Staat und Recht FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG Ende der Rechtsgemeinschaft Die deutsche EuropaPolitik hat den Raum des Rechts weitgehend verlassen. Deshalb ruht die Hoffnung auf dem Bundesverfassungsgericht. Von Reiner Schmidt n der Moderne können internationale Gemeinschaften nur durch Recht begründet, durch die Achtung des Rechts bewahrt und durch das Rechtsvertrauen der Bürger auf Dauer gesichert werden. Das Grundgesetz hat sich für eine rechtlich geleitete internationale Zusammenarbeit entschieden. Schon in der Präambel wird, fast romantisch, unser Volk als vom Willen „beseelt“ angesehen, um als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. In der deutschen Staatsrechtslehre besteht über die internationale Ausrichtung des Grundgesetzes keinerlei Zweifel. Im Gegenteil. Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen grundiert jedes juristische Erkenntnisinteresse. Die Bindung an gemeinsame Rechtsregeln hat inzwischen zu einem „ordre public européen“ (Stolleis) geführt. Umso mehr erstaunt, wenn nunmehr in einem Beitrag des angesehenen Richters am EuGH von Danwitz in dieser Zeitung („Staat und Recht“ vom 22. März) die Bedenken gegen die Art und Weise des europäischen Einigungsprozesses auf den generellen Nenner „Sorge um die deutsche Souveränität“ gebracht werden. Darum geht es doch schon lange nicht mehr. Souveränität wird und kann in unserer globalisierten Welt längst nur noch als eine beschränkte begriffen werden, beschränkt durch die rechtlich geleitete Einbindung in internationale und supranationale Institutionen. Die derzeitigen Sorgen betreffen vielmehr die Art und Weise des europäischen Einigungsprozesses, die Entfesselung der Politik von allgemeinen Vertrauensgrundsätzen und von elementaren Rechtsregeln. Die intergouvernementale Dynamik eines Integrationsprozesses wider jede volkswirtschaftliche Vernunft, wider vereinbarte Gründungsvoraussetzungen ohne ausreichende Einbeziehung der Parlamente und vor allem in weitgehender Volks- und Zukunftsvergessenheit ist es, die Angst macht. Der Ordnungsrahmen der Europäischen Union wurde durch Vertragsrecht geschaffen. Für einen ihrer bedeutendsten Gründungsväter, Walter Hallstein, war sie eine Schöpfung und eine Quelle des Rechts. Dies scheint inzwischen in Vergessenheit geraten zu sein. Blicken wir zurück: Das politische Projekt des Euro war wegen des empirisch nachgewiesenen Widerstands der deutschen Bevölkerung nur durch begleitende Stabilitätsschwüre und durch einen nachträglich abgeschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt durchzusetzen. In diesem Pakt aus dem Jahr 1997 haben sich die Mitgliedstaaten auf das mittelfristige Ziel eines nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalts verpflichtet. Diese Zusatzregelung wurde ebenso wie der Vertrag selbst (Artikel 126 AEUV) von Frankreich und Deutschland seit dem Jahr 2002 mehrfach verletzt. Die anschließende Reform durch den Vertrag von Lissabon, mit dem die Haushaltsdisziplin neu koordiniert und überwacht werden sollte, brachte keine Verbesserung. In einem der führenden Lehrbücher zum Europarecht wird zu Recht nüchtern von „dramatischen Verstößen gegen Art. 126 AEUV“ gespro- I chen. Heute können deshalb die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zur Einführung des Euro vom März 1998 nur noch mit Wehmut oder mit Resignation gelesen werden. Das „Einlösungsvertrauen“, so wird dort gesagt, das für die Deutsche Mark gegolten habe, würde jetzt „von einer anderen Rechtsgemeinschaft und der sie stützenden Wirtschaftskraft“ getragen. Zu den elementaren Grundsätzen der Europäischen Union gehören die Preisstabilität, das Europäische System der Zentralbanken, die