55 §4 Algebra Nach der Studien- und Prüfungsordnung ist im Bachelor-Studiengang Mathematik eine der Vorlesungen ”Algebra I” oder ”Algebra und Diskrete Mathematik I” zu besuchen. Die erstgenannte Vorlesung findet jeweils im Wintersemester am Campus Essen statt, die zweite jeweils im Sommersemester am Campus Duisburg. Da am Campus Duisburg auch Aspekte der Diskreten Mathematik – speziell elementare Zählprinzipien – behandelt werden, vor allem für Anwendungen in der Zahlentheorie und der Geometrie, werden in Teil I dieser Vorlesung nicht alle algebraischen Fragestellungen abschließend behandelt. a) Auflösbarkeit von Gleichungen Eine faszinierende Fragestellung ist die nach Lösungen von Gleichungen höheren als zweiten Grades. Diese Fragestellung wurde im Mittelalter teilweise auch an den neugegründeten Universitäten, insbesondere in Italien untersucht. Ist eine kubische Gleichung der Form x3 + px2 + qx + r = 0 p mit p, q, r ∈ Q gegeben, so führt die Substitution x = y − auf die Gleichung 3 ! " ! " 1 2 2 3 1 3 y + q− p y+ p − pq + r = 0 . 3 27 3 Also genügt es, Gleichungen der Form x3 + bx + c = 0 zu betrachten. Ein Schüler von Scipione del Ferro (* 6.2.1465 in Bologna, †29.10./16.11.1526 in Bologna) stellte dem Rechenmeister Nicolo Tartaglia (*1499/1500 in Brescia, †13.12.1557) im Jahre 1535 insgesamt 30 Aufgaben, die alle auf die obige kubische Gleichung führten. Tartaglia konnte die Aufgaben lösen. Dies sprach sich herum und davon hörte auch Girolamo Cardano(* 24.09.1501 in Pavia, †21.09.1576 in Rom). Cardano bat Tartaglia um Übermittlung der Lösung; Tartaglia betrachtete die Lösung als eine Art Zunftgeheimnis der Rechenmeister, das den Gelehrten an Universitäten nicht zustehe. 1539 übermittelte Tartaglia an Cardano das Lösungsverfahren in Form eines Sonetts unter der Bedingung, dass er dies als Geheimnis bewahren werde. Text Quando che’l cubo con le cose appresso Se agguaglia à qualche numero discreto Trovan dui altri, differenti en esso. Dapoi terrai, questo per consueto, Che’l lor produtto semper sia equale Al terzo cubo, delle cose neto. El residuo poi suo generale Delli lor lati cubi, ben sottratti Varrà la tua cosa principale. Erläuterung x3 + bx = c U −V =c U V = (b/3)3 x= √ 3 U− √ 3 V 56 Doch Cardano brach den feierlichen Eid und publizierte es 1545 in seinem Werk ”Ars magna sive de regulis algebraicis” ( Die Kunst oder über die algebraischen Regeln). Trotz des ”Plagiats” von Cardano an Tartaglia war die ”Ars magna...” ein bedeutendes Buch, denn u.a. enthält es die von Cardanos Schüler Luigi Ferrari (*2.2.1522 in Bologna, †Oktober 1565 in Bologna) gefundene Lösung einer biquadratischen Gleichung (Gleichung vierter Ordnung). Der ”Trick” beim Lösen der kubischen Gleichung besteht darin, die Lösung als Summe bzw. Differenz zweier Terme anzusetzen. Wir wollen die Frage nach der Auflösbarkeit algebraischer Gleichungen durch Radikale, d.h. durch ”konkrete Formeln”, mit ein paar historischen Bemerkungen abschließen: Albert Girard (*1595 in St. Mihiel (Frankreich), †8.12.1632 in Leiden) formulierte 1626/1629 den Fundamentalsatz der Algebra, dass jede Gleichung n-ten Grades n Wurzeln besitzt. Die Suche nach entsprechenden Lösungsformeln für Gleichungen 5. oder höheren Grades blieb allerdings erfolglos. Joseph Louis Lagrange hielt die Lösung noch für möglich, während Carl Friedrich Gauß (*30.4.1777 in Braunschweig, †23.2.1855 in Göttingen) in seiner Dissertation im Jahre 1799 und nochmals 1801 die Gewissheit aussprach, dass die Gleichungen höheren als 4-ten Grades nicht in Radikalen lösbar sind. 1799 hat der Italiener Paolo Ruffini (* 22.9.1765 in Valentano, †10.5.1822 in Modena) einen Beweis für den Satz unternommen, dass die allgemeine Gleichung 5-ten Grades nicht in Radikalen lösbar ist. Gauß wusste davon nichts. Niels Henrik Abel (*5.8.1802 in Finnö (Norwegen), †6.4.1829 in Norwegen) veröffentlichte 1824 einen Beweis dieses Satzes, erfuhr allerdings erst 1826 von dem nicht ganz lückenlosen Beweis Ruffinis. 1826 konnte Abel zeigen, dass die allgemeine Gleichung n-ten Grades mit n > 4 nicht durch Radikale lösbar ist. Evariste Galois (*25.11.1811 in Bourg-la-Reine (bei Paris), †31.5.1832 in Paris) hat das Problem der Auflösbarkeit algbraischer Gleichungen durch Radikale auf die Untersuchung der Struktur von bestimmten Permutationsgruppen zurückgeführt. (Und um dies vorzubereiten wird einer Algebra-Vorlesung zunächst Einiges über die Struktur von Gruppen gezeigt.) Eine erste Version der Arbeit ging verloren, die 2. Version wurde auf Grund eines groben Fehlurteils von Simeon Denis Poisson (*21.6.1781 in Pithiviers (im Department Loiret), †25.4.1840 in Paris) zurückgewiesen und erst 14 Jahre nach dem Tod von Galois durch Joseph Liouville (* 24.3.1809 in St. Omer, †8.9.1882 in Paris) veröffentlicht. Die Bedeutung der Galois’schen Ideen wurde erst von der nachfolgenden Mathematiker-Generation erkannt, z.B. von Camille Marie Ennemond Jordan (*5.1.1838 in Croix-Rousse (jetzt in Lyon eingemeindet), †21.1.1922 in Mailand), der in einem 1870 veröffentlichten Lehrbuch auf die Verdienste von Galois eingeht. b) Konstruktionen mit Zirkel und Lineal Nach Plato sind die einzigen legitimen Hilfsmittel des Geometers Zirkel und Lineal. Also kann sich der Geometer an folgender Aufgabe versuchen: Quadratur des Kreises: Ein gegebener Kreis ist allein mit Zirkel und Lineal in ein flächengleiches Quadrat zu verwandeln. Der vollständige Nachweis, dass die Aufgabe nicht lösbar ist, gelang erst Carl Louis Ferdinand von Lindemann (* 12.4.1852 in Hannover, †6.3.1939 in München) im Jahre 1882. 