Big Science - Small Particles

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Dr. B. Ceranski, Universität Stuttgart, GNT
Big Science - Small Particles
(Vorlesung von Dr. Beate Ceranski, 01.07.2004)
I.
Einführung in das Thema
– "big science"
– "small particles"
– historiographische Perspektiven
II. Institutionen der Big Science / Großforschung
– Großforschungseinrichtungen in der BRD
- internationale Beschleuniger-Laboratorien
III. Begriffliche Grundlagen und ein Überblick über die
Teilchenphysik
– Teilchen und Wechselwirkungen
– Beschleuniger
– Detektoren
IV. Eine Fallstudie: Die Entdeckung des W-Bosons 1983 oder:
die Planung eines Nobelpreises
– Jagd nach dem W-Boson
- Durchbruch beim Beschleunigerbau
- Forschungspolitik beim Detektorbau
– Veröffentlichungs-Politik
– ...
Vorlesung vom 01.07.2004, Big Science - Small Particles
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Historiographische Perspektiven
In der (reichen!) Historiographie findet man praktisch alle Ansätze der
Wissenschaftsgeschichte
• von Physikern für Physiker / für die Allgemeinheit (PAIS, Inward bound)
• "Laborstudien" (TRAWEEK, Beamtimes and Lifetimes)
• "klassische Wissenschaftsgeschichte" (BRAUN, HODDESON u.a.)
• Sozialkonstruktivismus (PICKERING, Constructing Quarks)
• Experiment-/Instrumentgeschichten (GALISON, Image and Logic)
• wissenschaftspolitik-geschichtlich (HABFAST, Großforschung mit kleinen
Teilchen)
• institutionengeschichtlich (KRIGE et al: History of CERN)
• biographisch (wenig), auto-biographisch
• und schließlich: "Big Science" / Großforschung:
Versuch, das Proprium von "Big Science" zu bestimmen:
– Einbindung vieler Disziplinen und Forscherteams in ein Projekt, in
dessen Mittelpunkt (häufig) ein Großgerät steht
– Einbindung von industriellen Partnern / Zulieferern
– vollständig oder überwiegend öffentlich finanziert (D: 90:10-Prinzip)
– Ausrichtung auf Ziele, die für gesellschaftlich oder politisch relevant
gehalten werden
– Dualismus aus politischer Zielvorgabe einerseits und relativ starker
Autonomie der Wissenschaftler in der konkreten Arbeit andererseits
Mehrsträngige Betrachtungsweise (brick model):
Geschichte der Theorien / theoretischen Konzepte
Geschichte der Beschleuniger
Geschichte der Detektoren
Die verschiedenen Stränge beeinflussen sich gegenseitig, folgen aber
keinem gemeinsamen Paradigma / Zeitverlauf!
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Großforschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland
(heute: Helmholtz-Gesellschaft)
1955
Bundesministerium für Atomfragen
1953 Gesellschaft zur Förderung der kernpysikalischen Forschung (NRW)
1956: Standort Jülich
seit 1961: Kernforschungsanlage Jülich
1956 Kernreaktor-Bau und -Betriebsgesellschaft
seit 1959: Gesellschaft für Kernforschung (Karlsruhe)
1956 Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt
(Geesthacht bei Hamburg)
1956 Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung (Berlin)
1960 Institut für Plasmaphysik
seit 1971: Eingliederung in Max-Planck-Gesellschaft
1959 Deutsches Elektronen-Synchroton (DESY) (Hamburg)
1965 Deutsches Krebsforschungszentrum
(seit 1975 Großforschungseinrichtung)
1968 Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung
1954 Rheinisch-Westfälisches Institut für Instrumentelle
Mathematik
1969 Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt
(aus Vorläufer-Organisationen) (Köln)
1969 Gesellschaft für Schwerionenforschung (Darmstadt)
Einige internationale Laboratorien für Hochenergiephysik
• CERN (Centre Européen de Recherche Nucléaire) (gegr. 1953)
Gründungsmitglieder: Bundesrepublik Deutschland, Niederlande, Belgien, Schweiz,
Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Jugoslawien,
Griechenland
•
•
•
•
•
Serpukhov (UdSSR) (in Betrieb 1971)
SLAC (Stanford Linear Accelerator) (1957/1966)
Fermilab (bei Chicago) (1967 / 1972)
Brookhaven National Laboratory (gegr. 1946)
KEK: Japanisches Nationallaboratorium für Hochenergiephysik (1971 /
1987)
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III. Begriffliche Grundlagen und ein Überblick über die
Teilchenphysik
Drei 'Generationen' von elementaren Teilchen:
QUARKS
LEPTONEN
up
charm
top
down
strange
bottom
Elektron
Müon
Tau
e-Neutrino
µ-Neutrino
τ-Neutrino
LEPTONEN unterliegen nur der Schwachen Wechselwirkung
Aus QUARKS entstehen HADRONEN.