Defizitkontrolle und die Nichthaftung für fremde Schuld. Diese Konzeption der Währungsunion war, wie das Bundesverfassungsgericht schon im Maastricht-Urteil im Jahr 1993 sagte, die Grundlage des deutschen Zustimmungsgesetzes. Über einen dieser elementaren Bausteine, den Grundsatz der Nichthaftung, setzt sich die Politik im Fall Griechenland in besonders bedenkenloser Weise hinweg. Die sogenannte „no-bail-out“-Klausel verbietet die Übernahme von Verbindlichkeiten oder die Gewährung von Hilfen durch andere Mit- Weder das Ausscheiden Griechenlands noch das Scheitern der gesamten Währungsunion würde das Ende der Europäischen Union bedeuten. Der europäische Integrationsprozess, dessen Basis immer noch der europäische Binnenmarkt ist, würde ohne gemeinsame Währung funktionieren. Das gesamte Integrationsprojekt wird vielmehr dadurch gefährdet, dass bestehende Grundregeln aufgegeben werden. Zu diesen gehört auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, welches durch die durch nichts gerechtfertigte Inanspruchnahme einer alles übergreifenden Notkompetenz und durch die Berufung auf den juristischen Weichspüler „Solidarität“ ausgehebelt würde. Im Rahmen der anstehenden Beratungen über das ESM-Gesetz ist daran zu erinnern, dass die Budgetverantwortung des Parlaments nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen werden darf. Das Parlament darf sich keinen dauerhaften finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, wie das Bundesverfassungsge- DONNERSTAG, 5. APRIL 2012 · NR . 8 2 · S E I T E 7 Das belastbare Grundgesetz Wenn die Verfassung den Weg in die Währungsunion ausgehalten hat, wird sie auch künftig einen verlässlichen Rahmen bilden. Der muss beachtet werden. Von Matthias Herdegen ie Bewältigung der Euro-Krise stellt die Elastizität der Verfassungsordnung in einer Art „Zangenbewegung“ auf eine besondere Probe. Einmal über die Verschärfung der Haushaltsdisziplin im neuen „Fiskalpakt“, zum anderen über die schier unendliche Kaskade von Rettungsmaßnahmen bis hin zum dauerhaften Stabilitätsmechanismus ESM. Im Umgang mit dem Verfassungsrecht bei der Euro- D des Grundgesetzes) treffen und nach einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung (Artikel 146 GG) verlangen. Danach müsste sich die Politik jetzt zwischen dem Grundgesetz und der geplanten Euro-Rettung mit der Verfassungsablösung als „Kollateralschaden“ entscheiden. Dabei wird – in bester Absicht – mit der Lunte am Fundament des Grundgesetzes gespielt. Hier ist bei aller legitimen Sorge um den schwindenden finanziellen Freiraum mehr Sinn für die rechten verfassungsrechtlichen Proportionen angezeigt. Die Politik sollte sich daher nicht von den Stimmen schrecken lassen, die für das Euro-Rettungswerk eine neue Verfassung auf der Grundlage einer Volksabstimmung fordern. Dieser Weg scheitert schon daran, dass auch eine neue Verfassungsordnung die Grundprinzipien des Artikels 79 Absatz 3 GG zu wahren hat. Als der verfassungsändernde Gesetzgeber dem Artikel 146 GG über die Wiedervereinigung hinaus neue Geltung verschafft hat, war er selbst an den Verfassungskern des Artikels 79 Absatz 3 GG Illustration Greser & Lenz gliedstaaten oder durch die Union. Sinn dieser Regel ist der Gedanke, dass jeder Mitgliedstaat selbst für seinen Haushalt verantwortlich ist und dass jeder Anreiz entfallen soll, die Folgen eigenen Fehlverhaltens auf andere Mitgliedstaaten oder auf die Union abzuwälzen. Genau diese Situation des eigenen Fehlverhaltens liegt im Fall Griechenland vor. Die Politik wie auch einige Rechtswissenschaftler versuchen diesen eindeutigen Sachverhalt mit fragwürdigen Konstruktionen zu bewältigen. Es soll ein „übergesetzlicher Notstand“ vorliegen, man