sitz der 2.
Vorläufigen Leitung der BK, eine weitere Bekenntnissynode
zusammen. Die beiden Bischöfe Meiser und Wurm standen noch
unter Hausarrest. Die Synode forderte nun die Gemeinden auf, sich
von der Reichsregierung zurückzuziehen und stellte fest, dass sich
die Reichskirche durch ihr Handeln „an das Kirchenregiment statt
an Christus gebunden hat“.97 Auf Grund dieser Situation wurde das
kirchliche Notrecht ausgerufen, das die Bekennende Kirche dazu
berechtigt, eine neue, „an Schrift und Bekenntnis gebundene“
Leitung der BK zu berufen.98
Diese Erklärung wurde dann der Reichsregierung zugestellt, mit der
Bitte um Kenntnisnahme und Anerkennung, dass „in Sachen
Kirche, ihrer Lehre und Ordnung die Kirche, unbeschadet des
staatlichen Aufsichtsrechts, allein zu urteilen und zu entscheiden
berufen ist."99
4.1.4. Innere Opposition
Durch die Entlassung Jägers aus seinem Amt und die Freilassung
Meisers und Wurms, begann sich nun die Bekennende Kirche (BK)
zu spalten. Auf der einen Seite gab es diejenigen, die in Hitler den
”Retter in der Not” sahen. Sie schlossen sich zu den Deutschen
Christen zusammen und wollten eine hitlerhörige Kirche aufbauen:
„Aus
dieser
Gemeinde
Deutscher
Christen
soll
im
nationalsozialistischen Staat Adolf Hitlers die das ganze Volk
umfassende Deutsche Christliche Nationalkirche erwachsen.“100
Am 13.11.1933 distanziert sich die Glaubensbewegung der
Deutschen Christen von der BK und schreibt: „Wir bekennen,
97
Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch..., in: Walther Hofer, S. 140
Ebd., S. 141
99
Ebd., S. 141
100
Ebd., S. 131
98
40
dass der einzige
41
wirkliche
Gottesdienst
für
uns
der
Dienst
an
unseren
Volksgenossen ist, und fühlen uns als Kampfgemeinschaft vor
unserem Gott verpflichtet, mitzubauen an einer wahrhaften
völkischen Kirche, in der wir die Vollendung der deutschen
Reformation
Martin
Luthers erblicken
und
die
allein
dem
Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates gerecht
wird.“101
Auf der anderen Seite standen diejenigen, die sich von der
Reichskirche getrennt hatten und sich dem Pfarrernotbund (vgl.
dazu Kapitel 4.1.6.) anschlossen.102 Dies führte natürlich zu
Verlusten seitens der BK. Dennoch berief sie sich im Zuge der
Dahlemer Bekenntnissynode auf Art. 1 der Kirchenverfassung vom
11.7.1933:
„Die
unantastbare
Grundlage
der
Deutschen
Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie
es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der
Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die
Vollmachten, deren die Kirche für ihre Sendungen bedarf, bestimmt
und begrenzt.“103
Auf Grund des Verstoßes der Deutschen Christen gegen diesen
ersten Artikel der Kirchenverfassung, erhob die BK den Anspruch,
als die legitime Kirche anerkannt zu werden.104 Den Vorsitz sollte
Bischof Marahrens erhalten. Doch Ludwig Müller, der immer noch
auf die Rückendeckung Hitlers vertraute, ließ sich nicht aus seinem
Amt drängen. Die Spaltung der Kirche wurde immer extremer, denn
auch die Lutheraner schlugen sich auf Hitlers Seite: ”In dieser
Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn,
dass er unserem Volk in seiner Not den Führer als frommen und
getreuen Oberherrn geschenkt hat...”105.
101
Ebd., S. 132
Andreas Lindt, S. 175
103
Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch..., in: Walther Hofer, S.
140
104
Andreas Lindt, S. 176
105
Kurt Dietrich Schmidt (Hrsg.): Die Bekenntnisse des Jahres 1934, in:
Andreas Lindt, S. 177
102
42
4.1.5. Der Arierparagraph
Nach §3 des Gesetzes zur
Wiederherstellung des Berufs-
beamtentums (7.April 1933), waren „Beamte, die nicht arischer
Abstammung
sind“,
in
den
Ruhestand
zu
versetzen.
Ausgenommen von dieser Bestimmung waren Beamte, „die
bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im
Weltkrieg für das Deutsche Reich ... gekämpft haben oder deren
Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind.“106
Ein Hauptgrund, der innerhalb der BK zur inneren Opposition
führte, lag vor allem in der Einführung des Arierparagraphen,
demzufolge auch nichtarische Geistliche aus dem Amt entlassen
werden sollten. Bonhoeffer beispielsweise lehnte die Einführung
dieses Paragraphen konsequent ab, und schrieb sogar in einem
Flugblatt im August 1933: „Darum gibt es einer Kirche gegenüber,
die den Arierparagraphen in dieser radikalen Form durchführt, nur
noch einen Dienst der Wahrheit, nämlich den Austritt. Dies ist der
letzte Akt der Solidarität mit meiner Kirche, der ich nie anders als
allein mit der ganzen Wahrheit und allen ihren Konsequenzen
dienen kann.“107 Mit diesem Flugblatt erhoffte er sich, eine Wirkung
im Hinblick auf die großen Synoden am 24. August und am 5./6.
September 1933 zu erzielen. „Die Reichskirchenverfassung hat den
Arierparagraphen
zwar
nicht
aufgenommen,
aber
durch
Stillschweigen bekundet, dass sie das Studentenrecht, das den
juden-christlichen theologischen Nachwuchs verhütet, als für die
Kirche bindend anerkennt, d.h. sie erkennt den Ausschluss der
Juden-Christen vom kirchlichen Amt in Zukunft an.“108
106
Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1, Propyläen Verlag,
Frankfurt am Main 1977, S. 345
107
Eberhard Bethge (Hrsg.):Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften, S. 65f
108
Otto Dudzus (Hrsg.): Bonhoeffer – Auswahl 2 Gegenwart und Zukunft der
Kirche 1933-1936, Siebenstern Taschenbuch Verlag, München 1970, S. 82
43
Durch die Einführung dieses abgemilderten Arierparagraphen
sah
44
sich Bonhoeffer zu einer radikalen Opposition gezwungen – dem
Kirchenaustritt. Doch viele Gleichgesinnte wie u.a. Pfarrer Martin
Niemöller und der Theologe Karl Barth rieten ihm von diesem
Schritt ab. Karl Barth schreibt ihm am 11. September 1933: „In
dieser Schlacht werden es diejenigen gewinnen, die mit ihrer
Munition zuerst am sparsamsten umgehen, dann aber auch am
genauesten zu zielen und am rücksichtslosesten zu schießen
wissen.“109 Man riet ihm davon ab, „dass man sein ganzes Pulver
ausgerechnet an der Front des Arierparagraphen verschießen“
sollte.110 Barth schreibt in einem Brief an Bonhoeffer, dass er im
Übrigen in der Tat für Abwarten sei, und „dass sie nur unter den
Letzten sein dürften, die das sinkende Schiff wirklich verlassen“.111
Doch Bonhoeffer schien als Einziger schon damals erkannt zu
haben, dass es zwar im Moment „nur“ um die Geistlichen ging, mit
der Zeit aber wohl um alle nichtarischen Gemeindemitglieder.112
Bonhoeffer und Niemöller schickten am 7. September 1933 eine
Erklärung zur Verbreitung an Pfarrer Bodelschwingh, in der sie der
Kirche vorwerfen, gegen christliche Gesetze zu verstoßen. Diese
Erklärung wurde in einer abgemilderten Form akzeptiert. Daraufhin
verschickte Niemöller am 12. September 1933 die ersten
Notbundverpflichtungen mit dem Versprechen, „sich für die
Verfolgten verantwortlich zu wissen“113. Zwei Wochen später
entstand der Aufruf „An die Deutsche Nationalsynode“, in der sie
beschworen
wird,
„bekenntniswidrige
landeskirchliche
Gesetze“ wie den Arierparagraphen aufzuheben. Nun folgte eine
Unterschriftensammlung für ein Selbstverpflichtungsformular, das
am Jahresende bereits 6.000 Unterschriften vorweisen konnte.
Später schlossen sich die Unterschreibenden zum Pfarrernotbund
109
Eberhard Bethge (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte Schriften, S.
129
110
Wolfgang Gerlach, S. 61
111
Otto Dudzus, S. 93
112
Wolfgang Gerlach, S. 62
113
Ebd., S. 64
45
zusammen.114
Im Laufe der Zeit entstanden viele Diskussionen um den
Arierparagraphen. Am 22. September 1933 wurde in einer Sitzung
gefordert, dass getaufte Christen jüdischer Abstammung nicht vom
Abendmahl ausgeschlossen werden und dass christlich getaufte
Pfarrer jüdischer Abstammung ihr Amt weiter ausüben dürfen.
Dennoch konnte man erkennen, dass eine endgültige Klärung nicht
zu Stande kam. Das lässt erkennen, wie unvorbereitet die Kirche
mit der Judenfrage konfrontiert wurde.115
4.1.6. Pfarrernotbund
Auf Grund der Gewaltpolitik der Reichskirchenleitung tat sich die
innerkirchliche Opposition 1933 unter der Leitung von Pfarrer
Niemöller zum Pfarrernotbund zusammen. Hier versuchte er, die
verschiedenen Gruppen, die in Opposition zum deutschen
Kirchenregiment standen, zusammenzufassen. Im Herbst 1933
schlossen sich etwa 3.000 Pfarrer diesem Notbund an. Anfang
1934 steigerte sich die Zahl auf 4.000 von etwa 18.000 Pfarrern im
ganzen Reich.116 Die Mitglieder verpflichteten sich auf folgenden
Wortlaut:“1. Ich verpflichte mich, mein Amt als Diener des Wortes
auszurichten allein in der Bindung an die Heilige Schrift und an die
Bekenntnisse der Reformation als die rechte Auslegung der
Heiligen Schrift. 2. Ich verpflichte mich, gegen alle Verletzungen
solchen
Bekenntnisstandes
mit
rückhaltlosem
Einsatz
zu
protestieren. 3. Ich weiß mich nach bestem Vermögen mit
verantwortlich für die, die um solchen Bekenntnisstandes willen
verfolgt werden. 4. In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine
Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des
114
Ebd., S. 65
Ebd., S. 71
116
Andreas Lindt, S. 162f – Wobei sich hier die Zahlen in verschiedenen
Werken unterscheiden!
115
46
Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist."117 Damit ist
gemeint, dass jeder nach seinem eigenen Ermessen handeln soll
(„Rücksichtnahme auf die Schwachheit des Mutes“)118, da die
Christen scheinbar überfordert waren. Damit ist zu beachten, dass
die Gefahr zu dieser Zeit nicht unbedingt vom Staat, sondern von
der Kirche ausging. Der protestantische Pfarrer von Rabenau sieht
die Aufgabe des Pfarrernotbundes darin, einen defensiven
kirchenpolitischen Kampf dahingehend zu führen, „dass das
Berufsbeamtengesetz einschließlich des Arierparagraphen, das die
Generalsynode beschlossen hat, nicht zur Ausführung kommt,...“119
Martin Niemöller wurde auf Grund seiner herausragenden Tätigkeit
im Pfarrernotbund und seinem aufopferungsvollen Widerstand
gegen den Terror des Nazi-Regimes überall zur Symbolfigur
christlichen Widerstandes gegen Hitler.
4.1.7. Verschärfter Kirchenkampf der BK
Im Juni 1935 kam es nach einer vorhergegangenen Massenverhaftung von Pfarrern in Augsburg durch die SS zu einer Einigung
der zunächst auseinander strebenden Gruppen der BK. Auch die
Regierung war im Begriff, die Beendigung des lästigen Streits mit
einem neuen Mann und neuen Methoden zu versuchen.120
Am 16. Juli des Jahres wurde Hanns Kerrl, der zuvor mit
Raumplanungsaufgaben beschäftigt war, zum Reichsminister für
kirchliche
Angelegenheiten
uneingeschränkte Vollmacht
ernannt.
Er
bekam
„zu Wiederherstellung
die
geordneter
117
Wilhelm Niemöller: Der Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden
Bruderschaft, Friedrich Wittig Verlag, Hamburg 1973, S. 37
118
Wolfgang Gerlach, S. 83
119
Joachim Ganger (Hrsg.); 1. Teil: Vom Aufkommen der ››Deutschen
Christen‹‹ 1932 bis zur Bekenntnis-Reichssynode im Mai 1934, in: Walther
Hofer, S. 133
47
Zustände in der
120
Andreas Lindt, S. 177
48
Deutschen
Evangelischen
Landeskirchen“.121
Am
5.
Kirche
und
Dezember
den
1935
Evangelischen
verbot
er
den
Bruderräten jede kirchenleitende Funktion, um somit die Tätigkeit
der BK lahm legen zu können. Durch das Auftreten Kerrls wurde die
Zerrissenheit innerhalb der BK wieder größer, sie schien
mittlerweile sogar fast unlösbar. Die Lutheraner von Bayern,
Württemberg und Hannover taten sich mit denen aus Sachsen,
Mecklenburg und Thüringen zum so genannten Luther-Rat
zusammen.122
Im Januar 1936 veröffentlichte Martin Niemöller eine von Otto
Dibelius verfasste Flugschrift mit dem Titel „Die Staatskirche ist
da!“. In ihr kritisiert er öffentlich Kerrl und seine Methoden. Dibelius
tat sich nun mit seinem ehemaligen Kontrahenten Karl Barth
zusammen, um gegen die kompromisslose Ablehnung des
Totalstaates das Wort zu erheben.123
Im Sommer 1936 wagte die BK eine direkte Anklage gegen die
Theologie und Praxis des Hitlerregimes, die „Denkschrift der
Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirchen an den
Führer und Reichskanzler“, die am 28. Mai in der Reichskanzlei
abgegeben wurde. In ihr wird deutlich die Abkehr des deutschen
Volkes vom kirchlichen Christentum aufgezeigt und angeprangert
und dass das Regime Hitlers gegen die Gebote Gottes verstößt.124
Die Regierung nahm aber zu dieser Denkschrift nie Stellung. Als sie
ins Ausland gelang und dort öffentlichen Zuspruch erhielt, begann
die Regierung diejenigen, die man für die Verbreitung der
Denkschrift verantwortlich machte in KZs zu bringen. Die Autoren
blieben zunächst verschont, da man wegen der im Sommer 1936
stattfindenden Olympiade nicht allzu großes Aufsehen erregen
wollte. Die lutherischen Bischöfe und der Reichskirchenausschuss
distanzierten sich schnell von diesem gefährlichen Dokument.125
121
Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, Teil I, Nr. 104, in: Walther Hofer, S. 139
Andreas Lindt, S. 179
123
Andreas Lindt, S. 180
124
Ebd.
125
Ebd., S. 181
122
49
Diese Denkschrift stellte einen deutlichen Wendepunkt im Kampf
der BK dar, da sie sich in dieser Schrift nicht mehr in erster Linie
nur für die Kirche, sondern „für die durch den Nationalsozialismus in
Weltanschauung und Praxis aufs schwerste gefährdeten sittlichen
und rechtlichen Grundlagen des Lebens von Volk und Staat“
einsetzt.126
4.1.8. Verstärkter Terror gegen die BK
Im Februar 1937 trat der Reichskirchenausschuss zurück, nachdem
Zoellner von Kerrl verschiedentlich aufs Gröbste brüskiert worden
war und seine Lage sich als völlig unmöglich erwiesen hatte. Nun
begann die Zeit der öffentlichen Konfrontation zwischen Staat und
Kirche. Es entwickelte sich ein regelrechter Kleinkrieg um
Kollektengelder, kirchliche Räume, Redeverbot der Geistlichen etc.
Die Finanzen wurden unter staatliche Verwaltung gestellt und
immer häufiger kam es zu Verhaftungen von Pfarrern.127 Am 14.
Juni 1937 wurde fast die gesamte Spitze der preußischen BK
festgenommen.
Anfang
Juli
wurde
auch
Martin
Niemöller
verhaftet.128 Nach seiner gerichtlichen Freisprechung wurde er noch
vor dem Gerichtsgebäude abgefangen und direkt ins KZ gebracht,
wo er bis zum Ende des Krieges und der Befreiung durch die
Amerikaner 1945 gefangen blieb.129 „Mit dem Instinkt des
Machtmenschen hatte Hitler in Niemöller seinen Hauptfeind erkannt
und ließ ihn nicht mehr aus dem KZ.“130
Im Herbst 1937 erließ der Reichsführer der SS Heinrich Himmler
dann das Verbot für alle Hochschulen und Lehrveranstaltungen der
BK. In der Illegalität setzte man diese Ausbildung und Prüfungen
126
Ebd., S. 182
Ebd.
128
Unterschiedliche Daten in der Literatur: Andreas Lindt: 2. Juli (S. 182);
Walther Hofer: 1. Juli (S. 124)
129
Andreas Lindt, S. 183
130
Walther Hofer, S. 124
127
50
jedoch bis 1941 fort.131
4.1.9. Das „Büro Grüber“
Als die Bedrohung der Juden immer mehr zunahm, sah sich die BK
in die Enge getrieben und erkannte die Notwendigkeit für ein
Hilfswerk. Die katholische Kirche unterhielt bereits den St.
Raphaels-Verein, während die Jüdische Reichsvereinigung sich für
die Bedürfnisse und Nöte der jüdischen Menschen einsetzte. Nur
auf der evangelischen Seite gab es noch keine derart vergleichbare
Initiative.132
Wer bei der Errichtung des Büro Grübers die ausschlaggebende
Initiative ergriff ist nicht ganz eindeutig festzustellen, da dieser
selbst in einem Schreiben vom 9.12.1968 schildert, das Büro sei
auf seine eigene Initiative hin entstanden. Dagegen sprechen
jedoch einige Dokumente aus dem Jahre 1938, die sogar teilweise
von ihm selbst unterschrieben wurden und belegen, dass nicht
Grüber die ausschlaggebende Initiative gab, sondern dass „P.
Grüber [...] die Nichtariersache im Auftrag der VKL (Vorläufige
Kirchenleitung) leitet...“.133 Im Allgemeinen kann man aber die
Gründung des Büros auf Pfarrer Hermann Maas zurückführen, der
schon seit Jahren in der Hilfe an Nichtariern engagiert mitgearbeitet
hatte und die BK in die Pflicht drängte, sich für die verfolgten
Christen jüdischer Herkunft einzusetzen. Auf seine Initiative hin
erteilte die 2. VKL den Auftrag, ein Hilfswerk zu gründen. Ab dem
Sommer 1938 begannen die Vorbereitungen für diese Einrichtung.
Man entschied sich dafür, das Hilfswerk an einem zentralen Ort zu
errichten und wählte aus diesem
131
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, Heft 2 der
Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945, herausgegeben
von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 1986, S. 32
132
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, Band 8 der
Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945, herausgegeben
von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 1994, S. 251f
51
133
vgl. Wolfgang Gerlach, S. 259, Fußnote 8.
52
Grund die Stadt Berlin aus. Die Leitung sollte Pfarrer Heinrich
Grüber übernehmen, nachdem das Büro auch benannt wurde.134 Er
wurde u.a. deshalb ausgewählt, da er „ein Mann der Tat“ und
nebenamtlich Pfarrer einer holländischen Gemeinde war. Auf dieser
Basis ließen sich gute Kontakte zum benachbartem Ausland
knüpfen.135
Die englische Judenmission überließ Anfang Dezember 1938
Pfarrer Grüber das Büro in der Oranienburger Str. 20 (in Berlin). Die
laufenden Kosten, die u.a. für die Miete errechnet wurden, betrugen
etwa 800,- RM, wobei jeweils 300,- RM von der Berliner
Stadtsynode und der evangelischen Kirchengemeinde Berlin
übernommen wurden.136 Grüber bat auch den Pfarrernotbund um
Hilfe und Mitarbeit.137 Das Büro arbeitete auch eng mit den
Quäkern – einer Religionsgemeinschaft, die auf religiöse Dogmen,
Bekenntnisse, Sakramente und eine Hierarchie verzichtet138 –, der
katholischen Auswanderungsorganisation im St. Raphaelsverein
und der jüdischen Reichsvereinigung zusammen. Durch die
anfängliche Angst der antideutschen Ausländerpropaganda wurde
das Büro Grüber zunächst von der Geheimen Staatspolizei toleriert.
Die Errichtung des Büros fand großen Anklang bei der Bevölkerung
und so gab es im Mai 1939 bereits 21 Hilfsstellen über fast alle
Landeskirchen verteilt. Schnell wurden die Räume in der
Oranienburger Straße zu klein und so zog die Auswanderungsabteilung und die Abteilung Altersheime am 25.1.1939 um in die
Stechbahn 3-4.139 Das Büro war in folgende Aufgabenbereiche
unterteilt: a) Auswanderung
b) Stellenvermittlung im Ausland
c) Fürsorge für Alte und Kranke
d) Rechtsberatung
134
Ebd., S. 257
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 251
136
Wolfgang Gerlach, S. 260f
137
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 252
138
Wörterbuch des Christentums, S. 1019
139
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 252
135
53
e) Schulische Versorgung
f) Allgemeine Seelsorge
Zu den ersten und engsten Mitarbeitern des Büros zählten neben
Pfarrer Werner Sylten, der als Stellvertreter für Grüber fungierte,
Pfarrer Kurz, Ministerialrat i.R. Heinitz, Pfarrer von Bodelschwingh
und Pfarrer Braune.140 Im Februar 1939 kamen etwa täglich 100
Schutzbedürftige in das Büro. Mit der Zusammenarbeit der Kirchen
und anderen Hilfsorganisationen wurden Tausenden die Ausreise
ermöglicht.
Grübers
diplomatisches Geschick im Umgang mit staatlichen
Stellen und NS-Organisationen half ihm sehr in dieser Zeit.141 Hilfe
bekam das Büro Grüber vom Berliner Polizeipräsidium – wenn auch
nur sehr begrenzt –, dessen Leitung Regierungsrat vom Rath
(Vater des Ermordeten Ernst vom Rath – siehe Kapitel 2.) inne
hielt, der ein langjähriger Freund von Grüber war. Er war „durchaus
ohne Illusion über den von den Nazis zweckdienlich hochgespielten
Mord an seinem Sohn“142. Als dies bemerkt wurde, stellte man ihm
den Regierungsrat Henning zur Seite, der anfangs durch große
Begeisterung für den Nationalsozialismus auffiel. Doch auch er
versuchte, Grüber zu helfen, wo er konnte.143
Ab 1940 musste das Büro Grüber viele Rückschläge hinnehmen
und in vielen Fällen konnte das Erhoffte nicht mehr erreicht werden.
Die Auswanderungshilfe schien unmöglich zu werden, da viele
Länder ihre Grenzen schlossen und kaum noch Ausreisevisa erteilt
wurden. Dennoch waren Grüber und seine Mitarbeiter noch nicht
vollends entmutigt. Bis Anfang 1940 konnten sie fast ungehindert
ihre Hilfsaktionen durchführen. Doch seit Kriegsbeginn wurde es für
Juden immer schwieriger für weitere Auswanderungen. Als die USA
1941 ebenfalls in den Krieg eintraten gab es, von vereinzelten
Glücksfällen abgesehen, keine Möglichkeiten mehr zur Flucht. Im
140
Wolfgang Gerlach, S. 260
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 254
142
Wolfgang Gerlach, S. 265
143
Heinrich Grüber: An der Stechbahn. Erlebnisse und Berichte aus dem Büro
Grübers in den Jahren der Verfolgung, in: Wolfgang Gerlach, S. 265
141
54
Oktober 1941 erfolgte das endgültige Auswanderungsverbot. Bis
dahin hatte rund die Hälfte der jüdischen Bevölkerung seit 1933
Deutschland verlassen können. Das evangelische Hilfsbüro hat
dabei von Dezember 1938 bis Oktober 1940 ca. 1.700 bis 2.000
Menschen bei der Flucht geholfen.144
Im Zuge der Deportationen protestierte Grüber zunächst heftig
dagegen. Von Maßnahmen seitens der Nazis gegen ihn wurde
jedoch zunächst abgesehen, da man Angst hatte negative
Aufmerksamkeit im Ausland zu erhalten. Daraufhin versuchte er in
das südfranzösische Lager Gurs eingeschleust zu werden, um die
Lage der dort Gefangenen selbst zu erkunden.145 Am 19.12.1940
wurde Grüber verhaftet und sein Mitarbeiter Sylten übernahm die
Leitung des Büros. Grüber wurde in das KZ Sachsenhausen und
später nach Dachau gebracht. Am 27.2.1942 wurde auch Sylten,
der zum Teil jüdischer Herkunft war verhaftet und kam ins KZ
Dachau. Der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) in Berlin erhielt
jedoch keine Begründung für die Verhaftung Grübers und Sylten.
Die Errichtung einer neuen Hilfsstelle scheiterte. Am 26.9.1942
wurde Sylten in Dachau umgebracht. Nur wenige der 55 Mitarbeiter
des Büro Grübers erlebten das Kriegsende. Heinrich Grüber selbst
war einer von ihnen. Er wurde am 23.6.1943 aus Dachau
entlassen. Nun waren die verfolgten nichtarischen evangelischen
Christen auf private Hilfe angewiesen. Die Hilfstätigkeit für die
Verfolgten
konnte
nur
noch
geheim
und
unter
eigener
Lebensbedrohung stattfinden.146
Gisela Meißner erinnert sich 1992 an das Büro: „...Pfarrer Grüber
gab uns wiederholt seelischen Halt. Äußerlich waren es lediglich
Büroräume, doch wenn wir nicht mehr weiterwussten, gingen wir
dorthin, um uns auszusprechen. [...] Pfarrer Grüber hatte immer
Zeit, wenn wir seinen Beistand erbaten. Er war gütig, äußerst
Vertrauen erweckend und besaß eine sehr volkstümliche Art, mit
144
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 257
Ebd.
146
Heinrich Grüber: An der Stechbahn, in: Wolfgang Gerlach, S. 269f
145
55
anderen
umzugehen.
Grüber
wirkte
auf
uns
damals
fast
übermenschlich, wie ein großer beschützender Vater.“147
In einer Denkschrift zum siebzigsten Geburtstag für Heinrich
Grüber, schreibt Laura Livingstone – eine Mitarbeiterin des
Quäkerbüros (Siehe Kapitel 4.3.2.) – über ihn: „Überall hat Pfarrer
Grüber versucht, Mitgefühl und Hilfe für seine Familie zu gewinnen.
Ich sage ››Familie‹‹, weil kein Vater sich mit mehr Liebe und
Hingabe für die Seinen geopfert hat als Pfarrer Grüber für die
nichtarischen Christen. Er hat damit auch seinem Land einen guten
Dienst getan. In England fragte mich jemand mit einem ironischen
Blick: ››Haben sie jemals einen Deutschen, einen Arier gefunden,
der sich die Mühe gemacht hat, sich über das Schicksal der Juden
zu informieren und zu schämen?‹‹ Ich konnte antworteten: ››Ja,
mindestens einen.‹‹“148
Dass die Kirchen anfänglich so gut wie ungehindert den Juden bei
der Auswanderung helfen konnten, lag daran, dass sich die Nazis
versprachen, dass auf diese Art möglichst viele Juden das Land
verlassen würden und sie somit aus dem Blickfeld der Deutschen
verschwunden wären. Doch als dann das Scheitern der Kirchen in
Bezug auf Aufnahmeländer bekannt wurde, begann man nach
einer neuen „Lösung der Judenfrage“ zu suchen: DEPORTATION.
„Hieß Emigration nur Verlust einer z.T. seit vielen Generationen
bewohnten Heimat, Trennung von der Familie, Isolierung von
gewohntem Denk- und Sprachbereich, so bedeutete Deportation
die infernalische Hetze in den Massentod.“149
147
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 254. Leider ist
aus dem Text nicht zu entnehmen, ob es sich hierbei um eine ehemalige
Mitarbeiterin des Büro Grübers handelt, oder um eine Person, die durch dieses
Büro Hilfe bekam.
148
Laura Livingstone: Aus Deutschlands dunklen Tagen, in: Rudolf Weckerling
(Hrsg.): Durchkreuzter Hass. Vom Abenteuer des Friedens, Käthe Vogt Verlag,
Berlin 1961, S. 45
149
Wolfgang Gerlach, S. 270
56
4.2. KATHOLISCHE KIRCHE
4.2.1. Das Konkordat
In den Dreißiger Jahren betrug der Anteil der Katholiken in Berlin
beispielsweise nur 11%150, was einen sehr geringen Prozentsatz
ausmacht. Im Gegensatz zur Evangelischen Kirche wurde die
hierarchische Struktur der katholischen Kirche anfangs nicht vom
Nationalsozialismus angetastet. „Wohl wurden im Laufe der Jahre
immer wieder Pfarrer eingesperrt, aber das gottesdienstlich sakramentale
Leben
der
Kirche
konnte
doch
überall
weitergehen.“151 Die katholischen Kreise zeigten zunächst wenig
Distanz zum neuen Staat.152 Außerdem gab es in der katholischen
Kirche nie eine so große innere Opposition wie in der
evangelischen. Das Zentrum der Kirche lag in Rom und somit bei
dem katholischen Oberhaupt, dem Papst, dem die geistliche
Zentralgewalt zugeordnet ist.
Diese Tatsache musste auch das
Hitlerregime akzeptieren und tat es auch durch den Abschluss des
Reichskonkordats am 20.7.1933.
Die katholische Kirche ging zunächst davon aus, dass sie durch
den Abschluss des Konkordats vor der Gleichschaltung geschützt
war. Sie wollte ihre Rechte im neuen Staat vertraglich sichern.153
Wichtig war der katholischen Kirche u.a. die Sicherung der
konfessionellen Schulen. Hitler ließ eine Klausel in den Vertrag
aufnehmen, in der allen katholischen Geistlichen jegliche politische
Aktivität verboten wurde. Er bezweckte damit die „Entpolitisierung
des Klerus“.154 Für Hitler ergaben sich drei Vorteile aus dem
Abschluss des Konkordats: „1. Die Widerlegung der Behauptung,
150
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 264
Andreas Lindt, S. 188
152
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 264
153
Walther Hofer, S. 121
151
57
der Nationalsozialismus sei
154
Andreas Lindt, S. 141f
58
unchristlich und kirchenfeindlich; 2. Die rückhaltlose Anerkennung
des neuen Regimes durch den Vatikan und 3. Die Vernichtung des
christlichen Gewerkschaftswesens und der Zentrumspartei als
politische Faktoren.“155
Dennoch ließ sich Hitler nicht durch das Konkordat aufhalten, den
Einfluss der katholischen Kirche immer stärker in den Hintergrund
zu drängen.156 Obwohl die katholische Kirche durch das Konkordat
einen legitimen Stand im Staat hatte, wurde „Das Konkordat
faktisch schon gebrochen, als die Tinte der Unterschriften [...] noch
nicht trocken war.“157 Dabei ging es vor allem um das katholische
Vereinswesen, das zwar rechtlich geschützt war, aber dennoch
durch einen geschickten Schachzug von den Nazis untergraben
wurde: Sie erließen das Verbot der Doppelmitgliedschaft in
Vereinen. Für das berufliche Weiterkommen der Jugendlichen,
sowie für die Arbeitsplätze in der Industrie war man quasi
gezwungen, der Hitler-Jugend oder der Deutschen Arbeiterfront
beizutreten. Auf Grund des Verbots der Doppelmitgliedschaft war
es also unmöglich, den katholischen Jugendvereinen oder den
Organisationen, die sich mit sozialen oder berufsständischen
Aufgaben beschäftigten beizutreten.158 Doch nicht nur auf diese
Weise
wurde
das
Vereinsleben
der
katholischen
Kirche
beeinträchtigt und schikaniert, sondern beispielsweise auch durch
das Verbot
des Tragens „von
einheitlicher Kleidung, von
uniformähnlichen Bekleidungsstücken sowie von Abzeichen, durch
welche die Zugehörigkeit zu einer katholischen Jugend- oder
Jungmänner-Organisation zum Ausdruck gebracht wird.“159
Auch die Existenz der konfessionellen Schulen, die im Konkordat
extra gesichert sein sollten, wurde immer stärker bedroht, da
die
155
Walther Hofer, S. 121f
Andreas Lindt, S. 189f
157
Ebd., S. 189
158
Ebd.
