Geschichte der PSYCHIATRIE und PSYCHOTHERAPIE in

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Geschichte der PSYCHIATRIE und PSYCHOTHERAPIE in Stichworten I
Griechisch-römische Psychiatrie Im 5. Jhd. v. Chr., d.h. zw. 474 - 425 v. Chr. verdrängt der legendäre Arzt
Aeskulap (Asklepios) Apollo als Gott von Krankheit und Heilung. In seinen Tempeln (den Asklepiaien) wurden
die Patienten durch "Tempelschlaf" behandelt: im Schlaf ließ der Gott Verordnungen wissen. Im Gegensatz
zur religiösen Medizin der Priesterärzte in Ägypten und Mesopotamien waren für die griechischen Ärzte
Krankheiten natürlich erklärbar - Magie und Mythos wurden von der Medizin getrennt.
EMPEDOKLES von Agrigent (504 - 433 v. Chr.) entwickelt die Humoralpathologie (Viersäftetheorie):
Krankheiten entstehen durch ein Ungleichgewicht der Körpersäfte (gelbe Galle in der Leber, Schwarze Galle
in der Milz, Schleim im Gehirn, Blut im Herzen) die den 4 Elementen entsprechen (Feuer, Erde, Wasser, Luft).
Behandlung mit Arzneimitteln entgegengesetzter Eigenschaften. Kennt den Wahnsinn (Apnoe) und die
hysterische Lethargie. Empedokles suizidierte sich im Ätna.
HIPPOKRATES von Kos (460 - 377 v. Chr.), Vater der Medizin, in seiner Schrift "Über die heilige
Krankheit": "Mit der sogenannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: diese scheint mir in
nichts göttlicher und heiliger zu sein als andere Krankheiten, vielmehr scheint sie mir gleich den übrigen
Krankheiten eine natürliche Ursache zu haben, aus welcher sie entsteht... Die Menschen aber haben infolge
ihrer Unerfahrenheit und Verwunderung geglaubt, ihre Beschaffenheit wie ihre Veranlassung seien etwas
Göttliches, weil sie in keinem Punkte den anderen Krankheiten gleicht... In Wirklichkeit aber ist das Gehirn
schuld an diesem Leiden..." (Unabhängigkeitserklärung der Medizin von der Magie). Für ihn ist das Gehirn der
Ort der Wahrnehmungen, Stimmungen, „Geisteskrankheiten“. Er beschreibt die heiteren und traurigen Delirien
(für ihn z.T. entzündliche Erkrankungen), Folgen der Trunkenheit und depressiv-ängstliche Verstimmungen.
Die Hysterie entsteht für ihn durch Wanderung der Gebärmutter in Richtung Leber oder Kopf. Nach dem Anfall
sind für ihn Ehe und Schwangerschaft die besten Heilmittel. „Wer stark, gesund und jung bleiben und seine
Lebenszeit verlängern will, der sei mäßig in allem, atme reine Luft, treibe täglich Hautpflege und Körperübung,
halte den Kopf kalt, die Füße warm und heile ein kleines Weh eher durch Fasten als durch Arzneien.“
Sammlung des Corpus Hippocraticum in Alexandrien zwischen 420 v. Chr. und 100 n. Chr.: "Epidemische
Krankheiten", "Über die Prognose", "Über Luft, Wasser und Orte", "Über die Natur des Menschen", "Das
Gesetz", "Der Arzt" mit dem Eid des Hippokrates. Harmonisierung des Ungleichgewichtes der Säfte durch
Diät.
Schulenbildungen nach Hippokrates (Dogmatiker um 400 v. Chr., Empiriker um 300 v. Chr., Methodiker
um 100 v. Chr. und Pneumatiker um 30 n. Chr.) und philosophische Einflüsse befruchten die griechische
Medizin. Man kannte die Phrenitis (nach SORANUS von Ephesus, ca. 100 n. Chr. ein Fieberdelirium), die
Manie und die Melancholie (als aufgeregte und ruhige Formen der Verrücktheit). Die Hysterie galt als
somatische Uteruserkrankung („vielgestaltig und befremdend, tierhaft..“). Behandelt wurde mit Isolierung,
Aderlaß, Diät, Massagen und "Psychotherapie" (z.T. auch Drohungen, Folterungen, plötzliches Untertauchen).