Sie sind aus zwei oder aus drei Quarks aufgebaut.
Sie unterliegen der Starken Wechselwirkung.
Beispiele für Hadronen sind
Proton
Neutron
Pion (π+ π0 π-)
viele andere...
Wechselwirkung
Austausch-Teilchen
Elektromagnetismus
Schwache WW
Photon
Z (elektrisch neutral)
W+, W- (elektrisch geladen)
Gluonen
? Graviton?
Starke WW
Gravitation
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Physikalische Grundlagen: Beschleuniger
Beschleunigt werden grundsätzlich elektrisch geladene Teilchen durch
elektromagnetische Felder.
Einheit: "Elektronenvolt" eV:
1 eV: Energie, die ein Elektron bekommt, wenn es eine Potentialdifferenz
von der Größe 1 Volt durchläuft
einfachstes Prinzip (van-de-Graff-Generator):
ein Teilchen durchläuft ein Feld mit angelegter hoher Gleichspannung
zweit-einfachstes Prinzip in Variationen:
• ein Teilchen durchläuft mehrfach ein Feld mit angelegter hoher
Spannung: auf einer größer werdenden Kreisbahn mit einem konstanten
Magnetfeld (Zyklotron)
oder...
• auf einer gleichbleibenden Kreisbahn mit einem sich 'passend' ändernden
Magnetfeld (Synchroton)
oder...
• auf einer langen geraden Strecke viele Male hintereinander
(Linearbeschleuniger)
dritt-einfachstes Prinzip zur Erhöhung der "Aufprall-Energie":
beschleunigte Teilchen nicht auf feste Ziele schießen (fixed-target),
sondern auf entgegenkommende beschleunigte (Anti-)Teilchen als
Frontalaufprall
(collider / Speicherringe)
Probleme und begrenzende Faktoren:
• Energieabstrahlung geladener Teilchen auf einer Kreisbahn
(Synchroton-Strahlung) ⇒ linear oder mit großen Radien beschleunigen
• "Trefferquote" bei Collidern ⇒ Strahl kollimieren, oft wiederholen
• Stabilität des Strahls von Antiteilchen bei Collidern
⇒ 'stochastische Kühlung' (van der Meer, CERN)
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Physikalische Grundlagen: Detektoren
Grundprinzip:
"Entdeckt" / nachwiesen werden elektrisch geladene Teilchen durch ihre
ionisierende Wirkung auf andere Atome / Moleküle
• entweder als Spur / Bild
oder
• als (elektrisches) Signal / Zählimpuls
• und ihr Impuls kann durch Anlegen eines Magnetfeldes gemessen werden
Umsetzungen des Grundprinzips
• Nebelkammer: übersättigter Dampf, ionisierendes Teilchen verursacht
Kondensationskeime für Tröpfchenbildung, die durch Expansion der
Kammer im Nebel sichtbar werden, photographieren ⇒ Bild einer Spur
• Film-Emulsionen: chemische Reaktion, Schwärzung ⇒ 'direkte' Spur
• Blasenkammer: überhitzte Flüssigkeit, ionisierendes Teilchen verursacht
Bläschenbildung, photographieren ⇒ Bild einer Spur
• Funkenkammer: verdünntes Gas zwischen Platten / Drähten, an denen
hohe Spannung liegt, ionisierendes Teilchen verursacht
Funkendurchschlag, photographieren ⇒ Bild einer Spur
• Zählrohr (zylindrisch): hohe Spannung zwischen Draht und Außenwand,
Teilchen verursacht Ionenlawinen, die nach außen / innen wandern:
elektrisches Signal
• Vieldraht-Kammer: ganz, ganz viele Zählrohre nebeneinander!
