Untitled - Roman Ruhig

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Thomas Kurtz · Michaela Pfadenhauer (Hrsg.)
Soziologie der Kompetenz
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft
Schriften zur Wissenssoziologie
Herausgegeben von
Hans-Georg Soeffner
Ronald Hitzler
Hubert Knoblauch
Jo Reichertz
Wissenssoziologinnen und Wissenssoziologen haben sich schon immer mit der Beziehung
zwischen Gesellschaft(en), dem in diesen verwendeten Wissen, seiner Verteilung und der Kommunikation (über) dieses Wissens befasst. Damit ist auch die kommunikative Konstruktion von
wissenschaftlichem Wissen Gegenstand wissenssoziologischer Reflexion. Das Projekt der
Wissenssoziologie besteht in der Abklärung des Wissens durch exemplarische Re- und
Dekonstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen. Die daraus resultierende
Programmatik fungiert als Rahmen-Idee der Reihe. In dieser sollen die verschiedenen
Strömungen wissenssoziologischer Reflexion zu Wort kommen: Konzeptionelle Überlegungen
stehen neben exemplarischen Fallstudien und historische Rekonstruktionen stehen neben
zeitdiagnostischen Analysen.
Thomas Kurtz
Michaela Pfadenhauer (Hrsg.)
Soziologie
der Kompetenz
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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1. Auflage 2010
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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010
Lektorat: Frank Engelhardt
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands
ISBN 978-3-531-16222-5
Inhalt
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie ........................................................... 7
Thomas Kurtz
1
Zumutung
Kompetenz-Bildung: Programm und Zumutung individualisierter
Bildungspraxis.
Über Möglichkeiten einer erweiterten Bildungssoziologie .............................. 29
Reiner Keller
Kompetente Subjekte: Kompetenz als Bildungs- und Regierungsdispositiv im Postfordismus ............................................................................. 49
Boris Traue
Kompetenz – Eine neue Rationalität sozialer Differenzierung? ....................... 69
Inga Truschkat
Zivilisierungstheorie als Kompetenztheorie: Elias, Foucault und
Goffman ........................................................................................................... 85
Herbert Willems
2
Implementation
Begriffskonjunkturen und der Wandel vom Qualifikations- zum
Kompetenzjargon ........................................................................................... 107
Bernd Dewe
Von Bildung zu Kompetenz. Semantische Verschiebungen in den
Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems ............................................... 119
Achim Brosziewski
6
Inhalt
„Schülerkompetenzen“ im Nadelöhr kollektiver Kompetenzen.
Ein Versuch der Erneuerung des Governanceregimes der Schule ................. 135
Thomas Brüsemeier
3
Orientierung
Kompetenz als Qualität sozialen Handelns .................................................... 149
Michaela Pfadenhauer
Wissen, Handeln, Können.
Über Kompetenzen, Expertise und epistemische Regime .............................. 173
Rainer Schützeichel
Kompetenz und kompetentes Handeln als Gestaltung der Biografie
und des Lebenslaufs ....................................................................................... 191
Matthias Vonken
Kompetente Organisation oder wie man das Leben von 007 rettet ................ 209
Thomas Klatetzki
4
Realisierung
Von der Kompetenz zur Performanz.
Wissenssoziologische Aspekte der Kompetenz ............................................. 237
Hubert Knoblauch
Wann kommuniziert man kompetent? ........................................................... 257
Jo Reichertz
Ächtung des Selbstlobs und Probleme der Kompetenzdarstellung ................ 275
Stefan Kühl
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................................... 293
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
Thomas Kurtz
1.
