9 Diagnostik bei Stoffwechselstörungen

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9 Diagnostik bei Stoffwechselstörungen
9.1 Diabetes mellitus
B. Gallwitz
Unter dem Begriff »Diabetes mellitus« sind
heterogene Krankheitsbilder mit unterschiedlicher Ätiologie, Pathophysiologie,
Klinik, Therapie und Prognose zusammengefasst, deren einzige Gemeinsamkeit in der
Hyperglykämie besteht.
Die gebräuchliche Einteilung der Diabetesformen hat die WHO vorgenommen, die von nationalen Fachgesellschaften im Wesentlichen
übernommen wurde (Alberti u. Zimmet 1998).
Die diagnostischen Grenzwerte anhand von
Glucosewerten wurden durch die Amerikanische Diabetesgesellschaft neu definiert (American Diabetes Association [ADA] 2006 u. 2010).
Demnach werden vier Diabetestypen unterschieden:
쐌 Typ-1-Diabetes ist durch einen absoluten Insulinmangel bei Verlust der B-Zellen durch einen Autoimmunprozess (oder
»idiopathisch«) charakterisiert,
쐌 Typ-2-Diabetes ist durch eine mangelnde
Insulinwirkung bei Insulinresistenz und
sich später entwickelnder Insulinsekretionsstörung gekennzeichnet,
쐌 Typ-3-Diabetes ist eine Klassifikation, unter der alle sekundären Diabetestypen (genetisch bedingte Formen, z. B. MODY-Diabetes, Diabetes bei Endokrinopathien und
bei Pankreaserkrankungen, medikamenteninduzierter Diabetes etc.) subsumiert
werden, sowie
쐌 Typ-4-Diabetes, der Gestationsdiabetes, der
gesondert eingeordnet wurde (ADA 2006).
Zur Erkennung eines Diabetes mellitus und
zur Stoffwechselkontrolle sind folgende labordiagnostische Untersuchungen im Krankheitsverlauf angezeigt:
쐌 Blutglucose nüchtern und/oder postprandial (vor allem Blutzuckerselbstmessungen
durch den Patienten mittels Teststreifen;
s. auch »Exkurs: Schnellmethoden zur Analyse der Blutglucose«, S. 227 f.),
쐌 HbA1c (glykiertes Hämoglobin) als »Blutzuckergedächtnis« (von der ADA wurde
2010 erstmals auch ein HbA1c 욷 6,5 % als
diagnostischer Marker für einen Diabetes
definiert [American Diabetes Association
2010]; s. auch Kap. 9.1.3, S. 220 ff.),
쐌 Glucose und Ketonkörper im Urin bei Stoffwechselentgleisungen (s. auch Kap. 9.1.2,
S. 219 f.).
Bei Verdacht auf das Vorliegen einer gestörten
Glucosetoleranz sollte ein oraler Glucosetoleranztest durchgeführt werden.
9.1.1 Laborbestimmungen
Blutglucose
쐍
Indikation zur Bestimmung
Zur Kontrolle der aktuellen, momentanen
Stoffwechsellage, mit der Möglichkeit der Therapieanpassung
쐍
Bestimmungsmethode
Siehe Kapitel 4.3.1 (S. 93 ff.)
쐍
Referenzbereich
쐌 Kapillar- oder Venenblut: 65−100 mg/dl
(3,5−5,55 mmol/l)
쐌 Plasma: 74−109 mg/dl (4,5−6,0 mmol/l);
neue Werte der amerikanischen Diabetesgesellschaft: 55−110 mg/dl = 3,05−
6,10 mmol/l
쐍
Bewertung
Hyperglykämie: Erhöhte Blutglucosekonzentrationen nüchtern oder postprandial
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9.1 Diabetes mellitus
왔
sprechen für das Vorliegen eines Diabetes mellitus, wenn die Werte wiederholt erhöht sind.
Es sollte dann die Bestimmung des HbA1cWertes zur Diagnosesicherung mit herangezogen werden. Bei Blutglucosewerten im Grenzbereich und normalem HbA1c-Wert sollte ein
oraler Glucosetoleranztest (s. u.) durchgeführt
werden, um die Diagnose zu sichern. Auch prädiabetische Stadien (gestörte Glucosetoleranz,
gestörte Nüchternglucose) können mit dem oralen Glucosetoleranztest diagnostiziert werden.