will eine „außerordentliche Kompetenz für eine Ausnahmelage“ wahrnehmen. Dabei werden sowohl der Sachverhalt wie die bestehenden Rechtsregeln verkannt oder bewusst ignoriert. Wie führende volkswirtschaftliche Institutionen, beispielsweise das Ifo-Institut, und renommierte Volkswirte, wie beispielsweise der ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, immer wieder vorgerechnet haben, ist im Fall Griechenland nur über einen flexiblen Wechselkurs eine dauerhafte und sozial verträgliche Lösung denkbar. richt in seinem Urteil vom September 2011 unmissverständlich ausgedrückt hat. Das Risiko für Deutschland errechnete sich bis vor einigen Tagen mit 401 Milliarden Euro (EFSF und ESM). Dieser Betrag ist höher als der gesamte Bundeshaushalt 2012. Nach dem bisherigen Wortlaut des Entwurfes des Gesetzes zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ist das Budgetrecht des Parlaments nicht ausreichend gesichert. Die deutsche Europa-Politik hat den Raum des Rechts weitgehend verlassen. Deshalb ruht seit dem Kurswechsel der EZB die Hoffnung auf der Deutschen Bundesbank und dem Bundesverfassungsgericht. Die Deutsche Bundesbank findet ihre Funktionsgrenze in der Kompetenzfülle der Europäischen Zentralbank. Aber das Bundesverfassungsgericht bleibt handlungsfähig. Wie in Sachen Europa inzwischen üblich, wird wegen der angekündigten Verfassungsbeschwerden das letzte Wort wieder einmal Karlsruhe haben. Professor em. Dr. Reiner Schmidt lehrte Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Umweltrecht an der Universität Augsburg. Rettung haben Politik und Staatsrechtslehre mit allerlei Fallstricken zu kämpfen. Die Regierungen der relativ finanzstarken Euroländer betreiben unter deutscher Führung als Gegenstück zu kaum begrenzter Solidarität mit den schwankenden Partnern eine beispiellose Straffung der Haushaltsdisziplin, ein strauchelnder Schuldnerstaat wie Griechenland wird durch „Konditionalitäten“ des Beistandes zu einer Art europäischem Protektorat. Gleichzeitig intonieren Stimmen aus der Staatsrechtslehre das Hohelied der deutschen Souveränität und der unantastbaren Haushaltsautonomie. Beflügelt von orakelhaften Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil und warnenden Fingerzeigen einzelner Richter, wird die EuroRettung immer lauter an eine Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung als Vorbedingung geknüpft. Nach dieser Sicht soll die fortschreitende Übernahme gewaltiger Haushaltslasten und der Eingriff in die Haushaltsautonomie das Grundgesetz in seinem änderungsfesten Kern (Artikel 79 Absatz 3 gebunden. Das ist jedenfalls herrschende Staatsrechtslehre. Dahinter steht die Sorge, konjunkturelle Mehrheiten bei einer Volksabstimmung könnten sonst die Verfassungsablösung zu einem unberechenbaren Wagnis machen. Ein Bruch mit den Leitprinzipien des Grundgesetzes ist nur um den Preis einer Revolution zu haben. Wenn das Grundgesetz bisher den Weg Deutschlands in die Wirtschaftsund Währungsunion ausgehalten hat, wird es auch künftig für die Bewältigung der Folgen einen verlässlichen Rahmen bilden. Umso wichtiger ist, dass die Politik diesen Rahmen bei den jetzt anstehenden drei Zustimmungsgesetzen genau beachtet. Beim „Fiskalpakt“ verlangt der Gesetzentwurf der Regierung zu Recht eine verfassungsändernde Mehrheit in Bundestag und Bundesrat (analog Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG). Denn der Pakt verändert als „Sonder-Unionsrecht“ die Bedingungen für die Übertragung der Währungshoheit, auch wenn keine neuen Hoheitsrechte übertragen werden. Dagegen sieht der Regierungsentwurf beim ESM- Recht ohne Grenzen eingeschränktem Maße gelten. So wollen die Obersten Richter klären, ob und unter