Einleitung
Man kann darüber streiten, ob mit dem Begrif der Kompetenz wirklich neue
Sachverhalte angesprochen werden oder ob es sich dabei lediglich um ein Modewort handelt, welches sich in den unterschiedlichsten Kontexten der Gesellschaft festsetzt. Aber die zu beobachtende Konjunktur und geradezu Inflationierung des Kompetenzbegriffs hat etwa die Erwachsenenbildungsforscher John
Erpenbeck und Volker Heyse vor 10 Jahren dazu veranlasst, den unzähligen
vorhandenen Gesellschaftsbegriffen mit der so genannten Kompetenzgesellschaft (Erpenbeck/Heyse 1999: 30) einen neuen hinzuzufügen. Insofern wäre zu
testen, inwieweit wir es hier mit einer weiteren Selbstbeschreibungsformel der
Gesellschaft zu tun haben, was die Beschäftigung der Soziologie mit dem Kompetenzthema geradezu zwingend erscheinen lässt. Merkwürdigerweise ist die
Stimme der Soziologie hier aber nur vereinzelt zu vernehmen, so dass wir mit
unserem Sammelband zur Soziologie der Kompetenz in gewisser Weise soziologisches Neuland betreten.
Als eigenständiges Thema ist Kompetenz in der Soziologie bisher nicht,
jedenfalls nicht auffällig in Erscheinung getreten. Das Kompetenzthema ist in
der Soziologie und in ihren Teildisziplinen immer ein untergeordnetes Thema
unter größeren und die Disziplin bestimmenderen Themen gewesen – wie insbesondere denen der Organisation, der Kommunikation, dem Wissen aber natürlich auch denen der sozialen Ungleichheit oder der Bildung. Und obschon die
Soziologie unter diesen Schwerpunkten auch wichtige Beiträge zum Kompetenzthema geliefert hat, wird wohl niemand auf die Idee kommen wollen, die
Soziologie als die Disziplin zur Erforschung von Kompetenzen in der modernen
Gesellschaft und schon gar nicht für die Frage der Form des Erwerbs solcher
Kompetenzen zu bestimmen, wenngleich man für letzteres an die Untersuchungen zur Form des Erwerbs kultureller Kompetenzen bei Pierre Bourdieu (1982)
denken mag. Andere Disziplinen wie etwa die Psychologie oder die Pädagogik
und disziplinübergreifend die Empirische Bildungsforschung, in der der Kompetenzbegriff seit einigen Jahren ins Zentrum vieler Untersuchungen gestellt wird,
sind da zuerst einmal näher an der Thematik dran, was insbesondere damit zu-
8
Thomas Kurtz
sammenhängt, dass der Kompetenzbegriff im Gegensatz zum Qualifikationsbegriff sehr stark personengebunden verwendet wird, während es in der Soziologie
bekanntermaßen eher um das Soziale geht – seien das nun die Gesellschaft und
ihre Teilbereiche, Organisationen oder Interaktionen. Andererseits – und da
kommt jetzt die Soziologie wieder ins Spiel – sind natürlich Kompetenzen nutzlos, wenn sie im Individuum versteckt bleiben und von anderen in der Kommunikation nicht wahrgenommen werden können bzw. dort keinen Einfluss ausüben. Insofern verweist eine soziologische Analyse von Kompetenz über Fähigkeiten bzw. Befähigungen von Personen hinausgehend immer auch auf den
sozialen Aspekt. Soziologisch gesehen sind Kompetenzen also eher sozial zugeschriebene Qualitäten, die sich über vielgestaltige Kommunikationen und Interaktionen manifestieren bzw. als sich manifestierend dem Subjekt attestiert werden.
Wenn man die soziologische Literatur überblickt, dann kann man insbesondere drei grundlegende Herangehensweisen an das Kompetenzthema unterscheiden, die ich in diesem einführenden Beitrag zur Bedeutung des Kompetenzbegriffs in der Soziologie kurz ansprechen werde: als Bestimmung der Form
Organisation, als kommunikative Kompetenz und als Form des Umgangs mit
Wissen bzw. Nichtwissen.1
2.
Zuständigkeit in Staat und Organisation
Schon in der Phase der Begründung der Soziologie als autonome Wissenschaft
hat Max Weber einen Kompetenzbegriff geprägt, der sich von dem aktuellen auf
subjektive Fähigkeiten und Befähigungen zielenden Begriff deutlich unterscheidet.2 Weber verwendet den Kompetenzbegriff insbesondere in seiner Herr-
1
2
Natürlich kann damit nicht Vollständigkeit beansprucht werden – weitere Aspekte werden
ausführlich in den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes thematisiert. Aber mit diesen drei
klassischen Bereichen sollen zuerst einmal die Bereiche angesprochen werden, bei denen die
Soziologie nicht nur mitarbeitet, sondern Grundlagen beigesteuert hat. So beteiligt sich die
Soziologie zwar auch an der (empirischen) Bildungsforschung und damit an der Analyse von
Kompetenzen in Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungsprozessen, wobei allerdings dort
oftmals das Eigenständige der Soziologie als soziologische gegenüber der pädagogischen Bildungsforschung nicht mehr sichtbar ist; siehe dazu auch den Beitrag von Reiner Keller in diesem Band sowie Kurtz 2007a.