Hypoglykämie: Erniedrigte Blutzuckerwerte haben beim Patienten mit Diabetes
folgende Ursachen:
쐌 relative Überdosierung von Insulin (Gabe einer zu großen Insulinmenge, Weglassen oder Fehleinschätzung der Kohlenhydratmenge einer Mahlzeit, nicht
vorausgeplante Muskelarbeit, Alkohol),
쐌 Überdosierung von oralen Antidiabetika, insbesondere von Sulfonylharnstoffpräparaten.
Ferner werden Hypoglykämien beobachtet bei
Vorliegen eines insulinproduzierenden Tumors
(Insulinom), bei angeborenen Enzymdefekten
des Kohlenhydratstoffwechsels (z. B. Ahornsirupkrankheit, Fructoseintoleranz, Galactoseintoleranz, Glykogenspeicher- oder -mangelkrankheiten), bei Zustand nach Magenresektion (Dumping) und bei Hypoglycaemia factitia (mutwillige Hypoglykämie induziert durch
Insulininjektion oder Einnahme von Sulfonylharnstoffen beim Nichtdiabetiker).
Blutglucoseselbstkontrolle
Die Blutglucosebestimmung ist für die
Stoffwechselselbstkontrolle des Diabetikers
äußerst wichtig. Sie dient dem Selbstmanagement der Erkrankung mit Therapieüberwachung und Erkennung akuter Komplikationen (Hypoglykämie oder Stoffwechselentgleisung mit Hyperglykämie). Die
Uringlucosebestimmung eignet sich nicht
왔
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왔
zur Stoffwechselselbstkontrolle, da die Glucosekonzentration im Urin nicht mit dem
augenblicklichen Blutzuckerwert korreliert.
Beim insulinpflichtigen Diabetes mellitus
ist eine intensivierte Insulintherapie mit angestrebter Normoglykämie, die nachweislich Spätkomplikationen vermindert (The
Diabetes Control and Complications Trial
Research Group 1993), ohne Stoffwechselselbstkontrolle durch täglich mehrmalige
Blutzuckerbestimmungen undenkbar.
Durch moderne Messmethoden ist die Blutzuckermessung durch den Patienten sehr verlässlich geworden. Hierzu muss der Patient jedoch
geschult werden. Im Rahmen strukturierter
Diabetesschulungskurse hat sich der Vergleich
der selbstgemessenen Resultate mit denen
einer gleichzeitig durchgeführten Messung mit
einer präzisen Labormethode besonders bewährt. Geschulte Diabetiker sind schnell in der
Lage, ihre Stoffwechselselbstkontrolle mit ausreichender Präzision durchzuführen.
Blutzuckermessstreifen erlauben eine schnelle Bestimmung der Blutglucosekonzentration bei Verwendung minimaler Blutmengen (s. auch »Exkurs: Schnellmethoden zur
Analyse der Blutglucose«, S. 227 ff.).
Oraler Glucosetoleranztest
쐍
Indikation
Verdacht auf Vorliegen einer gestörten Glucosetoleranz oder eines Diabetes mellitus; ein oraler
Glucosetoleranztest sollte durchgeführt werden:
쐌 bei normalen Blutzuckernüchternwerten,
postprandialen Werten im Bereich zwischen 140 mg/dl und 200 mg/dl und/oder
dem Vorliegen einer Glucosurie
쐌 bei bereits gesicherter gestörter Glucosetoleranz zur Verlaufskontrolle, da diese Patienten mit einer Inzidenz von > 5 % pro
Jahr einen manifesten Diabetes mellitus
entwickeln,
쐌 in der Schwangerschaft bei Verdacht auf
einen Gestationsdiabetes
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쐍
Bestimmungsmethode
Glucosebestimmung siehe Kapitel 4.3.1 (S. 93 ff.)
쐍
Referenzbereich
Siehe Tabelle 9-1
쐍
Patientenvorbereitung/Durchführung
Durchgesetzt hat sich die Durchführung des
oralen Glucosetoleranztests nach WHO-Standard (Alberti u. Zimmet 1998): Der Test soll
morgens nüchtern nach einer Fastenperiode
von 10−16 Stunden vorgenommen werden.