Teilchen verursacht Folge von elektrischen Impulsen, die auch
Ortsinformationen beinhalten ⇒ elektronisch gerechnetes Spurbild
• Driftkammern, Time Projektion Chamber (TPC) u.a.: Verfeinerungen und
Verbesserungen dieses Prinzips durch Einführung von Zeitmessungen
(Driftzeiten zum nächsten Draht ⇒ Ortsinformation)
⇒ elektronisch gerechnete sehr 'genaue' Spurbilder
Merke: Neutronen bzw. neutrale Teilchen überhaupt können nur indirekt
entdeckt werden...
... nämlich dadurch, daß sie Protonen "schubsen", deren ionisierende
Wirkung wiederum gemessen wird – oder dadurch, daß sie inzwischen in
andere, geladene, Teilchen zerfallen...: Kalorimeter
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Eine Fallstudie: Die Entdeckung des W-Bosons 1983 oder:
die Planung eines Nobelpreises
1978
27.01.1983
Proton-Antiproton-Collider durch stochastische
Kühlung (Simon van der Meer) möglich;
CERN beschließt Bau
Beschleuniger und Detektor laufen,
Workshop Rom: Kandidaten für W's (5 / 4)
internes Seminar bei CERN:
vorsichtige Ankündigung der W-Bosonen (UA 1)
internes Sem. (2. Tag): UA 2 stimmt UA 1 zu
Pressemitteilg. CERN: "results begin to reveal ...W"
Entwurf Publikation für Physics Letters von Rubbia
'Referee-Prozess' der Publikation
Rubbia trifft Darriulat (Chef von UA 2),
Rubbia warnt D. vor überstürzter Publikation
Ablieferung der Publikation von UA 1 bei Verlag
Pressekonferenz CERN: "discovery confirmed"
Rubbia und Darriulat mit Schopper auf der Bühne
Meeting American Physical Society in New York,
Rubbia stellt dort Ergebnisse vom CERN vor
New York Times: discovery of W particles at CERN
Dez. 1984
van der Meer und Rubbia erhalten den Nobelpreis
Okt. 1982
12.01.1983
20.01.1983
21.01.1983
21.01.1983
21.01.1983
22.-23.01.
22.01.1983
24.01.1983
25.01.1983
26.01.1983
Literatur dazu: KRIGE, Distrust and Discovery
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kommentierte Literaturliste zur Vorlesung
Big Science - Small Particles
Wenn nicht anders angegeben, finden sich die Bücher in der GNT-Bibliothek
A. Historiographische Perspektiven auf "Big Science" /Großforschung (kleine Auswahl!):
Galison, Peter: Image and logic: a material culture of microphysics. - Chicago : The
University of Chicago Press, 1997
• Ein 1000-Seiten-Wälzer über die Geschichte der Detektoren; sehr umfassend, viele kleine in sich
geschlossene Kapitel und Abschnitte, die man einzeln bei Interesse lesen kann. Eines der wichtigsten
Bücher überhaupt zum Thema Teilchenphysik.
Galison, Peter u. Bruce Hevley (Hg.): Big science: the growth of large-scale research.