Allerdings sei hier darauf verwiesen, dass dieser auf personale Fahigkeiten zielende Kompetenzbegriff zwar mit der im Juni 1999 in Bologna beschlossenen Schaffung eines Europäischen Hochschulraumes und der im März 2000 beschlossenen Schaffung des Europäischen
Forschungsraumes in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, dass dabei aber zugleich der nicht unbegründete Eindruck aufkommt, dass die
damit angestrengten Reformen von Bildung und Forschung im Wesentlichen auf eine Ökonomisierung des Wissens abzuzielen scheinen (siehe Mein 2004; Liessmann 2006) oder im
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
9
schaftssoziologie zur Bestimmung des modernen Staates, des Beamtentums und
der bürokratischen Organisationsform. Kompetenz fungiert bei Weber gleichsam als eine Grundkategorie rationaler Herrschaft und wird ähnlich wie im
juristischen Kontext oder aber auch der politischen Theorie mit Zuständigkeit
gleichgesetzt – man denke dabei etwa an Gesetzgebungskompetenz, Verwaltungskompetenz oder Richtlinienkompetenz. Diese Verwendung des Kompetenzbegriffs bei Max Weber braucht nun nicht weiter zu überraschen, und das
nicht nur, weil Weber zuerst einmal zum Juristen ausgebildet wurde und dann
erst über die Nationalökonomie die Soziologie mitbegründet hat. Dieser Gebrauch ist vor allem deshalb nicht überraschend, weil Weber hiermit nur der
Deutung seiner Zeit folgt – während nämlich der Kompetenzbegriff zu Beginn
im 16. Jahrhundert noch so etwas wie das „Recht auf Einkünfte“ bezeichnete,
setzte sich dann im 19. Jahrhundert weitgehend die juristische Deutung der
Kompetenz als Zuständigkeit durch.3
Weber definiert in seiner großen aus dem Nachlass herausgegebenen Studie Wirtschaft und Gesellschaft Kompetenz bzw. Zuständigkeit als „einen kraft
Leistungsverteilung sachlich abgegrenzten Bereich von Leistungspflichten“
(Weber 1985/1922: 125), dem dafür erforderliche Befehlsgewalten inklusive der
Anwendung der eventuell zulässigen Zwangsmittel zugeordnet sind, und versucht auf dieser Grundlage den modernen Staat, das Beamtentum und die bürokratische Organisation zu bestimmen. So entfaltet nicht nur die moderne Regierung ihre Tätigkeit kraft legitimer Kompetenz (siehe Weber 1985/1922: 389),
sondern Weber definiert den modernen Staat ganz allgemein als eine nach
Kompetenzen gegliederte Staatsanstalt (siehe Weber 1985/1922: 393f.), in welcher Beamte aufgrund einer generell geregelten Qualifikation bestimmte Zuständigkeiten ausüben, wobei sich ihre Befehlsgewalt immer ganz konkret danach richtet, ob sie dafür eine spezielle – durch eine Regel festgestellte – Kompetenz vorweisen können, also zuständig sind.4
Die Legitimation über Kompetenzen ersetzt dabei die Legitimation über
Herkunft und wird von Weber im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformationen gleichsam als das Merkmal der modernen Gesellschaft bestimmt. Weber
erkennt die Kompetenzgrundlage am nachhaltigsten in der bürokratischen Organisation als einer der Formen legitimer Herrschaft – und das umfasst sowohl
die (Verwaltungs-) Behörde als auch den (Wirtschafts-) Betrieb. Damit kann er
3
4
Sinne von Münch (2009): als Übergang vom Fachwissen zu verwertbaren Grundkompetenzen.
