Vorbeugung und Therapie bei Patienten mit

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Praxis
Vorbeugung und Therapie bei
Patienten mit Zahnbehandlungsängsten
Mats Mehrstedt,
Sven Tönnies
Mats Mehrstedt: „Gewaltfreie Zahnmedizin“ (Öl auf Leinwand, 65 x 80 cm)
A
In Deutschland wird der Mundgesundheitszustand
der Bevölkerung von Jahr zu Jahr besser [6], aber
nicht alle haben gleichen Anteil an diesem Fortschritt. Untersuchungen zeigen, daß eine Gruppe
von etwa 25% der deutschen Bevölkerung rund
75% aller Erkrankungen der Zähne auf sich sammelt [2, 15, 30]. Diese Polarisierung nimmt weiter
zu [16]. Nur eine Minderheit geht regelmäßig einmal im Jahr zum Zahnarzt: 32% der Erwachsenen
der deutschen Oberschicht geben an, regelmäßig
den Zahnarzt aufzusuchen, während dies nur 24%
der Unterschicht tun [15]. Über 40% der männlichen 35- bis 44-jährigen werden als „beschwerdeorientierte“ Zahnarztbesucher eingestuft. Diese Tendenz nimmt mit steigendem Alter zu, während der
Anteil für die 12-jährigen noch bei etwa 30% liegt
[16]. Eine schottische Untersuchung zeigt, daß Menschen, die nicht zum Zahnarzt gehen, mehrheitlich
unter Zahnbehandlungsängsten leiden [21].
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ngst vor Zahnbehandlungen ist eines
der größten Hindernisse für das Erreichen einer optimalen Zahngesundheit in der
Bevölkerung.
Studien aus verschiedenen Ländern haben ergeben, daß mindestens 10% der dortigen Bevölkerung unter so starken Zahnbehandlungsängsten leiden, daß sie zahnärztliche
Hilfe nur bei sehr starken Schmerzen in Anspruch nehmen [4, 5, 19, 24]. In Schweden
liegt dieser Anteil seit vielen Jahren konstant
bei etwa 5% [3, 7]. Es gibt keine vergleichbaren Untersuchungen aus Deutschland.
Einige in den Wartezimmern von Zahnärzten durchgeführte Befragungen deuten darauf hin, daß Zahnbehandlungsängste hierzulande möglicherweise stärker verbreitet sind
als in den Skandinavischen Ländern oder
den USA [10, 15]. Da Menschen mit starken
Zahnbehandlungsängsten in den Wartezimmern aber stark unterrepräsentiert sind, darf
man vermuten, daß ihre Zahl in Deutschland
eher bei 10 - 15 Millionen liegt.
Zahnbehandlungsängste, Ausweichverhalten
und mangelnde Mundhygiene weisen, wie
fast alle körperlichen und psychischen Erkrankungen, eine soziale Schieflage auf:
Menschen aus unteren Gesellschaftsschichten sind vergleichsweise schwerer betroffen
als Bessergestellte [2, 15, 30].
Schwedische und Amerikanische Untersuchungen zeigen, daß Menschen mit Zahnbehandlungsängsten dort häufiger unter psychosomatischen Beschwerden leiden, mehrheitlich auch andere psychiatrische DiagnoZAHN PRAX 5, 172-176 (2002)
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Typische Gebißsituationen von Zahnarztphobikern
48% der Frauen und nur
15% der Männer
stuften sich
als ängstlich im
Zusammenhang mit Zahnarztbesuchen ein
Respekt und
Kontrolle sind
Grundbedürfnisse des
Patienten in
der ZahnarztPatient
Interaktion
sen aufweisen und überdurchschnittlich häufig krankgeschrieben sind [7, 23]. Weil sie
weniger vorbeugende Maßnahmen praktizieren und häufig nicht imstande sind, regelmäßige zahnärztliche Hilfe in Anspruch zu
nehmen, sind bei ihnen mehr Zähne erkrankt
und zerstört als bei anderen [7, 14].
Jüngere Menschen haben stärkere Zahnbehandlungsängste als ältere [10, 29], und
Frauen geben häufiger als Männer an, Angst
vor zahnärztlichen Behandlungen zu haben
[7, 29]. In einer deutschen Untersuchung
stuften sich 48% der Frauen, aber nur 15%
der Männer als ängstlich im Zusammenhang mit Zahnarztbesuchen ein [20].
Wer Zahnbehandlungsangst hat und einen
zunehmenden Zahnverfall beobachten muß,
leidet auch an einem Verlust der Lebensqualität [8, 14].
Es ist anzunehmen, daß Vorbeugung und
Therapie von Zahnbehandlungsängsten wichtige Faktoren sind, wenn man diesem Viertel der Bevölkerung helfen möchte, das fast
alle Karieserkrankungen auf sich sammelt.
