216 9 Diagnostik bei Stoffwechselstörungen 9.1 Diabetes mellitus B. Gallwitz Unter dem Begriff »Diabetes mellitus« sind heterogene Krankheitsbilder mit unterschiedlicher Ätiologie, Pathophysiologie, Klinik, Therapie und Prognose zusammengefasst, deren einzige Gemeinsamkeit in der Hyperglykämie besteht. Die gebräuchliche Einteilung der Diabetesformen hat die WHO vorgenommen, die von nationalen Fachgesellschaften im Wesentlichen übernommen wurde (Alberti u. Zimmet 1998). Die diagnostischen Grenzwerte anhand von Glucosewerten wurden durch die Amerikanische Diabetesgesellschaft neu definiert (American Diabetes Association [ADA] 2006 u. 2010). Demnach werden vier Diabetestypen unterschieden: 쐌 Typ-1-Diabetes ist durch einen absoluten Insulinmangel bei Verlust der B-Zellen durch einen Autoimmunprozess (oder »idiopathisch«) charakterisiert, 쐌 Typ-2-Diabetes ist durch eine mangelnde Insulinwirkung bei Insulinresistenz und sich später entwickelnder Insulinsekretionsstörung gekennzeichnet, 쐌 Typ-3-Diabetes ist eine Klassifikation, unter der alle sekundären Diabetestypen (genetisch bedingte Formen, z. B. MODY-Diabetes, Diabetes bei Endokrinopathien und bei Pankreaserkrankungen, medikamenteninduzierter Diabetes etc.) subsumiert werden, sowie 쐌 Typ-4-Diabetes, der Gestationsdiabetes, der gesondert eingeordnet wurde (ADA 2006). Zur Erkennung eines Diabetes mellitus und zur Stoffwechselkontrolle sind folgende labordiagnostische Untersuchungen im Krankheitsverlauf angezeigt: 쐌 Blutglucose nüchtern und/oder postprandial (vor allem Blutzuckerselbstmessungen durch den Patienten mittels Teststreifen; s. auch »Exkurs: Schnellmethoden zur Analyse der Blutglucose«, S. 227 f.), 쐌 HbA1c (glykiertes Hämoglobin) als »Blutzuckergedächtnis« (von der ADA wurde 2010 erstmals auch ein HbA1c 욷 6,5 % als diagnostischer Marker für einen Diabetes definiert [American Diabetes Association 2010]; s. auch Kap. 9.1.3, S. 220 ff.), 쐌 Glucose und Ketonkörper im Urin bei Stoffwechselentgleisungen (s. auch Kap. 9.1.2, S. 219 f.). Bei Verdacht auf das Vorliegen einer gestörten Glucosetoleranz sollte ein oraler Glucosetoleranztest durchgeführt werden. 9.1.1 Laborbestimmungen Blutglucose 쐍 Indikation zur Bestimmung Zur Kontrolle der aktuellen, momentanen Stoffwechsellage, mit der Möglichkeit der Therapieanpassung 쐍 Bestimmungsmethode Siehe Kapitel 4.3.1 (S. 93 ff.) 쐍 Referenzbereich 쐌 Kapillar- oder Venenblut: 65−100 mg/dl (3,5−5,55 mmol/l) 쐌 Plasma: 74−109 mg/dl (4,5−6,0 mmol/l); neue Werte der amerikanischen Diabetesgesellschaft: 55−110 mg/dl = 3,05− 6,10 mmol/l 쐍 Bewertung Hyperglykämie: Erhöhte Blutglucosekonzentrationen nüchtern oder postprandial 왔 9.1 Diabetes mellitus 왔 sprechen für das Vorliegen eines Diabetes mellitus, wenn die Werte wiederholt erhöht sind. Es sollte dann die Bestimmung des HbA1cWertes zur Diagnosesicherung mit herangezogen werden. Bei Blutglucosewerten im Grenzbereich und normalem HbA1c-Wert sollte ein oraler Glucosetoleranztest (s. u.) durchgeführt