Da wegen der häufigen Rückfälle die „Geisteskrankheiten“ oft unheilbar waren, durfte der Arzt die Behandlung
ablehnen (ARETAIUS). Für den Philosophen ALKMAION von Kroton ist das Gehirn der Sitz der Intelligenz.
ARETAIOS von Kappadokien (um 80 n. Chr.) beschreibt sehr genau die Epilepsie. Er unterscheidet
zwischen Tobsucht und fiebrigem, akutem Delirium. Manie und Melancholie sind für ihn zeitlich
aufeinanderfolgende Symptome der gleichen Erkrankung.
SORANOS von Ephesus (um 100 n. Chr., berühmtester Gynäkologe Roms) betont die Unterschiede
zwischen Manie und Melancholie. Er bekämpft die barbarischen Therapievorschläge bei der Manie:
Dunkelhaft, überlange, schwächende Diät, Anketten, Einschüchterung, körperliche Gewalt. Er empfiehlt: Irre in
angenehme Räume, nicht schlagen, nicht aufregen, taktvoll und nachsichtig behandeln.
GALEN aus Pergamon (130-201 n.Chr.), Gladiatorenarzt und Leibarzt des Philosophenkaisers Marc
Aurel, sammelte als bedeutender Anatom und Physiologe in über 100 Abhandlungen das medizinische
Wissen seiner Zeit, versuchte das Werk des HIPPOKRATES wiederherzustellen und fortzuführen. Er
beschreibt die hypochondrische Melancholie und lehrt eine pädagogische Psychotherapie der krankmachenden Leidenschaften. Epileptiker nennt er Lunatiker.
MITTELALTER UND RENAISSANCE: Zunächst monastische Medizin (z.B. Hildegard von Bingen [12.
Jahrhundert], magische/naturalistische Medizin: schwarze Galle ist ein diabolisches Gift seit dem Sündenfall)
bis zum Konzil von Clermont 1130, danach Vorherrschaft der arabischen Medizin.
Ibn Sina AVICENNA (980 - 1037), islamischer Philosoph und Arzt. Sein Canon medicinae wird für 500
Jahre maßgebliches Lehrbuch. Er beeinflußte Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Hauptwerk: Buch der
Genesung (der Seele).
Moses MAIMONIDES (Moshe ben Maimeon, *Cordoba 1135 - Kairo 1204), jüdischer Philosoph,
Theologe und Arzt (später Hofarzt in Kairo) Galeniker. Philosophisches Hauptwerk: "Führer der Verirrten".
Erste Abteilungen für „Geisteskranke“ an arabischen Spitälern (Bagdad 750, Cairo 873), seit dem 13.
Jahrhundert auch im Westen (Paris, Lyon, Montpellier, London, München, Braunschweig, Freiburg, Basel,
1256 Heilig-Geist-Hospital Hannover). Spezialanstalten für „Geisteskranke“: Damaskus 800, Aleppo 1270,
Cairo 1304, Fez 1500. In Europa Rückfall in Teufelswahn und Hexenglauben. Häufung psychischer Epidemien
oder Massenpsychosen (Flagellantentum, Tanzepidemien, Kinderkreuzzüge, Judenverfolgungen). Zunahme
der Verfolgung psychisch Kranker in der Inquisition. Gleichzeitig "goldenes Zeitalter" der spanischen Medizin
und Zivilisation mit Eröffnung von Irrenanstalten (Valencia 1409 bis Toledo 1480).