Siehe genauer zur Herkunft des Kompetenzbegriffs den Beitrag von Hubert Knoblauch in
diesem Band.
Siehe Weber 1985/1922: 580f. Richard Münch (1984: 452) beschreibt dies als Kompetenzordnung. Für ein Plädoyer zur Wiederaufnahme des Zuständigkeitsaspekts in den Kompetenzbegriff vgl. den Beitrag von Michaela Pfadenhauer in diesem Band.
10
Thomas Kurtz
dann auch die Struktur der Bürokratie entlang seiner allgemeinen Definition des
Kompetenzbegriffs bestimmen: In bürokratischen Organisationen finden wir
nämlich eine „feste Verteilung der (…) erforderlichen, regelmäßigen Tätigkeiten als amtliche Pflichten“ (Weber 1985/1922: 551); jedes Organisationsmitglied hat feste Zuständigkeiten – also Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse – und die zur Erfüllung dieser Pflichten notwendige Befehlsgewalt: also
bestimmte Weisungsbefugnisse.5
Max Webers Kompetenzbegriff unterscheidet sich damit grundlegend von
dem in der neueren Bildungsforschung gebräuchlichen Begriff, da er in seiner
Bürokratietheorie keine personenbezogene, sondern sozusagen eine organisationsbezogene Form von Kompetenz beschreibt. Die Kompetenzen, die Weber in
den bürokratischen Organisationen beobachtet, sind nämlich „nicht individuell
und im Einzelfall auf die persönlichen Eigenschaften der Mitglieder hin konzipiert, sondern durch Regeln (…) personenunabhängig und generell festgelegt“
(Kieser 1995: 40). Ob wir solche Organisationen heute überhaupt noch in der
Gesellschaft vorfinden, ist nicht die Frage, wichtig an dieser Stelle ist zunächst
einmal nur, dass Weber mit dieser Bestimmung von Kompetenz gleichsam eine
radikal soziologische Position eingenommen hat, die nicht von der Person, sondern vom sozialen System ausgeht – eine Position, die sich gleichsam bis in die
Organisationstheorie von Niklas Luhmann weiterverfolgen lässt, wenngleich
dieser – wie überhaupt die neuere Organisationsforschung ganz generell – nicht
mehr von vorgegebenen Zuweisungen ausgeht, die mit Sachkompetenz identisch sind, sondern ausdrücklich die fachlichen Kompetenzen von den hierarchischen Kompetenzen unterscheidet: Während mit den fachlichen Kompetenzen
sozusagen über die im Bildungssystem ausgebildeten Personen die Umwelt in
das Organisationssystem hineinkopiert wird, werden die hierarchischen Kompetenzen – also die Zuweisungen zu festen Positionen – erst intern konstruiert.6
5
6
Interessanterweise ist die Zuständigkeitsmetapher nun weniger in der Organisationsforschung
als vielmehr in der Professionsforschung weitergeschrieben worden (siehe zum Verhältnis von
Organisation und Profession allgemein Kurtz 2006a). So geht etwa Andrew Abbott (1988) in
seiner Theorie der Professionen davon aus, dass die Zuständigkeit (‚jurisdiction‘) der einzelnen Professionen für bestimmte Aufgabengebiete durch das jeweils relevante professionelle
Wissen und die Fähigkeiten zur Lösung bestimmter Probleme legitimiert wird.
Siehe Luhmann 2000: 312ff. Damit kombiniert Luhmann in bezug auf Organisationen die
beiden Bedeutungen des Kompetenzbegriffes, wenn er schreibt, dass der Begriff der Kompetenz „im fachlichen wie im hierarchischen Sinne zwei ganz verschiedene Funktionen erfüllt
(…). Zum einen geht es um ein Können, um unterstellte kognitive und motivationale Fähigkeiten, die durch die Person des Stelleninhabers mehr oder weniger gut realisiert werden. Dazu zählt auch die in den oberen Bereichen der Hierarchie stärker geforderte Fähigkeit, bei unzureichender Information und bei mangelndem fachlichen Wissen trotzdem entscheiden zu
können. Außerdem hat die Kompetenz im sozialen System der Kommunikation aber auch die
Funktion einer Adresse. Sie kommt nicht zum Zuge, wenn niemand von ihr weiß; oder wenn
man erst lange suchen muss und dabei laufend entmutigt wird; und sie kommt nur sehr be-
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
11
Dabei interessiert sich Luhmann in Organisation und Entscheidung dann insbesondere dafür, welche Auswirkungen eine unterschiedliche Kompetenzverteilung auf den Entscheidungsprozess in Organisationen hat (Luhmann 2000).