werden, um die Diagnose zu sichern. Auch prädiabetische Stadien (gestörte Glucosetoleranz, gestörte Nüchternglucose) können mit dem oralen Glucosetoleranztest diagnostiziert werden. Hypoglykämie: Erniedrigte Blutzuckerwerte haben beim Patienten mit Diabetes folgende Ursachen: 쐌 relative Überdosierung von Insulin (Gabe einer zu großen Insulinmenge, Weglassen oder Fehleinschätzung der Kohlenhydratmenge einer Mahlzeit, nicht vorausgeplante Muskelarbeit, Alkohol), 쐌 Überdosierung von oralen Antidiabetika, insbesondere von Sulfonylharnstoffpräparaten. Ferner werden Hypoglykämien beobachtet bei Vorliegen eines insulinproduzierenden Tumors (Insulinom), bei angeborenen Enzymdefekten des Kohlenhydratstoffwechsels (z. B. Ahornsirupkrankheit, Fructoseintoleranz, Galactoseintoleranz, Glykogenspeicher- oder -mangelkrankheiten), bei Zustand nach Magenresektion (Dumping) und bei Hypoglycaemia factitia (mutwillige Hypoglykämie induziert durch Insulininjektion oder Einnahme von Sulfonylharnstoffen beim Nichtdiabetiker). Blutglucoseselbstkontrolle Die Blutglucosebestimmung ist für die Stoffwechselselbstkontrolle des Diabetikers äußerst wichtig. Sie dient dem Selbstmanagement der Erkrankung mit Therapieüberwachung und Erkennung akuter Komplikationen (Hypoglykämie oder Stoffwechselentgleisung mit Hyperglykämie). Die Uringlucosebestimmung eignet sich nicht 왔 217 왔 zur Stoffwechselselbstkontrolle, da die Glucosekonzentration im Urin nicht mit dem augenblicklichen Blutzuckerwert korreliert. Beim insulinpflichtigen Diabetes mellitus ist eine intensivierte Insulintherapie mit angestrebter Normoglykämie, die nachweislich Spätkomplikationen vermindert (The Diabetes Control and Complications Trial Research Group 1993), ohne Stoffwechselselbstkontrolle durch täglich mehrmalige Blutzuckerbestimmungen undenkbar. Durch moderne Messmethoden ist die Blutzuckermessung durch den Patienten sehr verlässlich geworden. Hierzu muss der Patient jedoch geschult werden. Im Rahmen strukturierter Diabetesschulungskurse hat sich der Vergleich der selbstgemessenen Resultate mit denen einer gleichzeitig durchgeführten Messung mit einer präzisen Labormethode besonders bewährt. Geschulte Diabetiker sind schnell in der Lage, ihre Stoffwechselselbstkontrolle mit ausreichender Präzision durchzuführen. Blutzuckermessstreifen erlauben eine schnelle Bestimmung der Blutglucosekonzentration bei Verwendung minimaler Blutmengen (s. auch »Exkurs: Schnellmethoden zur Analyse der Blutglucose«, S. 227 ff.). Oraler Glucosetoleranztest 쐍 Indikation Verdacht auf Vorliegen einer gestörten Glucosetoleranz oder eines Diabetes mellitus; ein oraler Glucosetoleranztest sollte durchgeführt werden: 쐌 bei normalen Blutzuckernüchternwerten, postprandialen Werten im Bereich zwischen 140 mg/dl und 200 mg/dl und/oder dem Vorliegen einer Glucosurie 쐌 bei bereits gesicherter gestörter Glucosetoleranz zur Verlaufskontrolle, da diese Patienten mit einer Inzidenz von > 5 % pro Jahr einen manifesten Diabetes mellitus entwickeln, 쐌 in der Schwangerschaft bei Verdacht auf einen Gestationsdiabetes 218 9 Diagnostik bei Stoffwechselstörungen 쐍 Bestimmungsmethode Glucosebestimmung siehe Kapitel 4.3.1 (S. 93 ff.) 