1484 "Hexenbulle" von Papst INNOZENZ VIII erlaubt die ersten Hexenprozesse
1486 "Hexenhammer" der Dominikaner Heinrich KRÄMER und Jakob SPRENGER. Erster ärztlicher Protest:
Besessene und Hexen sind „geisteskrank“ und brauchen ärztliche Behandlung.
1520 PARACELSUS (Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, *1491(1493/1494?)
Einsiedeln -1541; berühmtester Arzt seiner Zeit) in "Von den Krankheiten, die der Vernunft berauben"
(veröffentlicht 1567): „Geisteskrankheiten“ sind nicht durch Geister verursacht, sondern natürliche
Krankheiten. Er unterscheidet Epilepsie und Manie (durch Störung des spiritus vitae), St. Veitstanz
(Tanzwut durch reizende Salze des spiritus vitae), Suffocatio intellectus (Mischform von Epilepsie und
Hysterie). Krampfzustände und Wahnsinn entstehen durch Schläge auf den Kopf. Er lehnte drastisch
das Bücherwissen ab, verbrannte 1527 in Basel Lehrbücher von Hippokrates, Galen und Avicenna.
Therapie mit alchimistischen Rezepten (der Körper als Alchimistenküche – innere und äußere
Alchemie [Scheidekunst]). Magnet als Symbol verborgener Heilkräfte der Natur. Widersprüchliche
Werke.
1637 René DESCARTES (Renatus Cartesius: *1596 in der Tourraine, gest. 1650 Stockholm), französischer
Philosoph, Mathematiker und Naturforscher, veröffentlicht seine Werke aus Furcht vor der Inquisition
(1633 Verurteilung G. Galileis) anonym. Er stellt wissenschaftl. Beweise radikal in Frage („Cogito, ergo
sum!“), sieht die seelische Wirklichkeit (res cogitans) von der körperlichen Wirklichkeit (res extensa)
getrennt und beeinflußt. Er beeinflußt LOCKE, LEIBNITZ, de SPINOZA, KANT.
1563 "De Praestigiis Daemonum" von Johan WEYER (1515 - 1588, Stadtarzt in Brabant und herzoglicher
Leibarzt): Teufels- und Hexenwahn ist gotteslästerlich, die Besessenen sind entweder melancholische
„Geisteskranke“ oder Schwindler mit großem Geltungstrieb. Die Priester haben die Religion zur Magie
verfälscht. Besessene gehören zunächst in ärztliche Behandlung.
1614 Papst PAUL V. faßt die Leitlinien für exorzistische Handlungen im Rituale Romanum in 21 Regeln
zusammen (1952 von Papst PIUS XII überarbeitet): Prüfung des Besessenen, Befragung der
Besessenheitsgeister. Untrügliche Zeichen für Besessenheit: Verstehen und Sprechen fremder, dem
Besessenen unbekannter Sprachen; das Wissen um geheime Dinge, die der Besessene nicht wissen
kann (Hellsichtigkeit), Körperkräfte, die über das Verstehbare hinausgehen; Aversion gegen Göttliches
(gegen Kirchenräume, Bibeln, kleinste Mengen Hostiensubstanz oder Weihwasser); paranormale
Erscheinungen in- und außerhalb des Körpers, besonders während des Exorzismus. Für großen
Exorzismus werden 4 Stunden veranschlagt.
1618 Charles Le POIS hält die Hysterie für eine Erkrankung des Gehirns
1657 Versuch, die soziale Krise durch Einsperren der Armen in Armengefängnissen zu lösen ("Hopital
genéral", Zuchthaus, Workhouse). Teilweise werden besondere Abteilungen für „Geisteskranke“
eingerichtet. 1661 hatte das Pariser Hopital Général nur noch 10% "Irre"!
1672 Thomas WILLIS (1632 - 1675, "Vater der Neurologie") vermutet in seinem neuropsychiatrischen
Lehrbuch erbliche und erworbene Gründe für die „Geisteskrankheiten“.
