Eine Rose gegen Gewalt: Stärke, Schönheit und Fragilität werdender Mütter Nicht jede natürliche Geburt muss zwangsläufig eine Hausgeburt sein. Einer beglückenden Geburt steht theoretisch auch im Krankenhaus nichts im Wege. Mit Feingefühl, Wissen, Vertrauen und den nötigen strukturellen Freiräumen könnte auch in diesem künstlichen Rahmen eine achtsame Geburt stattfinden. Die Realität sieht weltweit derzeit dramatisch anders aus. Gewalt vor, während und nach der Geburt stehen auch hier an der Tagesordnung. INTERVIEW MIT MASCHA GRIESCHAT, KOORDINATORIN VON ROSES REVOLUTION M ascha Grieschat – Doula, Mut- lich habe ich mich ohnmächtig ergeben. ter und Betroffene – engagiert Es war definitiv das Schlimmste, was ich sich für eine bessere Geburts- je erlebt bzw. überlebt habe. Die Geburt hilfe in Deutschland. Mit ihrer Initiati- meines Sohnes beinhaltete Entmündive Gerechte Geburt und der Koordinati- gung, Erniedrigung, übergriffige Ärzte, on des Projekts Roses Revolution setzt sie brüllende Rettungssanitäter, mangelnde Hebammenbetreuung, fehlende Menschein starkes Zeichen für Veränderung. lichkeit, Respektlosigkeit, verbale EntSeit Ihrem eigenen »gewaltvollen« gleisungen à la »Müssen Sie schon in die Geburtserlebnis haben Sie es sich zur Tischkante beißen?«, »Guck dich mal an, Aufgabe gemacht, die derzeitige Situati- Mädchen, du bist fertig« oder »Nein, Sie on in der Geburtshilfe in Deutschland bekommen nichts zu trinken; Sie bekomzu verändern. Möchten Sie ihr persön- men einen Tropf«. Und schließlich einen Notkaiserschnitt gegen meinen Willen liches Erlebnis schildern? Danke für diese erste Frage, die es in Vollnarkose (was man mir nicht einwirklich in sich hat. Es fällt mir nicht mal mitteilte), dessen tatsächliche Notleicht, sie zu beantworten; dennoch wendigkeit ich bis heute bezweifle. Was möchte ich es tun, weil es mir wich- mir angetan wurde, hat mich für imtig erscheint zu definieren, was denn mer verändert. Gravierend außerdem: überhaupt »Gewalt in der Geburtshil- der Mangel an guten und schnellen Hilfe« ist. In der Öffentlichkeit herrscht femöglichkeiten nach der Geburt, fehlennoch viel zu wenig Bewusstheit dar- de Entschuldigung und Entschädigung, über, dass »Gewalt in der Geburtshil- mangelnde Akzeptanz, die stattgefundefe« tatsächlich existiert. Durch »Darü- ne Gewalt anzuerkennen. »Dumm gelauber-Reden« kann eine Sensibilisierung fen, aber freuen Sie sich an ihrem Kind« stattfinden. Gleichzeitig möchte ich – das waren Standardsätze, auch von mebetonen: Keine betroffene Frau muss dizinischem Fachpersonal. ihre Geschichte schildern, nur um BeSie haben daraufhin 2013 die Initiaweise und Rechtfertigung zu liefern! Was ich persönlich erinnere, sind viele tive Gerechte Geburt gegründet. Was ist Bilder, Geräusche, Gerüche, Gefühle, vor darunter zu verstehen? Und: Wie könallem Todesangst; aber ich weiß zum Bei- nen Sie damit zu einer Verbesserung spiel nicht mehr genau, wie viele Men- der Geburtssituation beitragen? schen mir in meine Vagina fassten, wie Auf der Suche nach Hilfemöglichoft ich »Nein!« und »Hilfe!« schrie. Letzt- keiten nach traumatischen Geburtserwww.unerzogen-magazin.de lebnissen fand ich 2011 fast nichts. Die Angebote beschränkten sich auf Einzelgespräche mit Psychotherapeuten. Wobei die »Therapie« meist in Medikamentengabe zur »Stabilisierung« bestand. Die wenigen alternativen Angebote waren allesamt privat zu zahlen! Das wollte ich ändern. Wichtiger Teil meines Heilungswegs war es, andere Frauen, Kinder und Familien vor einer solchen Erfahrung zu schützen. Ich wollte, ja musste, nachhaltig die Geburtskultur in Deutschland verändern. Ich las meterweise Fachliteratur, um Antworten zu bekommen. Es war erschreckend: Die Behandlung, die mir und meinem Sohn zuteilgeworden war, war das Gegenteil von dem, was Forschungsergebisse