welchen Voraussetzungen die amerikanischen Gerichte sich nach dem Alien Tort Claims Act mit Völkerrechtsverletzungen befassen dürfen, die nicht auf amerikanischem Boden, sondern in fremden Staaten passierten. Dem Verfahren „Kiobel, Ester, et al. v. Royal Dutch Petroleum, et al“, in dem sich dann entscheiden dürfte, inwieweit der Alien Tort Act künftig noch als Instrument zur Verfolgung von Menschen- Aus der Praxis rechtsverletzungen und als Druckmittel zur Erzielung millionenschwerer außergerichtlicher Vergleiche taugt, liegen Klagen gegen den Ölkonzern Shell wegen Beihilfe zu Menschenrechtsverletzungen in Nigeria zugrunde. Mitglieder der Volksgruppe der Ogoni, die sich gegen die Zerstörung ihres Lebensraums durch die Rohölförderung im Nigerdelta wehrten, wurden 1995 nach rechtsstaatswidrigen Prozessen hingerichtet. Shell soll in den Verfahren gegen die Ogoni Zeugen bestochen und die Sondertribunale durch andere Aktivitäten unterstützt haben – Vorwürfe, die der Ölkonzern energisch bestreitet. Professor Dr. Matthias Herdegen ist Direktor der Institute für Öffentliches Recht und Völkerrecht der Universität Bonn. QUELLEN Wie weit reicht der amerikanische Alien Tort Claims Act? Das interessiert auch die deutsche Regierung Ist die Blütezeit des Alien Tort Claims Act vorbei? Wird der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten das umstrittene Gesetz von 1789 wieder in die juristische Bedeutungslosigkeit oder zumindest Randständigkeit versetzen, aus der Anwälte es seit Beginn der 1980er Jahre holten? Das fürchten Menschenrechtsorganisationen – und hoffen Unternehmen und ausländische Regierungen, zu denen auch die deutsche gehört, nun da der Gerichtshof eine grundsätzliche Prüfung des Gesetzes angeordnet hat. In den vergangenen Jahrzehnten sind Opferanwälte gegen führende ausländische Politiker und Militärs sowie zunehmend auch gegen internationale Konzerne vor amerikanische Gerichte gezogen, um dort Schadenersatzzahlungen wegen Völkerrechtsverbrechen oder wegen Unterstützung von Menschenrechtsverletzungen zu erstreiten. Gestützt wurden viele dieser Klagen, die oft keinerlei Bezug zu den Vereinigten Staaten hatten, auf die wenigen dürren Worte des Alien Tort Claims Act. Danach sollen amerikanische Gerichte originäre Zuständigkeit haben für jede zivilrechtliche Klage eines Ausländers wegen deliktischer Handlungen, die auf der Verletzung des Völkerrechts oder eines Vertrages der Vereinigten Staaten beruhen. Doch diese Zuständigkeit könnte künftig nur noch in sehr Vertrag als dauerhaftem Beistandsmechanismus für schwankende Euroländer nur die Zustimmung mit einfachem Bundesgesetz vor. Damit wird verkannt, dass der ESM als ständige Finanzinstitution die vertraglichen Grundlagen für die Wirtschafts- und Währungsunion – weit mehr als der Fiskalpakt – in einem zentralen Punkt verändert, wiederum über SonderUnionsrecht. Die bisherigen, stets als vorübergehend bezeichneten Stützungsmaßnahmen waren mit dem vertraglichen Grundsatz der Alleinhaftung jedes Mitgliedstaates für seine Schulden (no-bail-out-Klausel) vereinbar. Dagegen begründet der ESM dauerhaft eine vertraglich gestützte Erwartung von Schuldnerländern auf finanzielle Solidarität und bewirkt damit einen Systembruch in der Währungsunion, wie sie der Vertrag von Maastricht begründet hat. Die im Vertrag von Maastricht angelegte, realistische Drohung des Staatsbankrotts bei völliger Überschuldung verblasst mit dem dauerhaften ESM. Dieser Wandel der „Geschäftsgrundlage“ verlangt die verfassungsändernde Mehrheit (entsprechend Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG). Denn hier werden die Bedingungen verändert, zu denen die Bundesrepublik Deutschland die Währungshoheit