57 Bis dahin gab es viele Versuche, die (natürlich) nur Näherungen brachten. Der erste Schritt zur Lösung der Aufgabe ist die Algebraisierung der Aufgabe. Wir behandeln das Problem im Koordinatensystem des R2 . Was bedeutet ”Konstruierbarkeit” algebraisch? Ist eine Anzahl von Punkten gegeben oder schon konstruiert, so kann man mit Zirkel und Lineal – eine Gerade durch zwei (verschiedene) dieser Punkte legen, – einen Kreis um einen der Punkte schlagen, dessen Radius der Abstand zweier Punkte ist. Neu konstruierbare Punkte sind genau die Schnittpunkte solcher Kreise und Geraden (und evtl. sind nicht alle diese Punkte neue Punkte). Im Koordinatensystem mit den Koordinaten (x, y) sehen diese Objekte so aus: (1) Eine Gerade durch (x1 , y1 ) $= (x2 , y2 ) ist die Menge aller (x, y) mit (y2 − y1 )x + (x1 − x2 )y = x1 y2 − x2 y1 , # (2) ein Kreis um (x1 , y1 ) mit Radius r = (x2 − x3 )2 + (y2 − y3 )2 ist die Menge aller (x, y) mit (x − x1 )2 + (y − y1 )2 = r2 , d.h. x2 + y 2 − 2x1 x − 2y1 y = r2 − x21 − y12 . Schnittpunkte bestimmen bedeutet: zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen, die vom Typ (1) oder (2) sind. Für die Koordinaten bedeutet das: Lemma Die Koordinaten eines neu konstruierbaren Punktes sind Lösungen von linearen oder quadratischen Gleichungen, deren Koeffizienten durch Körperoperationen aus Koordinaten ”alter” Punkte hervorgehen. Beweis: (1) Für Schnittpunkte von zwei Geraden ist das klar. Da nicht beide Koeffizienten von x, y Null sind, kann man etwa nach y auflösen x2 y1 − x1 y2 y2 − y1 ·x+ y= x2 − x1 x2 − x1 und in die zweite Geradengleichung einsetzen. (2) Schnittpunkt(e) von Kreis und Gerade: Man löst die Geradengleichung wie in (1) auf; durch Einsetzen in die Kreisgleichung ergibt sich eine quadratische Gleichung mit Koeffizienten der gewünschten Art. (3) Schnittpunkt(e) von zwei Kreisen: Zu lösen ist das Gleichungssystem x2 + y 2 − 2x1 x − 2y1 y = r12 − x21 − y12 x2 + y 2 − 2x2 x − 2y2 y = r22 − x22 − y22 . Durch Subtraktion beider Gleichungen entsteht eine Geradengleichung (Man beachte (x1 , y1 ) $= (x2 , y2 ) !), und wir sind in Fall (2). ! 58 Ist nun ”der” Kreis zur Quadratur vorgelegt, so haben wir anfangs nur seinen Radius, d.h. 2 Punkte, ohne Einschränkung (0, 0), (1, 0). Nach Lemma 1.1 ist plausibel, dass alle endlichen Konstruktionen einen gewissen Rahmen nicht verlassen. Für unsere Zwecke genügt der Nachweis, dass Koordinaten stets algebraisch bleiben. Definition Eine Zahl x ∈ C heißt algebraisch, wenn x eine Gleichung der Form an xn + an−1 xn−1 + . . . + a1 x + a0 = 0 mit ai ∈ Z erfüllt, die nicht alle Null sind. Anders gesagt: x ist Nullstelle eines von Null verschiedenen Polynoms P ∈ Z[X] (d.h. mit ganzen Koeffizienten). Beispiele p mit p ∈ Z, q ∈ N sind algebraisch, denn es ist qx − p = 0. q √ (2) Nicht nur rationale Zahlen sind algebraisch, z.B. ist x = 10 algebraisch wegen x2 − 10 = 0. x ist aber nicht rational, denn die Annahme x = pq liefert 10q 2 = p2 ; nun endet p2 im Dezimalsystem auf gerade viele Nullen und 10q 2 auf ungerade viele, was ein Widerspruch ist. (1) Alle rationalen Zahlen x = (3) Die komplexe Einheit x = i ist algebraisch wegen x2 + 1 = 0. π π + i sin ist für jedes n ∈ N algebraisch, da nach der Formel von Moivre gilt: n n x2n − 1 = 0. (4) x = cos Satz Die Menge der algebraischen Zahlen bildet einen Körper A ⊂ C. Ist x ∈ A, so ist auch für reelles x ≥ 0. √ x∈A Folgerung Startet man mit den Punkten (0, 0), (1, 