Dabei können Zahnärzte, die in verhaltensformenden Techniken ausgebildet sind, den
Zustand solcher Patienten stark verbessern
[7, 9].
Bei einem kleinen Teil der Patienten ist
zunächst eine erste Aufarbeitung der Zahnschäden unter Sedierung oder Vollnarkose
notwendig.
Für die Behandlung von Zahnbehandlungsphobikern, deren Zustand durch zusätzliche
psychiatrische Diagnosen kompliziert wird,
sollten Spezialkliniken eingerichtet werden,
in denen Zahnärzte und Psychotherapeuten
zusammen mit den Patienten Strategien zum
Angstabbau erarbeiten. Derartige, meist universitäre Kliniken gibt es teilweise seit den
1970er Jahren in den USA, Schweden,
ZAHN PRAX 5, 172-176 (2002)
Dänemark, Norwegen, Holland und Israel.
Die meisten Angstpatienten können aber bei
„normalen“ Zahnärzten ohne viel Zeitaufwand behandelt werden, vorausgesetzt, die
dafür nötigen Kenntnisse würden in die
Grundausbildung der Zahnärzte integriert
und an die bereits tätigen Zahnärzte vermittelt. Schon das Entstehen dieser Ängste
könnte dann auch dort in den meisten Fällen verhindert werden.
Das Versicherungssystem müßte dahingehend geändert werden, daß es für den klinisch
tätigen Zahnarzt weniger Hindernisse bei der
Betreuung von Angstpatienten gibt.
Da sich jedoch das deutsche Versicherungssystem ähnlich wie in Japan nach wie vor
vorrangig auf die restaurative Zahnheilkunde
ausrichtet, ist die Kariesprävalenz in diesen
Ländern im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern hoch [1] und die Möglichkeiten begrenzt, auf psychologische und soziale
Aspekte des Berufes einzugehen.
Einige der Ursachen von Zahnbehandlungsängsten sind so einfach zu verhindern, daß
sie eigentlich selbstverständlich zum normalen Praxisalltag gehören müßten.
Der Zahnarzt, der das Vertrauen seines Patienten gewinnen möchte, muß ihn zumindest am Anfang so akzeptieren, wie er ist.
Tut er dies nicht, fühlt sich der Patient nicht
verstanden, und weitere Fortschritte sind
ausgeschlossen.
Die meisten Zahnbehandlungsängste haben
ihren Ursprung nicht in erster Linie in einer
schmerzhaften Behandlung, sondern in mangelnder Kommunikation; wenn der Patient
glaubt, sein Zahnarzt kümmere sich nicht
um ihn und seine Gefühle oder Gedanken.
Nach Tönnies u. Heering-Sick [27] haben
Zahnärzte, die sich als wertschätzend, ein-
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Praxis
fühlsam, verständnisvoll und offen beurteilten, seltener Probleme im Umgang mit ängstlichen Patienten. Sie fühlen sich kompetenter
Patienten wün- und sicherer in der aufklärenden und beratenschen sich den den Gesprächsführung und wenden sie im
idealen Zahn- täglichen Umgang mit Angstpatienten nach
eigenen Einschätzungen erfolgreicher an.
arzt mehr
Es ist anzunehmen, daß Zahnärzte mit solermuchen personenzentrierten Haltungen bei der
tigend und
Behandlung von Angstpatienten ein angevertrauennehmeres und entspannteres Klima schaffen,
erweckend
damit Spannungen mindern und Angstreaktionen seltener bzw. weniger intensiv auftreten lassen. Damit wird eine wechselseitige
Verbesserung der Arzt-Patientenbeziehung
erreicht, denn auch der Zahnarzt erfährt weniger Belastungen und Einschränkungen,
was sich wiederum positiv auf die Behandlungssituation auswirkt.
Da Patienten ihre behandelnden Zahnärzte
in diesen Merkmalen eher kritisch beurteilen und sich den idealen Zahnarzt u. a. mehr
ermutigend und vertrauenerweckend wünschen [28], sollten Zahnärzte bei Fortbildungen den psychotherapeutisch orientierten
Kursen mehr Beachtung schenken.
Empfehlenswert ist die „patientenzentrierte
EmpfehlensGesprächsführung“ nach Tausch [25].
wert ist die
„patienten-zen- Diese Methode hat ihren Ursprung in der Gesprächspsychotherapie [22] mit dem Ziel, Patrierte
tienten durch „einfühlendes Verstehen, unbeGesprächsdingte
Wertschätzung und emotionale Wärme
führung“ nach
sowie
durch
die Echtheit und Selbstkongruenz
Tausch
des Therapeuten“ [26] zu mehr Selbstachtung
und Selbstkongruenz zu verhelfen.
Zusätzlich halten wir praktische Kenntnisse
von Entspannungsverfahren (z. B. muskuläre Tiefenentspannung und autogenes
Training) für sinnvoll, die der Zahnarzt bei
ängstlichen Patienten in die Behandlung
integrieren kann, aber auch für sich selbst
zur Minderung berufsbedingter Belastungen
praktizieren könnte.