1680 Abschaffung der Todesstrafe für Hexen in Frankreich. 1782 letzte Hinrichtung einer Hexe in Europa
(Anna Göldi in Glarus, CH). Letzte Hexenverbrennung in Deutschland 1793 in Posen.
1680 Thomas SYDENHAM (1621 - 1689, Vertreter eines "gehobenen Hippokratismus") beklagt zunehmende Häufigkeit der undurchsichtigen und schwer zu behandelnden weiblichen Hysterie bzw. der
männlichen Hypochondrie, die für ihn keine humorale Erkrankung ist, sondern eine Ataxie (Störung der
geordneten Bewegung) oder ein Spasmus (Spannungszustand) der spiritus animales.
AUFKLÄRUNG: Neue Irrenanstalten in Bologna (1710), Warschau (1726), Berlin (1728), Ludwigsburg (1746),
London (1759), Manchester und Kopenhagen (1766), Wien (1784). Kleine vorbildliche Privatanstalten
("Maisons de Santé"). Befreiung der Irren von ihren Ketten: 1787 Abraham JOLY in Genf; 1793 Philippe
PINEL im Pariser Spital Bicétre; 1796 der Quäker William TUKE in York; 1805 John Gottfried LANGERMANN
in Bayreuth. Weiterentwicklung der Psychotherapie, aber auch der Schocktherapie, z.B. mit dem Darwinschen
Stuhl (vom Großvater Charles Darwins, dem Arzt Erasmus DARWIN 1731-1802 erfunden): Drehung bis zu
Blutungen aus Mund, Nase, Ohren kommt. Drogentherapie durch Belladonna, Kampfer, Digitalis, magnetische
Kuren, elektrische Behandlungen. Widersprüchliche Erklärungs-"Systeme".
1755 Doktorarbeit von Franz Anton MESMER (1734-1815, schwäbischer Theologe und Arzt) über "Gravitas
animalis": Einfluß der Planeten auf menschliche Krankheiten. Ab 1774 Übertragung magnetischer Kraft
durch Handauflegung, ab 1775 "Magnetismus animalis" mit Fluidumtheorie. 1778 Modearzt in Paris,
Flucht als Quacksalber (war eher Rationalist, spekulativer Systematiker).
1761 MORGAGNI fördert durch pathologisch-anatomischen Untersuchungen (u.a. an „Geisteskranken“) den
Solidismus (die festen Teile sind die Ursache aller Krankheiten) und Somatismus (Säftelehre)
1769 Der schottische Medizinlehrer William CULLEN (1710-1790) prägt nach Albrecht von HALLERs
Studien an Nerven und Muskeln den Begriff "Neurose". Er empfiehlt u.a. die Zwangsjacke.
1784 Armand-Marie-Jaques de Chastenet, Marquis de PUYSÉGUR (1751-1825) Schüler Mesmers,
beschreibt den künstlichen "Somnambulismus" und den posthypnotischen Auftrag, beginnt ärztl. Hypn.
1784 Kaiser Joseph II. gründet das Allgemeine Krankenhaus in Wien. Der Narrenturm hat 139 Zellen, bis
1853 ist die Besichtigung der Irren gegen Eintritt möglich.