0) des R2 , so sind die Koordinaten aller daraus konstruierbaren Punkte algebraisch. Die Längen aller konstruierbaren Strecken sind algebraisch. √ √ Wäre also unser Kreis quadrierbar, müßte eine Strecke der Länge π konstruierbar, also π algebraisch sein. Dann wäre auch π algebraisch. Man kann zeigen, dass das nicht der Fall ist. Bemerkung Eine etwas genauere Analyse des Prozesses zeigt, dass nur Punkte konstruierbar sind, die sich √ aus Quadratwurzeln von Quadratwurzeln von ... aufbauen lassen. Eine Strecke der Länge 3 2 ist nicht konstruierbar. Damit ist auch das Delische Problem der Würfelverdopplung mit Zirkel und Lineal unlösbar. Ebenso kann man zeigen, dass das Problem der Winkeldreiteilung (im Allgemeinen) mit Zirkel und Lineal nicht lösbar ist. c) Zählprinzipien Eine typische Fragestellung zur Diskreten Mathematik findet sich in der folgenden 59 Definition Es sei X eine Menge mit |X| =: v Elementen; eine Familie B von paarweise verschiedenen k-elementigen Teilmengen von X heißt ein Design (oder Blockplan) mit den Parametern (v, k, r), wenn jedes x ∈ X in genau r Mengen B von B liegt. Ein B ∈ B heißt auch Block des Designs B.1 Beispiel Gegeben seien v Variationen eines Produktes. Eine jede Testperson möge nun k Variationen des Produktes testen, und die Anzahl jeder der getesteten Variationen solle genau r sein. Gilt z. B.: v = 8 , k = 4 und r = 3 , so ist folgendes Schema bei 6 Testpersonen möglich: 1234, 5678, 1357, 2468, 1247, 3568. Es liegt also ein Design mit den Parametern (8, 4, 3) vor. Welche Bedingungen müssen die Parameter (v, k, r) erfüllen, damit ein passendes Design existiert? Eine weitere Fragestellung zum Thema ”Zählprinzipien” ist die folgende: Wir interpretieren Partitionen (m1 , m2 , . . . , mk ) einer positiven ganzen Zahl m ∈ N∗ mit der Eigenschaft m1 ≥ m2 ≥ . . . ≥ mk ≥ 1 folgendermaßen: k $ Gegeben sei eine m-elementige Menge X und eine Partition X = Xi mit |Xi | =: mi , d.h. i=1 eine disjunkte Zerlegung von X in k Teilmengen Xi , wobei jeweils nur die Anzahl der Elemente aus Xi berücksichtigt wird. Dazu gehört nun die Gleichung m = m1 + m2 + . . . + mk . Auf die Reihenfolge der Xi kommt es dann nicht an; also können wir m1 ≥ m2 ≥ . . . ≥ mk ≥ 1 voraussetzen. Mit pk (m) bezeichnen wir die Anzahl der Partitionen von m in k Teile; mit p(m) bezeichnen wir alle Partitionen von m , d. h.: p(m) := m % pk (m) . k=1 Es ist z.B. p(1) = 1 , p(2) = 2 und p(3) = 3 mit p1 (3) = p2 (3) = p3 (3) = 1 ; dies sind die Partitionen (3) , (2, 1) , (1, 1, 1) . Ferner ist zum Beispiel p(6) = 11 wegen p1 (6) p2 (6) p3 (6) p4 (6) p5 (6) + p6 (6) p(6) 1 = 1 = 3 = 3 = 2 = 1 = 1 = 11 : : : : : : 6 5 + 1, 4 + 2, 3 + 3 4 + 1 + 1, 3 + 2 + 1, 2 + 2 + 2 3 + 1 + 1 + 1, 2 + 2 + 1 + 1 2+1+1+1+1 1+1+1+1+1+1 Da nur paarweise verschiedene Blöcke zugelassen sind, ist hier nur von einfachen Designs die Rede. 60 Man kann folgende ”Rekursionsformel” für die Funktionen pk (m) beweisen: Satz Gegeben seien m, r ∈ N∗ mit r ≤ m . Dann gilt: r % k=1 pk (m) = pr (m + r) .