Es ist nicht schwer, Patienten von ihren Ängsten zu befreien. Zeitaufwendig wird die
Behandlung nur, wenn der Zahnarzt nicht
weiß, wie er solchen Patienten helfen kann
und deshalb ihr Vertrauen nicht gewinnt.
Angstabbau setzt eine ruhige, schmerzfreie
Behandlung voraus. Es gibt seit über einem
halben Jahrhundert genug Möglichkeiten,
zahnärztliche Behandlungen schmerzfrei
durchzuführen. Es liegt am Zahnarzt, diese
Möglichkeiten optimal einzusetzen. Dies ist
jedoch nicht nur ein technisches Verfahren,
sondern beinhaltet auch wichtige psychologische Komponenten [12].
Untersuchungen zeigen leider, daß Patienten
häufig nicht ausreichend vor Behandlungsschmerzen geschützt werden, dies gilt sowohl
für Kinder [18] als auch für Erwachsene [13].
Zahnbehandlungen sind nicht entspannt zu
ertragen, wenn ständig Schmerzen befürchtet
werden müssen. Dies gilt auch für die Furcht,
der Zahnarzt könnte in solchen Momenten
endlos weiterarbeiten.
Zahnärzte sind häufig der Meinung, ihre Behandlung sei aufgrund des mittlerweile erreichten technischen Fortschritts harmlos.
Die Behandlung überängstlicher Patienten
erfordert viel
Zeit und
Einfühlungsvermögen
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ZAHN PRAX 5, 172-176 (2002)
Praxis
Untersuchungen zeigen,
daß Patienten
häufig nicht
ausreichend
vor Behandlungsschmerzen geschützt
werden
Es kostet weder
viel Zeit noch
Mühe, den Patienten nach
seinen Empfindungen zu fragen
Je mehr
Erfahrung Kinder mit harmlosen Zahnbehandlungen
erworben
haben, desto
eher
akzeptieren sie
den Einsatz
eines Bohrers
oder einer
Spritze
Diese Auffassung teilen viele Patienten
nicht. In Interviews mit 125 Zahnbehandlungsphobikern in Hamburg aus dem Jahr
2000 gaben 36,8% der Befragten an, daß
Zahnbehandlungen immer und ohne Ausnahme schmerzhaft seien [13]. Die Vermeidung von Behandlungen ist dann eine normale Reaktion!
Um Ängste zu verhindern, sollte daher der
Zahnarzt seinem Patienten zu verstehen
geben, daß er eine schmerzfreie Zahnbehandlung garantieren kann und sich daran halten
wird. Dieser wird dann auch ruhiger und
damit weniger schmerzempfindlich.
Da Zahnbehandlungsängste hauptsächlich
in der Kindheit beginnen, müssen Zahnärzte
besondere Kenntnisse über Verhaltensmodifikationen bei Kindern erwerben.
Kindern muß die Gelegenheit geboten werden, ein Gefühl von Kompetenz und Sicherheit in der sonst oft bedrohlich empfundenen
Situation „Zahnarztpraxis“ zu erlangen [11].
Es ist wichtiger, daß Kinder den Zahnarzt und
sein Personal als freundlich zugewandte Personen kennenlernen, als daß eine sofortige
Zahnbehandlung durchgeführt wird.
Kinder sollen schließlich noch fast ein ganzes
Jahrhundert lang regelmäßig zum Zahnarzt
gehen, das darf man nicht aufs Spiel setzen.
Vorbeugende Maßnahmen eignen sich hervorragend, jungen Patienten ein Gefühl von
Sicherheit im Behandlungszimmer zu geben.
Vor schwierigeren Eingriffen kann dies mit
Fluoridierungen und anderen nichtinvasiven
Behandlungsmethoden geschehen [17].
Je mehr Erfahrung Kinder mit harmlosen
Zahnbehandlungen erworben haben, desto
eher akzeptieren sie den Einsatz eines Bohrers oder einer Spritze, wenn es nötig wird.
Bei erwachsenen Angstpatienten ist zu beachten, daß sie häufig von Schamgefühlen
geplagt sind und nicht verkraften, vom Zahnarzt wegen ihres Fehlverhaltens kritisiert zu
werden [13]. Der Zahnarzt sollte sich deshalb mit Urteilen zurückhalten. Hier ist es
wichtiger, Sorgen ernst zu nehmen, zu zeigen, daß man einfühlsam zuhören kann und
wirkliches Interesse hat zu helfen.
Mats Mehrstedt
Zahnärztliche Angst-Ambulanz
Horner Landstraße 173, 22111 Hamburg
176
PD Dr. Sven Tönnies,
Psychol. Psychotherapeut
Univ. Hamburg, Psychologisches Institut III
Von-Melle-Park 5, 20146 Hamburg
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