159
Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des
Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche
156
59
Widerstand, in: Walther Hofer, S. 149
60
Eltern unter Druck gesetzt wurden, ihre Kinder nicht auf
konfessionelle Schulen zu schicken. Sie wurden vor die Wahl
gestellt, entweder auf Partei und Staat oder auf Pfarrer und Bischof
zu hören. Selbst vor den zunächst noch sehr einflussreichen
kirchlichen Blättern und Zeitschriften machte die Regierung nicht
Halt. Sie wurden zunehmend unter Aufsicht der Regierung des
Propagandaministeriums
unterstellt,
so
dass
die
kirchlichen
Beiträge auf rein kirchlich-religiöse Nachrichten eingeschränkt und
schließlich sogar verboten wurden.160 „Auf Grund der Verordnung
des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat [...] wird
für den Landesteil Oldenburg angeordnet: §1. Tageszeitungen, die
im Landesteil Oldenburg gedruckt und verlegt werden, dürfen keine
religiösen Beilagen haben.“161 Diese Aktionen wurden unter dem
Schlagwort der „Entkonfessionalisierung“ bekannt. Das Christentum
des
Nationalsozialismus
sollte
gegen
das
konfessionelle
Christentum ausgespielt werden. Ziel war es eine „romfreie
Nationalkirche zu schaffen.162
Die katholische Kirche wurde weiterhin diffamiert, indem fingierte
Devisenschiebungs- und Sittlichkeitsprozesse gegen Geistliche in
der Öffentlichkeit zu regelrechten Schauprozessen ausgeschlachtet
wurden. Es stellte sich heraus, dass sich die Hoffnungen auf
Sicherung der katholischen Kirche in Deutschland durch das
Konkordat als Illusion erwies. Die Versuche des Vatikan, sich
dagegen zur Wehr zu setzen, blieben jedoch ohne Erfolg.163
160
Andreas Lindt, S. 190
Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz..., in: Walther Hofer, S. 149
162
Andreas Lindt, S. 190
163
Ebd., S. 190f
161
61
4.2.2. Der Kampf der Bischöfe und der Institution Kirche
4.2.2.1. Konrad Graf von Preysing
Konrad Graf von Preysing wurde am 7. September 1935 zum 3.
Bischof von Berlin ernannt. Bei seiner Begrüßungsfeier im
Sportpalast wurde er von der Bevölkerung stürmisch empfangen.
Man schien zu ahnen, dass dies die letzte Großkundgebung des
Bistums Berlin sein würde.164 Auch die geladenen Vertreter der
Reichsbehörden blieben dieser Feier fern. Es war bekannt, dass
von Preysing ein erklärter Gegner des NS-Regimes war. Er war
deshalb so auffällig, da er sich nicht wie die Deutsche
Bischofskonferenz dem Nazi-Regime anbiederte, sondern deutlich
Distanz hielt: „Wir sind in den Händen von Verbrechern und
Narren“. Durch seine zurückhaltende Art bekam er den Spitznamen
„Marmorbischof“165.
Seinen
Protest
ließ
er
vor
allem
in
Rundschreiben verlauten und betete auch keine Danksagungen bei
Hitlers anfänglichen Siegen.166 Er ging davon aus, dass man dem
NS-Regime nur mit öffentlichem Protest entgegentreten könne, um
so die Rechte der katholischen Kirche wahren zu können.167 Dieser
Protest war natürlich bei den Nationalsozialisten nicht gerne
gesehen. In einem Schreiben von Reichsminister Kerrl wird ihm
politisches Handeln, dass eigentlich im Rahmen des Konkordats
untersagt wurde, vorgeworfen: „Ich sehe mich aber veranlasst,
einmal darauf hinzuweisen, dass Weltanschauung und Religion, [...]
grundsätzlich auseinander zu halten sind. [...] Leider muss
festgestellt werden, dass die heutige Kirche und besonders die
Wortführer der römisch-katholischen Kirche den Unterschied von
Weltanschauung und Religion weder kennen noch kennen wollen,
immer wieder das Gebiet der Religion verlassen, Weltanschauung
164
Dieter Hanky: Im Zeichen des Kreuzes. Von den mittelalterlichen Bistümern
zum Bistum Berlin. Ein Gang durch 1000 Jahre Kirchengeschichte, Servi Verlag,
Berlin 1998, S. 67
165
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 265
166
Ebd.
167
Andreas Lindt, S. 191
62
und Religion vermischen und so notwendig politisch werden.“168
4.2.2.2. Bischof Clemens August Graf von Galen
Der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen teilte die
Ansichten seines Vetters, Bischof von Preysing im Hinblick auf den
Nationalsozialismus. Schnell durchschaute er Hitlers Ideologie und
wurde zu seinem erklärten Gegner. Immer wieder tat er öffentlich
seine Abneigung kund.169 Durch sein mutiges Auftreten im Protest
gegen das Regime erhielt er den Spitznamen „der Löwe von
Münster“170. Seine bekannteste Protestaktion ist wohl im Zuge der
Euthanasie zu nennen: Im Sommer 1940 wurde die Aktion zur
„Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ gestartet, bei der es zur
regelrechten
Massenexekution
von
körperlich
und
geistig
behinderten Menschen kam. Viele Bischöfe waren damit nicht
einverstanden. Doch von Galen ging wesentlich weiter als seine
geistlichen Kollegen. Im Juli 1941 reichte er beim Landgericht
Münster Strafanklage wegen Mordes gegen die für diese Befehle
Verantwortlichen ein171: „Da ein derartiges Vorgehen nicht nur den
göttlichen und natürlichen Sittengesetzen widerstreitet, sondern
auch als Mord nach §211 des Reichsstrafgesetzbuches mit dem
Tode zu bestrafen ist, erstatte ich gemäß §139 des RStrGB
pflichtgemäß Anzeige und bitte, die bedrohten Volksgenossen
unverzüglich durch Vorgehen gegen den Abtransport und die
Ermordung beabsichtigten Stellen zu schützen und mir von dem
Veranlassten Nachricht zu geben.“172
In
seiner
Predigt
vom
3.
August
1941
griff
er
den
Nationalsozialismus so hart an, wie es vor ihm noch keiner gewagt
hatte.
Seine
Predigt
wurde
eine
Kampfansage
an
den
Nationalsozialismus. Somit war der
168
Bischöfliches Ordinariat Berlin (Hrsg.): Dokumente aus dem Kampf der
katholischen Kirche im Bistum Berlin gegen den Nationalsozialismus, in:
Walther Hofer, S. 135f
169
Andreas Lindt, S. 192
170
Ebd., S. 213f
171
Ebd., S. 214
63
172
Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz..., in: Walther Hofer, S. 164
64
Bruch mit dem Regime vollzogen. Der Bischof wurde sofort
verhaftet und man forderte seinen sofortigen Tod. Doch man wollte
sich mit von Galen erst nach dem Endsieg des Krieges
beschäftigen, da man befürchtete, ihn in der momentanen Situation
zum Märtyrer zu machen.173
Noch im August 1941 gab Hitler die Anweisung, die „EuthanasieAktion“ vorläufig einzustellen. Schätzungsweise kamen 70.000
Insassen von Pflegeanstalten im Zuge dieser Aktion ums Leben.174
4.2.2.3. Erich Klausner
Erich Klausner blieb als Leiter der katholischen Laienbewegung
„Katholische
Aktion“
unabhängig
und
stellte
in
diesem
Zusammenhang einen zunehmenden Unruhefaktor für das NSRegime dar.175 Am 32. Märkischen Katholikentag am 24. Juni 1934
in Hoppegarten, an dem 60.000 Katholiken teilnahmen, ließ er
deshalb Professor Emil Dovifat die Hauptansprache halten. Auf
Grund der mitreißenden Stimmung ließ er es sich dann aber doch
nicht nehmen, ein Schlusswort zu sprechen.176 Daraufhin wurde er
am 30.6.1934 in seinem Büro von der Gestapo erschossen. Offiziell
wurde seine Ermordung als Selbstmord deklariert. Dieses Ereignis
führte zu einer Wende in dem Verhältnis der Katholiken zum
Staat.177
Obwohl die Meistbetroffenen, die Mitglieder der Katholischen
Aktion, von der „Ermordung“ Klausners wussten, verhielten sie sich
still. So gesehen hatte „Hitler eine Schlacht gewonnen [und]
Deutschland seine Ehre verloren.178
173
Andreas Lindt, S. 214
Ebd.
175
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstandin Mitte und Tiergarten, S. 264
176
Dieter Hanky, S. 63f
177
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 265
178
Dieter Hanky, S. 64
174
65
4.2.2.4. Bernhard Lichtenberg
Bernhard Lichtenberg war bekannt für seine Zivilcourage. Als er
im Juli 1935 erfuhr, wie die jüdischen Gefangenen im KZ
Esterwegen behandelt wurden, übergab er dem Preußischen
Staatsministerium sofort einen Bericht „mit der Bitte um Prüfung
und Remedur“. Doch bewirkte dieser Antrag nur, dass die
Gestapo von da an noch stärker auf seine Aktionen achtete. 179
Von 1938 bis 1941 war Lichtenberg ein engagierter Leiter des
katholischen Hilfswerks. Am 23. Oktober 1941 wurde er verhaftet,
woraufhin man vor dem Berliner Sondergericht Anklage gegen ihn
erhob. Am 22. Mai 1942 wurde ihm der Prozess gemacht, bei dem
er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Nach diesen zwei
Jahren (die Untersuchungshaft mit einbezogen) wurde er ins KZ
Dachau verschleppt, wo er bei einem Zwischenaufenthalt im
November 1943 verstarb.180
4.2.2.5. Weitere Geistliche im Kampf
Des Weiteren sollen Bischöfe und Geistliche vorgestellt werden,
die sich ebenfalls im Kampf gegen das Nazi-Regime einen Namen
gemacht haben. Hierzu zählt beispielsweise Emil Dovifat, der
1933 an der Seite des später ermordeten Erich Klausner bei der
„Katholischen
Aktion“
mitarbeitete.
Nach
dem
Märkischen
Kirchentag erhielt er vorübergehend ein Lehrverbot an der
Universität. Doch nach einiger Zeit durfte er wieder unterrichten
und verstand es weiterhin Kritik am Regime zu üben, indem er
„zwischen den Zeilen sprach“.181 Er verstand es, so zu sprechen,
dass ihn dem Inhalt seiner Reden nach keiner belasten konnte.
Nur wer es verstand, ihm richtig zuzuhören erkannte, was er
eigentlich mit seinen Reden bezweckte, dass er es nicht aufgab,
gegen Hitler zu reden.
179
Ebd., S. 69
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 273
181
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Szeglitz und Lehlendorf, S. 119
180
66
„Werdet hart! Bleibet fest! Bleibet standhaft! Es kann sein, dass
der Gehorsam gegen Gott, die Treue gegen das Gewissen, mir
oder Euch das Leben, die Freiheit oder die Heimat kostet. Aber
lieber sterben als sündigen!“182 So lautet die Aufforderung von
Bischof von Gahlen in einer Predigt am 20.7.1941. Viele waren
sich der drohenden Konsequenzen bewusst, leisteten aber
trotzdem Widerstand.
Doch auch Geistliche der BK fielen im Kampf gegen das Regime
auf, wie beispielsweise Pastor Bodelschwingh, als er im Rahmen
der „Euthanasie-Aktion“ die Auslieferung der Kranken aus der
Betheler Anstalt verweigerte; oder Bischof Wurm, der in Briefen
sowohl das Inland als auch das Ausland auf die Geschehnisse in
Deutschland aufmerksam machte. Hitler ging nämlich davon aus,
dass die Öffentlichkeit nichts von dem Treiben durch die Wirren
des Krieges mitbekam. Die Aktivitäten von Bischof Wurm
informierten dann weite Kreise über diese Aktionen.183
4.2.3. Der Papst zum Kirchenkampf, die Enzyklika „Mit
brennender Sorge“
Sowohl die Deutschen, als auch die Weltöffentlichkeit wunderte
sich, warum der Vatikan bisher so wenig Reaktion auf das
Handeln der Nazis in Deutschland gezeigt hatte. Auch die
offensichtlich massiven Verstöße gegen das Konkordat konnten
den Papst zunächst nicht zu einer Reaktion bewegen. 184
Im Januar 1937 berief der Kardinalssekretär Pacelli die drei
deutschen Kardinäle Bertram, Faulhaber und Schulte sowie die
beiden
deutschen
Bischöfe
von Preysing und von Galen zu
einer gemeinsamen Konsultation nach Rom. Der Vatikan wollte
182
Gedenkstätte Plötzensee, Herausgegeben von der Landeszentrale für
politische Bildungsarbeit Berlin, Otto H. Hess Verlag, Berlin 1967, S. 6
183
Andreas Lindt, S. 213
184
Ebd., S. 193
67
nun nicht mehr lamentieren, sondern ganz deutlich Stellung
beziehen. Bei diesem Treffen einigte man sich auf eine öffentliche
Erklärung an die deutschen Katholiken und die Weltöffentlichkeit,
um den Ernst der Lage aufzuzeigen.185
In dieser Enzyklika namens „Mit brennender Sorge“, bezieht der
Papst Stellung zu dem 1933 abgeschlossenen Konkordat um die
damals guten Absichten zu beteuern, und „... anklagend zu
zeigen, wie der Partner von damals zum Gegner von heute
wurde.“186
Ferner
werden
die
deutschen
Christen
dazu
aufgefordert, weiterhin ihrem christlichen Gottesglauben die Treue
zu halten und nicht auf den Wahnglauben an einen nationalen
„deutschen Gott“ hereinzufallen. Stattdessen sollten sie weiterhin
treu gegenüber Gott, Christus, der Kirche und dem Papst sein. 187
In dieser Enzyklika ging es zwar „ausdrücklich und ausschließlich
um die Verteidigung der Rechte und Wahrheiten der Kirche, [es
kam] aber auch eindeutig zu einer politischen Aussage“. 188 „Mit
brennender Sorge“ galt als Niederlage des Totalstaates, da es der
katholischen Kirche gelungen war, sie zu veröffentlichen, bevor
Hitler und seine Staatspolizei eingreifen konnte. Gerade die
Veröffentlichung im Ausland traf Hitler hart, da er immer noch
darauf bedacht war, in der Weltöffentlichkeit nicht negativ in
Erscheinung zu treten.189
Von daher musste er also reagieren, wobei er sich hütete, die
Bischöfe zu bestrafen, um weiteres internationales Aufsehen zu
vermeiden: „ 2. Sämtliche Personen, die sich mit der Verteilung
der Schriften außerhalb der Kirchen und Pfarrhäuser befassen,
sind, soweit es sich nicht um Geistliche handelt, sofort
festzunehmen und umgehend dem Gericht zur strafrechtlichen
Aburteilung zu überstellen. [...] 4. Druckereien und Verlage, in
denen das Rundschreiben hergestellt bzw. verlegt wurde, sind
185
Ebd., S. 194
Ebd., S. 195
187
Ebd.
188
Ebd., S. 196
189
Ebd., S. 197
186
68
sofort zu schließen. Die verantwortlichen Personen (Verleger,
Drucker, Schriftleiter) sind unverzüglich hierher zu melden, damit
von hier aus weitere Maßnahmen gegen sie ergriffen werden
können.“190 Der Staat wollte der katholischen Kirche und deren
Anhängern somit demonstrieren, dass er die Macht habe, jeden,
der sich von Papst und Bischöfen gegen den Staat aufhetzen
ließe, zu vernichten.191
4.2.4. Das Hilfswerk
Schon im März 1935 wurde das von Bischof Bares zuvor
gegründete „Caritas-Notwerk“ zum „Hilfsausschuss für katholische
Nichtarier“.192 Ab August 1938 kümmerte das Hilfswerk sich
intensiver um die katholischen Nichtarier. Das „Hilfswerk vom
Bischöflichen Ordinariat Berlin“ wurde von Domprobst Lichtenberg
und Dr. Margarete Sommer geleitet. Weiterhin gab es sechs
hauptamtliche und zehn ehrenamtliche Helfer, die nach den
Nürnberger
Rassegesetzen
nichtarisch
waren.
Auch
das
katholische Hilfswerk arbeitete eng mit dem Büro Grüber und dem
Internationalen Sekretariat der Quäker zusammen. Laut einem
Bericht von 1946 wurden hier 3365 Menschen betreut, indem ihnen
beispielsweise bei der Auswanderung oder der Wohnungssuche,
aber auch in seelischen Nöten geholfen wurde. Etwa die Hälfte der
dort betreuten Menschen waren Katholiken jüdischer Herkunft.193
1941 wurde Lichtenberg verhaftet und Frau Dr. Sommer übernahm
neben Bischof von Preysing die Hauptarbeit. Allgemein wurde das
Hilfswerk unter dem Namen „Büro Dr. Sommer“ bekannt.194
190
Johann Neuhäusler: Kreuz und Hakenkreuz..., in: Walther Hofer, S.154
Andreas Lindt, S. 197
192
Dieter Hanky, S. 70
193
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 270
194
Ebd.
191
69
Als dann 1941 die Auswanderungshilfe zwangsweise beendet
wurde, sahen Frau Dr. Sommer und von Preysing ihre Aufgabe
darin, sich um die Juden zu kümmern, die deportiert werden sollten.
Von Preysing taufte weiterhin und durfte sogar im Sammellager die
heilige Kommunion abhalten. Vergeblich versuchten beide den
Papst auf die Geschehnisse in Deutschland aufmerksam zu
machen. Auch Briefe an das päpstliche Büro in Berlin, in denen auf
die Massenmorde an Juden aufmerksam gemacht wurde, blieben
weitgehend unbeachtet.195
Man kann sagen, dass in diesem Punkt die katholische Kirche
versagt hat.
195
Ebd.
70
4.3. Die Quäker
Die Mitglieder der Quäker stellen eine international verbreitete
Glaubensgemeinschaft dar, die im 17. Jahrhundert aus dem
spiritualistischen Flügel des englischen Puritanismus entstanden
sind. Sie haben die Überzeugung, dass alle Menschen vor Gott
gleich sind und es deshalb auch keine Menschen zweiter Klasse
gibt. Diese Einstellung baut auf der Lehre vom Inneren Licht auf
(Joh. 1,9), „das als Anknüpfungspunkt zur religiösen Erleuchtung
jedem Menschen von Gott eingepflanzt ist“. Sich selbst bezeichnen
sie als Gesellschaft der Freunde.196
4.3.1. Hilfsaktionen während des Nationalsozialismus
Im Nationalsozialismus stellten die Quäker eine kleine, aber sehr
aktive
Gruppe
dar,
die
versuchte,
den
Verfolgten
auf
unterschiedliche Art Beistand zu leisten, wobei es hier völlig
gleichgültig war, welcher Religions- oder Glaubensgemeinschaft die
Personen angehörten. Das Internationale Sekretariat der Quäker
hatte seinen Sitz in der Berliner Prinz-Louis-Ferdinand-Str. 5 (die
heutige Planckstr. 20).197 Im Grunde kann man sagen, dass sich
die Quäker um diejenigen kümmerten, die keiner großen
Glaubensgemeinschaft angehörten – wie z.B. die konfessionslosen
Juden –, da sich die Bekennende Kirche um die christlichevangelischen Nichtarier, die katholische Kirche um die christlichkatholischen Nichtarier und die jüdische Reichsvereinigung um die
„Volljuden“
kümmerte.
Wissenschaftlern
„Heute
solche
erscheint
Arbeitsteilung
manchen
nach
jüngeren
Konfessionen
befremdlich. Sie waren jedoch aus sachlichen Gründen zwingend
196
197
Wörterbuch des Christentum S. 1019
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 277
71
notwendig."198
Auf Grund ihres Glaubens lehnten die Quäker gewaltsamen
Widerstand ab, schreckten aber nicht vor öffentlichem Protest
zurück. So verbreiteten sie beispielsweise in Zusammenarbeit mit
dem protestantischen Pfarrer Wilhelm Mensching eine Schriftreihe
unter dem Sammelnamen: „Aus deutschem (auch nordischem etc.)
Erbgut“, in der Werke wie z.B. von Gandhi, Luther oder Schweitzer
abgedruckt waren. Diese Hefte sollten den Menschen in dieser Zeit
eine seelische Unterstützung geben und freiheitliches Gedankengut
vermitteln. Als dann ein Zitat des Heimatdichters Peter Rosenegger
abgedruckt wurde, dass sich gegen den Kriegsdienst aussprach:
„Die für das Vaterland starben ehren wir am besten, wenn wir für
das Vaterland leben!“, wurde der Quäkerverlag auf Betreiben der
Nazis geschlossen und so fand auch diese Arbeit ein Ende.199
Im Zuge des Ausgehverbots für Juden und andere politisch und
rassisch Verfolgte, veranstalteten die Quäker einmal im Monat
gesellige Treffen, um diese Menschen nicht völlig von dem sozialen
Leben in der Gesellschaft auszugrenzen. Katharina Provinski
schreibt 1984 dazu: „In Berlin führte man innerhalb der
Quäkergruppe z.B. einen monatlichen Abend ein, der – zunächst
gesellig – bei Tee und Gebäck begann, um nachher einen Vortrag
oder eine Lesung zu bieten für Menschen, die mit niemandem mehr
gesellig zusammenkommen durften.“200 Doch die Quäker halfen
den Verfolgten auch auf andere Weise. So betrieben sie z.B. in Bad
Pyrmont ein „Rest-Home“ in dem Verfolgte abseits der von ihnen
umgebenden Verzweiflung einige Wochen Ruhe finden konnten.
Ein weiteres großes Anliegen der Quäker waren die Jugendlichen.
Ihnen sollten trotz der schwierigen Zeit Werte wie Freiheit, Toleranz
und Menschlichkeit vermittelt werden. Dies galt in erster Linie für
die nichtarischen oder sonstig verfolgten Kinder, die unter dem
198
Anna Sabine Halle: „Alle Menschen sind unsere Brüder...“, Artikel in: Tribüne,
23. 1984, H. 90, S. 162
199
Ebd., S. 164
200
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 277f
72
Nazi-Regime keine Möglichkeit mehr hatten sich in solchen
Gruppen zusammenzufinden. Die Berliner Quäker gründeten dann
1935 eine Jugendgruppe, die von 1938 bis 1942 von der deutschen
Sozialpädagogin
Katharina
Provinski
geleitet
wurde.
Die
Verantwortung für diese Jugendgruppe wurde allein von den
Berliner Quäkern getragen, um die Gesamtorganisation nicht zu
gefährden.201
4.3.1.1.
Das Engagement der Quäker im Hinblick auf die
Kindertransporte
Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, richteten die
Quäker ebenfalls in Wien ein.202
Von hier aus wurden im Grunde die ersten Kindertransporte
organisiert. Bis November 1938 gelang es den Quäkern 300
Kinder
aus
Deutschland
rauszubringen.
Nach
dem
Novemberpogrom entschlossen sich dann mehr Eltern ihre Kinder
auf diese Weise aus dem Land zu bringen. Insgesamt waren es
900 Kinder, wovon 711 nach Großbritannien kamen. Dies
geschah meist mit der Zusammenarbeit des „Refugee Children’s
Movement“.203
In Zusammenhang mit den Kindertransporten tauchen die Quäker
immer wieder auf. Viele von ihnen nahmen Kinder auf oder
engagierten sich bei den organisatorischen Aufgaben der
Kindertransporte. (Näheres dazu ab Kapitel 7.)
4.3.2. Das Internationale Hilfsbüro
201
A.S. Halle S. 162
Lawrence Danton: An Account of the Work of the Friends Committee for
Refugees and Aliens, first known as the Germany Emergency Committee of the
Society of Friends, 1933-1950, herausgegeben von The Friends Committee for
Refugees and Aliens, 1954 S. 16
203
Ebd, S. 50
202
73
Das Internationale Hilfsbüro war ein empfohlener Ort der Zuflucht
unter Regimegegnern. Hierhin kamen zunächst Menschen, denen
die Kinderspeisung204 nach dem Ersten Weltkrieg noch in
Erinnerung geblieben war. Durch dieser Kinderspeisung wurde
verhindert, dass viele deutsche Kinder in den Nachkriegsjahren
verhungerten. Der Spruch, den man im Warteraum des Berliner
Büros lesen konnte, sollte den Menschen, die Hilfe suchend
kamen,
Trost
Vergänglichkeit,
spenden:
„Das
schweigend
Ewige
geht
ist
Gottes
stille,
Wille
laut
über
die
den
Erdenstreit.“205
Zu Beginn waren die Anfragen um materielle Hilfe, so wie zur
Unterstützung bei der Flucht aus Deutschland noch nicht so häufig.
Dies änderte sich schlagartig mit dem Judenboykott vom 1. April
1933 (siehe Kapitel 2.). Durch die Kenntnis der engen Kontakte der
Quäker ins Ausland kamen nun immer öfter Schutzbedürftige und
baten um Hilfe bei der Ausreise. Nach der Einführung der
Nürnberger Gesetze und dem Novemberpogrom waren die Quäker
fast ausschließlich damit beschäftigt, Aufnahmeländer für die
Flüchtlinge zu finden und sich um die finanziellen Aspekte, wie z.B.
wer die Kosten für Pass und Überfahrt übernimmt, zu kümmern.
Um dem großen Ansturm Herr zu werden, errichteten die Quäker
das German Emergency Committe (GEC) in Berlin (siehe Kapitel
6.3.).206 Um die Auswanderungshilfe kümmerten sich vor allem
Laura Livingstone und Corder Catchpool. 1941 übernahmen dann
die Deutschen Olga Halle und Martha Röhn diese Arbeit, wobei sie
von ca. 20 weiteren Helfern aus ganz Deutschland unterstützt
wurden.207 Auf Grund dieser Tätigkeit wurde Olga Halle seit 1937
mehrmals von der Gestapo verhört. Im Zuge dieser Verhandlungen
gelang es ihr sogar manchmal, KZ-Häftlinge frei zu bekommen.208
Mit Hilfe der Quäker in London konnten ca. 1.000 Menschen vor
204
Wörterbuch des Christentum, S. 1019
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 281
206
Lawrence Darton, S. 2f
207
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 279
208
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, S. 125
205
74
Kriegsbeginn nach England emigrieren. Doch auch hier musste
die Auswanderungshilfe 1941 aus oben genannten Gründen
beendet werden.209
4.3.3. Weitere Hilfe nach Kriegsbeginn
Nachdem der Krieg begonnen hatte, versuchten die Quäker sich
weiterhin für Verfolgte und Inhaftierte einzusetzen. Obwohl nun
keine Auswanderung mehr möglich war, kamen täglich neue
Menschen, die um Hilfe baten. In dem Quäkerbüro spielten sich
grausame Szenen ab, die sich Olga Halle „tief und schmerzlich in
ihr Herz eingegraben haben“. Sie schreibt dazu: „Aber hier stand
mir ein unerbittliches Schicksal gegenüber, so dass sich auch mir
die Frage nach Gott aufdrängte. So konnte ich nur antworten, dass,
wenn sie trotz ihres Leidensweges Gott erleben würden, sie mehr
von Gott wissen würden als ich.“210
Da nun keine Auswanderungshilfe mehr möglich war, versuchten
die Quäker sich auf andere Art um die Verfolgten zu kümmern. So
verschickten sie beispielsweise Pakete in die Ghettos und
Konzentrationslager. In ihnen waren u.a. Bücher, Musikinstrumente
und Spiele. Die einzige Bedingung seitens der Gestapo lag darin,
dass in den Büchern keine handschriftlichen Bemerkungen oder
Zeichen
zu
finden
sein
durften.
Dieses
hoch
geschätzte
Unternehmen der Quäker wollte man dann auch auf gar keinen Fall
durch Einschmuggeln von Nachrichten gefährden.211 Auch die
Mitglieder der von den Quäkern errichteten Jugendgruppe halfen
dabei, die Bücher zu kontrollieren, um eventuelle handschriftliche
Eintragungen
zu
entfernen.
Obwohl
die
Mitglieder
der
Jugendgruppe selber verfolgt wurden, schreibt ein junges Mädchen
1941 in einem Rundbrief: „Ich bin dankbar für jeden Tag, an dem
209
Ebd.
Begegnungen mit dem Judentum. Ein Gedenkbuch, (2.Heft der „Stimme der
Freunde“), Herausgegeben von der Religiösen Gesellschaft der Freunde in
Deutschland, 1962, S. 21
210
75
ich mich noch in Ruhe meiner Arbeit, meinem nächsten Menschen
und mir selber widmen kann.“212
Trotz der massiven Bedrohung und Verfolgung der Quäker gaben
sie nie auf und versuchten, soweit es ihnen möglich war, den
Menschen in ihrer größten Not helfend zur Seite zu stehen. A.
Cohen schreibt über Elisabeth Heim, die nach den Nürnberger
Rassegesetzen selbst als Jüdin angesehen wurde und auf eigene
Initiative hin verfolgte Juden versteckte: „... ich darf berichten von
dem, was Menschen möglich geworden ist, und nicht nur von
Idealen, die erfüllt werden sollten.“213 Elisabeth Heim verzichtete
auf ihre Auswanderung und kam 1940 ums Leben. Zu ihrer
anstehenden Deportation sagte sie: „Siehst du, bei jedem großen
Unglück braucht es Freiwillige, jetzt kann ich eine solche Freiwillige
sein; wie sollen die Jungen das Schicksal hinnehmen, wenn wir
Alten davonliefen?“214
211
A.S. Halle S. 165
Ebd.
213
Begegnungen mit dem Judentum, S. 21
214
Ebd., S. 20
212
76
4.4. Die Zeugen Jehovas
Obwohl die Zeugen Jehovas nicht durch große Hilfsaktionen
während des Hitler-Regimes bekannt geworden sind, so haben sie
doch einen erheblichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus
geleistet, der an dieser Stelle aufgezeigt wird.
4.4.1.
Die Vorgeschichte der Ernsten Bibelforscher-
vereinigung (Zeugen Jehovas)
Die Religionsgemeinschaft der „Ernsten Bibelforschervereinigung“
hatte ihren Ursprung in der Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts.
Ihr Gründer war der US-Amerikaner Charles Taze Russell, der nach
seinem Bruch mit den Adventisten 1874 verkündete, dass Christus
unsichtbar wiedergekommen sei, um die Getreuen des Herrn um
sich zu sammeln und nach 40-jähriger „Erntezeit“ würde dann die
Erlösung, das „Tausendjährige Reich“ kommen. Seit Beginn der
Neunzigerjahre fand die Zeitung „Zion´s Watch Tower“ auch in
Europa Zuspruch. 1897 wurde der „Wachtturm“ erstmals in Deutsch
veröffentlicht, 5 Jahre später errichteten die Bibelforscher ihre erste
Zweigniederlassung in Elberfeld.215 Ende des Ersten Weltkrieges
erlangten die 3868 „Verkündiger“ erstmals Aufmerksamkeit bei
staatlichen Stellen und Glaubensgemeinschaften auf Grund ihrer
Kriegsdienstverweigerung.
Angriffen
ausgesetzt.
Seitdem
Trotz
waren
dieser
sie
zunehmenden
Angriffe
auf
die
Bibelforschervereinigung konnte diese Religionsgemeinschaft einen
regen Zulauf verzeichnen. 1926 zählten 22.535 Menschen zu den
Bibelforschern.216
Unter
dem
zweiten
Präsident
der
„Internationalen
215
Wolfgang Benz und Walther H. Pehle (Hrsg.): Lexikon des deutschen
Widerstandes, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 322
77
Bibelforschervereinigung
Heilsprophezeiungen
(IBV)
für
den
entstanden
Beginn
des
neue
christlichen
Friedensreichs und eine Veränderung der Glaubenslehre: Die
Christen sollen nicht der staatlichen Obrigkeit sondern nur der
göttlichen
Gehorsam
schulden.