zeigen und Leitlinien in der Geburtshilfe seit Jahrzehnten (!) vorgeben. Das heißt: In der Theorie ist das Wissen, wie gute Geburtshilfe abläuft, in vielen Bereichen vorhanden, in der Praxis dagegen hapert es. Größtenteils strukturell bedingt (Personalschlüssel, faire Versicherung und Bezahlung). Geburtshilfe muss insgesamt gerechter werden – für alle Beteiligten: die Mutter, den Vater, das medizinische Personal, das Ungeborene. Ich gründete die Initiative also vorrangig als Informationsplattform, zum Austausch und zur Projektbeteiligung. Außerdem machte ich die Ausbildung zur Doula. Ich wollte einerseits Schwangere, andererseits medizinisches Personal und Hebammen sowie 33 verletzung, denn: Vielleicht hätten Sie lieber ein Antibiotikum genommen oder zumindest gewusst, was gerade mit Ihnen und Ihrem Körper geschieht. Meiner Meinung nach findet in den deutschen Kreißsälen eine routinierte Patientinnen-Rechtsverletzung statt – stets unter dem Deckmantel, das Kind zu retten. Dabei sind echte Notfälle sehr selten und in den meisten Fällen durch Interventionskaskaden krankenhausgemacht. Mascha Grieschat ist Koordinatorin des Projektes Roses Revolution. Politiker erreichen und aufklären. Damit Gewalt in der Geburtshilfe gar nicht erst passiert. Denn eine gerechte Geburt ist gewaltfrei, respekt- und würdevoll. Gerecht – das ist ein ehrliches und erreichbares Ziel! Ich kann keiner Schwangeren versprechen, dass sie eine schöne, komplikationsfreie und natürliche Geburt haben wird. Aber ich kann alles dafür tun, dass sie gut und gerecht behandelt wird, sodass sie ihr Leben lang mit einem Gefühl von Zufriedenheit auf die Geburt zurückblicken kann. Beim Thema »Gewalt« scheiden sich die Geister. Es erhitzt die Gemüter. Und zeigt einerseits, wie sensibel mit dem Thema umzugehen ist, andererseits auch, wie unterschiedlich die Auffassungen von Gewalt und Toleranzgrenzen diesbezüglich sind. Was ist in Ihren Augen Gewalt an schwangeren und gebärenden Frauen? Durch die fehlende Beachtung der individuellen Bedürfnisse, durch physische, psychische oder verbale Gewalt erleben Frauen und ihre (ungeborenen) Kinder ungerechte Geburten. Dabei ist alles, was die Schwangere oder gebärende Frau als Gewalt empfindet, Gewalt. Mir ist wichtig zu betonen, dass Geburt 34 an sich in jeder Hinsicht ein »gewaltiges« – sprich mächtiges – Erlebnis ist; doch ist damit gewiss nicht die Respektlosigkeit gemeint, die täglich in der Geburtshilfe passiert. Anschreien, Erniedrigen, Erpressen etc. sind auf psychischer Ebene sehr grausam, genauso wie körperliche Gewalt (Interventionen, unnötig schmerzhafte Untersuchungen, Festhalten, Schlagen). Hand in Hand gehend mit fehlender Aufklärung und Einwilligung der Gebärenden. Getrost kann man Sie als Expertin bezeichnen, was Gewalterfahrungen in der Geburtshilfe betrifft. Welche sind die häufigsten Gewaltformen, die werdenden Müttern zuteilwerden? Am häufigsten passiert wohl Entmündigung; gepaart mit nicht vorhandener Aufklärung und Eingriffen, denen die Frau nicht zugestimmt hat. In keinem anderen medizinischen Bereich ist eine derartige würde- und respektlose Behandlung denkbar. Stellen Sie sich zum Beispiel vor: Sie gehen zum Zahnarzt, wo Ihnen – ohne Vorwarnung – zwei Backenzähne gezogen werden. Mit der Begründung: »Das hat Ihr Leben gerettet; eine Blutvergiftung drohte.