Stanford Univ. Pr., 1992
• Sammelband zu "Big Science", der nicht nur Teilchenphysik diskutiert, sondern auch große
Industrieforschung, Big Science in der Astronomie u.a. Enthält in Einführung auch allgemeine
historiographische Reflexionen zu Big Science.
Habfast, Claus: Großforschung mit kleinen Teilchen: das Deutsche ElektronenSynchrotron; DESY 1956 - 1970. Berlin ; Heidelberg : Springer, 1989
• Über die Anfänge eines der größten europäischen Labors nach CERN. Stark politik- und
verwaltungsgeschichtlich orientiert.
Hoddeson, Lillian (Hg.): The rise of the standard model: particle physics in the 1960s
and 1970s. Cambridge : Cambridge Univ. Press, 1997
• Einer von insgesamt drei Bänden, von etwas wechselnden Herausgeber/inne/n. Alle drei Bände basieren
auf gemeinsamen Tagungen von Teilchenphysikern und Wissenschaftshistorikern, geben die
Perspektiven beider Gruppen sehr schön wieder. Decken zusammen die gesamte Teilchenphysik in aller
Breite und Ausführlichkeit ab. Enthalten viele kleinere Aufsätze zu sehr speziellen Themen und einige
allgemeinere Aufsätze.
Hermann, Armin; Krige, John; Pestre, Dominique: History of CERN. 3 Bände (Bd. 3 hrsg
von John Krige). Elsevier, Amsterdam 1987-1996
• Die ersten beiden Bände sind "Fließtext" zur Geschichte der CERN, sowohl zu institutionellen als auch
zu physikalisch-inhaltlichen Aspekten. Sehr umfassend, auch in der wissenschaftspolitischen
Darstellung. Band 3 ist ein Aufsatzband zur neueren CERN-Geschichte. Diese dreibändige Darstellung
zeigt, was eine Institutionengeschichte sein kann, wenn man Aufwand und gute Leute investiert.
Pais, Abraham: Inward bound: of matter and forces in the physical world. Oxford :
Clarendon Pr., 1986
• Von einem bekannten Physiker geschrieben, insbesondere für Physiker sehr gut und unterhaltsam zu
lesen. Reich an physikalischen Fakten, aber auch an netten Geschichten.
Pickering, Andrew: Constructing quarks: a sociological history of particle physics.
Edinburgh: Edinburgh Univ. Pr., 1984
• Der Titel ist Programm: eine Studie aus der Sicht des Sozial-Konstruktivismus. Was nicht bedeutet,
dass sie nicht ziemlich viel Physik enthielte....
Szöllösi-Janze, Margit und Helmuth Trischler (Hg.): Großforschung in Deutschland.
Frankfurt/Main ; New York : Campus-Verl., 1990. (Studien zur Geschichte der
deutschen Großforschungseinrichtungen ; 1)
• Als Einstieg in die Geschichte der deutschen Großforschung geeignet.
Traweek, Sharon: Beamtimes and lifetimes: the world of high energy physicists. Harvard
University Press 1988
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Dr. B. Ceranski, Universität Stuttgart, GNT
• Als anthropologische Studie ganz anders als die historiographischen Studien; sehr spannend, vor allem
wenn man Hochenergiephysiker/innen kennt...
B. Speziell zu Teil IV:
Krige, John: Distrust and Discovery. The Case of the Heavy Bosons at CERN. Isis 92
(2001), 517-540
• DER Aufsatz zum Nachlesen der Geschichte aus Teil IV der Vorlesung. Differenziert, kompetent, von
einem der Top-Spezialisten auf dem Gebiet. Zum gleichen Thema gibt es noch eine populäre
Monographie - vielleicht lockt ja auch der Vergleich:
Taubes, Gary: Nobel Dreams: Power, Deceit, and the Ultimate Experiment. Random
House, New York 1986
• vorhanden in GNT-Bibliothek (alter Katalog!)
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