Außerdem
wurde
von
der
endzeitlichen Entscheidungsschlacht „Harmagedon“ gepredigt, die
den Untergang der „alten Welt“ und deren tragenden Mächte wie
Politik,
Kapital
und
Kirche
ankündigte.217
Im
Zuge
der
zunehmenden Diskriminierung der Bibelforschervereinigung wurden
1931 Polizeiverfügungen und Druckschriftverbote in Baden, Bayern
und
Württemberg
immer
häufiger.218
1931
nahmen
die
Bibelforscher den Namen „Zeugen Jehovas“ an, die alten
Bezeichnungen blieben jedoch noch lange gebräuchlich.219
4.4.2. Widerstand und Verfolgung im Dritten Reich
Obwohl die Zeugen Jehovas nur einen geringen Anteil der
Gesamtbevölkerung
darstellten,
wurden
sie
zunehmend
als
Bedrohung von den Nationalsozialisten für „Volk und Staat“
angesehen. Ab April 1933 wurde die Glaubensgemeinschaft der
Zeugen Jehovas nach und nach in allen deutschen Ländern
verboten.220 Trotzdem trafen sie sich heimlich, um ihre Ideen in
Schrift („Wachtturm“) und Wort zu verbreiten. Dieses Verhalten
führte zu zahlreichen Strafverfahren, meist in Massenprozessen,
die nicht selten mit Gefängnisstrafen oder der Einweisung ins
Konzentrationslager
endeten.221
Seit
der
„Reichstags-
brandverordnung“ vom 28.2.1933 waren sogar Bibellesungen
im
216
Ebd.
Ebd.
218
Ebd., S. 323
219
Ebd., S. 321
220
Ebd., S. 323
221
Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Mitte und Tiergarten, S. 282
217
78
Familienkreis verboten. Die Sanktionen gegen die Zeugen Jehovas
reichten
über
Dienststrafverfahren,
Entlassungen
aus
dem
Staatsdienst, Beschlagnahmung des Vermögens und dem Verbot
der Religionsgemeinschaft.222
Auf Grund ihres Gebotes, Gott mehr zu gehorchen als den
Menschen lehnten sie das autoritäre und totalitäre System der
Nationalsozialisten völlig ab. Für sie war eine Rettung nur durch
Jehova möglich, daher konnte Hitler keinesfalls der Retter der
Menschheit sein.223 Keine andere Religionsgemeinschaft versagte
sich in vergleichbarer Geschlossenheit den nationalsozialistischen
Nötigungen. Ihre Weigerungshaltung gegen die Grußpflicht, die
Eidesleistung und die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften
führte zur Verschärfung des Konflikts. Trotz des Verbots und des
hohen Risikos setzten mehr als 10.000 Zeugen Jehovas ihren
Verkündigungsdienst
fort.
1936
und
1937
wurden
Flugblattkampagnen gestartet, die sich direkt an die Bevölkerung
richteten.
In
den
Flugblättern
protestierten
sie
gegen
die
Einschränkung der Glaubensfreiheit. Gleichzeitig wollten sie die
Öffentlichkeit über den verbrecherischen Charakter des NSRegimes aufklären. Diese Art von Widerstandskampf zeigte
äußerlich
große
Ähnlichkeit
zu
dem
von
politischen
Regimegegnern.224
Trotz der zahlenmäßigen Unbedeutsamkeit der Zeugen Jehovas
erregten sie große Aufmerksamkeit. Zeitweise beschäftigten sich
höchste Stellen der Justiz, Polizei und SS mit ihnen. Seit 1935
wurden sie zu Hunderten und Tausenden in Konzentrationslager
und Gefängnisse gebracht.225 Durch die totale Verweigerung des
Kriegsdienstes wurden viele von ihnen zum Tode verurteilt. Die
Zeugen Jehovas wurden ebenfalls in den mit Deutschland
verbündeten Ländern oder besetzten Ländern verfolgt.226
222
Anna Sabine Halle, S. 166
Ebd.
224
Wolfgang Benz, S. 323
225
Ebd.
226
Ebd., S. 324
223
79
4.4.3. Die Zeugen Jehovas im KZ
In den Konzentrationslagern wurden die Häftlinge in Gruppen
eingeteilt, die farblich gekennzeichnet wurden. Die Zeugen Jehovas
wurden mit der Farbe Violett ausgewiesen. Zu Kriegsbeginn waren
die Häftlinge besonderen Schikanen seitens der SS ausgesetzt. Sie
wurden isoliert, in Strafkompanien eingewiesen und misshandelt,
alles
mit
dem
Hintergedanken,
dass
sie
sich
von
ihrer
Glaubensgemeinschaft abwenden sollten.227 Doch dies geschah
nur sehr selten, obwohl sie, wenn sie auf einem Formular
unterschrieben, dass sie nicht mehr den Zeugen Jehovas
angehören, sofort aus den KZ´s entlassen worden wären. Ihre
Überzeugung und ihr Glaube war ihnen wichtiger als das Leben.
Am 29. September 1939 traf die erste Gruppe der Zeugen Jehovas
aus Dachau im Konzentrationslager Mathausen ein. Bis zum 20.
April 1944 sind nur sechs deutsche oder österreichische Zeugen
Jehovas aus der Haft entlassen worden auf Grund ihrer
Austrittserklärung aus der Glaubensgemeinschaft. Diese geringe
Zahl lässt erkennen, wie stark die Zeugen Jehovas mit ihrem
Glauben verbunden sind.228
Auf
Grund
ihres
Glaubenszuversicht
Zusammengehörigkeitsgefühls
entwickelten
sie
einen
und
ihrer
ausgeprägten
Selbstbehauptungswillen. Es entstand ein Netz von Hilfsaktionen
wie beispielsweise Geld- und Paketgemeinschaften. Des Weiteren
versuchten sie, ihren Glauben durch heimliche Gottesdienste oder
Bekehrung von Mitgefangenen zu praktizieren. In den Augen vieler
Mithäftlinge waren sie die „erstaunlichste Gemeinschaft, die es im
KZ gab“.229 „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen
Jehovas. Sie haben sich geweigert Arbeit zu tun und haben dafür
227
Ebd.
Hans Hesse (Hrsg.): „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen
Jehovas“. Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im
Nationalsozialismus, Edition Temmen, Bremen 1998, S. 29
228
80
sehr harte Strafen, die bis zum Kostentzug gingen, zu erdulden
gehabt, und sie
229
Wolfgang Benz, S. 324
81
sprachen ganz offen mit dem Lagerkommandanten, sie sagten ihm
ins Gesicht: ›Hitler sei ein Antichrist und dem Teufel verschrieben.‹
Man hat ihnen zur Strafe die Bibel weggenommen, aber sie
konnten die Bibel auswendig, sprachen im Chor oder halfen sich
aus, wenn ihnen manche Stellen nicht ganz gegenwärtig waren.“230
Anhand von Zahlen soll das Ausmaß der Verfolgung der Zeugen
Jehovas dargestellt werden: Von 25.000 zu Beginn des Dritten
Reichs wurden 10.000 für unterschiedlich lange Zeit inhaftiert,
davon über 2.000 in Konzentrationslagern. 1.200 Todesopfer hatte
die Glaubensgemeinschaft zu verzeichnen, wovon etwa 250
hingerichtet
wurden
(häufig
auf
Grund
des
Kriegsdienstverweigerns). Diese Zahlen lassen erkennen, dass die
Zeugen
Jehovas
die
am
härtesten
verfolgte
religiös-
weltanschauliche Gruppe, gemessen an der Zahl der Angehörigen,
während der NS-Zeit war.231
Die nonkonforme und radikale, gleichzeitig nicht-unterstüzlerische
Haltung der Zeugen Jehovas kann in keine herrschende
Kategorisierung der Widerstandshistographie eingegliedert werden.
Sie waren keine Widerstandskämpfer, trafen aber bewusst die
Entscheidung, sich unter Einsatz ihres Lebens dem NS-Regime
entgegenzustellen. Sie wollten die politische Ordnung nicht
verdrängen, sondern uneingeschränkte Glaubensausübung und
Treue
zum
„biblischen
Gebot“,
letztendlich
damit
die
Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber Gott. Widerstand war
für
sie
ein
Bekenntnisakt,
ein
Erfordernis
religiöser
Selbstbehauptung.232
230
Hans Hesse, S. 35
Wolfgang Benz, S. 324
232
Ebd., S. 325
231
82
5. Zur britischen Flüchtlingspolitik
5.1. Flüchtlingspolitik vor 1933
Zwischen
1826
und
1905
gab
es
keine
Einwanderungsbeschränkungen für England, was sich auf die
Ausländerzahlen auswirkte, die ständig stiegen. Im Jahr 1881
setzte ein Flüchtlingswelle von russischen Juden ein, in der etwa
100.000 Juden in einem Zeitraum 20 Jahren nach England
kamen. Diese Welle brachte die britische Regierung dazu, über
die liberalen Einreisebedingungen nachzudenken.233 Die jüdische
Einwanderungswelle
hatte
auf
Grund
der
Vielzahl
der
Einwanderer in Großbritannien hatte einen Antisemitismus zur
Folge, der sich zunächst nur auf politische Randgruppen
beschränkte, sich aber schnell zu einer großen öffentlichen
Opposition entwickelte. Im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg
wurden
die
Forderungen
nach
der
Beschränkung
der
Einwanderungsbedingungen immer lauter. Seit 1905 galt als
einziger Hinderungsgrund für die Einreise nach England, dass
Grenzbeamte die Einreise bei „Unerwünschten“ verweigern
konnten. Zu diesen „Unerwünschten“ gehörten beispielsweise
Kranke, Geisteskranke, Kriminelle oder Personen, die den
Anschein erweckten, der öffentlichen Fürsorge zur Last zu
fallen.234 Wenn dies der Fall war, so wurden sie als „undesirable
immigrants“ abgewiesen. Personen, die aus politischen, religiösen
oder sozialen Gründen verfolgt wurden und deshalb um Asyl
233
Bernhard Wasserstein: Britische Regierung und die deutsche Emigration
1933-1945, in: Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien: Zur
Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Ernst Klett Verlag,
Stuttgart 1983, S. 44 (Im folgenden zitiert: Gerhard Hirschfeld)
234
Gerhard Hirschfeld, S. 45
83
baten, durften nicht abgewiesen werden.235 Zwischen 1906 und
1914
gingen
die
Einwanderungszahlen
auf
Grund
dieser
Regelungen wesentlich zurück.236
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 kam es zu
einer weiteren Verschärfung der Gesetzgebung im Bereich der
Einwanderungsbestimmungen. Am 5. August 1914 trat ein Gesetz
in Kraft, das „im Kriege oder zur Zeit einer der Nation drohenden
Gefahr oder großen Notstandes den Ausländern Beschränkungen
auferlegen sollte“.237 Nach diesem Gesetz durften Angehörige
eines Landes, das mit Großbritannien im Kriegszustand war, nicht
aufgenommen werden.238 Alle Fremden mussten sich nun
polizeilich melden und der Innenminister war dazu berechtigt,
Ausländer auszuweisen und ohne Anhörung zu deportieren. 1914
wurden von den 50.000 Deutschen, die in England lebten ca.
40.000 interniert.239 Im Land verschlechterte sich die allgemeine
Stimmung gegen Deutsche. In Deutschland oder Österreich
geborene britische Staatsbürger gingen sogar soweit, dass sie in
öffentlichen
Loyalitätsbriefen
z.B.
in
der
Times
ihre
bedingungslose Treue zu England beteuerten. Geschäfte von
Deutschen oder mit deutschklingenden Namen waren zunehmend
tätlichen Angriffen ausgesetzt.240
1919 wurde der „Aliens Act”
in den „Aliens Restriction Act”
(Gesetz zur Beschränkung der Ausländer) erweitert und 1920 zum
„Aliens Order“
(Fremdenerlass) nochmals verändert: Kein
Ausländer durfte, wenn er nicht nur vorübergehend als Besucher
im Land blieb, das Land ohne Genehmigung des Arbeitsministers
betreten. Ausnahmen wurden nur bei Personen gemacht, die
235
Rebekka Göpfert: Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach
England 1938/39, Campus Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 43, (Rebekka
Göpfert [kurz: R.G.] zitiert Louise London: British Immigration Procedures and
Jewish Refugees 1933-1939, in: Mosse u.a. (Hrsg.): Second Chance.)
236
Gerhard Hirschfeld, S. 45
237
Ebd.
238
Rebekka Göpfert, S. 43
239
Gerhard Hirschfeld, S. 45
240
Ebd., S. 46
84
einen ausreichenden Unterhalt nachweisen konnten und finanziell
unabhängig waren. Im Allgemeinen konnte jeder von den
Einwanderungsbeamten
abgewiesen
werden,
wobei
keine
Berufung gegen diese Entscheide möglich waren.241
1927 wurde jedoch die Visumspflicht für die ehemals feindlichen
Deutschen und Österreicher nach einem Abkommen, das England
mit
Deutschland
und
Österreich
abgeschlossen
hatte,
abgeschafft, das im Gegenzug den britischen Staatsbürgern freie
Einreise
in
das
jeweilige
Land
gewährte.242
Diese
Einwanderungsgesetze blieben nach dem Zweiten Weltkrieg noch
bis 1972 in Kraft.243
5.2.
Britische Flüchtlingspolitik seit 1933
Schon wenige Wochen nach der Machtergreifung Hitlers begann
die verstärkte Auswanderung aus Deutschland. Angesichts der
Situation begann diese Auswanderung jedoch zunächst recht
zaghaft und meistens waren es Anfragen nach ausgedehnten
Auslandsurlauben. Viele unterschätzten die nationalsozialistische
Rassenpolitik sogar noch nach dem Boykott der jüdischen
Geschäfte am 1. April 1933.244 Nur langsam erkannten die
Auswanderer, dass es, wenn sie Deutschland verließen, Jahre
dauern könne, bis sie zurückkehren konnten.245
Trotz der zunächst zaghaften Auswanderung machte sich diese
neue Auswanderungswelle in Großbritannien bemerkbar. Waren
es in den Jahren zuvor etwa 300 bis 400 Einreiseanträge pro
241
Ebd.
Rebekka Göpfert, S. 43f. (R.G. zitiert Louise London: British Immigration
Control Procedures..., S. 147)
243
Gerhard Hirschfeld, S. 46
244
Barry Turner: Kindertransport. Eine beispiellose Rettungsaktion, Bleicher
Verlag, Gerlingen 1994, S. 16. Anmerkung: Leider gibt Barry Turner in seinem
Buch keine Art von Literaturhinweisen an. Aufgrund der vielen authentischen
Zeugnisse ist dieses Buch jedoch sehr ergiebig für diese Arbeit.
245
Ebd., S. 18
242
85
Monat, so mussten die Einwanderungsbehörden jetzt 50 bis 100
Anträge
pro
Tag
bearbeiten.
Großbritannien
musste
also
reagieren, wobei anfangs die Meinungen über eine Lockerung
oder
eine
Straffung
der
Einreisebedingungen
auseinander
gingen.246 Die feindselige Haltung gegenüber der deutschen und
jüdischen Emigration war noch auf die Zeit des Ersten Weltkrieges
zurückzuführen und so gab es auch aus der britischen
Öffentlichkeit
Widerspruch
gegen
den
Zustrom.247
Der
Abgeordnete von Tottenham North, E. Doran forderte im
Unterhaus am 9. März 1933, dass man ausländische Juden daran
hindern solle, Großbritannien von Deutschland aus zu betreten.
Der Innenminister erwiderte jedoch, dass laut der „Aliens Order“
keinem auf Grund seiner politischen oder religiösen Ansichten die
Einreise verweigert werden darf.248
Während der ersten Ausreisewelle verließen etwa 37.000 Juden
Deutschland.
Die
britische
Regierung
musste
also
ihre
Einwanderungspolitik überdenken: In einer Kabinettssitzung am 5.
April 1933 wurde aus diesem Grund über die Aufnahme von
Juden, die England von Deutschland aus betreten als „dringende
Angelegenheit“ diskutiert. Das Ergebnis war die Bildung eines
Kabinettsausschusses unter dem Vorsitz des Innenministers, das
sich mit den Fragen der Ausländerbeschränkung beschäftigen
sollte. Am 6. April stellte dieser Ausschuss fest, dass die Zahl der
Ausländer in England im erheblichen Maße gestiegen sei. Die
meisten waren Deutsche aus höheren Berufsschichten und
wahrscheinlich Juden.249 Da schon 1931 die „Reichsfluchtsteuer“
eingeführt wurde, wonach 25% des Eigenkapitals in Deutschland
verbleiben mussten, konnten zunächst vor allem Reiche sowie
erfolgreiche Akademiker oder Künstler das Land verlassen. Sie
hatten die besten Chancen im Ausland finanziell unabhängig zu
246
Rebekka Göpfert, S. 44
Gerhard Hirschfeld, S. 46
248
Ebd., S. 47
249
Ebd.
247
86
sein. Für die jüdischen Durchschnittsbürger war es weitaus
schwieriger,
da
sie
eine
finanzielle
Belastung
für
das
Aufnahmeland bedeuteten. Außerdem stellten sie eine potenzielle
Bedrohung für den dortigen Arbeitsmarkt und so schloss ein Land
nach dem anderen die Grenzen. Man wollte das Problem noch
nicht erkennen.250
Als die Flüchtlingszahlen zunahmen wurden weitere Bedingungen
an die Einwanderer gestellt. Sie durften keinem Briten einen
Arbeitsplatz wegnehmen. Die Flüchtlinge durften nur die Stellen
annehmen, die bisher vergeblich auf dem britischen Arbeitsmarkt
ausgeschrieben waren.251 Auf Grund der finanziellen Notsituation,
in der sich die Flüchtlinge befanden, wurden immer mehr
Flüchtlingsorganisationen gegründet, die sich bereit erklärten, für
die
finanzielle
Diejenigen,
Versorgung
die
keine
der
Flüchtlinge
finanziellen
aufzukommen.
Möglichkeiten
zur
Auswanderung oder Verwandte und Bekannte im Ausland hatten,
wandten sich an die von Leo Baeck gegründete Reichsvertretung
der Juden in Deutschland, die legitimiert war, mit deutschen
Behörden zu verhandeln und darüber hinaus Kontakte ins
Ausland pflegte.252
Otto M. Schiff, der selbst 1896 als Sohn eines Bankiers nach
England kam und ein hohes Ansehen in der jüdischen Gemeinde
in England hatte, machte sich in der englischen Flüchtlingshilfe
einen Namen. Er war gut über die Geschehnisse in Deutschland
informiert und sorgte sich um die Juden in Deutschland. 253
Angeregt von der Initiative Leo Baecks erklärte der Londoner
Börsenmakler Otto M. Schiff der britischen Regierung, dass man
Vorkehrungen für die Versorgung der jüdischen Einwanderer
getroffen habe: Jegliche finanziellen Belastungen werden von der
jüdischen Gemeinde getragen, damit die Flüchtlinge dem Staat
250
Barry Turner, S. 18f
siehe Fußnote 19 in: Rebekka Göpfert, S. 47
252
Barry Turner, S. 22
253
Amy Zahl Gottlieb: Men of Vision. Anglo-Jewry’s Aid to Victims of the Nazi
regime 1933-1945, Weidenfeld & Nicolson, London 1998, S. 7
251
87
nicht zur Last fallen.254 Otto Schiff gründete im März 1933 das
„Jewish Refugees Committee” (JRC) um jüdischen Flüchtlingen
aus Deutschland zu helfen.255 Doch auch die nicht-arischen
Christen sollten vom JRC unterstützt werden, da sich außer den
Quäkern keine andere Organisation um diese kümmerte. Die
christlichen Organisationen, unter der Leitung der Kirchen wurden
erst 1938 eingerichtet.256 Daraufhin durfte eine beträchtliche
Anzahl von Einwanderern nach England einreisen. Weiterhin
durften Einwanderungsbeamte allerdings die Einreise auf Grund
von Krankheit oder Kriminalität verweigern.257 „Britannien wurde in
den Monaten vor September 1939 der wichtigste Hafen für jene
[Menschen], die vor der Nazi-Unterdrückung flohen.“258 Otto Schiff
rechnete zunächst mit 4.000 – 5.000 Flüchtlingen in den nächsten
Jahren. Doch die Ernüchterung kam schnell: Die jüdische
Gemeinde wurde mit Einwanderungsanträgen nur so überhäuft
und es musste mehr Personal eingestellt werden. Die Geldsorgen
des Flüchtlingskomitees nahmen immer mehr zu, da die meisten
Flüchtlinge auf Grund eines Sperrkontos, auf dem das Vermögen
der Juden in Deutschland festgehalten wurde, kaum noch
geldliche Mittel mit ins Land bringen konnten. Lionel Rothschild
ergriff daraufhin die Initiative und gründete im Mai 1933 den
„Central British Fund of German Jewry” (Britischer Zentralfond für
deutsche Juden). Er rief zu groß angelegten Spendenkampagnen
auf, die in einem Jahr 250.000 Pfund einbrachten.259
Es entstanden immer mehr Flüchtlingsorganisationen, die sich zur
finanziellen Versorgung der jüdischen Flüchtlinge bereiterklärten:
In Hinsicht auf die nicht-arischen Christen u.a. die „Church of
England“, die „Church of Scotland” und die „Catholic Church”. Die
254
Gerhard Hirschfeld, S. 48
Amy Zahl Gottlieb, S. 9
256
Ebd., S. 10
257
Gerhard Hirschfeld, S. 48
258
Tony Kushner and Katharine Knox: Refugees in an age of Genocide. Global,
National and Local Perspectives during the Twentieth Century, Frank Cass,
London 1999, S. 126
259
Barry Turner, S. 24f
255
88
„Society of Friends” (Quäker) arbeiteten eng mit den jüdischen
Flüchtlingsorganisationen
zusammen,
sowohl
bei
der
Unterbringung der Flüchtlinge, als auch bei den Verhandlungen
mit dem Home Office. Eine weitere große Flüchtlingsorganisation
war das „Academic Assistance Council” (AAC). Das Ziel dieser
Organisation war es, verfolgte Forscher und Wissenschaftler und
deren Familien aufzunehmen. Die Einreisegenehmigungen für
diese
Art
von
Flüchtlingen
wurde
aber
nur
unter
der
Voraussetzung erteilt, später in andere Länder zu emigrieren, also
als Übergangslösung.260 Es zeigte sich, dass ausschließlich die
Flüchtlingsorganisationen
für
die
Abwicklung
der
Einreiseformalitäten und die Grundversorgung der Flüchtlinge
verantwortlich waren. Der Staat erteilte lediglich die wichtigen
Einreisegenehmigungen.261
Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938
stiegen die Einwanderungszahlen noch einmal stark an. Die
finanzielle
Garantie
für
die
Einwanderer
Flüchtlingsorganisationen kaum noch tragbar.
262
war
für
die
Auf Grund der
schlechten Situation auf dem Arbeitsmarkt und der finanziellen
Belastung, die die Flüchtlinge darstellten, schlossen immer mehr
Länder ihre Grenzen.263 Großbritannien führte auf Grund des
starken Zustroms am 2. Mai 1938 für Österreicher und am 21. Mai
für deutsche Einwanderer die Visumspflicht wieder ein. Dies sollte
eine Entlastung für die Einwanderungsbehörden zur Folge haben,
die den neuen Zustrom nicht mehr bewältigen konnten. 264
5.2.1. Die Konferenz von Evian
260
Rebekka Göpfert, S. 46f
Ebd., S. 48
262
Gerhard Hirschfeld, S. 52f
263
Ebd. S. 51
264
Rebekka Göpfert, S. 48 (R.G. zitiert A.J. Shermann: Island Refuge. Britain
Refugees from the Third Reich 1933-1939, S. 87)
261
89
Der Anschluss Österreichs und der damit verbundene Anstieg der
Flüchtlingszahlen war aber nicht nur in Großbritannien, sondern
weltweit zu spüren. Im Juni 1938 schlug der Amerikanische
Präsident Roosevelt eine gemeinsame Konferenz zwischen allen
amerikanischen und europäischen Ländern – ausgenommen
Deutschland – vor. Am 6. Juli 1938 trafen die Repräsentanten aus
31 Ländern in Evian zusammen. Deutschland war zusätzlich mit
100 Repräsentanten von Not leidenden Minderheiten vertreten. 265
Ursprünglich waren 33 Länder eingeladen, doch Italien und
Südafrika lehnten eine Teilnahme an der Konferenz ab. 266
Im Vorfeld wurden in Großbritannien Überlegungen zur britischen
Haltung während der Konferenz angestellt: Da auch andere
Länder an der Konferenz teilnahmen, war es „wichtig, nicht den
Eindruck zu erwecken, dass das Treffen derartige Erleichterung
schaffen werde, mit dem Ergebnis, dass andere Länder dann
ungestraft Teile ihrer Bevölkerung zur Auswanderung zwingen
könnten.“267 Soweit gingen dann auch die Vertreter Polens und
Rumäniens, die mit der Bitte vorsprachen, dass die Länder ihnen
durch die Mehraufnahme von Flüchtlingen bei der Vertreibung der
Juden aus ihren Ländern helfen solle. Diese Bitte wurde jedoch
konsequent abgelehnt.268
Obwohl die englischen Flüchtlingsorganisationen sehr große
Hoffnungen
in
diese
Konferenz
gelegt
hatten,
kam
die
Ernüchterung sehr schnell: Alle Länder stellten klar, dass ihre
Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge ausgeschöpft seien.269 Auch
Roosevelt stellte klar, dass die USA nicht bereit wären, noch mehr
Flüchtlinge aufzunehmen, da es bereits 10 Millionen Arbeitslose in
den USA geben würde und man befürchte, durch die verstärkte
Aufnahme von Flüchtlingen ebenfalls antisemitische Gefühle in
265
Barry Turner, S. 37
Amy Zahl Gottlieb, S. 85
267
Gerhard Hirschfeld, S. 54
268
Rebekka Göpfert, S. 49 (R.G. zitiert Louise London: British Gouverment Plicy
and Jewish Refugees 1933-45)
269
Ebd.
266
90
den
USA
heraufzubeschwören.270
Australien
lehnte
unter
folgendem Vorwand ab, Flüchtlinge aufzunehmen: „As we have
no real racial problem, we are not desirous of importing one.“271
Kanada hingegen zeigte sich bereit, Landwirte aufzunehmen mit
der Bedingung, dass sie Eigenkapital mit ins Land bringen
würden. Doch auf Grund der Tatsache, dass die deutschen
Landwirte im Allgemeinen kein großes Eigenkapital besaßen und
wenn doch sie den größten Teil ihres Besitzes in Deutschland
zurücklassen mussten (Reichsfluchtsteuer), wurde nur Wenigen
die Einreise nach Kanada genehmigt.272
Man appellierte an die deutsche Regierung für faire Bedingungen
bei der Evakuierung und bildete ein zentrales Flüchtlingskomitee,
das „Inter-gouvermental Committee“, das für internationale
Flüchtlingsfragen zuständig sein sollte. Auch Großbritannien
lockerte seine Einwanderungsbedingungen nicht, aus Angst
Deutschland würde daraufhin noch rücksichtsloser mit der
Evakuierung umgehen.273 Norman Bentwich, der Vertreter des
britischen Zentralfonds, zu dem Ausgang der Konferenz in Evian:
„Das offizielle Ergebnis schmeckte ähnlich schal wie das
Mineralwasser von Evian.“274
5.2.2. Palästina als britisches Mandatsgebiet
Großbritannien hatte deshalb so große Verantwortung gegenüber
jüdischen Flüchtlingen aus Europa, weil Palästina unter britischen
Protektorat
stand.275
Außerdem
bot
Palästina
für
die
ausgewanderten Juden eine verlockende Alternative. Doch
Palästina hatte eine Einwanderungsquote von maximal 40.000
270
Amy Zahl Gottlieb, S. 85f
Ebd. S. 86
272
Ebd.
273
Barry Turner, S. 39
274
Ebd.
275
Rebekka Göpfert, S. 44
271
91
und konnte daher bei ½ Millionen gefährdeter Menschen nur als
Teillösung gelten, aber man hoffte auf eine Lockerung dieser
Einwanderungsquote.276
Da
sich
die
nationalsozialistische
Gesetzgebung zunehmend auf die jüdische Jugend auswirkte, war
Palästina ein großer Anziehungspunkt für sie. Immer häufiger
wurde in Deutschland Kurse angeboten, die auf das Leben in
Palästina
sollten.277
vorbereiten
Doch
der
neue
Einwanderungszustrom nach Palästina brachte auch Probleme
mit sich. Zum einen sollte Palästina England als Flüchtlingsland
entlasten, zum anderen sollten aber auch die diplomatischen
Beziehungen zu den arabischen Staaten durch den starken
Zustrom der Einwanderer nicht gefährdet werden. Abgesehen von
der
Einwanderungsquote
gab
es
keine
zusätzlichen
Einwanderungsbestimmungen für Palästina.278
Als
Folge
des
starken
Zustroms
erhoben
sich
die
palästinensischen Araber 1936 zu einem teilweise gewalttätigen
Aufstand,
um
ein
Umdenken
bei
der
britischen
Einwanderungspolitik zu erreichen. Großbritannien verschärfte
daraufhin die Einwanderungsbedingungen, obwohl gerade jetzt
die Suche nach Zufluchtsländern immer dringlicher wurde.279 Als
Folge der beschränkten Einwanderungsbedingungen sowohl in
Palästina als auch in anderen Ländern wandten sich die
Flüchtlinge nun im verstärkten Maße an Großbritannien. 280 Im Mai
1939
wurde
das
„White
Paper“
entwickelt,
welches
die
Einwanderung nach Palästina regeln sollte. Ein Limit von 75.000
Einwanderern pro Jahr in den nächsten fünf Jahren wurde
festgelegt, wovon die illegalen Einwanderer abgezogen wurden.
Alle Einwanderer, die diese Zahl überstiegen, durften nur mit der
offiziellen
Zustimmung
der
palästinensischen
Araber
276
Barry Turner, S. 26
Ebd., S. 27ff
278
Rebekka Göpfert, S. 45
279
Ebd.
280
Gerhard Hirschfeld, S. 51
277
92
einwandern.281
281
Rebekka Göpfert, S. 45
93
5.2.3. Reaktionen auf den Novemberpogrom
Im
Zuge
des
Novemberpogroms
1938
stiegen
die
Auswanderungszahlen in Deutschland sprunghaft an. Ca. 40.000
Juden emigrierten 1938, was sich auch auf den Andrang in
Großbritannien auswirkte.282 Durch die unglaublichen Gewalttaten
während des Pogroms gegen Juden in Deutschland war ein
Umschwung der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Flüchtlinge
deutlich erkennbar.283
Der
Pogrom
und
seine
Folgen
wurden
in
jedem
Teil
Großdeutschlands erlebt. Für einige deutsche Juden war die
„Kristallnacht“ vernichtend. Vor allem die ältere Generation litt
unter dieser Situation, weil sie sich keinen anderen Ort als ihr
Zuhause vorstellen konnten.284 So wurden in Wien etwa 49
Synagogen niedergebrannt, 4083 jüdische Geschäfte wurden
geplündert und verwüstet, 40.000 Juden wurden in KZ verschleppt
und über 700 Juden begangen Selbstmord. 285 Im „Völkischen
Beobachter“ vom 11. November 1938 wird daraufhin ein Aufruf
vom
Reichsminister
Goebbels
veröffentlicht,
unter
der
Schlagzeile: „Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat von
Paris kommt noch – keine weiteren Aktionen mehr – Gesetzliche
Regelung
der
Judenfrage
angekündigt.“286
Es
wird
also
angekündigt, dass die Nationalsozialisten so weit gehen werden
und die Gesetze radikal gegen die Juden verändern werden.
(siehe Kapitel 2.)
Dieser
Pogrom
Gelegenheit,
aufzurufen.