3 Tage vor der Testdurchführung soll sich die
Testperson normaler körperlicher Aktivität
ausgesetzt haben, die Ernährung darf nicht
kohlenhydrateingeschränkt sein und soll mindestens 150 g Kohlenhydrate pro Tag enthalten.
Es erfolgt eine Belastung mit 75 g Glucose in
300 ml Flüssigkeit. Während der Untersuchung
soll der Patient sitzen und nicht umhergehen.
Zusätzliche orale Aufnahme von Flüssigkeiten
oder Rauchen sind nicht erlaubt. Die Glucoselösung soll Raumtemperatur haben und muss
innerhalb von 5 Minuten getrunken werden.
Bestimmt werden der Nüchternblutzuckerwert
und der 2-Stunden-Glucosewert.
!
Fehlerquellen
Während Fastenkuren können Verfälschungen des Glucosetoleranztests durch verminderte Insulinproduktion (»Hungerdiabetes«) auftreten. Verfälschungen des Glucosetoleranztests entstehen auch nach resezierenden Magenoperationen durch entsprechend veränderte Glucoseresorption.
Ein pathologisches Ergebnis wird vorgetäuscht bei Ulkuskrankheit, Störung der
Magenentleerung (auch Elektrolytstörungen, Diuretika- oder Laxanzieneinnahme),
zu geringer Kohlenhydratzufuhr in den Tagen vor der Untersuchung, Einnahme von
hormonellen Kontrazeptiva oder Steroiden
Tab. 9-1 Diagnostische Grenzen der Glucosekonzentration im oralen Glucosetoleranztest (nach den ADA-Kriterien 2010 und den Praxisleitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft [DDG; Kerner u. Brückel 2009]).
Plasma
(venös)
normal
Plasma
(kapillär)
Blut
(venös)
Blut
(kapillär)
쐌
nüchtern < 100 mg/dl
(< 5,6 mmol/l)
< 100 mg/dl
(< 5,6 mmol/l)
< 90 mg/dl
(< 5,0 mmol/l)
< 90 mg/dl
(< 5,0 mmol/l)
쐌
nach 2
Stunden
< 160 mg/dl
(< 8,9 mmol/l)
< 120 mg/dl
(< 6,7 mmol/l)
< 140 mg/dl
(< 7,8 mmol/l)
< 140 mg/dl
(< 7,8 mmol/l)
쐌
gestörte
Nüchternglucose (impaired fasting
glucose [IFG])
nüchtern 100−125 mg/dl
(5,6−6,9 mmol/l)
100−125 mg/dl
(5,6−6,9 mmol/l)
90−109 mg/dl
(5,0−6,1 mmol/l9
90−109 mg/dl
(5,0−6,1 mmol/l)
gestörte Glu- 쐌
cosetoleranz
(impaired
쐌
glucose tolerance [IGT])
nüchtern < 126 mg/dl
(< 7,0 mmol/l)
< 126 mg/dl
(< 7,0 mmol/l)
< 110 mg/dl
(< 6,1 mmol/l)
< 110 mg/dl
(< 6,1 mmol/l)
Diabetes
mellitus
nach 2
Stunden
140−199 mg/dl
160−219 mg/dl
120−179 mg/dl
(7,8−11,1 mmol/l) (8,9−12,2 mmol/l) (6,7−9,9 mmol/l)
쐌
nüchtern 욷 126 mg/dl
(욷 7,0 mmol/l)
쐌
nach 2
Stunden
욷 200 mg/dl
(욷 11,1 mmol/l)
140−199 mg/dl
(7,8−11,1 mmol/l)
욷 126 mg/dl
(욷 7,0 mmol/l)
욷 110 mg/dl
(욷 6,1 mmol/l)
욷 110 mg/dl
(욷 6,1 mmol/l)
욷 220 mg/dl
(욷 12,2 mmol/l)
욷 180 mg/dl
(욷 10,0 mmol/l)
욷 200 mg/dl
(욷 11,1 mmol/l)
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