3.
Kommunikative Kompetenz
Neben der Form Organisation wird der Kompetenzbegriff in der Soziologie
noch auf einer weiteren Ebene sozialer Systeme thematisiert – nämlich als so
genannte kommunikative Kompetenz in Interaktionen; ein Begriff, für den zuerst
einmal der Name des Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas steht, der
den Kompetenzbegriff von Noam Chomsky (1981) in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingebracht und um die sozialen Regeln der Kommunikation ergänzt hat.
In seiner 1981 veröffentlichten Theorie des kommunikativen Handelns hat
Habermas ausführlich unter Bezugnahme auf sprachtheoretische Erkenntnisse
aufgezeigt, wie Menschen in ihrer kommunikativen Alltagspraxis Gebrauch von
Sprache machen und geht dabei davon aus, dass dieses Handeln in den teleologischen bzw. strategischen, den normregulierten und den dramaturgischen Formen zumindest in Ansätzen, aber insbesondere im kommunikativen Handeln
explizit verständigungsorientiert geschieht (Habermas 1981). Wenn nämlich
Menschen kommunizieren – so die Überlegung von Habermas – so gehen sie
immer von bestimmten Vorstellungen aus, denen so etwas wie eine kommunikative Vernunft inhärent ist.
Und genau an dieser Stelle kommt bei Habermas die kommunikative Kompetenz ins Spiel (siehe Habermas 1971). Sie ist geradezu die grundlegende
Schlüsselkompetenz des Menschen, um in Gemeinschaft zu leben und damit die
Basis der sozialen Ordnung einer Gesellschaft. Denn mit der kommunikativen
Kompetenz – deren Erwerb bereits in der frühen Kindheit beginnt – ist nicht nur
die Fähigkeit gemeint, grammatisch richtige Sätze zu produzieren, sondern sie
umfasst darüber hinaus auch noch die Fähigkeit, sich in der Interaktion auf die
Welt um uns herum zu beziehen. Die kommunikative Kompetenz meint also
nicht weniger als die Beherrschung der universalen Regeln, die jeder menschlichen Verständigung zugrunde liegen, wobei diese Regeln im Prozess des Erlernens von Sprache immer zugleich auch schon miterworben werden.
Neben Habermas hat sich insbesondere auch der in der Tradition der Chicago School of Sociology stehende amerikanische Soziologe Erving Goffman
mit den notwendigen Kompetenzen in der Kommunikation unter Anwesenden
schränkt zum Zuge, wenn es reiner Zufall ist, dass die Kommunikation eine Kompetenz bemerkt“ (Luhmann 2000: 320f.).
12
Thomas Kurtz
beschäftigt. Während Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns zugleich auch in der Nachfolge von Adorno und Horkheimer die kritische
Theorie der Gesellschaft fortschreiben will, ist Goffman eher der Soziologe der
kleinen Formen. Ihm geht es nicht um die großen sozialen Gebilde wie Gesellschaften, gesellschaftliche Teilsysteme und Organisationen. Er beschränkt sich
als qualitativ forschender empirischer Soziologe schon aus Gründen der Machbarkeit auf die kleinen Welten und Ereignisse (Hettlage 2003), wenn er die
alltäglichen Interaktionen und Begegnungen etwa in Nachtclubs und auf Parties,
bei Telefongesprächen, in Tankstellen und Kasinos, in der Interaktion zwischen
Arzt und Patienten und natürlich auch in den Begegnungen am Arbeitsplatz
untersucht. Wenn das Grundthema der Soziologie die Beantwortung der Frage
ist, wie soziale Ordnung möglich sei? – womit insbesondere die Ordnung der
Gesellschaft gemeint ist – dann geht es Goffman mehr um die Erforschung der
sozialen Ordnung von Interaktionen, oder anders: um die von ihm so benannte
Interaktionsordnung (interaction order) (Goffman 1983).