287
war
zu
für
einer
viele
Parlamentsmitglieder
großzügigeren
eine
Flüchtlingspolitik
Die britische Regierung musste also Schritte
282
Gerhard Hirschfeld, S. 57
Barry Turner: S. 47
284
Tony Kushner and Katharine Knox, S. 138
285
Hugo Gold: Geschichte der Juden in Wien. Ein Gedenkbuch, Publishing
House OLAMENU, Edition „OLAMENU“, Tel Aviv 1966, S. 89
286
Ebd. S. 94
287
Mr. Butcher, MP, in Hansard (HC), Vol. 341 Col. 1453 (21. November 1938)
in: Tony Kushner and Katharine Knox, S. 140
283
94
unternehmen, um das überforderte Personal zu entlasten. Das
Personal
wurde
aufgestockt,
die
Antragsverfahren
wurden
vereinfacht und die Flüchtlingsorganisationen konnten dem Home
Office Listen mit politischen Flüchtlingen vorlegen, um für diese
Personen Blockvisa zu erhalten. Bedingung für diese Blockvisa
war
nur
die
finanzielle
Absicherung
durch
die
Flüchtlingsorganisationen. Dennoch sollten die diplomatischen
Beziehungen zu Deutschland nicht unnötig gefährdet werden und
es sollte auch nicht der Eindruck entstehen, Großbritannien habe
eine unbegrenzte Aufnahmekapazität. 288 Übersiedlungspläne,
nach denen der Flüchtlinge in britische Kolonien geschickt werden
sollten, um somit Großbritannien zu entlasten, konnten nach
Ausbruch des Krieges 1939 allerdings nicht weiter verfolgt
werden.289
288
289
Rebekka Göpfert, S. 51
Gerhard Hirschfeld, S. 57
95
6. Die Anfänge der Kindertransporte
6.1. Die Aufnahme der jüdischen Kinder durch das
„Children’s Inter-Aid Committee“
Die Kindertransporte begannen zwar erst im Dezember 1938, doch
schon vorher gab es eine vergleichbare Aktion, während der seit
1936 Kinder nach England evakuiert wurden: Am 24. März 1936
gründeten der „Central British Fund“, der „Save the Children Fund“
die Quäker und weitere Organisationen das „Children’s Inter-Aid
Committee“ (kurz „Inter-Aid“), um bedrohte Kinder, sowohl jüdische
als auch nichtjüdische, in Deutschland zu retten.290 Das „Inter-Aid“
arbeitete dabei eng mit dem „Council for German Jewry”, den
„Quäkern“, der „Diözese von Chichester”, der „West London
Synagogue” und dem „Women’s Appeal Committee for German
and Austrian Women and Children”. Finanziert wurden diese
Transporte zu einem großen Teil vom „Save the Children Fund”,
der bereits 1919 gegründet wurde.291 In Zusammenarbeit mit der
Reichsvertretung der Juden in Deutschland und den Quäkern
wurden Kinder ausgesucht, deren Eltern entweder inhaftiert waren,
oder Gefahr liefen inhaftiert zu werden, oder die selbst den
Quälereien durch die Nazis ausgesetzt waren.292
Zwischen Mai 1936 und November 1938 konnten 471 Kinder nach
Großbritannien gebracht werden. Die Kosten für diese Transporte
und die Versorgung der Kinder belief sich auf 600 Pfund pro Jahr.
Die Kinder kamen oft auf Einladung von Verwandten oder
Bekannten der Eltern und sorgten für ihre Unterbringung und
290
Amy Zahl Gottlieb, S. 100
Rebekka Göpfert, S. 52
292
Amy Zahl Gottlieb, S. 100f
291
96
Ausbildung. Der „Save the Children Fund“ war die tragende Säule
der organisatorischen Seite dieser Kindertransporte. Sein Ziel war
es, sich um Kinder, die von ihren Familien getrennt und aus
politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt
wurden, zu kümmern. Von den 471 Kindern waren 45% jüdischer
Abstammung und 55% christlicher Abstammung, daran lässt sich
erkennen, dass nicht nur religiös Verfolgte, sondern auch Kinder,
die aus politischen Gründen verfolgt wurden, unter dem Schutz des
„Save the Children Fund“ standen. Der Grund der Trennung von
der Familie und den Kindern lag oft darin, dass die Eltern meist
schon Einreisevisa für Übersee besaßen und die Kinder noch
keine. Auch wurden die Kinder wegen der ungewissen Zukunft, die
sie im Ausland erwartete, zurückgelassen. Den Kindern, die mit
„Inter-Aid“ nach England kamen, wurde die Versorgung für ein Jahr
garantiert, obwohl man sich darüber im Klaren war, dass man sie
nicht nach einem Jahr wieder wegschicken konnte. In dieser
einjährigen Garantie war die Suche nach einer geeigneten
Unterkunft enthalten, wobei Internatsschulen verminderte oder gar
keine Gebühren verlangten, sowie die Übernahme der anfallenden
Kosten für Kleidung, Nahrung etc.. Außerdem versuchte man die
Kinder,
die
während
der
Ferien
nicht
nach
Deutschland
zurückkommen konnten, was dem größten Teil entsprach, einen
Platz
in
einem
Ferienlager
oder
privat
bei
Familien
zu
beschaffen.293
Zunächst war keine Altersbeschränkung festgelegt, dennoch waren
die meisten Kinder bei ihrer Flucht zwischen 13 und 14 Jahren.
Jüngere Kinder wurden nur in Ausnahmefällen aufgenommen. Um
die Versorgung der Kinder gewährleisten zu können, wurden
zahlreiche jüdische und nichtjüdische Publikationsorgane um
Unterstützung gebeten. Diese Unterstützung sah neben der
finanziellen Hilfe auch die Aufnahme von Kindern in englischen
Familien vor. Wurde ein Kind finanziell unterstützt, bekamen die
293
Rebekka Göpfert, S. 52 und 53 (R.G. zitiert Save the Children Fund/Inter-Aid
97
„Paten“ ein Foto von ihrem „Patenkind“ und das Versprechen des
„Inter-Aid“, sich um alles zu kümmern.294
Doch auch privat versuchten deutsche Eltern ihre Kinder
beispielsweise per Anzeige in einer eigenen Rubrik im Jewish
Chronicle (eine große jüdische Londoner Wochenzeitung) in
englische Haushalte zu vermitteln: „Bitte helfen Sie mir, zwei Kinder
(Junge und Mädchen, 10 Jahre alt, aus guter Familie) aus Berlin
herauszubringen – sehr dringender Fall – RK 96 Lordship Park,
N16.“295
6.2. Die Vorläufer der Kindertransporte
Die Idee, dass Kinder getrennt von ihren Eltern gerettet werden
sollten, war nicht neu. Ende Oktober 1938 ist in der Korrespondenz
des Foreign Office ein Vorschlag der „League of Nations“ zu finden,
in dem Kinder, die aus Deutschland fliehen müssen, nach England
einreisen dürfen. Als Antwort auf diesen Vorschlag verwies das
Foreign Office auf das „Co-ordinating Committee Refugees“, das im
April 1938 von mehreren Flüchtlingsorganisationen gegründet
wurde, um bei der Bearbeitung der Visa-Anträge, deren Zahl nach
dem Anschluss Österreichs an Deutschland stark angestiegen war,
behilflich zu sein.296 Es ist jedoch fraglich, ob diesen Überlegungen
ein Vorschlag von jüdischer Seite vorausging, da in den Akten kein
weiterer Verweis enthalten ist. Wahrscheinlicher ist, dass diese
Überlegung eine Fortführung des Planes, 10.000 Kinder nach
Palästina einreisen zu lassen, ist297: Palästina bot an, 10.000
jüdische Kinder aus Deutschland zu holen. Auf Grund der
Einwanderungsbeschränkung ließ sich dieser Plan jedoch nicht
Committee for Children from Germany: First Annual Report, S. 5)
294
Rebekka Göpfert, S. 54 (Ebd., S. 13)
295
Barry Turner, S. 48
296
Rebekka Göpfert, S. 55
297
Rebekka Göpfert, S. 56 (R.G. zitiert Hansard – Niederschriften der britischen
Unterhaussitzungen – Band 341, Sp. 1438 (21. Nov. 1938) und Sp. 2005-2105
98
verwirklichen. Wegen des Protektorats und der damit verbundenen
Verantwortung der Juden aus Europa gegenüber Palästina, bot
England an, 10.000 Kinder aufzunehmen.298
Gleichzeitig verfolgte der „Central British Fund“ seit 1936 einen
Rettungsplan unter der Mitwirkung der „Youth Aliyah“: 80.000 bis
100.000 Kinder und junge Erwachsene sollten in Palästina
ausgebildet und anschließend angesiedelt werden. Im Hinblick auf
diesen Plan fand am 24. November eine Beratung im Unterhaus
statt, wobei kein Bezug auf die Kindertransporte genommen wurde.
In dieser Beratung wurde über das Palästina-Problem debattiert.
Am 14. Dezember 1936 fanden nochmals Verhandlungen mit den
palästinensischen Arabern statt, um über eine mögliche Einreise
von 10.000 Kindern nach Palästina zu diskutieren. Da es aber sehr
unwahrscheinlich war, dass diese Verhandlungen positiv verlaufen
würden, wurden Überlegungen angestellt, die Kinder, denen die
Einreise nach Palästina verwehrt wurde, eventuell in Großbritannien
aufzunehmen.299
6.3. Antrag für den Kindertransport
(24.Nov. 1938))
298
Gerhard Hirschfeld, S. 57
299
Rebekka Göpfert, S. 56
99
Die erste Initiative auf Regierungsebene in Bezug auf die
Kindertransporte ging von den Niederlanden aus. Am 11.
November 1938 bat das holländische Flüchtlingskomitee den
Ministerpräsidenten die Genehmigung für einen vorübergehenden
Aufenthalt von einer unbegrenzten Anzahl von Kindern, zu erteilen.
Dieser Antrag wurde akzeptiert, unter der Bedingung, dass das
Komitee 100.000 Gulden als Bürgschaft für den Unterhalt der
Kinder hinterlegen muss. Dieses Geld wurde direkt am 15.
November aufgebracht.300
Am selben Tag sprach eine Delegation des „Council for German
Jewry“
unter
dem
Vorsitz
von Lord
Samuel
beim
britischen
300
Barry Turner, S. 48
100
Premierminister Neville Chamberlain vor. Lord Samuel stellte klar,
dass es nicht seine Absicht sei, Großbritanniens Türen für die
geschätzten 300.000 Emigranten aus Deutschland zu öffnen, er bat
den Premierminister lediglich darum, eine Ausnahmebestimmung
für Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 17 Jahren (jüdische
und christliche) zu erteilen.301 Die Kinder sollten in England zur
Schule gehen und für die Re-Emigration ausgebildet werden.302 Die
Übernahme
der
Kosten
sollte
wieder
bei
den
Flüchtlingsorganisationen liegen. Es wurde eine Kollektivgarantie
gegeben, dass keine öffentlichen Gelder in Anspruch genommen
werden sollten. Dennoch sah Chamberlain für die Weiteremigration
der Kinder Schwierigkeiten, da Palästina als einziges mögliches
Ziel für die jungen Auswanderer gelten konnte. Auf Grund der
begrenzten Einwanderungszahl nach Palästina sah Großbritannien
jedoch keine Möglichkeit zur Weiteremigration. Chamberlains
Antwort auf diese Anfrage fiel daher zunächst in einem „ziemlich
negativen Ton“ aus. Am nächsten Tag änderte sich jedoch sein
Standpunkt, als der Außenminister Lord Halifax Flüchtlingen
vorübergehenden Aufenthalt genehmigen wollte, um durch dieses
Umdenken in der Flüchtlingspolitik ein gutes Vorbild für die USA
abzugeben.303 Außerdem ging man davon aus, dass die Aufnahme
von
Flüchtlingskindern
auch
auf
große
Akzeptanz
in
der
Bevölkerung stoßen würde. Um aufzuzeigen, dass hier keine leeren
Versprechungen gemacht wurden, wurde umgehend angeboten,
bei der Klärung der Formalitäten und den Verhandlungen mit dem
Home Office im Hinblick auf die nötigen Einreisepapiere behilflich
zu sein.304 Es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass man
eine Politik der „offenen Tür“ in Bezug auf die Flüchtlinge betreiben
werde, sondern eine Ausnahmebestimmung für Kinder und
Jugendliche durchführen möchte.305
301
Amy Zahl Gottlieb, S. 105
Amy Zahl Gottlieb, S. 105
303
Barry Turner, S. 49
304
Rebekka Göpfert, S. 55
305
Barry Turner, S. 49
302
101
Am 21. November 1938 fand ein Treffen beim britischen
Innenminister statt. Bei diesem Treffen waren sowohl Lord Samuel,
als auch Vertreter anderer jüdischer Organisationen und Vertreter
der Quäker anwesend, um über das weitere Vorgehen im Umgang
mit verfolgten Kindern zu diskutieren. Zunächst verwies Lord
Samuel auf mehrere Tausend belgische Kinder, die im Ersten
Weltkrieg erfolgreich in England aufgenommen wurden. Außerdem
erklärte er, dass er und die jüdischen Organisationen dazu bereit
seien, die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen und dass das
Home Office nur gebeten werde, die Visa für die Kinder
auszustellen. Der Rest werde von den Flüchtlingsorganisationen
getragen
und
organisiert.306
Ferner
überlegte
man,
eine
Organisation zu gründen, die mit „Inter-Aid“ zusammenarbeiten soll,
um die zu erwartende Flut von Anträgen zu bewältigen. Anfangs
hieß diese Organisation „Movement for the Care of Children from
Germany“ (Fürsorge für Kinder aus Deutschland). Später wurde
diese Organisation auf Grund des langen Namen in „Refugee
Children´s
Movement“
(Kinder
Flüchtlingshilfe)
umbenannt.
Gegründet wurde „Refugee Children´s Movement“ (RCM) von
Norman Bentwich und seiner Frau Mami.307 (siehe Kapitel 7.4.)
Alle Komitees, die an der Durchführung der Kindertransporte
beteiligt waren, sowohl in Berlin, Wien, Holland als auch in
England waren interdenominationell. Das heisst, dass sie im
Grunde konfessionslos waren und sich dementsprechend auch
nicht nur um die jüdischen Kinder, die in Deutschland verfolgt
wurden, kümmerten. Diese konfessionslosigkeit führte oft zu
Konflikten zwischen den einzelnen Gemeinden (siehe dazu
Kapitel 8.6.).
Es wird angenommen, dass eine Höchstgrenze für die Anzahl der
Kinder festgelegt wurde, dafür gibt es jedoch keine Beweis, da auch
in der Parlamentssitzung am selben Tag (21. November) jede Art
von Quote
306
abgelehnt
wurde.
Es sollten für alle Kinder
Rebekka Göpfert, S. 57
102
Einreisegenehmi-
307
Barry Turner, S. 49
103
gungen erteilt werden, deren Unterhalt durch eigene Mittel oder von
anderen Personen oder
Flüchtlingsorganisationen sichergestellt
war. Dazu wurde ein spezielles Reisedokument in London
ausgestellt, um Pässe und Visa überflüssig zu machen.308Die
Kinder benötigten also keine deutschen Reisedokumente mehr.
Stattdessen wurde vom Innenministerium eine zweiteilige „identity
card“ für jedes Kind ausgestellt. Ein Teil dieser „identity card“ würde
vom Innenministerium zurückbehalten, den anderen Teil bekam
das „Inter-Aid Committee“. Dieses war dazu berechtigt, die „identity
cards“ an die Kinder auszugeben. Bei der Ankunft in England
wurden die „identity cards“ dem zuständigen Einwanderungsoffizier
vorgelegt. Hierauf waren persönliche Daten sowie ein Foto des
jeweiligen Kindes (vgl. dazu auch Kapitel 8.1.).309 Die Debatte um
die Kindertransporte wurde in den folgenden Tagen mehrfach
seitens der Abgeordneten aufgenommen. Oft wurde über Fragen,
wie beispielsweise nach der Dauer des Aufenthalts der Kinder oder
ob sie nach dem Erreichen eines gewissen Alters das Land wieder
verlassen werden, um keine Last für den englischen Arbeitsmarkt
darzustellen, diskutiert.310 Im ersten Jahresbericht des RCM wird
darauf hingewiesen, dass die Kinder eventuell über ihr 18.
Lebensjahr hinaus in England bleiben werden. Auf die Frage
nach finanzieller Unterstützung vom Staat wurde auf die Konferenz
von Evian hingewiesen, in der die Flüchtlingsorganisationen
garantierten, dass die Flüchtlinge dem Staat finanziell nicht zur Last
fallen werden.311
Es herrschte weiterhin Unklarheit über die Anzahl der Kinder.
Hinweise, die eine Festlegung betreffen könnten, waren verwirrend:
Am 21. November 1938 schlug ein Parlamentarier vor, 10.000
Kinder aufzunehmen. Am selben Tag sprach der Innenminister
zweimal davon, „a very large number” aufzunehmen. Am 12.
308
Ebd., S. 50
Amy Zahl Gottlieb, S. 107
310
Rebekka Göpfert, S. 57
311
Ebd., S. 58
309
104
Dezember warf ein weiterer Parlamentarier die Frage auf, ob der
Innenminister
überhaupt
die
Zustimmung
des
Unterhauses
eingeholt habe, bevor er die Erlaubnis erteilte, 50.000 Kinder ins
Land zu lassen.
312
Er antwortete, die Zahl der Kinder hinge von
den finanziellen Mitteln der Flüchtlingsorganisationen ab. Auch die
Angaben der Flüchtlingsorganisationen unterschieden sich: Das
„German Emergency Council“ sprach am 28. November 1938 von
„... a large number (up to 5.000)... up to the age of 17 plus“. Das
„Co-ordinating Committee“ war im März 1939 der Meinung, „...no
limit set by the Home Office... below the age of 18...“313
Die Zahl 10.000 tauchte erstmals im Zusammenhang mit dem
Angebot aus Palästina auf, diese Anzahl von Kindern aus
Deutschland zu adoptieren. Später wurde diese Zahl von den
Britischen Zentralfonds aufgegriffen und von der Regierung als
Höchstgrenze dessen, was durch freiwillige Spenden finanzierbar
sei, akzeptiert.314 Rebekka Göpfert vermutet weiterhin, dass es
keine Beschränkungen seitens der Regierung gab, sondern der
Kriegsausbruch verhindert habe, dass noch mehr Kinder nach
England einreisen konnten.315
Die Entscheidung, unbegleitete Kinder in großem Umfang nach
England einreisen zu lassen, war in mehrfacher Hinsicht mit der
Politik des Landes zu vereinbaren: die Kinder stellten zunächst
noch keine Gefahr für den britischen Arbeitsmarkt dar und ihr
Aufenthalt war nur als Übergangslösung gedacht.316 Außerdem
erweckten die Kinder eher Mitleid in der Bevölkerung und man ging
daher davon aus, dass sich die Kindertransporte vor der britischen
Öffentlichkeit besser verantworten ließen. Des Weiteren hatte man
die Absicht, als Vorbild für mögliche andere Aufnahmeländer zu
fungieren. Gleich-
312
Rebekka Göpfert, S. 58 (R.G. zitiert Hansard, Band 341, Sp. 1472f (21. Nov.
1938) und Bd. 342, Sp. 18 (28. Nov. 1938))
313
Rebekka Göpfert, S. 59 (R.G. zitiert Bulletin of the Co-ordinating Committee,
März 1939)
314
Barry Turner, S. 50
315
Rebekka Göpfert, S. 59
105
316
Ebd., S. 60
106
zeitig übernahm Großbritannien die Verantwortung gegenüber
Palästina auf Grund des Protektorats und somit auch den Juden
aus Europa.317
6.3.1. Kindertransport als Vorbild für andere Aufnahmeländer?
Seit der Konferenz von Evian übten Großbritannien und USA oft
gegenseitig Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik. USA forderte von der
britischen Regierung, mehr für die Flüchtlinge zu tun und nicht die
ganze
Arbeit
und
die
finanzielle
Belastung
den
Flüchtlingsorganisationen zu überlassen, während die britische
Regierung nicht mit dem strengen Quotensystem der USA
zufrieden war.318
Auf Grund dieses Konflikts zwischen USA und Großbritannien wies
man während der Debatte am 16. November 1938 darauf hin, dass
im Hinblick auf das Image in den USA keine negative Antwort
bezüglich der Kindertransporte möglich sei. Man hoffte auch
weiterhin auf die positive Einstellung aller Länder in Bezug auf die
Kindertransporte bei den Flüchtlingsproblemen. Doch leider folgte
kein Land dem Beispiel Großbritanniens. Robert Wagner schlug
zwar dem amerikanischen Senat am 9. Februar 1939 vor, 20.000
Kinder in die USA zu holen und dort aufzunehmen, dieser
Vorschlag wurde jedoch abgelehnt und es wurden lediglich 2.000
Kinder zugelassen. Daraufhin zog Robert Wagner seinen Vorschlag
vollständig zurück.319
317
Ebd., S. 62
Rebekka Göpfert, S. 61f (R.G. zitiert A.J. Shermann: Island Refuge, S. 131
und S. 173)
319
Rebekka Göpfert, S. 62 (R.G. zitiert Saul Friedmann: No heaven for the
oppressed. United States policy toward Jewish refugees 1938-45, S. 30f und S.
91ff)
318
107
7.
Organisation und Ablauf der Kinder-
transporte
7.1. Vorbereitungen für die ersten Transporte
Nach dem positiven Entscheid für die Kindertransporte musste
schnell gehandelt werden, da die Ankunft der ersten Transporte
mit 500 Kindern in den nächsten zwei Wochen schon angekündigt
war. Allerdings zählte der erste Transport, der am 1. Dezember
1939 Berlin verließ, nur 207 Kinder. Doch schon der Transport,
der am 12. Dezember aus Wien eintraf, brachte mehr als 500
Kinder nach England.320
Da die Einreiseformalitäten seitens Großbritanniens bereits
geregelt waren, mussten jetzt die Passformalitäten in Deutschland
geklärt werden. Doch den deutschen Behörden schienen diese
Kindertransporte sehr gelegen zu kommen, da auf diese Art
sowohl viele Juden das Land verlassen würden, die gleichzeitig
aber auch wenig Güter und Wertsachen aus dem Land bringen
konnten. So schickte der SS-Reichsführer und Chef der
Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern am
31.
Dezember
die
1938
einen
geheimen
Schnellbrief
an
außerpreußischen Landesregierungen, in dem stand: „... Im
Interesse der Förderung der Auswanderung der jüdischen Kinder
und
Jugendlichen
ersuche
ich
daher,
die
Passbehörden
umgehend anzuweisen, Kinderausweise und Reisepässe an die
fraglichen
Personen
mit
größtmöglicher
Beschleunigung
auszustellen, wenn einwandfrei nachgewiesen wird, dass die
erwähnten Passpapiere zum Zweck der Auswanderung benötigt
320
Rebekka Göpfert, S. 65
108
werden.“321
Ende November (ca. eine Woche nach dem Beschluss des
Sonderstatus von Flüchtlingskindern) war Norman Bentwich zu
Gesprächen mit dem holländischen Flüchtlingskomitee nach
Amsterdam
gereist.
Holland
und
das
holländische
Flüchtlingskomitee eignete sich am besten für das erste Stadium
der Auswanderung: Zum einen lag Holland nah an dem dicht
bevölkerten
Ruhrgebiet
und
verfügte
über ein
weitläufiges
Eisenbahnnetz, welches beide Länder (Holland und Deutschland)
miteinander verband. Ähnliche Versuche in Frankreich scheiterten
an
der
Unschlüssigkeit
der
Regierung.322
Während
dieser
Gespräche, die Norman Bentwich u.a. mit David Cohen, dem Leiter
des „Council for German Jewry“ führte, wurden über die
Möglichkeiten der Durchreise der Kinder auf ihrem Weg nach
Großbritannien und auch über die Realisierung des Plans, einige
Kinder in Holland unterzubringen, verhandelt.323
Norman Bentwich kehrte nach London zurück, mit der Zusage zur
Kooperation,
der
Rückendeckung
des
niederländischen
Ministerpräsidenten und mit der Bitte an das Außenministerium,
Holland formell von der geplanten Kinderflüchtlingshilfe zu
unterrichten.324
Nachdem die Reiseroute festgelegt war (mit dem Zug nach Hoek
van Holland und von dort aus mit der Fähre nach Harwich), musste
nun die Auswahl der Passagiere getroffen werden. Aus Holland
hatte Bentwich eine Liste mit besonders dringenden Fällen
mitgebracht, u.a. Kinder aus Waisenhäusern in Hamburg und
Breslau, deren Schließung drohte.325
321
Die jüdische Emigration aus Deutschland 1933-1941: die Geschichte einer
Austreibung, S. 249
322
Barry Turner, S. 51
323
Rebekka Göpfert, S. 67
324
Barry Turner, S. 53
325
Ebd.
109
7.2. Auch Österreich bereitet sich vor
Der
Anschluss
Österreichs
an
Deutschland
hatte
fatale
Auswirkungen auf das Leben der Juden in Österreich. Die jüdische
Gemeinde war völlig durcheinander geraten. Nur die Quäker und
die „Jugend-Alijah“ hatten ihre Stellung gehalten. Doch keine
Gruppe, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierte, hatte mehr
Kontakt zu höheren Beamten der Nazi-Administration.326
Aus diesem Grund schickte Josef Löwenberg, der Vorsitzende der
jüdischen Gemeinde in Wien, am 28. November 1938 ein Gesuch
nach London, wonach etwa 35.000 Jugendliche die Bedingungen
für die Aufnahme in einem Kindertransport erfüllten. Trotzdem
fürchtete man um die Kooperationsbereitschaft der Nazis. Man bat
daher um die Entsendung eines Repräsentanten als „Beistand zur
Durchsetzung
unserer
Pläne“.
Es
sollte
jemand
mit
Durchsetzungsvermögen sein, denn Adolf Eichmann, der Leiter des
Judenreferats
im
Reichssicherheitshauptamt
sowie
des
Zentralbüros für jüdische Auswanderung ließ sich nur schwer und
schon gar nicht von Juden überreden, die Transporte zu
genehmigen.327
Man entschied sich für die Bankiersgattin Geertrudia WeijsmullerMeijer aus Amsterdam. Norman Bentwich und David Cohen baten
sie während ihres Besuchs in Amsterdam um Hilfe bei den
Verhandlungen
mit
den
deutschen
Behörden.328
Sie
war
entschlossen, energisch und ein Organisationstalent, außerdem
war sie keine Jüdin und sprach gut Deutsch. Dennoch verfügte sie
weder über Ortskenntnisse in Wien, noch hatte sie Beziehungen
zur österreichischen Verwaltung.329
Am 3. Dezember 1938 flog Frau Weijsmuller-Meijer nach Wien.
Dort wurde sie auf Grund eines Missverständnisses auf dem Weg
326
Ebd., S. 57
Ebd., S. 58
328
Rebekka Göpfert, S. 67
329
Barry Turner, S. 58
327
110
zum jüdischen Viertel in der Leopoldstadt, verhaftet, da man sie für
eine Jüdin hielt. Als Entschädigung bat sie um einen Termin bei
Adolf Eichmann, den sie daraufhin am 5. Dezember um 9.30 Uhr in
seinem Hauptquartier traf.330 Die Verhandlungen verliefen zunächst
jedoch nicht so leicht, wie man anfangs annahm, da Frau
Wijsmuller-Meijer keine britischen Regierungsdokumente vorlegen
konnte: „Dies schien ihm noch nie passiert zu sein und er war
dadurch erschrocken, dass ich überhaupt nicht vor ihm erschrocken
war, so dass er mich bat, ihm alles zu erzählen. [...] Dann fragte er
mich: ››Verraten sie mir, gnädige Frau, haben sie auch Papiere bei
sich, so dass sie die Kinder sofort mitnehmen können?‹‹ Ich sagte:
››Nein, Herr Doktor, es tut mir Leid, aber ich musste hierhin gehen
um erst mit ihnen zu sprechen.‹‹ Danach sagte er: ››Würden sie so
freundlich sein und mich einen Blick auf ihre Hände werfen lassen?
Würden sie ihre Handschuhe ausziehen und ihre Hände gut sehen
lassen?‹‹ Dann sagte er: ››Würden sie nun ihre Schuhe ausziehen
und einmal vor mir auf und ab gehen und auch ihre Röcke über die
Knie hochziehen?‹‹ Ich dachte: ja, es ist für einen guten Zweck, ich
werde es einfach alles machen, aber merkwürdig fand ich es
natürlich schon. Als ich das alles getan hatte und wieder zu ihm
zurückgekommen war und mich wieder gesetzt hatte, sagte er:
››Unglaublich, so rein arisch und dann so verrückt.‹‹“331
Schließlich genehmigte Eichmann die Ausreise von zunächst 600
Kindern. Er stellte allerdings die Bedingung, dass die Kinder Wien
bis zum 10. Dezember 1938 verlassen sollten. Dieses Ultimatum
fiel aber ausgerechnet auf den Sabbat, an dem es Juden aus
religiösen Gründen verboten war. Die Frage, ob es sich dabei um
reinen Zufall, oder pure Absicht handelte, bleibt unbeantwortet.332
Sobald die Kindertransporte für Wien genehmigt waren, mussten
die Mitglieder der Kultusgemeinde in Wien teilweise Tag und
330
Barry Turner, S. 58
Auszug aus einem Bericht von G. Wijsmuller-Meijer, den sie 1961 in YAD
VASHEM gegeben hat. Dokument Archiv Amsterdam: Nederlands Instituutt for
Oorlogs Documentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam.
332
Rebekka Göpfert, S. 68
331
111
arbeiten, um den ersten Kindertransport vorzubereiten: Die Kinder
mussten ausgewählt werden (zunächst wurde diese ausgewählt,
deren Rettung von größter Dringlichkeit erschien), dann wurden
sie ärztlich untersucht, Pässe mussten beschafft und das Gepäck
kontrolliert werden. Ein drittel der Kinder waren Rassejuden und
von den Quäkern ausgesucht worden. Die Quäker waren intensiv
an den Vorbereitungen für die Kindertransporte aus Wien
beteiligt.333
Im Folgenden zwei Beispiele für eine Gepäckliste der Flüchtlinge,
die bei der Auswanderung angefertigt wurde:334 (Hdgep. =
Handgepäck; Reisegep. = Reisegepäck)
18.10.1939, Gut Winkel
Ilse Sara Krüger
Jude
22.4.1925
nach Dänemark
Hdgep. 25 Pos. u.a. „Besteck Silber Familienbesitz“, Fotoalbum
Reisegep.
68 Pos.
Kopftücher
Jüd.
u.a. „Windjacke Jüd. Gemeinde“ „5(!)
Gemeinde“,
Grammophon,
Fahrrad,
Arbeitshosen, Bücherbrett, 6 Bücher
18.10.1939, Gut Winkel
Eva Johanna Sara Loewy
Jude
14.10.1924
nach
Dänemark
Hdgep. 16 Pos.
Reisegep.
50 Pos.
u.a. „4 Arbeitshosen selbst angef.“, „11
Blusen selbst angef.“, „4 Winterkleider selbstangef.“, 3 Koffer
Der erste Transport startete von Wien am 10. Dezember, knapp
zwei Stunden bevor Eichmanns Frist abgelaufen war. In Köln
machte der Transport Halt, um weitere Kinder aufzunehmen.335
333
Rosa Rachel Schwarz: Zwei Jahre Fürsorge der Kultusgemeinde Wien unter
Hitler, DÖW Signatur 2737 aus dem Archiv YAD VASHEN, Tel Aviv, Mai 1944,
S. 4
334
Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akte: Pr. Br. Rep. 36A,
Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg /2278/
335
Barry Turner, S. 61. Anmerkung: Barry Turner schreibt, dass der Transport
am 11. Dezember startete. In dem Archiv YAD VASHEM jedoch steht zu dem
ersten Kindertransport, der von Wien aus ging, dass er bereits am 10.