1792 GALVANI und VOLTA beweisen die "tierische" Elektrizität
1798 Philippe PINEL (1745 - 1826, Arztsohn, studierte Theologie, Mathematik und Medizin, Freund von
Cabanis und Thouret) übernimmt die Leitung des Irrenhauses Bicétre (ab 1795 das Irrenhaus der
Salpétrière) und befreit am 24.5.1798 die 49 "Irren von ihren Ketten". Paris wird durch ihn für 100
Jahre neuropsychiatrisches Weltzentrum. 1794 Professor für Hygiene, später für Innere Medizin, 1822
Zwangspensionierung. Er sieht die Ursachen der „Geisteskrankheiten“ in Vererbung, Erziehung,
Leidenschaften (Passionen), körperlichen Ursachen. Er unterscheidet Manie (periodische akute
bizarre oder traurige Verstimmung, "rein nervös"), Melancholie (überwertige traurige oder
größenwahnsinnige Ideen), Demenz (durch Erschöpfung oder sexuelle Ausschweifungen) und
Idiotismus (häufig nach Schädelverletzungen). Er behandelt eher sozialpsychiatrisch ("Traitment
moral"): keine Ketten, selten Zwangsjacke und Douche. Vor allem Kontinuität, Ordnung,
Leibesübungen, Arbeit, Psychotherapie (mit Autorität, Überlegenheit, List des Arztes). Besessenheit
und Exorzismus hält er für Schwindel. Boshafte, Reiche und Mächtige sind nach seinen Untersuchungen therapieresistent. Einweisung der Irren war keine Polizeimaßnahme mehr.
1799 Pierre CABANIS (1757 - 1808, Freund und Förderer von Pinel) in "Traité du Physique et du Moral de
l'Homme": moralische, d.h. psychologische Phänomene sind physiologisch erklärbar, moralische
Eindrücke (passions) haben physiologisch-pathologische Folgen.
1807 Franz Joseph GALL veröffentlicht seine „Gehirn-, Schedel- und Organlehre“ (später: Phrenologie)
1810 „Organon der rationalen Heilkunde“ von Dr. med. Chr. Friedr. Samuel HAHNEMANN (1755 Meißen1843 Paris): Similia similibus curant (Chinarinde, Potenzieren, dynamische Verschüttelungen,
Repetorien, Komplexmittel von Afterhomöopathen, psorisches + syphilitisches Miasma, Mittelfolge)
1811 Johann Christian August HEINROTH (1773 -1843, nennt sich als Dichter Treumund Wellentreter)
übernimmt in Leipzig den ersten deutschen Lehrstuhl für Psychiatrie. Hauptvertreter der romantischen
Medizin. Sah „Geisteskrankheiten“ als reine Seelenkrankheiten und Folge der Sünde an. Der Sünder
wird von Gott mit dem Verlust der Willensfreiheit bestraft und ist trotzdem für seine Taten verantwortlich! Heinroth prägt den Begriff "Psychosomatik", ohne Psychosomatiker zu sein.
Die PSYCHIKER der romantischen Medizin sahen die „Geisteskrankheiten“ als Erkrankungen der körperlosen
Seele (Heinroth, Ideler, Beneke). Justinus Kerner (1786 - 1862) und K.K. Eschenmeyer (1768-1852) glaubten
sogar an Besessenheit und empfahlen den Exorzismus. Die SOMATIKER hielten die „Geisteskrankheiten“ für
körperliche Erkrankungen mit seelischen Symptomen, weil die unsterbliche Seele nicht erkranken könne
(Friedrich Nasse, Maximilian Jakobi). Gründung von modernen Irrenanstalten: 1811 Sonnenstein, 1825
Siegburg, 1827 Hildesheim, 1836 Halle, 1842 Illenau (Leiter: Christian ROLLER [1802-1878], propagierte nonrestraint, wollte relativ verbundene Heil- und Pflegeanstalten. 1838: "Grundsätze für die Errichtung neuer
Irrenanstalten").
1813 Thomas SUTTON (1767 - 1835) und Samuel Burton PEARSON beschreiben das Delirium tremens,
19% Letalität wird vermutet (nach Einführung von Distraneurin 1-8% Letalität).