« Tja, dann handelte es sich eindeutig um Körper- Warum ist es also sinnvoll, das Thema »Gewalt rund um die Geburt« nicht länger zu tabuisieren, sondern öffentlich zu machen, zu thematisieren? Welche Auswirkungen kann eine Gewalterfahrung unter der Geburt für Frau und Kind haben? In Schweden hat man bereits 2002 festgestellt, dass Frauen nach negativen Geburtserlebnissen weniger oder erst später Kinder zur Welt bringen. Ich bin überzeugt, dass sich die Tabuisierung ein Leben lang auf die Beziehung zum Kind auswirkt sowie auch auf die Beziehungen zu Partner und Familie Einfluss nimmt. Die Folgen müssten noch viel mehr erforscht werden – wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 2015 fordert. Leider ignoriert dies die deutsche Gesundheitspolitik. Die jüngst veröffentlichten »Nationalen Gesundheitsziele: Gesundheit rund um die Geburt« vergeben hier die wichtige Chance, folgendes Ziel zu formulieren: »Eine gewaltfreie, würde- und respektvolle Geburt wird ermöglicht.« Um Frauen und Kinder zu schützen, ist es wichtig, das Thema weiter öffentlich zu machen. Die Aktion Roses Revolution fordert zum Beispiel (auch im Logo): »Name it!«. Wir müssen das Schweigen brechen und die Gewalt beim Namen nennen. Nur so kann sich etwas verändern; nur so erhalten Krankenhäuser die Möglichkeit, Lösungswege und Präventionsmaßnahmen zu entwickeln; nur so kann sich jede einzelne Hebamme fragen: Was kann ich aktiv für eine würdeund respektvolle Geburt tun? Die Auswirkungen einer positiven Begleitung ins Leben sind enorm. Die eben erwähnte, weltweite Aktion Roses Revolution wird in Deutschunerzogen 1/2017 land von Ihnen – gemeinsam mit drei weiteren Frauen – ehrenamtlich koordiniert und geführt. Können Sie ein paar persönliche Worte zu dieser Initiative finden? Wenn Frauen durch die Beteiligung der Roses Revolution wieder ein Stück zu sich selbst finden und den Mut aufbringen, eine Rose vor dem Kreißsaal, in dem sie Gewalt erlebt haben, niederzulegen und einen Brief zu schreiben, um das Erlebte zu betrauern … dann ist schon ein großer Schritt in Richtung »Heilung« getan. Als deutsches Team der Roses Revolution bekommen wir immer wieder Rückmeldungen, dass Frauen sich wieder trauen, erneut schwanger zu werden. Dank des heilenden Austauschs mit anderen Betroffenen. Viele Mütter berichten, dass sie nach aktiver Teilnahme an der Aktion endlich ehrliche Freude über ihr Kind empfinden können; dass sie endlich akzeptieren können, dass der Weg zur Innigkeit schwierig war; dass sie von der erlebten Gewalt wie betäubt waren. Die Roses Revolution gibt den Betroffenen eine Stimme, um auszusprechen, was ihnen angetan wurde. Allein unsere Dokumentation der Briefe von 2016 zeigt, dass in über 22 Prozent aller deutschen Kliniken nachweislich Gewalt in der Geburtshilfe ausgeübt wurde. Wir können also nicht von traurigen Einzelfällen sprechen. Wir sind ein starkes Team, kommen aber – was Ressourcen betrifft – oft an unsere Grenzen. Wir wünschen uns dringend finanzielle, institutionelle und personelle Unterstützung seitens des Gesundheits- und Familienministeriums; bisher wurden allerdings sämtliche Förder- und Unterstützungsgesuche abgelehnt. Derzeit warten wir noch auf eine Stellungnahme. und flüchten sich in die WochenbettbeMehr Informationen treuung. Wenige Rückmeldungen gibt es von Kliniken, einige davon jedoch www.gerechte-geburt.de positiv und engagiert. Allerdings gibt es www.facebook.com/RosesRevolutiauch Kliniken, welche betroffenen FrauonDeutschland en ein Hausverbot auferlegen, weil sie eine Rose und einen Brief niedergelegt www.rosesrevolution.com haben. www.humanrightsinchildbirth.com Ehrlich gesagt bin ich verärgert über www.netzwerk-geburtskultur.de die fehlende Kooperation des deutschen Gesundheitsministers. Seit Jahren suimbco.weebly.com che ich Kontakt zum Ministerium. Wieder und wieder wird von »Einzelfällen« gesprochen. Meist werden wir mit Stan- Wahlprogrammen und auch konkret in dard-Briefen in Bezug auf die Lösung der der politischen Umsetzung sehen … Hebammen-Haftpflichtproblematik abWas können und möchten Sie Fraugespeist. Es geht aber um die traumatisierten Frauen und Familien! Hier kann en, die sich mit ihrem Geburtserlebnis Roses Revolution endlich die nötige Platt- gewaltvoll belastet fühlen, mit auf