112
In einem Brief an den SS-Obersturmbannführer Rajakowitsch
schreibt Frau Wijsmuller-Meijer am 26. August 1941: „Als Neutrale
wurde ich im November 1938 für diese Komitee nach Hamburg
geschickt um gemeinsam mit dem holländischen Konsul dort über
die Möglichkeit der Auswanderung deutscher Kinder Bericht zu
erstatten. Am 5.12.38 habe ich in Wien Herrn Eichmann (jetzt
Sturmbannführer in Berlin) und Herrn Friedmann die technische
Seite von Kindertransporten über Holland nach London mit der
Eisenbahn – und anderen Behörden geregelt, und am 10.12.38 den
ersten Transport von 600 Kindern von Wien bis nach London
begleitet. Am 22.8.39 habe ich die Grenze Bentheim in dieser
Eigenschaft zum fünfzigsten Male passiert.“336
7.3. Vorbereitungen in England
Während die Kindertransporte in Berlin, Wien und an der
holländischen Grenze schon im vollen Gange war, wurden in
London noch Überlegungen zum gelungenen Abschluss der Reise
unternommen. Vorerst musste jedoch der bestehende Konflikt
zwischen dem neu gegründeten „Movement for the Care of
Children from Germany“ und „Inter-Aid“ bereinigt werden: Die
Zusammenarbeit beider Organisationen hätte nur Vorteile gebracht,
doch „Inter-Aid“ hatte Bedenken bei der „jüdischen Übernahme
einer
nichtkonfessionellen
Organisation“.337
Nach
langen
Diskussionen einigte man sich schließlich auf eine Zusammenarbeit
und den Namen, „The World Movement for the Rescue of Children
from Germany/British Inter-Aid Committee“. Auf Grund des langen
Namens änderte man ihn letztendlich im März
Dezember 1938 Wien verließ, an dem Tag, als Eichmanns Frist ablief.
336
Brief von Geertruida Wijsmuller-Meijer an den SS-Oberstrumbannführer im
Sicherheitsdienst Den Haag, Herrn Rajakowitsch aus Amsterdam, den 26.
August 1941. Dokument: Archiv in Amsterdam: Nederlands Instituut For Oorlogs
Dokumentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam
113
337
Barry Turner, S. 64
114
1939 in „Refugee Children´s Movement“ (RCM).338 „Das RCM war
von nun an verantwortlich für alle Kinder, die unter seiner Ägide
nach England gekommen waren.“339Am 29. November bezog das
RCM 69 Büroräume in der Great Russel Street. Hier stand
genügend Raum für die Bewältigung der zu erwartenden großen
Menge von Korrespondenz zur Verfügung. Angesichts der großen
Flut von Briefen, die täglich eintrafen, war es schwer für die
Beamten eine Entscheidung zu treffen, welches Kind ausgewählt
werden sollte. Aus diesem Grund einigte man sich darauf, die
Organisationsleitung vor Ort (also in Berlin oder Wien) die Auswahl
treffen
lassen.340Um
zu
die
Einreisegenehmigung
vom
Innenministerium zu erhalten, wurden dem RCM Namenslisten mit
Fotos
und
Gesundheitsattesten
zur
Weiterleitung
an
das
Innenministerium eingereicht. Doch das lief nicht immer ohne
Probleme ab: man musste mit der Unberechenbarkeit der
europäischen Luftpost, dem Drang der deutschen Polizei, in letzter
Minute doch noch Änderungen vorzunehmen und mit dem Zaudern
der Eltern im Hinblick auf die bevorstehende Trennung rechnen.
Dies führte oft zu Verzögerungen und Fehler waren daher
unvermeidbar.341Hinzu kam noch, dass die Ausländerabteilungen,
die für die Kindertransporte zuständig waren, hoffnungslos
unterbesetzt waren. Bis Ende 1938 blieben ca. 10.000 Anträge
unerledigt. Diejenigen, die den Rückstand aufarbeiten sollten,
waren größtenteils damit beschäftigt, Anrufe entgegenzunehmen,
bei denen um sofortige Rettung gebeten wurde. Beschwerden über
den „Amtsschimmel“ häuften sich. Das Außenministerium schob die
Schuld der Verzögerung auf Deutschland. Doch auch das große
Durcheinander
der
Flüchtlingsorganisationen
und
die
Überforderung des Personals trugen ihre Teilschuld.342
338
Ebd.
Rebekka Göpfert, S. 82
340
Barry Turner, S. 65
341
Ebd.
342
Ebd., S. 66
339
115
7.3.1.
Mithilfe der britischen Flüchtlingsorganisationen
bei den Kindertransporten
Neben dem RCM gab es weitere Flüchtlingsorganisationen, die sich
um
die
Kinder
aus
Deutschland
kümmerten.
Die
größte
Organisation war die „Jugend-Aliyah“, welche die Kinder auf ein
weiteres Leben in Palästina vorbereiteten. Ferner gab es das
„Jewish Refugees Committee“, den „B´nai B´rith Council for
Refugee Children“ und für Kinder christlichen Glaubens, die nach
den Rassegesetzen der Nazis ebenfalls zu den Juden gezählt
wurden, die „Society of Friends“ (die Quäker), das „Catholic
Children´s Sub-Committee“, das „Church of England Committee“
und das „Riversmead Methodist Committee“, um hier nur einige
Flüchtlingsorganisationen zu nennen.343
Wegen dieser zahlreichen Organisationen war die Verwaltung der
Kindertransporte völlig unüberschaubar geworden. In einer jährlich
erscheinenden Auflistung des „Jewish Refugees Committee“ über
die Flüchtlingsorganisationen, waren im Juli 1943 30 verschiedene
Organisationen aufgeführt. Aus diesem Grund wurde im Mai 1938
das „Co-ordinating Committee“ gegründet. Zu seinen Aufgaben
zählten u.a. auch die Kommunikation zwischen dem Home Office
und den Flüchtlingsorganisationen, die für die Kindertransporte
zuständig
waren.344
Des
Weiteren
war
das
„Co-ordinating
Committee“ dafür verantwortlich, Interessenskonflikte zwischen den
verschiedenen Flüchtlingsorganisationen zu lösen, um so einen
Meinungsaustausch zu ermöglichen.345
Im
Februar
1939
wurden
endlich
sämtliche
Flüchtlingsorganisationen unter ein Dach gebracht. Die britische
Regierung stellte dem „Jewish Refugees Committee“ ein Haus in
343
Rebekka Göpfert, S. 83
Rebekka Göpfert, S. 84 (R.G. zitiert Bloomsbury House: The care of German
and Austrian refugees, London 1942 und 1943)
344
116
der Bloomsbury Street zur Verfügung. Dieses sogenannte
„Bloomsbury House“, entwickelte sich zur zentralen Anlaufstelle für
alle Flüchtlinge, die aus Europa nach England kamen.346
7.4. Das „Refugee Children’s Movement“ (RCM)
7.4.1.Aufgabenbereiche des RCM
Das
RCM
war
für
sämtliche
Vorgänge,
die
mit
den
Kindertransporten zusammenhingen verantwortlich. Dazu zählten
die Prüfung der Anträge, die Ausstellung der Permit-Nummern,
die Organisation der Reise, die erste Aufnahme der Kinder in
England, die Auswahl der Pflegeeltern oder der Heime, sowie die
Finanzierung der Kindertransporte. Um die Arbeit bewältigen zu
können, wurde das RCM in acht Abteilungen aufgegliedert: 347

Das „General Departement“ fungierte als Anlaufstelle für die
alle Departements und beschäftigte sich mit komplizierten
Beschwerden.Das „Guarantee Departement“ war für die Kinder
zuständig, die bereits einen Sponsor gefunden hatten. Sie
zählten zu den „garantierten Kindern“.

Das „German Departement“ hielt Kontakt (solange dies noch
möglich war) mit den zuständigen Ansprechpartnern in
Deutschland („Reichsvertretung der Juden in Deutschland“,
„Israelitische Kultusgemeinde in Wien“, den Quäkern und
anderen
Institutionen,
die
mit
den
Kindertransporten
beschäftigt waren). Darüber hinaus war es zuständig für alle
„nicht-garantierten Kinder“. Zu den „nicht-garantierten Kindern“
zählten diejenigen Kinder, für die von Deutschland aus kein
Sponsor gefunden wurde und somit das RCM die Garantie für
den Unterhalt des Kindes übernehmen musste.348
345
Barry Turner, S. 91
Rebekka Göpfert, S. 85
347
Ebd., S. 86
348
Ebd., S. 90
346
117

Das „Hospitality Departement“ kümmerte sich um die Unter-
118
bringung der „nicht-garantierten Kinder“, da „garantierte Kinder“
in der Regel bereits ein Heim gefunden hatten.

Das „After Care Departement“ überprüfte die Unterkünfte der
„garantierten Kinder“, die folglich nicht vom RCM, sondern
bereits von Deutschland aus ausgesucht wurden. Mit dem
Kriegsausbruch wurde die Arbeit dieses Departements in den
Provinzen Englands fast unmöglich und so konzentrierte man
sich auch auf die Unterkünfte der „nicht-garantierten Kinder
und
verteilte
die
Arbeit
auf
die
zuständigen
lokalen
Subkomitees.

Das „Camps and Hostels Departement“ war für die eigens
errichteten Heime in ganz England zuständig. Diese Arbeit
wurde ebenfalls nach Kriegsausbruch von den lokalen
Subkomitees übernommen.

Das „Transport Departement“ organisierte sämtliche Reisen
innerhalb Englands. Dazu zählten neben den Reisen vom
Ankunftsort zu den Gastfamilien bzw. Heimen auch in den
seltensten Fällen Ferienfahrten.

Das
„Finance
Departement“
betreute
sämtliche
Geldangelegenheiten des RCM.
7.4.2. Die Subkomitees
Durch die weite Verstreuung der Kinder über ganz England,
errichtete das RCM die „Local Sub-Committees“. Die Aufgabe der
„Committees“ bestand darin, den Kontakt mit den Kindern im
ganzen Land aufrecht zu erhalten. Jedes Kind, das privat
untergebracht war, sollte mindestens zweimal pro Jahr besucht
werden.
Die
Beobachtungen,
die
aus
diesen
Besuchen
entstanden, wurden in dem so genannten „Welfare Report“
festgehalten. Dieser wurde dem „After-Care Departement“ in
London zugeschickt, das dann gegebenenfalls erforderliche
119
Schritte einleiten konnte. Die Arbeit der Subkomitees nahm im
Laufe der Zeit immer Platz ein.349
Anfangs waren die Subkomitees auf Initiative von kirchlichen und
jüdischen Vereinen, unabhängig von der Londoner Zentrale des
RCM, gegründet worden. Ihr Ziel war es anfangs, Spendengelder
zu sammeln und Unterkünfte für die Kinder zu organisieren. Daher
funktionierte die sinnvolle und effektive Zusammenarbeit mit dem
RCM nicht auf Anhieb. Die Koordination der Organisationen nahm
einige Zeit in Anspruch.350
Mit der Zeit verlagerte sich das Aufgabenfeld der Subkomitees:
Aufgrund der Tatsache, dass immer mehr Kinder ins Land kamen,
musste man sich nun um die langfristige Pflege und Fürsorge der
Kinder kümmern. Regelmäßige Besuche in den Gastfamilien
waren vonnöten. Durch den Kriegsausbruch wurde die Arbeit der
Subkomitees allerdings erschwert: Die Kommunikation zwischen
den Provinzen und London brach immer wieder zusammen.
Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, die Kinder zu erreichen,
da die öffentlichen Verkehrsmittel nur noch eingeschränkt zur
Verfügung
standen.
Darüber
hinaus
wurden
die
Kinder
zunehmend im Hinblick auf die bevorstehenden Luftangriffe von
der Stadt aufs Land evakuiert.351
Auf
Grund
der
weit
verstreuten
und
der
erschwerten
Kommunikation, beschloss das RCM zwölf „Regional Committees“
einzurichten, die ihrerseits für die „Local Sub-Committees“ die
Verantwortung übernehmen sollten. Die „Regional Committees“
verteilten sich folgendermaßen (in den Klammern steht die
dazugehörige
Anzahl
der
untergeordneten
„Local
Sub-
Committees“352: Stadt London (11 „Local Sub-Committees“),
Leeds (10), Nottingham (13), Cambridge (12), Kreis London (11),
Oxford (20), Gloucester (23), Cardiff (4), Birmingham (18),
349
Ebd., S. 87
Rebekka Göpfert, S. 88 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 10)
351
Rebekka Göpfert, S. 88
352
Rebekka Göpfert, S. 89 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 11)
350
120
Manchester (14), Edinburgh (6) und Turnbridge Wells (21). Die
Anzahl der „Local Sub-Committees“ entspricht in etwa der
zahlenmäßigen Verteilung der Kinder im Land.353
Jedes der „Regional Committees“ verfügte über die nötigen
Vollmachten,
um
eigenständige Entscheidungen treffen zu
können, falls die Kommunikation mit der Londoner Zentrale
unterbrochen war. Aus diesem Grund kamen auch die Unterlagen
jedes Kindes, die vorher im „After-Care Departement“ verwaltet
wurden in die einzelnen „Regional Committees“. Durch die
Verlagerung
der
Aufgabenbereiche,
nahm
das
„After-Care
Departement“ nun eine neue Funktion ein. Es fungierte als
Beratungsstelle für die einzelnen „Regional Committees“ und trat
vor allem dann in Erscheinung, wenn ein Vermittler zwischen
verschiedenen „Regional Committees“ vonnöten wurde.354
7.4.3. Personalprobleme
In Anbetracht der Größe des RCM ergaben sich aber auch
Probleme für die zu erledigende Arbeit in Hinsicht auf das
Personal: Die meisten ehrenamtlichen Mitarbeiter verfügten über
zu wenig Erfahrung. Darüber hinaus fehlte eine starke Leitung:
„Es hätte besser sein können. Dass dem nicht so war, lag meiner
Meinung nach an den inkompetenten Verantwortlichen, die für
ihre Aufgabe nicht ausgebildet waren. Die Kinder machten
einfach, was sie wollten.“355
Die Hinzuziehung der ehrenamtlichen Mitarbeiterin Lola HahnWarburg,
eine
Hamburger
Bankierstochter,
hatte
eine
ausgleichende Wirkung auf die Flüchtlingsorganisation. Sie und
ihr Mann waren im September 1938 nach England gekommen
353
Rebekka Göpfert, S. 89
Ebd.
355
Harry Katz arbeitete mehrere Jahre in einem Wohnheim, in dem „nichtgarantierte Kinder unterkamen. In: Barry Turner, S. 171
354
121
und gehörten mit zu der Delegation, die auf die Kindertransporte
gedrängt
hatte.
Im
RCM
übernahm
sie
die
Rolle
der
Ansprechpartnerin für die Kinder, die Probleme mit ihren
Pflegeeltern, Lehrern etc. hatten. Das war keine leichte Aufgabe,
da mindestens eins von zehn Kindern als Folge des Erlebten,
einen psychischen oder physischen Schaden davontrugen.356
Die zweite fähige ehrenamtliche Mitarbeiterin, die dem RCM den
Rücken stärkte, war Elaine Blond, die jüngste Tochter von Michael
Marks, dem Gründer des Marks & Spencer-Konzerns.357 Anfangs
engagierte sie sich als Spendensammlerin, später wurde sie
Schatzmeisterin des RCM. Auf Grund der ständig steigenden
Kosten für die Kindertransporte wurde sie zur Sprecherin einer
Initiative
zur
Beantragung
von
Regierungsgeldern.
Die
Flüchtlingsorganisationen sollten sich jedoch selber finanzieren.
Ihnen
wurde
immer
wieder
die
unwiderlegbare
Garantie
entgegengehalten, die Otto Schiff der britischen Regierung
während der Konferenz von Evian gab, dass kein Flüchtling
jemals finanziell der Öffentlichkeit oder der Regierung zur Last
fallen würde.358
7.4.4. Kosten der Kindertransporte
Die Gelder, die das RCM für die Kindertransporte aufbringen
musste, wurden im Wesentlichen für zwei Bereiche benötigt. Zum
einen für die Kinder selber, also für deren Unterhalt, Verpflegung,
Kleidung etc. (dies galt vor allem für die „nicht-garantierten
Kinder“), zum anderen mussten die laufenden Kosten des RCM
ebenfalls gedeckt werden.
7.4.4.1. Kosten für die Kinder
356
Barry Turner, S. 67
Ebd.
358
Ebd., S. 68
357
122
Die Kosten für die „nicht-garantierten Kinder“ setzten sich dabei
wie folgt zusammen: 1942 musste das RCM für etwa 1.000 Kinder
aufkommen. Dabei betrug die wöchentliche Rate für ein Kind im
Durchschnitt 17 Schilling, wenn es in einer Familie lebte und ca.
25 Schilling, wenn das Kind in einem Heim untergekommen war.
Diese Zahl ergab sich aus den Kosten, die man für ein englisches
Waisenkind berechnete.
Dazu kamen noch Kosten für Kleidung, die vom RCM sowohl für
„garantierte Kinder“, als auch für „nicht-garantierte Kinder“
übernommen wurden. Diesen Betrag legte man auf ca. einen
Schilling pro Kind und Woche fest. Die große britische
Kaufhauskette Marks & Spencer unterstützte den RCM, indem sie
besonders günstige Konditionen für den Kauf von Kleidern anbot.
Hinzu kamen Kosten für die Kinder, die im Zusammenhang mit
dem Kriegsausbruch evakuiert werden mussten oder interniert
wurden.
Darüber hinaus wurden die Kinder, die bereits arbeiteten oder
einen Ausbildungsplatz gefunden hatten und deren Lohn dennoch
nicht für den Lebensunterhalt ausreichte, mit einem variablen
Betrag von bis zu 24 Schilling in der Woche unterstützt.
Außerdem gewährleistete das RCM eine religiöse Erziehung der
Kinder, wobei sich die Kosten für diese religiöse Erziehung 1942
auf geschätzte 4.000 Pfund beliefen. Krankenversicherung und
medizinische
Behandlung
der
„nicht-garantierten
Kinder“
übernahm das RCM ebenfalls, wobei aus Deutschland geflohene
Ärzte oft kostenlose Behandlungen für die Kinder anboten.359
Ende März 1941 wurden die Kosten, die auf die Kinder entfielen
auf 45.000 Pfund für das vorangegangene Jahr geschätzt.360
7.4.4.2. Finanzierung des RCM
Obwohl die meisten Mitarbeiter des RCM ehrenamtlich, also
359
Die vorangegangenen Informationen sind entnommen, aus: Rebekka
Göpfert, S. 98f
360
Ebd., S. 99
123
unentgeltlich
arbeiteten,
fielen
bei
der
verwaltenden
und
organisatorischen Arbeit unvermeidbare Kosten an: So wurde für
jedes Kind eine eigene Akte angelegt, in der die wichtigsten Daten
zur Person festgehalten wurden. Durch Adressenänderungen,
Todesfälle in der Familie und die regelmäßigen Besuche durch die
„Regional Committees“, mussten die Akten ständig auf den
neuesten Stand gebracht werden. Dazu kam die täglich
anfallende Korrespondenz, die vom Home Office auf ca. 250 einund ausgehende Briefe und 60-70 Gespräche pro Tag geschätzt
wurde
und
die
gesamte
Verwaltungsarbeit,
die
in
den
verschiedenen „Sub-Committees“ anfiel.
1942
beschäftigte
das
RCM
43
bezahlte
Personen
im
„Bloomsbury House“ und 18 bezahlte Arbeitskräfte in den
„Regional Committees“. Die Gehaltsleistungen für das Jahr 1941
wurden auf mehr als 18.000 Pfund geschätzt. 361
Der finanzielle Aufwand des RCM nahm etwa 40-45% der
Gesamtkosten ein, folglich lagen die Kosten für den Unterhalt der
Kinder bei 55-60%. Im Jahr 1942 hieß das konkret: 34.813 Pfund
entfielen auf den Unterhalt der Kinder, die Verwaltungskosten
betrugen 17.459 Pfund. Hinzu kamen 19.723 Pfund für die
medizinische Versorgung und die religiöse Erziehung, so dass
sich die Kosten für 1942 auf 71.995 Pfund beliefen. In den
vorangegangenen Jahren betrug die Finanzierung 63.270 Pfund
(1938/39) und 69.751 Pfund (1940).362 Diese Kostensteigerung
führte im Laufe der Zeit zu finanziellen Problemen des RCM.
7.4.5. Finanzielle Probleme
Bis zum Jahr 1942 konnten die Kindertransporte und die damit
verbundenen Kosten durch Spendengelder finanziert werden. Der
361
Ebd.
Rebekka Göpfert, S. 99 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 11 und S.
17 und Second Annual Report, S. 9)
362
124
große Zuwachs an Spenden war vor allen Dingen den groß
angelegten Pressekampagnen zu verdanken, in denen Lord
Samuel und Lord Selborne immer wieder dazu aufriefen, Geld zu
spenden oder sogar ein Kind aufzunehmen. 363 So startete Lord
Samuel beispielsweise am 15. November 1938 eine groß
angelegte Werbekampagne, während der er einen Radioaufruf
startete mit der Bitte, den zu erwartenden Flüchtlingskindern ein
Heim zu geben. Das Ergebnis dieses Aufrufs war, dass
mindestens
500
Angebote
in
Betracht
gezogen
werden
konnten.364 Des Weiteren erschienen in den großen Zeitungen
Englands wie z.B. der „Times“, dem „Daily Telegraph“, „News
Cronicle“, „Daily Herald“ und dem „Manchester Guardian“ Artikel,
die über die bevorstehenden Kindertransporte berichteten und die
Not nach der Suche für Unterkünfte für die Kinder.365
Am 8. Dezember 1938 wurde der „Lord-Baldwin-Fund“ eröffnet.
Da sich die Spendenaufrufe im Radio häuften, schlug die BBC
vor, „einen großen Fonds zu gründen, der mit einem Appell für
sich werben könnte. Aus dieser Idee entstand der ››Lord Baldwin
Fund for Refugees‹‹.“366 Diesen Radioaufruf, der zu Gunsten der
››Opfer
der
Unmenschlichkeit
des
Menschen
gegen
den
Menschen‹‹ gehalten wurde, presste man auf Schallplatten und
verkaufte diese für acht Schilling das Stück. Der Erlös ging in den
„Lord-Baldwin-Fund“.367 Bis dahin wurden bereits 357.000 Pfund
gespendet. Die Namen der Spender wurden in allen großen
Zeitungen aufgeführt. Die Spenden, die durch den „Lord-BaldwinFund“ zusammenkamen beliefen sich auf 500.000 Pfund. Davon
kamen 255.000 Pfund dem RCM zugute. Hinzu kamen weitere
Zahlungen vom „Council for German Jewry“, Spenden aus den
Sammlungen zum britischen Muttertag, sowie direkte Spenden an
363
Ebd., S. 100
Barry Turner, S. 68
365
Rebekka Göpfert, S. 100, siehe Fußnote 114
366
Ebd., siehe Fußnote 115
367
Barry Turner, S. 90
364
125
den RCM.368
Im Herbst 1941 stellte sich heraus, dass die meisten Kinder, die
eigentlich nur vorübergehend in England bleiben sollten, auf
Grund des Kriegsausbruchs doch wohl für längere Zeit im Land
bleiben würden. Darüber hinaus waren die Ressourcen des „LordBaldwin-Funds“ weitestgehend erschöpft und für viele Kinder
waren die Garantien abgebrochen, was zur Folge hatte, dass sie
nun ebenfalls vom RCM unterhalten werden mussten.369
Das RCM sah nun keinen anderen Ausweg mehr und bat das
Home Office um Unterstützung. Hätte das RCM seine Arbeit
aufgeben müssen, hätte die britische Regierung die komplette
Finanzierung
der
Kindertransporte
oder
vielmehr
die
weiterlaufenden Kosten übernehmen müssen. Aus diesem Grund
zeigte sich das Home Office äußerst kooperativ. Ein unabhängiger
Gutachter wurde beauftragt, einen Bericht über das RCM
anzufertigen, in dem über die Aufgaben und anfallenden Kosten
Aufschluss gegeben werden sollte.370
In diesem Bericht waren gleichzeitig Verbesserungsvorschläge
enthalten. So wurden beispielsweise kleinere Unterabteilungen
mit dem „Jewish Refugees Committee“ zusammengelegt, um auf
diese Weise verwaltungstechnische Vorgänge einzusparen. Die
beiden
Punkte,
auf
denen
das
Hauptaugenmerk
dieser
Einsparungen lagen, wurden jedoch nicht vom RCM durchgeführt:
Zum einen sollte die Betreuung der Kinder nach Erreichen des
einundzwanzigsten Lebensjahrs enden und zum anderen sollten
die halbjährlichen Besuche der Kinder eingeschränkt werden. Man
war lediglich dazu bereit, kleinere Einschränkungen bei der
Unterhaltung der über 21-jährigen zu akzeptieren.371
Ab dem 1. Oktober 1942 trat die staatliche Unterstützung in Kraft:
368
Rebekka Göpfert, S. 101
Rebekka Göpfert, S. 102 (R.G. zitiert HO Report: S.H.G. Hughes: Refugee
Children’s Administration, 14.1.1942, S. 5)
370
Rebekka Göpfert, S. 102
371
Rebekka Göpfert, S. 103 (R.G. zitiert RCM: Comments on the Specific
Proposals contianed in MR. Hughe’s Report, with the Movement’s recommenda369
126
Für jedes „nicht-garantierte Kind“, das bei einer Pflegefamilie
lebte, wurden 18 Schilling pro Woche gezahlt, für Kinder die in
Heimen lebten, sah die Unterstützung ähnlich aus. Einen nach
oben offenen Spielraum gab es für schwierigere Fälle. Jedem
Kind wurden außerdem ein Schilling pro Woche für Kleidung
gezahlt. Die Zuschüsse für Kinder, die zwar schon arbeiteten,
deren Lohn aber nicht ausreichte, wurden vom staatlichen
"Unemployement Assistance Board“ getragen.372
Die Kosten, die direkt für das RCM anfielen, wurden zu 75% vom
Staat genehmigt, wobei die Gelder nicht direkt gewährt wurden,
sondern zunächst an das „Central Committee for Refugees“
gezahlt wurden, dessen Aufgabe es war, die Tätigkeit des RCM
im „Bloomsbury House“ zu überwachen.373
7.5. Vorbereitungen für die Abreise
„Am 5. Januar verließ ich Deutschland mit einem Kindertransport.
Noch immer spüre ich die gedrückte Stimmung, die im Abteil
herrschte, bis wir die Grenze zu Holland hinter uns hatten.“
Kurt Heinz Heilbrunn374
Wenn die Formalitäten von den Flüchtlingsorganisationen erledigt
waren, wurden die Eltern vom Abreisetermin in Kenntnis gesetzt.
Dies geschah oft sehr kurzfristig, in der Regel 2-14 Tage vor der
Abreise. Bei Kindern, die schon von Deutschland aus einen
Sponsor gefunden hatten (meist Verwandte oder Bekannte der
tions (Public Record Office HO 213/302 XC 09542))
372
Rebekka Göpfert, S. 103
373
Ebd.
374
Rebekka Göpfert(Hrsg.): Ich kam allein. Die Rettung von zehntausend
Kindern nach England 1938/39, Deutscher Taschenbuch Verlag, München
1997, S. 52 Anmerkung: Die Eltern von Kurt Heinz Helbronn besaßen ein
bekanntes Modewarengeschäft in Goslar. Obwohl der Vater Vorsteher der
Synagoge war, gelang Kurt Heinz die Flücht nach England mit der Hilfe der
Quäker und nicht der jüdischen Gemeinde (siehe Hans Donald Cramer).
127
Eltern), konnte der Abreisetermin genauer festgesetzt werden.
Trotzdem konnten auch diese Kinder erst nach Vergabe der
Permitnummern abreisen.375
Viele Eltern informierten ihre Kinder erst kurz vor der Abreise und
der damit verbundenen Trennung von den Eltern, da sie erst
Gewissheit haben wollten, dass ihre Kinder auf jeden Fall mit dem
Transport nach England kommen werden.
„››Würdest
du
gern
nach
Holland
oder
England
gehen,
Plappermäulchen?‹‹ Ich starrte ihn an: ››Meinst du das wirklich?
Kommt Max auch mit? Warum gehen wir weg? Kommen du und
Mami auch?‹‹
Mein Vater sah mich ernst an. ››Du bist schon alt genug, um alles
zu verstehen. Es ist eine Menge geschehen, während du im
Krankenhaus warst. Für die Juden hat sich vieles geändert. Es ist
sicherer für Max und dich, in ein anderes Land zu gehen. Mami
und ich kommen später nach.‹‹
[...]
Am folgenden Donnerstag fuhren wir nach England ab.“
Celia Lee376
Gerade für die jüngeren Kinder kam diese Nachricht oft
überraschend.377 Doch vielleicht informierten die Eltern ihre Kinder
erst so kurzfristig, da sie die Trauer über die bevorstehende
Trennung nicht zeigen wollten, oder Angst vor den Reaktionen
ihrer Kinder hatten, wenn diese von der Auswanderung in ein
fremdes Land erfuhren:
„Meine Eltern gaben sich den Anschein, als ob sie die Sache auf
die leichte Schulter nähmen. Sie sagten, es sei nur eine Frage der
Zeit, bis auch sie nach England ausreisen dürften, wir würden uns
also bald wieder sehen – in Wahrheit müssen sie gewusst haben,
dass die Wahrscheinlichkeit eines Wiedersehens äußerst gering
war.“
375
Rebekka Göpfert, S. 75
Barry Turner, S. 56f
377
Rebekka Göpfert, S. 76
376
128
Paul Cohn378
Die letzten Tage vor der Abreise wurden meist mit den
Besorgungen für die Reise verbracht. Überlegungen, was man
einpacken sollte und wie Gepäck reduziert werden konnte, wurden
angestellt.379
Jedes
Handgepäckstück
Kind
und
durfte
zehn
nur
einen
Reichsmark
Koffer,
ein
mitnehmen.
Die
Kultusgemeinde ihn Wien gab eine Liste heraus, in der den Eltern
empfohlen
wurde,
Schreibpapier,
zusätzlich
Postkarten,
zur Kleidung eventuell auch
adressierte
Briefumschläge,
ein
Wörterbuch und für religiöse Kinder Tefillah und Gebetsbücher,
einzupacken.380
Da die Kleidung oberste Priorität hatte, musste überlegt werden,
inwieweit Spielzeug, Fotos oder sonstige Erinnerungsstück
mitgenommen werden sollten.381
Die Kleidung war wichtig, da man oft nicht wusste, wie die Kinder
untergebracht wurden und wie es dann in England mit der
Versorgung
von
Bekleidung
aussah.
Aus
diesem
Grund
versuchten die Eltern, denen es möglich war ihren Kindern eine
völlig neue Garderobe mitzugeben, was dann oft dazu führte,
dass die Kinder sehr gut ausgestattet in England ankamen. Da
das aber nicht in das Bild eines verfolgten Flüchtlings passte,
wurden einige Stimmen in der Öffentlichkeit und bei den
Pflegeeltern
laut,
die
sich
über
den
Missbrauch
der
Spendengelder beklagten, da es den Kindern wohl offensichtlich
nicht so schlecht gehen könne.382
Um
die
Ausfuhrbeschränkung
von
Wertgegenständen
zu
umgehen, versuchten Eltern, ihren Kindern heimlich ein paar
Wertgegenstände wie Schmuck oder sogar Musikinstrumente, die
378
Rebekka Göpfert (Hrsg.): Ich kam allein, S. 108
Barry Turner, S. 54
380
Rebekka Göpfert, S. 76f (R.G. zitiert Schonfeld Papers, Ms 183/53/2/folder 1
(Parkes Libary))
381
Rebekka Göpfert, S. 77
382
Rebekka Göpfert, S. 77 (R.G. zitiert Veronica Gillespie: My Bloomsbury
House Days, in: The Spectator, S. 16)
379
129
im Laufe der Zeit an Wert gewinnen würden, mitzugeben. 383
„Mama war damit beschäftigt, meine Sachen in Kisten und Koffer
zu packen. Ein SA-Mann in brauner Nazi-Uniform stand daneben.
383
Barry Turner, S. 54
130
Ich wusste nicht, warum er zusehen musste, denn er war ihr bloß
im Weg. Als mein Cello an der Reihe war, wollte er wissen, ob das
etwas
Wertvolles
sei.