1818 Jean-Etienne-Dominique ESQUIROL (1772 - 1840, wichtigster Schüler von PINEL, leitete mit ihm die
Salpétrière) bereist Frankreich, beschreibt die skandalösen Zustände in den Irrenanstalten
(Krankenhäuser oder Haftanstalten?) und entwirft das vorbildliche Gesetz zur Reform des Irrenwesens
(1838): „Geisteskranke“ sind behandlungsbedürftige Kranke, ihre Freiheit und ihr Besitz sind zu
schützen, gefährliche Kranke müssen zum Schutz der Gesellschaft interniert werden, die
Verwaltungsbehörden weisen ein. Als scharfer Beobachter und vorurteilsfreier Therapeut erkennt er
u.a., daß die Masturbation und andere sogenannte "Ursachen" der „Geisteskrankheiten“ in Wirklichkeit
eher Symptome waren. Er gründet Musterkliniken, entwickelt die Lehre von den (affektiven, instinktiven, intellektuellen) Monomanien (Einzelwahn bei sonst erhaltener Persönlichkeit: heute noch als
Kleptomanie, Pyromanie, Poriomanie verwendet) den partiellen Verrücktheiten. Viele bedeutende
Schüler.
1822 Antoine Laurent BAYLE entdeckt die progressive Paralyse (10% der Insassen;
R.Schumann,Smetana).
1822 Thomas de Quincey: „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“. Opiumkriege 1839 + 1857.
1835
1836
1841
1841
1843
1845
1848
1851
1851
1851
1853
1857
1860
1861
1863
1869
1870
1870
1872
1872
1874
1874
1877
Die American Temperenz Society hat in 6.000 Vereinen 2 Millionen Mitglieder.
Pastor Theodor FLIEDNER (-1864) eröffnet in Kaiserswerth eine vorbildliche Schwesternschule.
Gründung der ersten Trinkeranstalt in Boston, Wiedereröffnung 1857.
W.J. WEST beschreibt am eigenen Kind Salaam-Krämpfe (epileptische Nickkrämpfe)
James BRAID (1795 - 1861, englischer Augenarzt) beschreibt und benennt unabhängig von Mesmer
die Hypnose neu in "Neurypnology or the Rationale of Nervous Sleep".
Wilhelm GRIESINGER (1817 - 1869, 1840-42 Winnenden, dann Zürich, ab 1843 Professor für Innere
Medizin in Tübingen, Kiel, 1850-52 Leibarzt in Kairo, 1865 Professor für Psychiatrie und Neurologie in
Berlin, Vater der Neuropsychiatrie) veröffentlicht seine "Pathologie und Therapie der psychischen
Krankheiten" (Binswanger: Magna Charta der Psychiatrie): "Psychische Erkrankungen sind Erkrankungen des Gehirns." Mechanistische Ich-Psychologie (seelischer Tonus mit schnellen/langsamen
Kontraktionen). Irrsinn ist für ihn eine anomale Reaktion auf Grund vielfältiger innerer und äußerer
Ursachen (Schock, Alkohol, Aufregungen, Vergiftungen, Entzündungen). Therapie des Individuums,
nicht der Krankheit durch Isolierung von der Familie (no-restraint-system), Bäder, Opium, Digitalis,
Blausäure, um das alte Ich wieder zurückzurufen oder zu kräftigen. Die Einheitspsychose seines
Lehrers Ernst Albert von ZELLER (1804 - 1877): alle seelischen Erkrankungen sind Ausdruck der
gleichen psychotischen Grundstörung) ist für ihn ein Prozeß. Er schlägt neben den Irrenanstalten
ärztlich besser ausgestattete "Stadt-Asyle" am Rand der Städte für "Individuen mit acuten
Krankheitszuständen" (6-18 Monate) vor.
Rudolph VIRCHOW (1821-1902): „Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“
Charles LOCOCK, Leibarzt der Queen Victoria, entdeckt die antiepileptische Wirkung von Brom.
Der Guttemplerorden wird in Utica/N.Y. gegründet, 1889 Gründung der dtsch. Großloge
Das Trinkerasyl "Siloah" wird in Lintorf bei Düsseldorf gegründet. 1879 erste Trinkerheilstätte.
Heilstätten-Boom: 1900: 27, 1914: 54. Zunächst Leitung durch "Hausväter" (Pfarrer, Diakone).