übertragen hat und denen damals der Gesetzgeber mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit zugestimmt hat. Eben wegen des Systembruchs soll nach dem Beschluss des Europäischen Rates vom März 2011 der ESM als Sonderweg der Euroländer auch auf eine vertragliche Basis (Artikel 136 Absatz 3 AEUV) gestellt werden. Auch dieser Vertragsänderung müssen entgegen dem Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen wie beim ESM Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zustimmen (Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG). Im Übrigen führt die Hektik der Rettungsmaschinerie zu einer fatalen Diskrepanz: Die Vertragsänderung tritt erst zu Beginn 2013 in Kraft, während der ESM jetzt schon im Juli seine Tätigkeit aufnehmen soll. Umso wichtiger ist die verfassungsrechtliche Absicherung des ESM durch die Zustimmung mit verfassungsändernder Mehrheit. Sonst droht dem ESM (unabhängig von der zeitlichen Diskrepanz zur Änderung des AEUV) eine gefährliche Schieflage. Die Beteiligungsrechte des Bundestages formt der Entwurf des Zustimmungsgesetzes auf allzu karge Weise aus und beschränkt den Vorbehalt der parlamentarischen (gesetzlichen) Ermächtigung auf Erhöhungen des genehmigten Stammkapitals und die Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des ESMVertrages. Dies bleibt weit hinter den verfassungsrechtlich unterfütterten Beteiligungsrechten bei der EFSF zurück. Auch wenn der ESM in der Organisationstypik zwischen der EFSF und dem Internationalen Währungsfonds stehen mag, handelt es sich um Sonder-Unionsrecht unter dem Dach der Währungsunion, für das strukturell ähnliche Beteiligungsrechte des Parlaments wie beim EU-Sekundärrecht gelten müssen. Ein selbstbewusstes Parlament sollte sich jedenfalls bei den grundlegenden, mit qualifizierter Mehrheit oder im Einvernehmen zu fassenden Beschlüssen des Gouverneursrates den Einfluss auf die deutsche Vetoposition im Sinne eines parlamentarischen Ablehnungsvorbehalts sichern. Dazu gehören auch die Entscheidungen des Gouverneursrats über den Abruf von Tranchen des genehmigten, aber noch nicht eingezahlten Kapitals und über die grundsätzliche Gewährung einer Finanzhilfe. Eine solche Parlamentarisierung dürfte auch bei den Schuldnerländern die Sensibilität für empfangene Solidarität schärfen. Vor allem aber sichert sie demokratische Legitimität in der Kontinuität von Beistand und Beistandslasten. Als der Supreme Court sich ursprünglich mit dem Fall befasste, ging es noch um die engere Rechtsfrage, ob ausländische Unternehmen wegen Unterstützung von Völkerrechtsverstößen nach dem Alien Tort Claims Act verklagt werden können. Doch schon dieses Verfahren zur Deliktshaftung von Unternehmen war auf reges Interesse gestoßen. So ergriffen außer der Regierung Obama und Menschenrechtsorganisationen auch die UN die Partei der nigerianischen Kläger. Die Bundesregierung dagegen unterstützte Shell mit einem Schriftsatz, in dem sie – wie bereits in früheren Verfahren zum Alien Tort Claims Act – grundsätzlich für eine restriktive Auslegung des Gesetzes plädierte, da sonst Konflikte mit dem Völkerrecht und mit den Gesetzen und Verfahren anderer Staaten drohten. Für zivilrechtliche Klagen wegen Taten im Ausland seien in erster Linie die Gerichte im Tatortstaat oder in den Heimatländern von Kläger und Beklagtem zuständig. Nur wenn keiner dieser Rechtswege zur Verfügung stünde, so die Argumentation der Bundesregierung, sollten die amerikanischen Gerichte entscheiden. In ihrem Schriftsatz erinnerte die Bundesregierung an ein 2010 verkündetes Urteil des Supreme Court zur extraterritorialen Geltung amerikanischer Gesetze, das in dem Kiobel-Verfahren noch eine wichtige Rolle spielen