Mama
wusste,
Wertgegenstände mitnehmen durfte.
dass
ich
keine
Deshalb lachte sie und
meinte: „Das alte Ding?“ Glücklicherweise wusste er nicht, dass
Musikinstrumente manchmal um so wertvoller sind, je älter sie
sind. Das Cello ging also mit auf die Reise...“
Olga Levi Drucker384
Doch die meisten hielten sich an die Vorschriften. Wurde man
nämlich erwischt, konnte das unvorstellbare Folgen haben. Es war
sogar möglich, dass die Ausreisegenehmigung für alle Kinder, die
auf dem Transport waren, zurückgezogen wurde.385
7.6. Abreise
Am
Tag
der
Abreise
wurden
zum
Teil
noch
letzte
Verwandtschaftsbesuche unternommen. Ansonsten verlief dieser
Tag bei den meisten Kindern ruhig. Viele beschreiben die
gedrückte Stimmung, die in der Familie herrschte. Auch die Kinder
waren bedrückt, da sie Angst vor der ungewissen Zukunft hatten,
die sie ohne die Eltern verbringen würden. Die Kinder die alt
genug waren, um die politische Situation zu verstehen, ahnten,
dass sie ihre Eltern wahrscheinlich nie wieder sehen werden.386
Es gab aber auch Kinder, die nicht verstanden, warum ihre Eltern
so bedrückt waren. Schließlich freuten sie sich auf die Reise, auf
das neue Land und die Abenteuer, die sie dort erwarteten.
Außerdem versprachen die Eltern teilweise ihren Kindern, dass
sie bald nachkommen werden.
„Bald kam der Abschied. In den Tagen vorher weinten die Eltern
384
Olga Levi Drucker: Kindertransport. Allein auf der Flucht, Lamuv Verlag,
Göttingen 1995, S. 44
385
Barry Turner, S. 62
386
Rebekka Göpfert, S. 78
131
oft. Mir schien das sehr komisch, ich verstand es nicht. Ich freute
mich nämlich schon auf das Wegfahren. Es war ja nicht das erste
Mal, dass wir ohne Eltern wegfuhren. Wir waren schon einmal
allein in Ungarn gewesen, bei Verwandten am Plattensee. Das
waren herrliche Erinnerungen, vor allem an den Feigenbaum, der
direkt vor meinem Fenster war. Auch am Semmering waren wir
öfters übers Wochenende. Ich verstand daher nicht, warum es
jetzt so eine Aufregung geben sollte.“
Hedwig Wahle387
Zum vereinbarten Zeitpunkt trafen die Eltern mit ihren Kindern am
Treffpunkt ein. Dieser Treffpunkt war oft ein separater Warteraum
oder ein abgelegener Teil des Bahnhofs, um zu vermeiden, dass
die Öffentlichkeit die dramatischen Szenen bei der Veraschiedung
mitbekamen:
„Mutter konnte es nicht ertragen, zum Bahnhof mitzukommen. Ich
ging mit meinem Vater. Es gab eine furchtbare Szene, als die
Namen der Kinder aufgerufen wurden. Da war eine sehr
aufgeregte Frau, und als ihre Kinder nicht auf der Liste standen,
wurde sie hysterisch. Die Wachen schlugen sie mit Knüppeln und
stießen sie zu Boden. Dann wurden wir auf den Bahnsteig
gebracht. Ich hatte gerade noch Zeit, von meinem Vater Abschied
zu nehmen. Die Reise war furchtbar. Überall unterwegs hatten
sich Eltern eingefunden, um noch einen letzten Blick ihrer Kinder
zu erhaschen. Ich bin froh, dass meine Familie nicht dabei war.“
Vera Coppard388
Zum Teil mussten die Eltern davon abgehalten werden, ihren
Kindern nicht bis in den Zug zu folgen.
„Unser Abschied von der Mutter vollzog sich nicht einfach. Weil
sie wusste, dass wir sie verlassen wollten, klammerte sie sich an
uns. Vater musste uns von ihr losreißen.“
387
Hedwig Wahle: Mutter, Vater, Bruder, ich. Geschichte einer Familie, die den
Holocaust überlebte. Artikel in: Entschluß – Spiritualität, Praxis, Gemeinde. 46.
Jahrgang. Nr. 5/1991, S. 7
388
Barry Turner, S. 99f
132
Ya’acov Friedler389
Kinder, die ihre Väter zum ersten Mal weinen sahen, waren
entsetzt.
„Das Schwierigste für mich war der Abschied von meinen Eltern
am Westbahnhof. Das war so was Fürchterliches. Ich sah zum
ersten Mal meinen Vater weinen. Die Eltern durften uns nur zum
Bahnsteig bringen. Irgendwelche Leute, die für den Transport
verantwortlich waren, brachten uns zum Zug, einige Gleise
entfernt. Im letzten Augenblick des Abschieds sagte die Mama:
„Pass schön auf den Robertl auf, du bist alles, was er jetzt hat.“
Der Robert war ja nur achtdreiviertel Jahr alt, und ich war genau
13 Jahre alt.“
Renate Jeschauning-Rosner390
Doch auch viele Kinder wollten ihre Eltern nicht auf dem
Bahnsteig zurücklassen. Sie weinten oder versuchten den Zug
wieder zu verlassen.
Mit einem Transport kamen zwischen 30 und 600 Kinder aus
Deutschland heraus. Das Problem bestand allerdings darin, dass
es zu wenig Betreuer für die einzelnen Transporte gab. Es liegen
unterschiedliche Berichte vor, in denen man auf die Anzahl der
Betreuer stößt: Martha Wertheim berichtet von drei bis vier
Erwachsenen für etwa 120 Kinder,391 in einem Schreiben des
Foreign Office an die holländische Botschaft ist die Rede von acht
Begleitern für 200 Kinder392 und der erste Transport, der von Wien
ausging, zählte 23 Betreuer für 600 Kinder.393 Ein Problem stellten
daher auch die Säuglinge und Kleinkinder dar. Da es nicht
genügend erwachsene Betreuer gab, konnte es passieren, dass
389
Ya’cov Friedler, S. 67
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.): Erzählte
Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Band 3:
Jüdische Schicksale, Österreichischer Bundesverlag, Wien 1992, S. 349
391
Rebekka Göpfert, S. 80 (R.G. zitiert Hanno Loewy (Hrsg.): In mich ist die
große dunkle Ruhe gekommen. Martha Wertheimer, S. 8 (Brief vom 23.7.1939))
392
Rebekka Göpfert, S. 80 (R.G. zitiert Public Record Office (London) FO
371/22538 (W15742/104/98))
393
Rebekka Göpfert, S. 80 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish
Refugee Children, S. 85)
390
133
die Mütter ihre kleinen Kinder irgendwelchen älteren Kinder in die
Arme drückten, damit sie sich dann um die Kleinkinder
kümmerten.394
Die Züge hielten in mehreren Städten, um weitere Kinder
aufzunehmen. Meistens verlief die Fahrt sehr ruhig. Die Kinder
benahmen sich gut, teilweise weil sie Angst hatten, doch noch in
Deutschland bleiben zu müssen, manche waren auf die neue
Zukunft gespannt oder sie waren einfach traurig, da sie die Eltern
verlassen hatten.
„Als der Zug an jenem schicksalhaften Morgen im Januar 1939
seine Fahrt beschleunigte, stand ich am Fenster und warf einen
letzten Blick auf die Welt, die bald hinter mir liegen sollte. Ich sah
die immer kleiner werdende Gestalt meiner verwitweten Mutter,
die meinen kleinen Bruder an der Hand hielt. Wieder und wieder
taucht
diese
Szene
während
meines
Erwachsenenlebens
unwillkürlich vor mir auf. Aber ich war ja nicht die einzige, die von
dieser Erinnerung heimgesucht werden sollte. Stumm und in sich
gekehrt saßen die Kinder während der Fahrt auf ihren Sitzen.“
Paula Hill395
Auf einer Bahnreise durch Deutschland sahen die Fürsts:
„einen
Kindertransport,
ein
Abteil
voll
kleiner
Kinder
mit
Pappschildern um ihren Hals. Ihre Namen und die Namen und
Adressen ihrer Empfänger waren darauf deutlich geschrieben.
Das war ein zu Herzen gehender Anblick. Die Kinder, zu
menschlichen Päckchen reduziert, sahen schon wie Waisen
aus.“396
Fast alle Kinder sprechen von dem Gefühl der Erleichterung das
sie hatten, nachdem sie die Grenze nach Holland passierten. Zum
einen mussten sie nun nicht mehr die mitreisenden Wachmänner
fürchten.
394
Barry Turner, S. 98
Rebekka Göpfert (Hrsg.): Ich kam allein, S. 153
396
Desider Fürst and Lilian Fürst: Home Is Somwhere Else. Autobiography in
Two Voices (New York, State University of New York Press, 1994) S. 13, in:
Tony Kushner and Katharine Knox, S. 136
395
134
„Ich weiß noch, wie mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken
lief, wenn ein uniformierter Beamter mit seiner Hakenkreuz-Binde
an unserem Abteil vorbeikam.“
Ya’acov Friedler397
Diese konnten bei der Zollkontrolle die Kinder immer noch
aufhalten oder ihnen die Wertsachen wegnehmen, die ihnen ihre
Eltern heimlich mitgegeben haben.
„Ich sah deutsche Soldaten auf- und abmarschieren. Sie hatten
nichts mit uns zu tun; sie exerzierten nur. Aber es herrschte eine
ungeheure Erleichterung, als wir endlich in den holländischen
Bahnhof einfuhren.“
Kurt Weinberg398
Zum anderen wurden die Kinder sehr herzlich und freundlich in
Holland empfangen:
„Nach einer Weile konnten wir aussteigen. Wir strömten auf den
Bahnsteig, wo wir von holländischen Frauen erwartet wurden. Wir
bekamen heißen Kakao und Kekse. Auch die Frauen lächelten.“
Olga Levi Drucker399
Vereinzelt standen Frauen mit Geschenken und Spielsachen für
die Kinder an den Bahngleisen.400
397
Ya’cov Friedler, S. 68
Barry Turner, S. 63
399
Olga Levi Drucker, S. 50
400
Barry Turner, S. 64
398
135
8. Das neue Leben in England
8.1. Ankunft in England
Die Kindertransporte konnten drei verschiedene Häfen in England
anlaufen: London, Southampton und Harwich, wobei Letzterer am
häufigsten angesteuert wurde. Auf jedem Schiff gab es einen in
ein Büro umfunktionierten Raum, in dem die Kinder für den
Landgang registriert wurden. Sie wurden namentlich aufgerufen
und mussten ihr Schild auf dem die Permitnummer und ihr Name
stand, vorzeigen. Das vergleichbare Gegenstück wurde daraufhin
vom „Passport Control Officer“ abgestempelt und die Kinder
konnten von Bord gehen. An Land mussten sie erneut zur
Zollkontrolle. Die Zollbeamten gingen jedoch sehr freundlich und
umsichtig vor und kontrollierten nur selten das Gepäck. Wurden
dennoch Wertgegenstände gefunden, gaben die Kinder an, es
handele sich um ihren einzigen Besitz. Daraufhin wurden sie in
den meisten Fällen von der Zollgebühr befreit. Nach der
Zollabfertigung mussten sie noch, wie alle Einwanderer, ärztlich
untersucht werden und bekamen vom Arzt einen weiteren
Stempel auf ihre Permitkarte.401
Die
Kinder,
die
bei
Pflegeeltern
unterkamen
oder
von
Organisationen wie beispielsweise der „Youth Aliyah“ versorgt
wurden, fuhren, sobald die Formalitäten geklärt waren, direkt
weiter zu ihrem Zielort. Da die Gasteltern vorher informiert
wurden, wann und wo die Kinder ankommen sollten, wurden sie
entweder von ihnen selbst, oder anderen Personen die der
Gastfamilie nahe standen, abgeholt. Amy Zahl Gottlieb stellt
fest, dass schon bei
136
401
Rebekka Göpfert, S. 104
137
der Ankunft viele Kinder ein Trauma erlitten haben mussten, da
sie nun mit völlig fremden Menschen in eine ihnen unbekannte
Umgebung mit einer fremden Kultur, mitgenommen wurden und
sich nicht einmal mit ihnen verständigen konnten.402 Die „nichtgarantierten Kinder“ wurden mit einem Bus in ihre Aufnahmelager
gebracht, wo sie als Erstes eine richtige Mahlzeit bekamen, oft die
Erste, seit der Abreise in Deutschland.403
8.1.1. Aufnahmelager für die „nicht-garantierten Kinder“
Das wichtigste Aufnahmelager, in dem die „nicht-garantierten
Kinder“
vorübergehend
untergebracht
wurden,
bis
sie
weitervermittelt werden konnten, war das „Dovercourt Bay Holiday
Camp“, drei Kilometer von Harwich entfernt und mit einer direkten
Bahnverbindung
nach
London.404
„Dovercourt
Bay“
war
ursprünglich, wie der Name schon sagt, ein Feriencamp oder
Schullandheim für englische Schüler. Da dieses Schullandheim
aber nur zwischen Frühjahr und Herbst genutzt wurde, konnte das
im Winter leer stehende Lager gegen Miete den Kindern zur
Verfügung gestellt werden. Doch leider war „Dovercourt Bay“ nicht
mit
einer
Heizung
ausgestattet.
Das
führte
natürlich
zu
Problemen, da der Winter 1939/40 einer der kältesten seit langer
Zeit war.405 Die Kinder, die in kleinen Hütten zu sechst oder zu
acht untergebracht waren, wurden mit all ihren Kleidern und einer
Wärmflasche ins Bett gebracht. Amy Zahl Gottlieb hebt allerdings
den Vorteil heraus, dass die Kinder in diesen Aufnahmelagern
wenigstens nicht alleine waren. Den Kindern, die hier lebten, war
allen das gleiche Schicksal widerfahren: „[they] still had each
other with whom they could communicate and share the experi-
402
Amy Zahl Gottlieb, S. 116f
Rebekka Göpfert, S. 105
404
Barry Turner, S. 72f
405
Ebd., S. 69
403
138
ence, which made adjustment to the new setting a little less
traumatic.“406
Die orthodoxen Kinder in den Heimen mussten natürlich koscher
verpflegt werden. Aus diesem Grund beauftragte die Londoner
jüdische Gemeinde, einen Rabbi, der sich um die religiöse
Versorgung kümmern sollte. Auch die christlichen Kinder wurden
regelmäßig religiös betreut.407
Darüber
hinaus
wurden
einige
Hütten
in
Klassenräume
umfunktioniert, in denen die Kinder, die oft gar kein Englisch
konnten, in dieser Sprache unterrichtet wurden.408
Da aber allein im Dezember 1938 ca. 1.500 Kinder nach England
kamen und „Dovercourt Bay“ nur Platz für etwa 600 Kinder bot,
mussten weitere Aufnahmelager gefunden werden. Das „Parkfield
Hall Holiday Camp“ lag nur wenige Kilometer von „Dovercourt
Bay“ entfernt und konnte ab Mitte Dezember als weiteres
Aufnahmelager
dienen.
untergebracht.
Zu
Hier
wurden
„Parkfield
Hall“
die
älteren
gehörten
Kinder
mehrere
landwirtschaftlich genutzte Flächen und so bot der Besitzer an,
100 Jungen in seinem Betrieb aufzunehmen und auszubilden. 409
Wegen der großen Kälte musste „Parkfield Hall“ jedoch Ende
Dezember evakuiert werden. Die Kinder kamen vorübergehend in
Hotels und Schulen unter, die während der Weihnachtsfeiertage
leer standen. Da aber auch „Dovercourt Bay“ nur bis März den
Kindern zur Verfügung stand, musste das RCM andere Lager
finden. In einem Dorf namens Claydon fand man diese
Möglichkeit. Des Weiteren gab es in Westgate ein Heim, das
ausschließlich
orthodoxe
Jungen
aufnahm.
1942
wurde
„Dovercourt Bay“ in ein Kriegsgefangenenlager umfunktioniert und
nahm erst fünf Jahre später wieder Touristen auf. 410
406
Amy Zahl Gottlieb, S. 117f
Rebekka Göpfert, S. 105 (R.G. zitiert News Cronicle, 3. Dezember 1938)
408
Barry Turner, S. 79
409
Rebekka Göpfert, S. 106 (R.G. zitiert Manchester Guardian, 13. Dezember
1938)
410
Barry Turner, S. 88
407
139
Diese
Aufnahmelager
sollten
den
Kindern
aber
nur
vorübergehend Unterkunft gewähren, da sie so schnell wie
möglich bei Pflegefamilien unterkommen sollten.
8.2. Suche nach geeigneten Pflegeeltern
Anfangs war es so, dass die potentiellen Pflegeeltern an
bestimmten Tagen in die Aufnahmelager kamen und sich die
Kinder aussuchen konnten. Das hatte zur Folge, dass diese
ganze Prozedur einem „Viehmarkt“411 glich und am Ende die
weniger sympathischen, meist älteren Kinder übrig blieben:
„Manche
Familien
suchten
beispielsweise
ein
blondes,
blauäugiges Mädchen in einem bestimmten Alter, in der Hoffnung
damit eine Haushaltshilfe zu finden. Zum Glück war ich selbst
niemals in einer solchen Situation. Manchmal hatten Ehepaare
eine ziemlich klare Vorstellung von ihrem Wunschkind, und
natürlich ››gingen‹‹ hübsche Kinder besser als weniger attraktive.
Diejenigen mit einer emotional schwierigeren Geschichte waren
am schwersten unterzubringen. Ich finde, man sollte die Art und
Weise der Vermittlung nicht zu scharf kritisieren, da alles in großer
Eile und unter enormen Druck organisiert wurde.“
Leslie Bent412
Um das den Kindern zu ersparen, suchte das RCM die
Pflegeeltern schon im Vorfeld aus. Dabei wurden die Angaben der
Kinder mit denen der Pflegeeltern verglichen. Wert wurde auf
soziale Herkunft, Religiosität und Bildungsstand gelegt. Außerdem
versuchte
man
die
Wünsche
der
Pflegeeltern,
Geschlecht oder Alter anging, zu berücksichtigen.
was
das
413
Durch das vorherige Auswählen der Pflegeeltern, wollte man den
411
Interview mit Michael Handler, S. 16, in: Rebekka Göpfert, S. 107
Barry Turner, S. 83f
413
Rebekka Göpfert, S. 107
412
140
Kindern zum einen die Angst nehmen, als ungewollt bei der
direkten Auswahl im Aufnahmelager zurückzubleiben. Gleichzeitig
wollte man verhindern, dass Kinder wieder zurückgebracht
wurden, da sie nicht in die Familie passten.414
Entsprachen die potentiellen Pflegeeltern den Vorstellungen des
RCM, wurden Mitglieder des RCM zu den Bewerbern geschickt,
um die dortigen Verhältnisse zu überprüfen.415 Darüber hinaus
wurden die Motive kontrolliert, welche die Bewerber dazu
bewegte, Kinder bei sich aufzunehmen. Man wollte verhindern,
dass Familien ein Flüchtlingskind bei sich aufnahmen, um so ein
billige Haushaltshilfe zu bekommen. Doch leider konnte das nicht
immer verhindert werden:
„Sie sorgten leider nicht sehr gut für mich. Bei der Ankunft gaben
sie mir etwas Warmes zu trinken, und schon eine Stunde später
musste ich Wäsche für die ganze Familie bügeln, nachdem ich
doch gerade erst in England eingetroffen war. Ich durfte nicht aus
dem Haus; sie hatten Angst, ich würde ins „Bloomsbury House“
gehen. Sie waren sehr fromme Juden und sprachen jiddisch mit
mir, weil ich kein Englisch konnte. Ich dachte, ich müsste diese
ganze Arbeit als Gegenleistung für das tun, was ich sie kostete.“
Ursula Hutton416
Ferner war es wichtig, die Kinder in ihrer Religion weiterhin zu
unterstützen. Gleichzeitig achtete man darauf, die zukünftigen
Pflegeeltern von Auffälligkeiten im Verhalten der Kinder zu
informieren, damit die Pflegefamilie vorbereitet war.417
Da das RCM aber im Prinzip auf jeden möglichen Platz
angewiesen war, versuchten sie so viele Kinder wie möglich
unterzubringen. Die Bewertungsmaßstäbe des RCM waren daher
nicht sehr hoch angelegt. Gab es Probleme in einer Familie,
wobei es sich hier sowohl um Probleme der Kinder mit der
414
Ebd., S. 108
Ebd.
416
Barry Turner, S. 124
417
Rebekka Göpfert, S. 110f
415
141
Pflegefamilie,
als
auch
umgekehrt
handelt,
bestand
die
Möglichkeit, Kinder umzusiedeln. Insgesamt wurden aber nur etwa
50 Kinder umgesiedelt.418
Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass man den
Pflegefamilien nicht den genauen Zeitpunkt nennen konnte, wann
die Kinder eintreffen sollten. Da mehrere Schritte nötig waren, bis
die Kinder auf den Transport gelangten, konnte man selten
genaue Angaben machen.Als Folge dessen, wurden Pflegeeltern
oft erst ein bis zwei Tage vor der Ankunft des Kindes informiert.419
Das RCM war zwar darauf bedacht, die Pflegefamilie sorgfältig
auszuwählen, um das Wohlergehen der Kinder garantieren zu
können, doch angesichts der Tatsache, dass es zu viele Kinder
und zu wenig Angebote gab, verweigerte das RCM den Familien
nur ungern die Aufnahme eines Kindes (s.o.). Eine Mitarbeiterin
des RCM berichtet dazu:
„In einer idealen Welt hätten wir die Kinder auf ihre Bedürfnisse
hin geprüft und aus der Kartei eine Familie mit dazu passender
Biographie herausgesucht. Aber in einer idealen Welt gäbe es
keine Flüchtlingskinder.“420
8.3. Unterbringung
8.3.1. In Familien
Die Ankunft in den neuen Familien war für die meisten Kinder sehr
verwirrend, da sie von nun an in dieser Familie wie ein richtiges
Familienmitglied behandelt wurden, obwohl sie noch ihre eigene
Familie in Deutschland hatten. Die Erinnerung an den ersten Tag
in der neuen Familie ist den meisten Kindern noch
418
Barry Turner, S. 141
Rebekka Göpfert, S. 112
420
Barry Turner, S. 86
419
142
sehr gut in Erinnerung.
Die Kinder, die schon von Deutschland aus in eine Pflegefamilie
vermittelt werden konnten oder bei Bekannten oder Verwandten
der Eltern unterkamen, hatten wenigstens schon eine geringe
Vorstellung über das zukünftige Leben. Im Gegensatz dazu
kamen Kinder, die erst in England vermittelt werden konnten, in
eine völlig fremde Umgebung.
Waren in den Pflegefamilien schon Kinder vorhanden, konnte das
dazu führen, dass sich die Flüchtlingskinder besser einlebten, da
sie schneller Anschluss fanden. Aus dieser Situation heraus
konnte aber auch Probleme entstehen, beispielsweise wenn die
Pflegeeltern ihre leiblichen Kinder besser behandelten als die
Flüchtlingskinder. Das RCM bat daher, alle Kinder in der Familie
möglichst gleich zu behandeln:
„Sie ist in einem sehr nervösen, aufgewühlten Zustand und sieht
erschöpft und deprimiert aus. Sie will unter keinen Umständen
länger bei Frau Payne bleiben; Hauptursache hierfür scheint eine
gewisse Eifersucht zwischen ihr und Frieda [Frau Paynes 15jährige Tochter] zu sein. Eva behauptet, Frau Payne ergriffe
immer Friedas Partei, besonders dann, wenn sie, Eva, etwas
besser mache als Frieda, und dadurch fühle sie sich sehr
ungerecht behandelt.“421
Ein weiteres Problem für die Kinder ergab sich aus der Tatsache,
dass die Kinder, wenn überhaupt nur sehr wenig Englisch
sprachen und die Gastfamilien kaum Deutsch. Das war natürlich
besonders schlimm, da sich die Kinder gerade zu diesem
Zeitpunkt sehr einsam fühlten und jede Unterstützung gebrauchen
konnten:
„Unser erster Tag in Birmingham war die Hölle. Ganz plötzlich
wurde
mir
klar,
dass
wir in
einem
fremden Land waren,
dessen
421
Entnommen aus einem Bericht des „Bloomsburry House“, in dem Eva
vorsprach, um von ihren Problemen, die sie mit der Pflegefamilie hatte zu
berichten. In: Barry Turner, S. 139
143
Sprache wir nicht kannten, ohne Verwandte oder Freunde, und
ich versuchte verzweifelt, mich so tapfer zu verhalten, wie es sich
für einen 13-jährigen Jungen gehörte. Den größten Teil des Tages
verbrachte ich auf der Toilette, damit niemand meine Tränen
sehen konnte.“
Herbert Holzinger422
Das RCM versuchte natürlich diese Sprachbarrieren so schnell
wie möglich auszugleichen, was aber andererseits dazu führte,
dass die Kinder das Deutsche teilweise oder sogar ganz
verlernten. In Briefen, die bei den Eltern ankamen, war dies
deutlich zu erkennen:
„Mir geht es very gud. It is very nice and it is very cold. How geht it
euch. Wisst you how it Tante Elli geht. Ich habe noch das ganze
Briefpapier von Hackers nicht angefangen und das alte habe ich
auch im Kloster nicht benützt aber das neue hat mann me als
erstes gegeben und das hav I schon all verbraucht. I kan now
English very gud I kan zimlich mutch English“
Hedwig Wahle423
Zu all dem kam noch hinzu, dass manche Pflegeeltern die Namen
der Kinder änderten. Entweder weil die Namen der deutschen
Kinder für Engländer nur schwer auszusprechen waren oder die
Engländer eine Abneigung gegen deutsche Namen, auf Grund der
dortigen politischen Situation, hatten. So wurde beispielsweise
aus Peter Morgenstern Peter Morgan.424
Doch das waren nicht alle Probleme, mit denen die Kinder
konfrontiert
ungewohnte
wurden.
Da
Umgebung,
waren
das
beispielsweise
neue
für
noch
die
die
Kinder
gewöhnungsbedürftige Essen oder die fremden Sitten, die in
England herrschten.425 Darüber hinaus wussten die Kinder nicht,
wie sie ihre Pflegeeltern ansprechen sollten. Meistens blieb es bei
422
Barry Turner, S. 119
Hedwig Wahle S. 8f. Brief an die Eltern Anfang April 1939.
424
Barry Turner, S. 177
425
Rebekka Göpfert, S. 119
423
144
„Mr.“ oder „Mrs.“. Baten die Pflegeeltern darum mit „Mum“ oder
„Dad“ angesprochen zu werden, empfanden die Kinder dies als
eine
zwiespältige
Situation,
denn
sie
sahen
darin
einen
Vertrauensbruch ihren leiblichen Eltern gegenüber.426
Die einzige Möglichkeit für die Kinder den Kontakt mit ihren Eltern
teilweise aufrecht zu erhalten bestand darin, Briefe oder
Postkarten zu schicken. Der Ausbruch des Krieges erschwerte
diese Möglichkeit jedoch. Briefe kamen zu spät oder gar nicht an,
was führte dazu, dass sich sowohl die leiblichen Eltern als auch
die Kinder über gegenseitige Untreue beklagten.427
Die einzige Betreuung die die Kinder durch den RCM erfuhren,
waren die halbjährlichen Besuche, bei denen aber in erster Linie
den äußeren Gegebenheiten Beachtung geschenkt wurde. Das
wichtigste Ziel des RCM war es, das Leben der Kinder zu retten,
sie in die britische Gesellschaft zu integrieren und ihre
grundlegenden materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, „doch sie
haben dabei häufig versäumt, auch die psychische Verfassung
der Kinder zu beachten“.428
8.3.2. In Heimen
Kinder, für die keine Pflegefamilien gefunden wurden, kamen in
Heimen unter. Ausgenommen war hier die „Youth Aliyah“, die von
vornherein Kinder aus Deutschland „adoptierten“, sie aber
dennoch in Heimen unterbrachten (siehe 8.3.2.1.). Hinzu kamen
diejenigen,
die
bei
Unstimmigkeiten
in
der
Pflegefamilie
umgesiedelt wurden oder die Kinder, bei denen die Pflegeeltern
die Betreuung nicht mehr gewährleisteten.429
Im nun folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten Unterkünfte
426
Ebd.
Ebd., S. 120
428
Ebd., S. 122
429
Ebd., S. 123
427
145
für die Kinder aufgezeigt werden:
8.3.2.1. Youth Aliyah
Die „Youth Aliyah“ leitete eines der wichtigsten Heime. Hier
wurden die Kinder auf ein Leben in Palästina vorbereitet. Die
Ausbildung sollte also in England stattfinden und später würden
die Kinder nach Palästina auswandern.
Von 1935 bis 1938 gab es in Berlin die Schule der Jugend Aliyah.
Diese Schule wurde von der Jüdischen Jugendhilfe gegründet und
finanziert. Das Ziel dieser Schule war es, Kinder zwischen 14 und
17 Jahren, die nach Palästina auswandern wollten, auf diese
Auswanderung und das Leben dort vorzubereiten.430
Schon
vor
1939
organisierte
die
„Youth
Aliyah“
solche
Kindertransporte, unabhängig vom RCM, wobei die Organisation
dieser Transporte ähnlich verlief, wie bei den vom RCM geleiteten
Kindertransporten,
die
vom
RCM
geleitet
wurden.
Das
Permitvisum wurde allerdings nicht von der Kultusgemeinde,
sondern vom Palästina-Amt beantragt. Ab Juli 1939 wurden die
Kinder der „Youth Aliyah“ ebenfalls von der Kultusgemeinde
ausgewählt und unter der Aufsicht des RCM nach England
gebracht. Das vereinfachte den organisatorischen Ablauf. Die
finanzielle Garantie für die Kinder übernahm weiterhin die „Youth
Aliyah“.431
Finanzielle Unterstützung bekam die „Youth Aliyah“ von Eddie
Contor, einem Mitglied der amerikanischen jüdischen Gemeinde.
Als es im Juli 1936 nach England kam, spendete er der „Youth
Aliyah“ 100.000 Pfund.432
Auf Grund der intensiven Vorbereitung auf das Leben in Palästina
wurden eigens Farmen angemietet, auf denen die Kinder
untergebracht wurden. In ganz Großbritannien gab es etwa 20
430
Franz Ollendorff: Die Schule der Jugend Aliyah, in: Rudolf Weckerling:
Durchkreuzter Hass, S. 58
431
Rebekka Göpfert, S. 124
432
Amy Zahl Gottlieb, S. 122
146
solcher sogenannten Hachschara-Zentren.433
In jedem dieser Hachschara-Zentren befand sich eine Schule, in
der Hebräisch, die Grundkenntnisse der Landwirtschaft und die
üblichen englischen Schulfächer auf dem Lehrplan standen. Des
Weiteren wurden die Kinder entweder praktisch, handwerklich
oder landwirtschaftlich ausgebildet.434 Dies geschah auf den
dazugehörigen Farmen, wobei die landwirtschaftlichen Erträge
zum Unterhalt der Kinder beitrugen.435
Der Vorteil der „Youth Aliyah“ bestand nebenbei auch darin, die
Kinder viel intensiver und emotioneller betreuen zu können, als
dies in den Pflegefamilien oft der Fall war, so berichtet ein
ehemaliger Mitarbeiter des „Youth Aliyah-Büros“: „Während die
Kinder-Flüchtlingshilfe sich in der Hauptsache um das leibliche
Wohl der Kinder kümmerte, pflegten wir auch ihre geistigen Werte
und gaben ihnen einen Lebenszweck, ein Ziel, auf das sie
hinarbeiten konnten.“436
Das Problem der Integration der Kinder in die englische
Gesellschaft bemängelte das RCM allerdings.437
Nach Ausbruch des Krieges wurden noch etwa 500 Jungen und
Mädchen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren von der „Youth
Aliyah“ betreut.438
8.3.2.2. Harris House
Das RCM unterhielt nur zwei eigene Heime, jeweils für 100
Jungen und 100 Mädchen. In diesen Heimen kamen die Kinder
unter, für die keine Garantoren gefunden wurden. Da diese Plätze
schnell
knapp
wurden,
musste
man
auf
weitere
Heime
ausweichen. Im Laufe der Zeit boten sich immer mehr Heime
an, die
433
Rebekka Göpfert, S. 124 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish
Refugee Children, S. 113)
434
Rebekka Göpfert, S. 125
435
Ebd., S. 126
436
Barry Turner, S. 182
437
Rebekka Göpfert, S. 126f
147
438
Amy Zahl Gottlieb, S. 122f
148
Garantie für einige Kinder zu übernehmen. Darüber hinaus
stellten immer mehr Privatleute Häuser gegen geringe Mieten
oder sogar kostenfrei zur Verfügung. Eines davon war das „Harris
House“ in Southport.439
„Harris House“ wurde von Jose Harris extra für Flüchtlingskinder
zur Verfügung gestellt. Zur Finanzierung der Einrichtung, wurde
ein Benefizkonzert veranstaltet, deren Erlös dem Heim zugute
kam. Zusätzlich wurden 500 Pfund von umliegenden Gemeinden
gespendet. In „Harris House“ kamen 21 Mädchen zwischen vier
und 17 Jahren unter, die von einer Mrs. Stone betreut wurden, die
ebenfalls aus Wien geflüchtet war. Zuvor hatte sie als Psychologin
an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder gearbeitet. Die
Kinder im „Harris House“ wurden regelmäßig von Lehrern
besucht, die sie in Englisch, Handarbeiten, Sport, Hebräisch und
jüdischer Religion unterrichteten.440
Leider
musste
„Harris
House“
1940,
kurz
nach
dem
Kriegsausbruch, evakuiert werden, da es zu nah an der Küste
lag.441 (siehe Kapitel 9.3.)