den Weg geben? Was wünschen Sie sich perform schaffen. sönlich? Allen betroffenen Frauen möchte ich Die Zeitgeschichte hat gezeigt, welche Kraft in einer friedlichen Revolu- sagen: »Es tut mir leid, dass wir – also tion steckt. Auch die Roses Revolution Aktivisten, Gesellschaft und Fachperist als friedenstiftende Aktion ange- sonal – Sie noch nicht besser schützen legt: nicht verurteilen, sondern aufzei- konnten. Das hätte nicht passieren dürgen, hellhörig machen, verbinden. Kön- fen. Aber verzeihen Sie sich auch selbst; nen Sie in der aktuellen Geburtshilfe Sie, Ihr Baby oder Partner tragen keine in Deutschland einen sanften Wind of Schuld an den Geschehnissen. Sie haben Ihr Bestes gegeben; da bin ich mir Change spüren? Oh ja, gewiss! Es gibt ein paar vor- sicher. Es ist in Ordnung, die gewaltbildliche Kliniken, die durch verbes- vollen Umstände der Geburt zu bereuserte Betreuung die Zufriedenheit der en, wütend zu sein, das fehlende schöne Mütter steigern und zum Beispiel ihre Geburtserlebnis zu betrauern. Tauschen Kaiserschnittraten deutlich senken Sie sich mit anderen Betroffenen aus; konnten. Immer mehr Kliniken welt- das hilft sehr.« Ich selbst habe fünf Jahre gebraucht, weit setzen die von der IMBCI (International MotherBaby Childbirth Ini- um mir selbst zu verzeihen, dass ich tiative) entwickelten 10 Schritte zum mein Baby und mich in diese Situatioptimalen MutterBaby Geburtsservice on gebracht habe und mich nicht gegen um. Dies muss allerdings noch deut- die Übergriffigkeit und Gewalt wehren lich mehr werden. Der erste – eigent- konnte. Jetzt trage ich voller Zuversicht lich selbstverständliche – Schritt hier- wieder ein Kind unter meinem Herzen. zu lautet: »Jede Frau muss mit Respekt Ich wünsche mir natürlich eine gute, gebehandelt und in ihrer Würde geschützt rechte Geburt für uns. Ich wünsche mir Wie ist die Resonanz auf die Roses werden.« Das Netzwerk der Elterniniti- außerdem, dass die Zahl der schlimmen Revolution? Gibt es Beteiligung »nur« ativen für Geburtskultur bildet hierfür Geburtsgeschichten bei der Roses Revoseitens betroffener Frauen oder findet einen zukunftsweisenden Zusammen- lution jedes Jahr sinkt, dagegen jene der die Aktion auch in Krankenhäusern, schluss. In einer Arbeitsgruppe haben heilsamen Berichte steigt. Für eine geunter Ärzten und Hebammen sowie in wir »Wahl-Prüfsteine« für die Bundes- rechte und würdevolle Geburtshilfe in tagswahl 2017 erstellt, welche speziel- Deutschland und der ganzen Welt … der politischen Diskussion Gehör? Zunehmend positiv wird die Aktion le Fragestellungen zum Thema »Gewalt Danke, Frau Grieschat. Für das Gevon Hebammenverbänden aufgenom- in der Geburtshilfe« beinhalten. Alle men. Viele Hebammen kennen die Pro- großen Parteien sind aufgefordert, sie spräch. Und für Ihr unermüdliches, blematik der Traumatisierung aus ihrer zu beantworten. Ich persönlich möch- »gewaltiges« Engagement! Ausbildungszeit, sind co-traumatisiert te den Wind of Change in den einzelnen Das Interview führte Mag. Susanne Sommer. www.unerzogen-magazin.de 35 Impressum Herausgeber: Sören Kirchner Chefredakteurin: Sabine Reichelt (sr) (V.i.S.d.P.) Sören Kirchner (sk) Layout: Sören Kirchner Nächstes Heft 2/17 Sommer 2017 Anschrift Redaktion und Verlag: Redaktion »unerzogen Magazin« tologo verlag Aurelienstr. 15 04177 Leipzig Tel: 0341/49240341 Fax: 0341/49240342 [email protected] www.unerzogen-magazin.de Geschäftsführer: Sören Kirchner Anzeigen: Sören Kirchner Tel: 0341/49240341 Fax: 0341/49240342 [email protected] www.unerzogen-magazin.de/anzeigen Aboservice und Preise: Preise: Heftpreis: 6,90 Euro, Jahresabo (4 Ausgaben): 24,00 Euro frei Haus innerhalb Deutschlands. Bei Lieferungen ins Ausland fallen zusätzliche Versandkosten von 2,50 Euro pro Heft an. 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