dürfte. Nachdem der Gerichtshof in den vergangenen Jahren bereits die Erstreckung eines amerikanischen Antidiskriminierungsgesetzes sowie bestimmter Kartellrechts- und Patentrechtsvorschriften auf Handlungen im Ausland begrenzt hatte, bekräftigten die Richter 2010 im Fall „Morrison v. Nat’l Aust. Bank“ zur Anwendung von amerikanischem Wertpapierrecht auf Betrügereien im Ausland, dass eine Vorschrift sich auf inländische Handlungen beschränke, wenn sie keinen eindeutigen Hinweis zu ihrer extraterritorialen Anwendbarkeit enthalte. Aber gilt dieser Grundsatz auch für Gesetze wie den Alien Tort Claims Act, die auf die Durchsetzung des Völkerrechts zielen? Zwei amerikanische Berufungsgerichte haben – gegen den energischen Widerstand dissentierender Richter – entschieden, das Morrison-Urteil hindere nicht die Anwendung des Alien Tort Claims Act auf Völkerrechtsverletzungen im Ausland. In der mündlichen Verhandlung des Supreme Court zum Kiobel-Verfahren stimmte es einige Richter jedoch nachdenklich, dass kein anderes Land eine derartig weite Zuständigkeit für zivilrechtliche Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen in fremden Staaten gewährt, wie sie Menschenrechtsanwälte für amerikanische Gerichte unter Berufung auf den Alien Tort Act reklamieKATJA GELINSKY ren. JURISTENAUSBILDUNG Wo bleibt die Rechtspolitik? Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle hat kritisiert, dass in der deutschen Rechtswissenschaft die Rechtspolitik so gut wie keinen Raum einnehme. In Deutschland werde häufig versucht, Rechtspolitik als Verfassungsdogmatik erscheinen zu lassen, die Unterschiede müssten jedoch erkennbar bleiben. Voßkuhle sagte auf einer Veranstaltung des Oberlandesgerichts Celle und der Volkswagenstiftung zu „Rechtsgestaltung, Rechtskritik, Konkurrenz von Rechtsordnungen – Neue Akzentsetzungen in der Juristenausbildung“, in der Juristenausbildung müsse die „Theorieebene“ gestärkt werden. Deutschland fiele es schwerer als Frankreich und England, eigene Rechtsvorstellungen auf europäischer Ebene durchzusetzen, da deutsche Juristen nicht gelernt hätten, steuerungswissenschaftlich zu denken. Konkret sprach sich Voßkuhle für eine Stärkung der Grundlagenfächer aus. Dafür müsse die Fallmethode zurückgedrängt werden, auch wenn dann das hohe technische Niveau, für das deutsche Juristen bekannt seien, möglicherweise nicht aufrechtzuerhalten sei. Konkrete Vorschläge, auf wel- chen Stoff zugunsten neuer Inhalte verzichtet werden könnte, wurden allerdings nur vereinzelt unterbreitet. Die Teilnehmer waren sich einig, dass exemplarisches Lernen ausreichen müsse, da es in der Juristenausbildung nicht in erster Linie um Wissensvermittlung, sondern um Vermittlung von methodischen Fähigkeiten gehe. Die Diskutanten warnten jedoch vor „Grabenkämpfen“ zwischen den Professoren, da die Rechtswissenschaftler nur schwer zu überzeugen seien, die Schwächung des jeweiligen eigenen Fachgebiets in Kauf zu nehmen. Die Teilnehmer präsentierten eine ganze Fülle von Inhalten, die im Studium und Referendariat stärker berücksichtigt werden sollten. So sprachen sie sich dafür aus, den im Anwaltsberuf wichtigen Feldern der Rechtsgestaltung und der Mediation eine größere Beachtung zu schenken und die interdisziplinären Ansätze der Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte, Rechtstheorie, Rechtspolitik und der ökonomischen Analyse des Rechts verstärkt in die Ausbildung einzubeziehen. Da sich die Justizministerkonferenz im Sommer 2011 für die Beibehaltung des Einheitsjuristen als Leitbild und gegen die Einführung des Bachelor-Master-Modells ausgesprochen hatte, wurde die grundsätzliche Konzeption der Juristenausbildung nicht in Frage gestellt. FELIX LANGE