8.3.2.3. Das Haus der Schlesingers
Das Haus der Familie Schlesinger bot 12 Kindern eine Unterkunft,
die mit dem Leben in Heimen kaum vergleichbar war. Die 12
Kinder kamen alle mit dem gleichen Kindertransport nach England
und wohnten in einem großen Haus der Schlesingers – nicht in
deren Privathaus. Für die Garantiesumme und den Unterhalt kam
das ursprünglich aus Deutschland stammende Ehepaar auf. Für
die Betreuung der Kinder wurde eine Leiterin, eine Köchin und je
eine Betreuerin für die Jungen und die Mädchen engagiert.
Darüber hinaus wurde Wert darauf gelegt, den Kindern eine
439
Rebekka Göpfert, S. 127
Rebekka Göpfert, S. 128 (R.G. zitiert Lea. A. Johnson: Our First Year 19391940. Diary accounts by a gruop of young Jewish refugees evacuated from
Nazi-occupied Europe to Southport. Veröffentlichung des Manchester Jewish
Museums 1992/93)
441
Ebd.
440
149
gute Schulbildung zu bieten und dass sie ihr Leben gemäß den
jüdischen Dogmen führten. In ihrer Freizeit kümmerte sich die
Familie sehr liebevoll um die Flüchtlingskinder und sorgte dafür,
dass der Kontakt zu ihnen und der Familie (die leiblichen Kinder
eingeschlossen) auch dann noch aufrecht erhalten wurde, als die
Kinder schon längst aus dem Haus waren.442
„[...] Während der nächsten sechs Jahre musste Win [Schlesinger]
die Familie alleine zusammenhalten; sie machte diese für viele
Millionen so tragischen Jahre zu einer glücklichen, ausgefüllten
Zeit für uns Kinder. Während der Ferien gingen wir Reiten und
Fahrradfahren, musizierten und machten Theateraufführungen,
spielten im Haus, und wenn es zu voll wurde, in den
Schweineställen, die wir Büros nannten. Win ließ uns nie etwas
davon merken, wie unglaublich schwer es für sie gewesen sein
muss, für sechs heranwachsende Kinder zu sorgen, in einem
Haus, das oft von Besuchern wimmelte, und mit all den
Ungewissheiten, die der Krieg mit sich brachte, während Bernhard
[Schlesinger] am anderen Ende der Welt war.“443
Darüber hinaus wären namentlich noch die „Bunce Court School“
und die Heime des „Chief Rabbi’s Religious Emergency Council“
zu nennen, die sich ebenfalls auf unterschiedliche Art und Weise
um
die
Flüchtlingskinder
kümmerten,
die
mit
einem
Kindertransport nach England kamen.
Viele Kinder haben gerade diese kleinen privaten Wohnheime die
besten Erinnerungen, da hier oft eine familiärere Atmosphäre als
bei Pflegeeltern herrschte. Außerdem waren die Beziehungen zu
den freundlichen Betreuern nicht so intensiv, dass die Kinder
einem Loyalitätskonflikt zwischen diesen Betreuern und den
leiblichen Eltern entgehen konnten.444
442
Rebekka Göpfert, S. 129
Barry Turner, S. 148. Dick Levy lebte als Verwandter (ebenfalls ein
Flüchtling) der Familie direkt im Haus.
444
Barry Turner, S. 145
443
150
8.4. Das Problem der Schulausbildung
„Nach meinem Berufswunsch gefragt, antwortete ich: ››Arzt‹‹. Die
Frau, die das Formular ausfüllte, sagte: ››Das kann ich nicht
hinschreiben. Du darfst nicht vergessen, dass Du Flüchtling
bist.‹‹“445
In England waren alle Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr
schulpflichtig. Das galt ebenso für die Flüchtlingskinder. Da die
Beschulung der Kinder Geld kostete, ergab sich für die vom RCM
finanziell unterstützten Kinder nach Beendigung der Schulpflicht
das Problem, dass die weitere Beschulung nicht finanziert werden
konnte. Grundsätzlich entschied das RCM sich dafür, Kinder, die
nicht mehr schulpflichtig waren, eine Ausbildung anfangen zu
lassen. Das galt auch für Kinder, die auf Anhieb keinen
Arbeitsplatz fanden.446 Ausnahmen wurden nur sehr selten
gemacht. Auf einer Konferenz des RCM im Oktober 1942, hielt ein
Beamter des Innenministeriums fest: „Ein Flüchtling sollte
genauso
wie
ein
englisches
Durchschnittskind
freien
Grundschulunterricht erhalten. Außer in Fällen besonders hoher
Begabung
kann
jedoch
kein
weiterführender
Schulbesuch
gewährt werden.“447 Insgesamt besuchten nur 27 von den ca.
1.400 Kindern, die vom RCM finanziert wurden, weiterführende
Schulen.448
Bei den in Pflegefamilien lebenden Kindern, überließ man es den
Pflegeeltern,
über
die
weitere
Form
der
Ausbildung
zu
entscheiden. Das RCM gab zu bedenken, dass nicht der Eindruck
entstehen sollte, die Flüchtlingskinder seien finanziell so gut
unterstützt, dass sie jede Art von Ausbildung genießen könnten,
da sonst die Konkurrenz zu den englischen Schülern zu groß
445
Ebd., S. 187
Rebekka Göpfer, S. 132f
447
Barry Turner, S. 187
448
Rebekka Göpfert, S. 134 (R.G. zitiert einen Brief des Central Committees for
446
151
würde. Auf keinen Fall wollte man aber ein Universitätsstudium
unterstützen. Wie bereits erwähnt: Die oberste Priorität bestand
darin, das Leben der Kinder zu retten.449
Darüber hinaus gab es auch einige Pflegefamilien, die den
Flüchtlingskindern eine bessere Ausbildung vorenthielten, da ihre
eigenen Kinder schlechte in der Familie waren. Sie wollten
verhindern, dass ihre eigenen Kinder hinter dem Bildungsstand
des Pflegekindes zurückstanden:
„Als Hauptgrund, warum sie Jean aus der Schule nehmen will,
führt Frau Gross an, sie glaube nicht an Bildung. Ihre eigene
Tochter sei Stenotypistin und habe auch kein Abitur. Also
bestünde
auch
keine
Veranlassung,
Jean
eine
bessere
Schulbildung zukommen zu lassen. Es sei im Gegenteil viel
besser für das Mädchen, ebenfalls einen Stenographie- und
Schreibmaschinen-Kursus zu machen, um so schnell wie möglich
arbeiten gehen zu können.“450
Dennoch gab es einige private Schulen oder Internatsschulen, die
es einigen Kindern ermöglichte, kostenlos am weiterführenden
Unterricht teilzunehmen. Margaret Burkhill vom „Cambridge
Refugee Committee“ versuchte bei Verhandlungen mit dem
„International Students Service Co-operating Committee for
England and Wales“ Stipendien für begabte Flüchtlingskinder zu
erwirken, da diese kein Anrecht auf staatliche Stipendien oder
Zuschüsse hatten. Dies gelang auch teilweise, doch leider wurden
die Flüchtlingskinder bei der Vergabe der Stipendien immer
benachteiligt, „mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in
Großbritannien“.451 Der Sekretär des „International Students
Service Co-operating Committee for England and Wales“ schrieb
im November 1943 an Margaret Burkhill: „Vielleicht bin ich zu
Refugees an das Home Office, 2. Mai 1945)
449
Rebekka Göpfert, S. 133f
450
Bericht des RCM über eine Mutter, die nicht möchte, dass das Pflegekind
eine bessere Ausbildung als ihr eigenes Kind erhält. In: Barry Turner, S. 188
451
Rebekka Göpfert, S. 135 (R.G. zitiert Brief, datiert vom 26.11.1943 (Imperial
War Museum, Burkhill Coll.))
152
vorsichtig, aber, obwohl ich mit Ihnen darin vollkommen
übereinstimme, dass außergewöhnlich begabte Flüchtlingskinder
dieselben Bildungschancen wie britische Schüler bekommen
sollten, bezweifle ich doch, ob die Mehrheit der englischen
Bevölkerung bereits fortschrittlich genug ist, um der Gewährung
staatlicher Stipendien für Flüchtlinge zuzustimmen.“452
Neben dem Problem mit der englischen Sprache, mussten die
Kinder erst einmal den leistungsmäßigen Anschluss an die Klasse
finden. Aus diesem Grund wurden die Kinder meistens ein bis
zwei Klassen tiefer eingestuft, um sie nicht zu überfordern.
Darüber hinaus mussten anfangs noch Übereinstimmungen
zwischen den deutschen und englischen Lehrplänen gefunden.
So kam es oft dazu, dass viele Kinder sowohl von ihren
Mitschülern, als auch von ihren Lehrern anders behandelt wurden.
Vorurteile, die man gegen Deutsche hatte, wurden teilweise offen
gezeigt:
„Ich ging einfach weiter in die Schule und versuchte, nicht
aufzufallen.
Manchmal
erregte
eine
ganz
nebensächliche,
unbewusste Geste Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich an einen
Vorfall: Als wir einmal in einen ziemlich kalten Raum gingen,
begann ich zu zittern. Die Lehrerin sagte mit ihrer wunderbar
durchdringenden Oberschicht-Stimme: ››Engländer zittern nicht,
wenn sie einen kalten Raum betreten. Es gibt nicht genügend
Kohle, weil wir gegen die Deutschen kämpfen.‹‹“453
Im Laufe der Zeit konnte dieses Problem aus der Welt geschafft
werden und die Kinder fanden, abgesehen von den Problemen
mit der neuen Sprache, immer schneller Anschluss an den
Unterrichtsstoff.454
452
Barry Turner, S. 193
Ebd., S. 190f
454
Rebekka Göpfert, S. 136
453
153
8.5. Aussichten auf dem Arbeitsmarkt
Nach dem Abschluss ihrer schulischen Ausbildung, sollten die
Kinder nach Möglichkeit eine berufliche Ausbildung anfangen. In
dieser Beziehung waren sie jedoch abhängig vom englischen
Arbeitsmarkt
und
den
dortigen
für
Flüchtlinge
geltenden
Arbeitsbestimmungen. Hierfür war eine Arbeitserlaubnis nötig und
die Bestätigung, dass sie keine Konkurrenz für den britischen
Arbeitsmarkt darstellten.455 Zum Erhalt einer Arbeitserlaubnis
mussten vier Bedingungen erfüllt werden:456
1. Die Arbeitsbedingungen für die Flüchtlinge mussten genauso
gut sein, wie die der britischen Arbeiter.
2. Es durfte nicht unter dem Deckmantel einer Ausbildung ein
Arbeitsplatz
vergeben
werden,
der
nur
billige
Handlangerarbeiten beinhalte. Die Ausbildung zu einem
richtigen Beruf sollte also gewährleistet sein.
3. Es musste sichergestellt werden, dass keinem Briten der
Arbeitsplatz weggenommen wurde.
4. Die Stellen, die den Flüchtlingen offen standen, mussten
eigens
für
sie
eingerichtet
sein.
Das
waren
meist
Ausbildungsplätze in der Landwirtschaft.
Wie überall in Europa zu dieser Zeit, gab es auch auf dem
englischen Arbeitsmarkt nur wenig Chancen auf einen guten
Arbeitsplatz. Der Kriegsausbruch führte einerseits zu einer
Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt, da einige
Betriebe evakuiert oder umstrukturiert wurden. Andererseits
entstanden aus der Kriegswirtschaft neue Arbeitsmöglichkeiten,
wie beispielsweise in der Waffenindustrie. Gleichzeitig stellte der
Militärdienst neben der Industrie und der Landwirtschaft einen der
wichtigsten Faktoren des Arbeitsmarktes für die männlichen
Flüchtlingskinder dar. Die meisten Jungen allerdings kamen in der
455
456
Ebd.
Barry Turner, S. 200
154
Landwirtschaft unter. Zum einen war das eine Folge der durch die
„Youth Aliyah“ organisierte Ausbildung der Kinder in diesem
Bereich, zum anderen führte der Kriegsdienst der Briten dazu,
dass in der Landwirtschaft immer mehr Arbeitskräfte fehlten. Da
die
meisten
Flüchtlingskinder
aus
größeren
Städten
in
Deutschland kamen, waren die auf dem Land herrschende
Einsamkeit nicht gewohnt und beklagten sich des Öfteren.457 Das
RCM warb im Februar 1941 in einem Rundschreiben für die
Tätigkeit als Landwirt, um möglichst viele Flüchtlinge in diesen
Berufszweig zu bringen. Die Landwirtschaft wurde in den
schönsten Ausführungen dargestellt. Leider verschwieg man den
Flüchtlingen aber, dass sie, sollten sie unzufrieden mit ihrem
Beruf sein, diesen nur sehr schwer wechseln konnten:
„Als Landwirt hat mein ein gutes Leben und übt eine sehr wichtige
Tätigkeit aus, die allerdings erlernt werden muss. In der
Ausbildung wirst Du alle Vorteile entdecken, die das Leben in
frischer Luft mit sich bringt. [...] Innerhalb eines Jahres wirst Du
alle für Wachstum und Produktion notwendigen Vorgänge kennen
und am Ende der Zeit mit Befriedigung die Früchte Deiner Arbeit
ernten.
Natürlich erhältst Du zusätzlich zur Berufsausbildung im Freien
auch Unterricht in Englisch und Religion. Du lernst und lebst
gemeinsam mit anderen Flüchtlingsjungen und –mädchen, die
den gleichen Ehrgeiz haben wie Du.
[...] Wenn Du Dich dieser Ausbildung mit Leib und Seele
verschreibst, wirst Du großen Nutzen daraus ziehen.“458
Die
Mädchen
kamen
vielfach
in
Pflegeberufen
oder
als
Hauspersonal unter. Da diese Arbeitskräfte offenbar sehr
gebraucht
wurden,
bekamen nur 20% der Mädchen (im
Gegensatz zu 80% der Jungen) einen Ausreisebescheid.459
457
Rebekka Göpfert, S. 137f (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 15 und
RCM: Meeting of the Regional Secretaries, 7.4.1941)
458
Barry Turner, S. 200f
459
Rebekka Göpfert, S. 138 (R.G. zitiert Bulletin of the Co-ordinating Committee, März 1939, S. 17)
155
8.6.
Probleme bei der religiösen Erziehung der
Kinder
Das RCM legte großen Wert darauf, die Kinder in Haushalten mit
gleichem Glauben unterzubringen, da sie auf Grund ihrer
Auswanderung schon genug von ihren Wurzeln entfremdet
wurden. Dennoch sollten christliche Kinder in christlichen
Haushalten
und
jüdische
Kinder
in
jüdischen
Haushalten
unterkommen. Dies war jedoch auf Grund der zu geringen Anzahl
von Pflegefamilien oft nicht einzuhalten. Zusätzlich sollten die
Kinder jüdischen Religionsunterricht erhalten.460
Hatte man den Eindruck, dass Kinder nicht gemäß ihrer Religion
erzogen wurden oder drohten einige Pflegefamilien damit, die
Garantie für ein Kind aufzuheben, wenn sie es nicht nach ihren
religiösen Vorstellungen erziehen durften, so war sich das RCM
darüber einig, lieber selbst die finanzielle Garantie für das Kind zu
übernehmen, damit es nach seiner Religion erzogen werden
konnte.461 Es stellte sich jedoch oft das Problem, dass es den
Kindern wahrscheinlich noch mehr schaden würde, wenn man sie
von Familien trennte, bei denen sie sich gerade eingelebt
hatten.462
Auf Grund der Evakuierung vieler Kinder aufs Land nach dem
Kriegsausbruch (siehe Kap. 9.2.), mussten noch mehr jüdische
Kinder in christlichen Haushalten untergebracht werden, da die
Dichte der jüdischen Bevölkerung auf dem Land sehr gering war.
Diese Tatsache führte zu einer starken Protestwelle vieler
jüdischer Organisationen, die dem RCM vorwarfen, sich nicht
ausreichend um die religiöse Bildung der Kinder zu kümmern.463
Die christliche Gemeinde hingegen fühlte sich stark angegriffen
und gab zu bedenken, dass es schließlich christliche Motive
460
Rebekka Göpfert, S. 140
Ebd., S. 142
462
Ebd., S. 143
463
Rebekka Göpfert, S. 143f (R.G. zitiert RCM: Extract from Board of Deputies
461
156
gewesen seien, die sie dazu bewegt hätten, ihre Gastfreundschaft
gegenüber
den
jüdischen
Flüchtlingskindern
anzubieten.
Gleichzeitig betonten sie, es sei besser, die Kinder im christlichen
Glauben zu erziehen als sie, auf Grund des mangelnden
Angebots an jüdischer Erziehung, „religiös“ verwahrlosen zu
lassen. Schließlich einigte man sich darauf, die Kinder ab dem 16.
Lebensjahr selbst entscheiden zu lassen, welcher Religion sie
angehören möchten.464 Das RCM rechtfertigte sich seinerseits,
indem es der jüdischen Gemeinde vorwarf, sich nicht genügend
um die Flüchtlingskinder zu kümmern, sei es durch die mangelnde
Bereitschaft, jüdische Kinder bei sich aufzunehmen oder die
Bereitschaft den Kindern religiöse Unterstützung zu geben,
sondern sich hauptsächlich durch Geldspenden um die Kinder
kümmert.465 Außerdem gründete das RCM ein eigenes „Religious
Teaching
Special
Religionszuständigkeit
Committee“,
zuständig
das
für
war
Fragen
und
der
jüdische
Veranstaltungen organisierte, um den Kinder ihre Religion nahe
zu bringen. Darüber hinaus betonte das RCM, dass es eine
konfessionslose
Organisation
sei
und
sich
genauso
um
nichtjüdische Kinder kümmerte wie um jüdische.. Auf Grund
dessen musste darauf geachtet werden, dass das RCM religiös
neutral blieb.466
Im Januar 1944 entflammte diese Diskussion aufs Neue, als es
darum ging, einen Vormund für die minderjährigen Kinder zu
finden, der aller Voraussicht nach christlich sein würde (siehe
Kapitel 10.1.). Die häufigsten Vorwürfe bezogen sich auf die
Besetzung der wichtigsten Posten innerhalb des RCM. „Lediglich
ein extrem liberaler Rabbiner der Londoner Reformgemeinde
(nämlich Ephraim Levine) sei eingestellt worden, um sich um die
Meeting, 27.5.1941)
464
Rebekka Göpfert, S. 145 (R.G. zitiert Memorandum von Rev. Robert Smith,
Scottish Christian Council, September 1941)
465
Rebekka Göpfert, S. 145 (R.G. zitiert Brief von Siegmund Gstetner vom
5.6.1941)
466
Rebekka Göpfert, S. 146 (R.G. zitiert Memorandum des Cantral Committee
157
Kinder zu kümmern, doch keine einzige Schlüsselposition sei mit
einem Vertreter der jüdischen Orthodoxie besetzt.“467
Zusammenfassend stellt Esther Judith Baumel fest, dass aus
heutiger Sicht den Vorwürfen, das RCM habe sich nicht
ausreichend um die religiöse Erziehung der Kinder bemüht, nicht
unbedingt zugestimmt werden kann, wenn man die Turbulenzen
und Schwierigkeiten bedenkt, die sich bei der Unterbringung der
Kinder ganz allgemein ergaben.468
vom 3.12.1941)
467
Rebekka Göpfert, S. 147 (R.G. zitiert Union of Orthodox Hebrew Congregations: Child-Estraning Movement, S. 5 und S. 8)
468
Rebekka Göpfert, S. 151 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish
Refugee Children, S. 141)
158
9. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges
auf die Kindertransporte
Die Folgen des Krieges waren verheerend: Die Grenzen wurden
geschlossen, was den Kontakt zwischen Kindern und ihren Eltern
auf ein absolutes Minimum reduzierte. Die Tatsache, dass die
Grenzen geschlossen wurden, hatte zur Folge, dass viele Kinder
erkannten, wie gering die Chancen standen, ihre leiblichen Eltern
jemals wieder zu sehen. Außerdem konnten viele Kinder, die ihre
Ausreisevisa bereits hatten nicht mehr durch die Kindertransporte
gerettet werden. Im Mai 1940 brachte das letzte Schiff Kinder
nach England (siehe Kapitel 9.1.). Gleichzeitig war nun die
geplante Re-Emigration der Kinder unmöglich geworden (siehe
Kapitel 9.2.).
Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass mittlerweile sehr
viele Ausländer in England lebten und die britische Regierung
eine Unterwanderung durch feindliche Ausländer fürchtete.
Daraufhin wurden viele Flüchtlinge, darunter auch zahlreiche
Kinder, interniert (siehe Kapitel 9.4.). Darüber hinaus mussten
viele Kinder im Hinblick auf die drohende Bombardierung
evakuiert werden (siehe Kapitel 9.3.).
9.1. Der letzte Kindertransport
Obwohl schon alle Grenzen geschlossen waren und am 10. Mai
1940 die deutsche Invasion nach Holland begann, gelang es Frau
Wijsmuller-Meijer ein letztes Mal, Kinder von Holland nach
England zu bringen: In bereitgestellten Reisebussen gelang es ihr
am 14. Mai trotz einiger Straßensperren den Hafen Ymuiden zu
159
erreichen. Auf diesem letzten Transport kamen 80 Kinder aus
einem Waisenhaus in Amsterdam – unter ihnen auch Ya’acov
Friedler – und weitere holländische Kinder unter: „Unsere
Fluchtbusse hielten im Hafen von Ymuiden. Schnell brachte man
uns zum Pier, an dem ein alter holländischer Frachter, die S.S.
Bodegraven, festgemacht hatte und schon unter Dampf stand.
Frau Wijsmüller hatte sie für unsere Flucht nach England
angeheuert.“469 Nachdem die Busse am Hafen ankamen, musste
das Schiff schnell bestiegen werden und ablegen. Auf Grund der
befürchteten Bombardierung waren die Kinder dazu angehalten,
sich auf den Boden zu legen oder unter Deck zu gehen.
„Als wir am Abend des 14. Mai 1940 an Deck des betagten
holländischen Frachters SS Bodegraven den Hafen von Ymuiden
bei Amsterdam verließen, mussten wir uns auf den Boden werfen
– über uns kreisten im Tiefflug zwei deutsche Bomber, die das
Schiff mit Maschinengewehrfeuer belegten. Es wurde allerdings
niemand verletzt.“
Ya’acov Friedler470
Als das Schiff nach wenigen Stunden Harwich erreichte,
verweigerte Großbritannien aus Angst vor der vermuteten
feindlichen Besatzung jedoch zunächst die Landung. 471 Erst nach
stundenlanger Verspätung erhielt das Schiff die Erlaubnis in
Liverpool zu ankern, wo die Kinder von Bord gehen konnten. Die
Kinder kamen vorläufig in Heimen in Manchester unter.472
Mehr Kindern gelang leider nicht die Flucht nach England . Unter
anderem auch aus dem Grund, dass Großbritannien sich
weigerte, weiterhin Personen, die direkt aus feindlichen Ländern
kamen,
aufzunehmen.
Das
bedeutete
das
Ende
der
Kindertransporte.473
469
Ya’acoc Friedler, S. 116
Rebekka Göpfert (Hrsg.): Ich kam allein, S. 102
471
Rebekka Göpfert, S. 156
472
Ebd., S. 157
473
Ebd.
470
160
9.2. Re-Emigration
Wie
schon
mehrfach
erwähnt,
sollten
die
Kinder
nur
vorübergehend in England bleiben und nach ihrem 18. Lebensjahr
in ein anderes Land auswandern. Sei es zu Verwandten nach
Amerika oder andere Länder, oder zusammen mit ihren Eltern,
wenn auch sie die Flucht aus Deutschland geschafft hatten. Doch
schnell stellte sich heraus, dass unter anderem nach dem
Ausbruch des Krieges die Auswanderung in weitere Länder nur
schwer realisierbar wurde, zumal es den leiblichen Eltern der
Kinder
immer
seltener
gelang,
Deutschland
ebenfalls
zu
verlassen. Schon im Frühjahr 1939 ging das RCM davon aus,
dass längst nicht alle Kinder auswandern werden.474
Das eigens vom RCM gegründete „Re-emigration Departement“
war mit dieser Re-Emigration beauftragt. Es sollte Kontakt zu den
Eltern oder Verwandten im Ausland aufnehmen. 475
War es den Kindern trotz aller Schwierigkeiten möglich, ins
Ausland auszuwandern, mussten sie erst einmal einen der
begehrten Plätze auf einem Schiff bekommen, um England
verlassen zu können. Außerdem benötigten sie noch ein
Ausreisevisum vom Home Office, welches aber denjenigen, die in
kriegswichtiger
Industrie
und
den
Mädchen,
die
als
Krankenschwestern arbeiteten, meistens verweigert wurde.476
1.446 Kindern gelang bis 1941 die Re-Emigration. Da nach 1941
eine Re-Emigration so gut wie unmöglich war, wurde das „Reemigration Departement“ aufgelöst. Mittlerweile ging man davon
aus, dass die meisten Kinder England nicht mehr verlassen
würden.477
474
Rebekka Göpfert, S. 158 (R.G. zitiert Bulletin of the Co-ordinating Committee, April 1939, S. 5)
475
Rebekka Göpfert, S. 158
476
Rebekka Göpfert, S. 159 (R.G. zitiert Presland: A Great Adventure, S. 15)
161
477
Rebekka Göpfert, S. 160
162
9.3. Evakuierung
In „Whitehall“ existierten Akten über mögliche Auswirkungen
deutscher Luftangriffe auf London. Man ging davon aus, dass in
der ersten zwei Wochen nach der Kriegserklärung 100.000
Bomben abgeworfen werden. Um eine großen Anzahl von Opfern
zu verhindern, wurden englische Kinder unter 15 Jahren, die in
Großstädten, in der Nähe von Industriegebieten oder „urban
areas“ lebten, von der Regierung evakuiert und auf dem Land
untergebracht.478 Dies geschah meist im Klassenverband und
ohne die Eltern. An ihrem Zielort wurden die Kinder, soweit es
möglich war, in Privathaushalten untergebracht.479
Mit den Kindern des Kindertransportes ging man ebenso vor. Für
die evakuierten Kinder blieben jedoch die ursprünglichen „SubCommittees“
zuständig
und
nicht
die
Committees
der
Aufnahmegebiete. Die Garantien mussten ebenfalls von den
Sponsoren,
ob
Privatfamilie
oder
dem
RCM
weiterhin
übernommen werden. Diese Evakuierung hatte zur Folge, dass
sich die Kinder wieder an neue Verhältnisse und Bezugspersonen
gewöhnen mussten.480 Hinzu kam, dass die Menschen auf dem
Land, die oft einfach gezwungen wurden, Flüchtlingskinder
aufzunehmen, nicht immer sehr freundlich zu den Kindern waren.
Außerdem war die Evakuierung ein weiteres traumatisches
Erlebnis der Kinder:
„Aus der Obhut meiner Pflegeeltern evakuiert zu werden, war das
schlimmste Erlebnis meines Lebens. Mit dem wenigen Englisch,
das ich konnte, wurde ich nach Nordengland in den Lake District
geschickt. Wir standen im Gemeindehaus des Dorfes herum und
wurden von Leuten ausgesucht, wenn ihnen unser Gesicht gefiel.
Geschwister durften zusammenbleiben. Ich stand neben zwei
Schwestern, die sehr nett zu mir waren. Wir wurden gefragt, ob
478
Barry Turner, S. 150
Rebekka Göpfert, S. 160
480
Ebd., S. 161
479
163
wir zur selben Familie gehörten, und ich antwortete: ››Nein, aber
ich möchte gern mit den beiden zusammenbleiben.‹‹ Darum
gingen die Mädchen zu zwei alten Damen, die erzählt hatten, auf
einem Bauernhof in der Nachbarschaft würde noch ein Mädchen
gebraucht. Doch was man dort tatsächlich benötigte, war ein
Dienstmädchen. Als man von mir verlangte, den Küchenboden zu
putzen, sagte ich, ich hätte das noch nie gemacht und wollte auch
jetzt nicht damit anfangen. Trotzdem musste ich auf dem
Bauernhof bleiben.“
Magda Chadwick481
Bis 1940 wurden fast 14.000 britische Kinder nach Übersee
evakuiert, da die inländischen Aufnahmekapazitäten erschöpft
waren. Es wurde jedoch abgelehnt, Flüchtlingskinder nach
Übersee zu evakuieren, da es keine Einreisevisa für die
Flüchtlingskinder geben würde und man wollte die britischen
Kinder nicht der „infiltration“ durch jüdische Flüchtlingskinder
aussetzten.482
Auf dem Land ergab sich für die Kinder wiederum das Problem
mit der religiösen Erziehung, da es hier keine jüdische
Bevölkerung und somit kein jüdisches Leben gab. Auch wussten
die Menschen, die auf dem Land lebten nicht was, koscheres
Essen ist, oder wie sich das religiöse Leben eines Juden
gestaltete, und so kam es dazu, dass manche Kinder sich
weigerten zu essen. Daraufhin richteten einige Gemeinden
Volksküchen ein, in denen die jüdischen Kinder koscheres Essen
bekamen.483 Auch das RCM bemühte sich so weit wie möglich
den Kindern ihre jüdische Religion nahe zu bringen und versandte
jüdische Lehrer oder eröffnete Kantinen, in denen koschere
Mahlzeiten angeboten wurden.484
Doch nicht nur die Kinder, sondern auch „Bloomsbury House“
481
Barry Turner, S. 152f
Rebekka Göpfert, S. 161f (R.G. zitiert Central Council for Jewish Refugees:
Minutes of Meeting of the Executive, 26.6.1940, S. 3 und 10.7.1940, S. 4)
483
Barry Turner, S. 154
484
Rebekka Göpfert, S. 163 (R.G. zitiert Presland: A Great Adventure, S. 9)
482
164
musste evakuiert werden. Für diesen Zweck wurde in Hindhead
(in
Südengland)
ein
Führsorgeabteilung
mit
Landhaus
den
Akten
gemietet,
in
dem
die
der Kinder, sowie
15
Angestellte untergebracht wurden.485
9.4. Internierung
Aus Angst, England könne von innen heraus durch den großen
Anteil an Flüchtlingen aus feindlichen Ländern unterwandert
werden, begann man im September 1939 mit der Planung von
Internierungen. Für diese Arbeit setzte man Tribunale ein, deren
Aufgabe es war, die „enemy aliens“ in unterschiedliche Kategorien
einzuordnen.486 Als „enemy aliens“ galt „a person who, not being
either a British citizen or a British protected person, [who] possesses the nationality of a state at war with His Majesty.“487 Es
gab drei Kategorien, nach denen die „enemy aliens“ eingeteilt
wurden: „Mit möglichst vielen Ausländern musste man in kürzester
Zeit fertig werden, weil die Panik sich steigerte. Nach einer nur
flüchtigen Anhörung wurden alle Ausländer der Kategorie A, B
oder C zugeordnet. ››A‹‹ bedeutete, dass man ein ››gefährlicher
und feindlicher Ausländer‹‹ war; ››B‹‹ stempelte einen zum
››feindlichen Ausländer‹‹ ab; das erlösende ››C‹‹ beförderte den
Fremden zum ››befreundeten Ausländer‹‹.“488 In Kategorie C
eingestufte Personen waren direkt zur Internierung vorgesehen.