J. SNOW führt mit Chloroform die "Narkose à la Reine" bei Königin Viktoria durch.
Hauptwerk der Degenerationstheorie von Benedict MOREL (1800 - 1873): „Geisteskrankheiten“ sind
erblich und Zeichen einer Degeneration (mit körperlichen Stigmata), die zum Aussterben der Familie
führt (nervös - neurotisch - psychotisch - idiotisch). Siehe auch 1870 V. Magnan.
Florence NIGHTINGALE (1823 - 1910) eröffnet, von Kaiserswerth beeindruckt, nach dem Krimkrieg
(1853 - 1856) eine Schwesternschule im St. Thomas Hospital, London.
Philipp BROCA (1824 - 1880) linkshirnige Ursache der Aphasien, kartographiert das Gehirn.
Karl Ludwig KAHLBAUM (1828 - 1899, ab 1877 Besitzer einer Privatanstalt in Görlitz) gruppiert als
klinischer Psychiater neue "Krankheitseinheiten" nach Ursachen, Symptomen und Verlauf (1869
Katatonie, 1871 Hebephrenie [nach Ewald Hecker]).
Chloralhydrat wird als Schlafmittel von O. LIEBREICH eingeführt.
Valentin MAGNAN (1835 - 1916) verwirft den religiösen Degenerationsgedanken Morels, deutet die
Degeneration als darwinsche Regression. Er studiert die Degeneration an Alkoholikern und vertritt den
Antialkoholismus (wie Forel, Kraepelin, Bleuler).
Cesare LOMBROSO (1836 - 1909) vermutet wie Jaques MOREAU de TOURS (1804 - 1884) in
seinem Werk "Uomo delinquente" Zusammenhänge zwischen Genie, Irrsinn und Verbrechen, versucht
eine Kriminalanthropologie: Degeneration ist für ihn ein darwinistischer Atavismus, Verbrecher eine
überlebende Urrasse (alle geborenen Kriminellen sind Epileptiker). Widerlegung der
Degenerationstheorie u.a. durch Konrad Rieger (1892) und Oswald Bumke (1912). Der geniale
Mensch ist so schöpferisch, wie er die sozialen Ordnungen seiner Zeit in Frage stellt.
D. Hack TUKE erwähnt erstmals die "Psychotherapie" in: "Bemerkungen über den Einfluss des Geistes
auf den Körper, Studien zur Klärung der Wirkung der Einbildungskraft".
Friedrich von BODELSCHWINGH (1831 - 1910, evangelischer Theologe) übernimmt die "evangelische Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische Rheinlands und Westfalens" (gegründet 1867), nennt
sie 1873 "Bethel", nimmt sich der "Brüder von der Landstraße" an.
Unter Heinrich Wilhelm NEUMANN (1814 - 1884) wird die Irrenabteilung von der medizinischen Klinik
Breslau getrennt und wird psychiatrische Universitätsklinik. In seinem "Lehrbuch der Psychiatrie"
(1859) vertritt Neumann die Einheitspsychose Irresein mit den Stadien Wahnsinn, Verwirrtheit und
Blödsinn. Die Melancholie ist für ihn nur Begleitsymptom.
Karl WERNICKE (1848 - 1905, ab 1890 Prof. für Psychiatrie in Breslau und Halle) beschreibt des
linkstemporale Sprachzentrum: "Aphasie als psychologische Studie". Neue Krankheitseinheiten:
Angstpsychose, Halluzinose (durch „Sejunktion“), Motilitätspsychose. War mit Theodor MEYNERT
(1833 - 1893) wichtigster Vertreter der Gehirnpsychiatrie. 1900: Grundriß der Psychiatrie.
Pfarrer Louis-Lucien ROCHAT gründet in Genf das Blaue Kreuz, 1885 gründet Pfarrer A. BOVET in
Hagen das deutsche Blaue Kreuz. 1888-1904 Curt v. Knobeldorff in Berlin.
Dr. med. W. Scherf, Nds. LKH Hildesheim. Stand: 7. Oktober 2003
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