쐍 Referenzbereich Siehe Tabelle 9-1 쐍 Patientenvorbereitung/Durchführung Durchgesetzt hat sich die Durchführung des oralen Glucosetoleranztests nach WHO-Standard (Alberti u. Zimmet 1998): Der Test soll morgens nüchtern nach einer Fastenperiode von 10−16 Stunden vorgenommen werden. 3 Tage vor der Testdurchführung soll sich die Testperson normaler körperlicher Aktivität ausgesetzt haben, die Ernährung darf nicht kohlenhydrateingeschränkt sein und soll mindestens 150 g Kohlenhydrate pro Tag enthalten. Es erfolgt eine Belastung mit 75 g Glucose in 300 ml Flüssigkeit. Während der Untersuchung soll der Patient sitzen und nicht umhergehen. Zusätzliche orale Aufnahme von Flüssigkeiten oder Rauchen sind nicht erlaubt. Die Glucoselösung soll Raumtemperatur haben und muss innerhalb von 5 Minuten getrunken werden. Bestimmt werden der Nüchternblutzuckerwert und der 2-Stunden-Glucosewert. ! Fehlerquellen Während Fastenkuren können Verfälschungen des Glucosetoleranztests durch verminderte Insulinproduktion (»Hungerdiabetes«) auftreten. Verfälschungen des Glucosetoleranztests entstehen auch nach resezierenden Magenoperationen durch entsprechend veränderte Glucoseresorption. Ein pathologisches Ergebnis wird vorgetäuscht bei Ulkuskrankheit, Störung der Magenentleerung (auch Elektrolytstörungen, Diuretika- oder Laxanzieneinnahme), zu geringer Kohlenhydratzufuhr in den Tagen vor der Untersuchung, Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva oder Steroiden Tab. 9-1 Diagnostische Grenzen der Glucosekonzentration im oralen Glucosetoleranztest (nach den ADA-Kriterien 2010 und den Praxisleitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft [DDG; Kerner u. Brückel 2009]). Plasma (venös) normal Plasma (kapillär) Blut (venös) Blut (kapillär) 쐌 nüchtern < 100 mg/dl (< 5,6 mmol/l) < 100 mg/dl (< 5,6 mmol/l) < 90 mg/dl (< 5,0 mmol/l) < 90 mg/dl (< 5,0 mmol/l) 쐌 nach 2 Stunden < 160 mg/dl (< 8,9 mmol/l) < 120 mg/dl (< 6,7 mmol/l) < 140 mg/dl (< 7,8 mmol/l) < 140 mg/dl (< 7,8 mmol/l) 쐌 gestörte Nüchternglucose (impaired fasting glucose [IFG]) nüchtern 100−125 mg/dl (5,6−6,9 mmol/l) 100−125 mg/dl (5,6−6,9 mmol/l) 90−109 mg/dl (5,0−6,1 mmol/l9 90−109 mg/dl (5,0−6,1 mmol/l) gestörte Glu- 쐌 cosetoleranz (impaired 쐌 glucose tolerance [IGT]) nüchtern < 126 mg/dl (< 7,0 mmol/l) < 126 mg/dl (< 7,0 mmol/l) < 110 mg/dl (< 6,1 mmol/l) < 110 mg/dl (< 6,1 mmol/l) Diabetes mellitus nach 2 Stunden 140−199 mg/dl 160−219 mg/dl 120−179 mg/dl (7,8−11,1 mmol/l) (8,9−12,2 mmol/l) (6,7−9,9 mmol/l) 쐌 nüchtern 욷 126 mg/dl (욷 7,0 mmol/l) 쐌 nach 2 Stunden 욷 200 mg/dl (욷 11,1 mmol/l) 140−199 mg/dl (7,8−11,1 mmol/l) 욷 126 mg/dl (욷 7,0 mmol/l) 욷 110 mg/dl (욷 6,1 mmol/l) 욷 110 mg/dl (욷 6,1 mmol/l) 욷 220 mg/dl (욷 12,2 mmol/l) 욷 180 mg/dl (욷 10,0 mmol/l) 욷 200 mg/dl (욷 11,1 mmol/l)