Man ging davon aus, dass von den Nazis verfolgte Personen, die
aus diesem Grund nach England geflohen waren, und schon
länger
in
Großbritannien
lebende,
zum
Gemeinwesen
beitragende, in die Kategorie C eingestuft werden konnten.489
485
Barry Turner, S. 155
Rebekka Göpfert, S. 163
487
Rebekka Göpfert, S. 163 f (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish
Refugee Children, S. 147)
488
Ya’acov Friedler, S. 130
489
Rebekka Göpfert, S. 164
486
165
Bis Ende November 1939 wurden aber nur 348 von 35.000
Personen interniert. Im Laufe der Zeit nahm der Prozentsatz der
Internierungen stetig ab. Die Tatsache, dass die Niederlande den
Deutschen unterlagen, schürte die Angst vor Unterwanderung bei
den Briten immer stärker und so kam es, dass man nach und
nach auch die in die Kategorie B eingestuften „enemy aliens“
internierte.490 Nachdem Deutschland im Mai 1940 auch die
Niederlande und Belgien überfallen hatte, wurden zur Vorsicht alle
„feindlichen Fremden“ interniert, hierzu zählten auch die 16jährigen
Kinder,
die
mit
den
Kindertransporten
nach
Großbritannien gekommen waren.491 Oft wurden die Menschen
ohne eine vorangegangene Nachricht einfach aus ihrem Alltag
heraus mitgenommen und kamen in Internierungshaft.492
Meist blieben diese aber nicht sehr lange in Internierungshaft, da
sie
in
Privathaushalten
untergekommen
waren
und
die
Pflegeeltern für die Kinder garantierten, oder weil kriegswichtige
Arbeit ausübten und man dort nicht auf ihre Arbeitskraft verzichten
konnte. Doch auch durch Selbsthilfe konnte man von der
Internierung verschont werden:
„Als der Krieg ausbrach, gingen mein Bruder und ich zum Verhör
auf die Polizeistation in Kings Cross – mein Bruder an einem
Morgen und ich am nächsten. Mein Bruder wurde als B
(gefährlicher feindlicher Ausländer) klassifiziert. Ich fand das
ungerecht und ging mit unseren Identitätskarten noch einmal
allein zur Polizei, um ihnen mitzuteilen, sie hätten sich geirrt. Sie
fragten mich, was ich damit meine, und ich sagte: ››Ich bin der
Gefährliche und er ist der Freundliche.‹‹ Der Polizist, der einen
ungewöhnlichen kleinen Jungen von 16 Jahren vor sich sah,
lachte und sagte: ››Ich will sehen was ich tun kann.‹‹ Er ging zu
490
Rebekka Göpfert, S. 165 (R.G. zitiert Peter und Leni Gillmann: Collar the Lot.
How Britain Interned and Expelled its Wartime Refugees, S. 45f)
491
Gerd Braune: Flucht ins Ungewisse. Kindertransporte retteten viele junge
Juden vor den Nazis: zum Beispiel Helmut Kallmann, Artikel in: Frankfurter
Rundschau, 19.6.1999, S. ZB 1
492
Amy Zahl Gottlieb, S. 169
166
dem Richter, nahm beide Ausweise mit hinein und als er
zurückkam, erklärte er:
167
››Jetzt seid ihr beide freundlich.‹‹
Henry Toch493
Da jedoch die Kapazitäten der britischen Internierungslager bald
ausgeschöpft waren, ging man dazu über, die Internierten in
britischen Provinzen nach Übersee zu deportieren (meist nach
Kanada oder Australien).494
Nach dem Ausbruch des Krieges mussten sich alle über 16jährigen Kinder bei den zuständigen Polizeidienststellen melden.
Das RCM stellte sicher, dass sie dieser Forderung Folge
leisteten.495 Die Tribunale vor die die Kinder treten mussten,
erhielten im Vorfeld der Anhörung einen Bericht über das jeweilige
Kind vom zuständigen „Sub-Committee“. Zum größten Teil wurden
diese Kinder auch in die Kategorie C eingestuft. Doch das RCM
versuchte über das Home Office zu erreichen, dass die Kinder
von vornherein in diese Kategorie eingestuft werden, ohne vorher
vor das Tribunal treten zu müssen. Dies gelang dem RCM
schließlich im April 1940.496
Auf Grund der durch den Krieg bedingten bedrohlichen Situation,
begann
man,
die
Sicherheitsmaßnahmen
entlang
der
verwundbaren Abschnitte der Süd- und Ostküste zu verstärken.
Ab dem 10. Mai 1940 wurden auch alle Deutschen und
Österreicher der Kategorien B und C, die in diesen Gegenden
lebten, interniert. Hierzu zählten auch Jugendliche über 16 Jahre,
die man oft ohne weitere Erklärungen von ihren Pflegeeltern oder
von der Schule abholte. 497
Gegen
diese
plötzlich
Internierung
der
Flüchtlingskinder
protestierten jedoch einige Mitarbeiter des „Bloomsbury House“:
„Sie wurden in hastig errichtete Lager geschickt, von denen die
größten in Huyton, in der Nähe von Liverpool, und auf der Isle of
Man lagen. Das Leben dort war elend. Jung und Alt wurden bunt
493
Barry Turner, S. 157f
Rebekka Göpfert, S. 167
495
Ebd.
496
Rebekka Göpfert, S. 168 (R.G. zitiert RCM: First Annual Report, S. 12)
497
Barry Turner, S. 159
494
168
zusammengewürfelt und mussten sich Zimmer und Bett teilen. Ein
jüdischer
Jugendlicher,
der
allen
Grund
hatte,
den
Nationalsozialismus zu hassen, fand sich in Gesellschaft eines
glühenden Hitlerverehrers. Und niemand wusste was vor sich
ging.
Unsere
Beschwerden
wurden,
obwohl
energisch
vorgetragen, zunächst nicht ernst genommen. Ich war nicht die
einzige Mitarbeiterin des Kinder –Flüchtlingshilfe der gegenüber
Beamte des Innenministeriums die Internierung aller Flüchtlinge
als Schutzmaßnahme darstellten: wie sonst konnte man sich vor
wütenden Einheimischen schützen, die ihnen die Schuld am Krieg
zuschoben? Wir versuchten, das Beste aus der Situation zu
machen, indem wir Bücher schickten, Freiwillige als Lehrer
engagierten (es gab Internierte, die sich auf das Abitur
vorbereiteten) und den Aufsehern die Eigenheiten der koscheren
Küche erklärten.“498
Wieder waren die Kinder einer neuen Umgebung ausgesetzt an
die sie sich neu gewöhnen mussten.
Doch scheinbar war für viele Kinder die Internierung nicht so
schlimm, wie die Evakuierung:
„Überraschenderweise war für die Jugendlichen das Leben hinter
Stacheldraht mit allen dazugehörigen Nachteilen nicht so schlimm.
Sie mussten lernen, mit Menschen verschiedenster Herkunft, die
nur das gemeinsame Schicksal verband, zusammenzuleben.
Immerhin gab es dort auch erwachsene, jüdische Flüchtlinge aus
allen möglichen Gesellschaftsschichten. Viele junge Leute fanden
dadurch zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in England wieder
Zugang zu geistesverwandten älteren Menschen.“499
498
Ebd., S. 161
Bericht von Walter Friedmann, Leiter eines Jugendwohnheims in London,
dem es gelungen war, der Internierung zu entgehen. In: Barry Turner, S. 163
499
169
10.
Kriegsende und die damit verbundenen
rechtlichen Fragen
10.1. Vormundschaft
Als sich herausstellte, dass viele Menschen den Holocaust in
Deutschland
nicht
überleben
werden
und
darunter
auch
zahlreiche Eltern von Kindern der Kindertransporte, musste man
Überlegungen anstellen, wie man aus rechtlicher Sicht mit den
Kindern umgehen sollte. Alle Kinder, die unter 21 waren und
beispielsweise ihre Religionszugehörigkeit wechseln oder heiraten
wollten, brauchten dafür die Erlaubnis eines Vormundes. Da die
Bestimmung eines Vormundes für jedes der immerhin noch 8.500
Kinder im Land viel zu aufwendig gewesen wäre,, schlug das
Home Office 1943 vor, einen kollektiven Vormund für mehrere
Kinder auszuwählen.500
Da diese Vorgehensweise in England bisher jedoch nicht zulässig
war, kam es zu einigen Diskussionen, da man befürchtete,
bestimme man einen ungeeigneten Vormund so hätte das fatale
Auswirkungen auf mehrere Kinder gleichzeitig. Dennoch trat am 1.
März 1944 das Gesetz in Kraft, das diese Vorgehensweise
unterstützte. Somit war das RCM, befugt einen Vormund für die
Kinder
zu
bestimmen.
Diese
Kinder
mussten
folgende
Bedingungen erfüllen: Sie mussten unter 21 Jahre (bzw. die
Mädchen unverheiratet) sein und nach 1936 in Land gekommen
sein als Folge religiöser, politischer oder rassischer Verfolgung.
Außerdem durften sie kein Elternteil in Großbritannien haben.
Konnten die Kinder nach Kriegsende mit ihren leiblichen Eltern
500
Rebekka Göpfert, S. 172
170
oder
Elternteilen
wieder
vereinigt
werden,
verlor
die
Vormundschaft ihre Gültigkeit.501
Als Vormund für alle Kinder sollte der langjährige Chairman des
RCM, Lord Gorell, fungieren. Da es aber als Nichtjude die
Vormundschaft für überwiegend jüdische Kinder erhielt, entstand
ein Konflikt zwischen jüdischen Organisationen und dem RCM
(siehe Kapitel 8.6.).502
Gorell blieb bis ins Jahr 1959 in seiner Tätigkeit als Vormund, da
dann das letzte in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Kind sein
21. Lebensjahr vollendete.503
10.2. Staatsbürgerschaft und Adoption
Bei der Adoption von Kindern wurden sie allerdings vor ein
Problem
gestellt,
dass
nur
Kinder
mit
der
britischen
Staatsbürgerschaft adoptiert werden konnten. Die britische
Staatsbürgerschaft wurde aber nur an Kinder unter 21 vergeben,
sofern die Eltern ebenfalls in Großbritannien lebten. Doch nicht
nur für eine Adoption war die Staatsbürgerschaft von Nöten,
sondern
auch
für
den
Erhalt
eines
Passes,
bei
Erbschaftsangelegenheiten oder Stipendien.504
Da nun aber die meisten Kinder des Kindertransportes unter 21
waren, musste eine neue Regelung gefunden werden. In diesem
Punkt zeigte sich das Home Office sehr großzügig: Kinder, die
länger als fünf Jahre in England gelebt hatten, wahrscheinlich
keine leiblichen Eltern mehr hatten und voraussichtlich das Land
nicht mehr verlassen werden, konnten die Staatsbürgerschaft
beantragen. Außerdem wurden sie von den damit verbundenen
501
Ebd., S. 173
Ebd.
503
Rebekka Göpfert, S. 174 (R.G. zitiert Esther Judith Baumel: The Jewish
Refugee Children, S. 177)
504
Rebekka Göpfert, S. 174f
502
171
Gebühren befreit. Nachdem die Anträge einzeln geprüft und
bearbeitet wurden, erhielt trotz einiger Bedenken kein Kind, das
adoptiert werden sollte, die britische Staatsbürgerschaft. 505
10.3.
Suche nach der Familie und Aussichten auf
Wiedervereinigung
Nachdem der Krieg zu Ende war, begannen viele Kinder damit
ihre Eltern und Familien in Deutschland zu suchen, da durch die
Wirren des Krieges der Kontakt zur Familie meist abgebrochen
war. Als man jedoch das ganze Ausmaß erkannte und
herausfand, in welcher Form und mit welcher Brutalität die Juden
in Deutschland verfolgt und am Ende umgebracht wurden,
schwand bei vielen Kindern die Hoffnung, ihre Angehörigen
lebend wieder zu sehen. Darüber hinaus war in den meisten
Fällen nicht bekannt, ob, wann und wohin die Familie deportiert
wurde und ob sie in diesen Lagern überhaupt überlebt hatten.
Noch heute finden sich in den Verbandsorganen der „Kinder“
immer wieder Suchanzeigen nach Überlebenden des Holocaust.
Diese Suchanzeigen führten in manchen Fällen dazu, die
Todesumstände mancher Angehörigen klären zu können.506
War es tatsächlich einigen Eltern gelungen den Holocaust zu
überleben, konnte es bisweilen Monate oder sogar Jahre dauern
bis sie mit ihren Kindern Kontakt aufnehmen konnten.507 Auch das
RCM versuchte den Kindern und Pflegefamilien bei der Suche
nach Familienangehörigen in England zu helfen. Dies geschah
meist mit der Unterstützung des britischen Militärs oder des Roten
Kreuzes. Doch im Zuge des Krieges kam es durch Namensoder
505
Rebekka Göpfert, S. 175 (R.G. zitiert Norman Bentwich: They found Refuge.
An account of British Jewry’s work for victims of Nazi oppression, S. 72)
506
Rebekka Göpfert, S. 178
507
Ebd., S. 179
172
Adressenänderungen und mangelnde Kommunikations- und
Transportmöglichkeiten
immer
wieder
zu
Verwirrungen,
Verzögerungen und falschen Informationen.508
Konnten die Eltern letztendlich mit ihren Kindern wieder vereinigt
werden,
ergaben
sich
neben
der
Freude
über
diese
Zusammenführung auch neue Probleme für die Kinder: Zu den
Problemen, die die Kinder inzwischen mit der deutschen Sprache
hatten und dadurch die Verständigung zwischen Eltern und Kind
erschwert
wurde,
kam
hinzu,
dass
die
Kinder
mit
Loyalitätskonflikten zu kämpfen hatten, da sie sich nun zwischen
der Gastfamilie und ihren leiblichen Eltern entscheiden mussten.
Zum wiederholten Male musste das Kind seine gewohnte
Umgebung verlassen. Hinzu kam, dass viele Eltern durch die
Geschehnisse in Deutschland traumatisiert waren und dadurch
ein Zusammenleben mit den Kindern erschwert wurde, da sie
teilweise selbst auf Unterstützung angewiesen waren.509
„Schließlich hörte ich, dass meine Mutter überlebt hatte. Sie
wurde in der Leichenhalle des Lagers Mauthausen gefunden. Sie
muss sich wohl bemerkbar gemacht haben, als das Lager befreit
wurde – so kehrte sie von den Toten zurück. Sie war schwer
krank. Zuerst kam sie nach Prag. Keiner von all den Menschen,
mit denen ich aufgewachsen bin, hatte überlebt. Als es ihr besser
ging, kam sie hierher. Ich hatte sie das letzte Mal gesehen, als ich
zwölf war, nun war ich 18. Es war eine ungeheure Kluft zwischen
uns. Eines der ersten Dinge, die sie zu mir sagte, war, dass ich ihr
als Einzige geblieben sei, um ihr Leben wieder in Ordnung zu
bringen. Das konnte ich nicht. Es gab keine Mutter-und-TochterBeziehung mehr. Ich durfte sie nicht aufregen. Wie geht man mit
einer Mutter um, die Auschwitz überlebt hatte? Erst später wurde
mir klar, dass ich nach dem Krieg eine andere Mutter
zurückbekam."510
508
Ebd., S. 180
Barry Turner, S. 143
510
Ebd., S. 253
509
173
Darüber hinaus waren sich die Eltern und Kinder im Laufe der Zeit
fremd geworden und sie sahen nun ihre Pflegefamilie als „richtige“
Eltern an. Es entstanden sogar Konflikte zwischen Eltern und
Kindern und zwischen leiblichen und Pflegeeltern. Das hatte oft
schwere Schuldgefühle seitens der Kinder zur Folge:
„Liesls Mutter besuchte uns, nachdem sie nach einer Operation
gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie ist
furchtbar unglücklich, weil Liesls Pflegemutter, Frau Wynne,
letzten Sonntag mit dem Kind zu ihr kam und sie, die leibliche
Mutter aufforderte, per schriftlicher Erklärung das Sorgerecht auf
die Pflegemutter zu übertragen. Frau Wynne drohte damit, Liesl
nicht
wieder
zurückzunehmen
und
ein
anderes
Kind
zu
adoptieren, falls das entsprechende Formular nicht unterzeichnet
würde. Liesl liebt sowohl ihre Mutter als auch ihre Pflegeeltern.
Sie versprach, den Wynnes zu erklären, dass sie sehr an ihnen
hänge und ein Formular, das die Vormundschaft regelt, unnötig
fände, zumal sie auch ihre Mutter nicht verletzen wolle.“511
10.4. Das Ende des RCM
„Auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung des „Refugee
Children’s Movement“ am 21. Dezember 1948 wurde mit
sofortiger Wirkung die Auflösung des RCM beschlossen. Zugleich
wurden der gesamte Besitz des RCM – „after satisfaction of all its
depts liabilities“ – dem „Central British Fund for Jewish Relief and
Rehabilitation“ (CBF) zugeführt, wo sich die Akten der Kinder,
soweit vorhanden, noch heute befinden. Auch die Betreuung der
Kinder unter 21 Jahren wurde von da an durch das CBF erfüllt.“ 512
511
Ebd., S. 142. Anmerkung: Liesls Mutter gelang die Flucht nach England und
wollte nun selbst für ihr Kind sorgen. Es entstand eine wahre Schlacht zwischen
leiblicher Mutter und Pflegemutter. Bericht aus dem „Bloomsbury House“.
512
Rebekka Göpfert, S. 185 (R.G. zitiert Dokument, datiert vom 29. November
1948 (CBF, Reel 28, File 164))
174
11. Rückblick
Rückblickend auf die Kindertransporte bleibt leider bis heute die
Frage unbeantwortet, warum nicht mehr Kinder oder allgemein
mehr Menschen vor dem Wüten der Nationalsozialisten gerettet
werden konnten. Ich denke, dass nicht nur der Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges verhindert hat, mehr Kinder nach England zu
bringen. Man hätte im Vorfeld viel mehr Kapazitäten zur
Verfügung stellen müssen, um so die weitere Rettung von Kindern
möglich zu machen. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass die
britische Regierung viel früher auf den Nationalsozialismus in
Deutschland hätte reagieren müssen und nicht erst eine
Wartestellung einnehmen, bis das Treiben der Nazis und deren
Ziele schon offensichtlich wurden. Gleichzeitig wäre es durch
finanzielle Unterstützung der britischen Regierung gelungen, die
benötigten Kapazitäten für die Kindertransporte zu erweitern.
Ein weiterer Grund, der die Zahl der geretteten Kinder auf 10.000
beschränkte,
war
Flüchtlingsorganisationen
die
in
Tatsache,
dass
jegliche
nur sehr kurzer Zeit handeln
mussten. Sie konnten also keine einschlägigen Erfahrungen
vorweisen, zogen aber auch keine Experten hinzu, die sich
beispielsweise
mit
dem
persönlichen
Umgang
mit
Flüchtlingskindern auskannten. Doch gerade in dieser, für die
Kinder sehr schweren Zeit, fehlte es an der psychischen
Betreuung. Leider erkannten die Flüchtlingsorganisationen diese
Problem nicht, da ihr wichtigstes Anliegen die Rettung der Kinder
war. In der heutigen Zeit ist man sich, im Gegensatz zu Damals
dieser Problematik bewusst. Man ist sich mittlerweile über die
Wichtigkeit
der
psychologischen
Betreuung
in
solchen
Aussnahmefällen im Klaren und großen Wert auf sie.
Darüber hinaus fehlten auch die finanziellen Mittel. Die daraus
resultierenden Folgen für die Kinder waren z.T. schwere
175
psychische Traumata. Teilweise fühlen sich die „Kinder“ bis heute
heimatlos, was u.a. auch auf die Evakuierung und spätere
Internierung zurückzuführen ist. Manche Kinder mussten in ihren
ersten zehn Lebensjahren fünf Mal oder noch öfter ihren Wohnort
wechseln, meist gerade wenn sie anfingen, sich heimatlich zu
fühlen. Bis heute ist es teilweise so, dass viele „Kinder“ trotz eines
britischen Passes immer wieder vor Augen gehalten bekommen,
dass sie im Grunde immer noch Flüchtlinge seien und somit
automatisch Menschen zweiter Klasse.
Blickt man zurück auf die Arbeit der Kirchen und deren Hilfe an
ihren Mitmenschen, so stellt man fest, dass auch hier im Grunde
der Auftrag des christlichen Glaubens versagte. Abgesehen vom
„Büro Grüber“, dem Hilfswerk der katholischen Kirche und der
Arbeit der Quäker, waren die religiösen Gemeinden in erster Linie
damit beschäftigt, die Rechte ihrer Institutionen zu verteidigen. Die
Hilfe an ihren Mitmenschen musste vor den eigenen Interessen
der Kirchen zurücktreten. Erst als man bemerkte, wie aussichtslos
der Kampf war, wandte man sich den Hilfesuchenden zu.
Bedenkt
man
jedoch
die
Umstände,
unter
denen
die
Kindertransporte organisiert wurden, muss betont werden, dass
es schon eine beachtliche Leistung war, diese 10.000 Kinder nach
England zu retten. Wobei ich hier auch die Arbeit des „Büro
Grübers“ und die der Quäker hervorheben möchte. Viele
Mitarbeiter dieser Institutionen oder der Flüchtlingsorganisationen
begaben sich mit ihrer Arbeit in lebensgefährliche Situationen.
Unbeirrt der drohenden Sanktionen versuchten sie so weit es
möglich war, das Leben der „Kinder“ zu retten. Darüber hinaus
wurde durch das Zusammenwirken der einzelnen Gruppen mit
dem gleichen Ziel der jüdischen Gemeinde in Deutschland
gezeigt, dass sie nicht allein gelassen wurden.
Ebenfalls muss hervorgehoben werden, dass es nicht allen
Kindern schlecht erging. Viele Kinder realisieren erst heute, dass
ihnen ihr Leben neu geschenkt wurde, als sie mit einem
176
Kindertransport nach England kamen. Die meisten bedauern es,
dass sie sich nicht mehr bei ihren Eltern dafür bedanken konnten.
Darüber hinaus gibt es auch angenehme Erinnerungen an das
Leben in England, wie beispielsweise die Kinder, die bei der
Familie Schlesinger unterkamen und bis heute noch engen
Kontakt zu den leiblichen Kindern der Schlesingers haben.
Es steht jedoch außer Frage, dass diese 10.000 Kinder heute
nicht mehr leben würden, wenn sie nicht die Chance gehabt
hätten, mit einem Kindertransport nach England zu fliehen!
177
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akte: Pr. Br. Rep. 36A,
Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg /2278/
Bericht von Geertrudia Wijsmuller-Meijer, den sie 1961 in YAD
VASHEM
gegeben
hat.
Dokument:
Archiv
Amsterdam:
Nederlands Instituut for Oorlogs Documentatig, Heren Gracht,
NL 1000 Amsterdam.
Brief
von
Geertrudia
Wijsmuller-Meijer
an
den
SS-
Obersturmbannführer im Sicherheitsdienst Den Haag, Herrn
Rajakowitsch, aus Amsterdam, den 26. August 1941, Dokument:
Archiv
Amsterdam:
Nederlands
Instituut
for
Oorlogs
Documentatig, Heren Gracht, NL 1000 Amsterdam.
Drucker, Olga Levi: Kindertransport. Allein auf der Flucht, Lamuv
Verlag, Göttingen 1995.
Friedler, Ya‘acov: Die leisen Abschiede. Geschichte einer Flucht,
Reiner Padligur Verlag, Hagen 1993.
Schwarz, Rosa Rachel: Zwei Jahre Fürsorge der Kultusgemeinde
unter Hitler, DÖW Signatur 2737, aus dem Archiv YAD
VASHEM, Tel Aviv, Mai 1944. (Handschriftlicher Vermerk:
Überreicht am 16. April von Frau Rosa Rachel Schwarz.
Manuskript niedergeschrieben im April 1940.)
Sekundärliteratur
178
Adler-Rudel, S. : Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 19331939, J.C.B. Mohr (Paul Sibeck), Tübingen 1974.
Begegnungen mit dem Judentum. Ein Gedenkbuch, (2.Heft der
„Stimme der Freunde“), Herausgegeben von der Religiösen
Gesellschaft der Freunde in Deutschland, 1962.
Benz, Wolfgang und Pehle, Walther H. (Hrsg.): Lexikon des
deutschen Widerstandes, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
1994. (Im Text zitiert: Wolfgang Benz)
Bethge, Eberhard (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer – Gesammelte
Schriften, Zweiter Band, Chr. Kaiser Verlag, München 1965.
Braune, Gerd: Flucht ins Ungewisse. Kindertransporte retteten viele
junge Juden vor den Nazis: zum Beispiel Helmut Kallmann,
Artikel in: Frankfurter Rundschau, 19.6.1999, S. ZB1.
Cramer, Hans Donald: Das Schicksal der Goslarer Juden 1933-45.
Eine
Dokumentation,
Selbstverlag
des
Geschichts-
und
Heimatschutzvereins Goslar e.V., Goslar 1986.
Darton, Lawrence: An Account of the Work of the Friends
Committee for Refugees and Aliens, first known as the Germany
Emergency Committee of the Society of Friends, 1933-1950,
herausgegeben von The Friends Committee for Refugees and
Aliens, 1954.
179
Die
jüdische
Emigration
aus
Deutschland
1933-1941:
Die
Geschichte einer Austreibung. Eine Ausstellung der Deutschen
Bibliothek Frankfurt am Main, unter Mitwirkung des Leo Baeck
Instituts, New York. Buchhändlervereinigung, Frankfurt am Main
1985.
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.):
Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und
Verfolgten, Band 3: Jüdische Schicksale, Österreichischer
Bundesverlag, Wien 1992.
Drehsen, Volker; Häring, Hermann u.a. (Hrsg.): Wörterbuch des
Christentums, Orbis Verlag, Düsseldorf 1988.
dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Band 2, Deutscher Taschenbuch
Verlag GmbH & Co. KG, München 1982.
Dudzus, Otto (Hrsg.): Bonhoeffer – Auswahl 2. Gegenwart und
Zukunft der Kirche 1933-1936, Siebenstern Taschenbuch
Verlag, München 1970.
Epstein, Hedy: Vergesse deine lieben Eltern nicht, Vortrag vor
Schüler/innen der Berufsbildenden Schulen in Ennepetal am
18.6.1991
(Abschrift
einer
Videoaufnahme).
Aus
dem
Antifaschistischen Arbeitskreis Gevelsberg.
Eisen, George: Spielen im Schatten des Todes. Kinder im
Holocaust, Piper Verlag, München 1993.
Gedenkstätte Plötzensee, Herausgegeben von der Landeszentrale
für politische Bildungsarbeit Berlin, Otto H. Hess Verlag, Berlin
1967.
180
Gerlach, Wolfgang: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche
und die Juden, Institut Kirche und Judentum, Tahlheimer Verlag,
Berlin 1993.
Göpfert, Rebekka: Der jüdische Kindertransport von Deutschland
nach England 1938/39, Campus Verlag, Frankfurt am Main
1999. (Im Text zitiert: Rebekka Göpfert)
Göpfert, Rebekka (Hrsg.): Ich kam allein. Die Rettung von
zehntausend
jüdischen
Kindern
nach
England
1938/39,
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997.
Gold, Hugo: Geschichte der Juden in Wien. Ein Gedenkbuch,
Publishing House OLAMENU, Edition „OLAMENU“, Tel Aviv
1966.
Halle, Anna Sabine: Alle Menschen sind unsere Brüder... . Artikel
in: Tribüne 23, 1984, H.90 S.160-166.
Hanky, Dieter: Im Zeichen des Kreuzes. Von den mittelalterlichen
Bistümern zum Bistum Berlin. Ein Gang durch 1000 Jahre
Kirchengeschichte, Servi Verlag, Berlin 1998.
Hirschfeld, Gerhard (Hrsg.): Exil in Großbritannien: Zur Emigration
aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Ernst Klett Verlag,
Stuttgart 1983.
Hofer, Walther: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945,
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1957.
Kushner, Tony and Knox, Katharine: Refugees in an age of
Genocide. Global, National and Local Perspectives during the
Twentieth Century, Frank Cass, London 1999.
181
Lindt, Andreas: Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische
Heilslehren und ökumenischer Aufbruch, Verlag W. Kohlhammer
GmbH, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1981.
Niemöller,
Wilhelm:
Der
Pfarrernotbund.
Geschichte
einer
kämpfenden Bruderschaft, Friedrich Wittig Verlag, Hamburg
1973.
Meyer,
Dr.
Hermann
und
Langenbeck,
Wilhelm
(Hrsg.):
Weltgeschichte im Aufriss. Arbeits- und Quellenbuch. Von der
Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Verlag Moritz
Diesterweg, Berlin 1970.
Ortmeyer, Benjamin (Hrsg.): Berichte gegen Vergessen und
Verdrängen von 100 Überlebenden jüdischen Schülerinnen und
Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt am Main, Verlag Wehle,
Witterschlick/Bonn 1995. (Im Text zitiert: Benjamin Ortmeyer,
Berichte gegen Vergessen und Verdrängen.)
Ortmeyer, Benjamin: Schicksale jüdischer Schülerinnen und
Schüler
in
der
NS-Zeit
–
Leerstellen
deutscher
Erziehungswissenschaft?, Verlag Wehle, Witterschlick/Bonn
1998. (Im Text zitiert: Schicksale jüdischer Schülerinnen und
Schüler.)
Sandvoß, Hans-Rainer: Widerstand in Mitte und Tiergarten, Band 8
der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis
1945,
Herausgegeben
von
der
Gedenkstätte
Deutscher
Widerstand, 1994.
Sandvoß, Hans-Rainer: Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, Heft
2 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis
182
1945,
Herausgegeben
von
der
Gedenkstätte
Deutscher
Widerstand, 1986.
Scholder, Klaus: Die Kirche und das Dritte Reich, Band 1,
Propyläen Verlag, Frankfurt am Main 1977.
Sommer, Wilhelm: Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus,
Klett Verlag, Stuttgart 1984.
Turner, Barry: Kindertransport. Eine beispiellose Rettungsaktion,
Bleicher Verlag, Gerlingen 1994.
Wahle, Hedwig: Mutter, Vater ,Bruder, ich. Geschichte einer
Familie, die den Holocaust überlebte. Artikel in: Entschluß –
Spiritualität, Praxis, Gemeinde, 46. Jahrgang, Nr. 5/1991.
Walk, Joseph: Jüdische Schule und Erziehung im Dritten Reich,
Verlag Anton Hain Meisenheim GmbH, Frankfurt am Main 1991.
Weckerling, Rudolf (Hrsg.): Durchkreuzter Hass. Vom Abenteuer
des Friedens, Käthe Vogt Verlag, Berlin 1961.
Zahl Gottlieb, Amy: Men of Vision. Anglo-Jewry’s Aid to Victims of
the Nazi regime 1933-1945, Weidenfeld & Nicolson, London
1998.
183
Erklärung
Ich versichere, dass ich die schriftliche Hausarbeit einschließlich
evtl. beigefügter Zeichnungen, Kartenskizzen, Darstellungen u.ä.m.
selbständig angefertigt und keine anderen als die angegebenen
Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem
Sinn nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem
einzelnen Fall unter genauer Angabe der Quelle deutlich als
Entlehnung kenntlich gemacht.
Ich bin damit einverstanden, dass diese Hausarbeit nach Abschluss
meiner
Ersten
Staatsprüfung
wissenschaftlich
interessierten
Personen oder Institutionen zur Einsichtnahme zur Verfügung
gestellt wird und dass zu diesem Zweck Ablichtungen dieser
Hausarbeit hergestellt werden, sofern diese keine Korrektur- oder
Bewertungsvermerke enthalten.
Oberhausen, 28. September 1999
184
Herunterladen