Goffman geht dabei im Wesentlichen davon aus, dass die Interaktion eine
unsichere Struktur hat und dass man demzufolge gewisse (soziale) Kompetenzen haben muss, um in ihr zu bestehen.7 Die grundlegende Kompetenz bezeichnet er allgemein als Interaktionskompetenz, mit der so etwas wie das „‚Gespür‘
(Augenmaß, Fingerspitzengefühl) für objektiv limitierte und sanktionierte Spielräume“ (Willems 1997: 71) gemeint ist. Daneben beschäftigt er sich etwa mit
den Kompetenzen der Informationskontrolle, macht darauf aufmerksam, dass
die „Handlungskompetenz, die man für eine wahre Darstellung braucht“, im
Wesentlichen „die gleiche (ist), die auch zur Täuschung verwendet wird“ (Willems 1997: 103) und legt schließlich in seinen Untersuchungen großen Wert auf
die Entschlüsselung der Form strategischer Interaktion und den dafür notwendigen grundlegenden Basiskompetenzen strategisch agierender Akteure.8
7
8
Aber nicht nur das; man kann natürlich auch die Interaktionssituation nutzen, um Kompetenz
zu präsentieren, so dass etwa Michaela Pfadenhauer (2003: 115ff.) den Professionellen als
Kompetenzdarsteller beschreiben kann.
Um Erfolg in der Interaktion zu haben, müssen diese etwa „alle möglichen Handlungsweisen
und ihre Folgen (…) überdenken, und zwar aus dem Blickwinkel aller beteiligten Parteien; die
Gewohnheit, alle persönlichen Gefühle und alle Impulsivität bei der Analyse der Situation und
der Durchführung eines Handlungsplans beiseite zu setzen; die Fähigkeit, unter Druck zu denken und zu handeln, ohne nervös zu werden oder sich etwas anmerken zu lassen; die Fähigkeit, auf momentane Demonstrationen von Scharfsinn und Charakter zugunsten langfristiger
Interessen zu verzichten; und natürlich die Fähigkeit und Bereitschaft, in jeder Hinsicht zu
täuschen, auch bezüglich der eigenen Fähigkeiten als Spieler“ (Goffman 1981: 86).
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
4.
13
Wissen und Nichtwissen in der Wissensgesellschaft
Damit komme ich zum dritten Schwerpunkt, den ich für das Kompetenzthema
in der Soziologie sehe und meine damit, kurz gesagt, das besondere Problem des
Umgangs, oder genauer: des kompetenten Umgangs mit Wissen, aber auch mit
Nichtwissen in der Wissensgesellschaft. Ich habe hier jetzt nicht den Raum,
genauer auf den Begriff der Wissensgesellschaft einzugehen – auf einen Begriff,
der insbesondere in der Politik und in den Medien komplexitätsreduzierend
zumeist doch nur als Schlagwort verwendet wird. Gleichwohl möchte ich mit
einem wichtigen – aber immer noch zu wenig beachteten – Vordenker der Theorie der Wissensgesellschaft beginnen, und zwar mit dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (siehe auch Stichweh 1998). Für die Soziologie ist Parsons natürlich zuerst einmal deshalb von besonderer Bedeutung gewesen, weil
er es war, der seit dem Ende der 1930er Jahre aufbauend auf einer Synthese des
klassischen soziologischen Wissens erstmals eine eigenständige soziologische
Theorie begründet hat (siehe Parsons 1968/1937), von der sich dann für lange
Zeit alle nachfolgenden Theorien abzusetzen bemühen mussten. Aber auch zum
Kompetenzthema hat Parsons schon Grundlegendes beigesteuert.
Parsons hat in mehreren Büchern und am deutlichsten in der 1973 zusammen mit Gerald M. Platt veröffentlichten Studie The American University darauf
verwiesen, dass es neben der industriellen und der demokratischen Revolution
insbesondere die Revolution des Bildungswesens gewesen ist – deren Höhepunkt er übrigens in der modernen (amerikanischen) Universität erblickt – die
zur Transformation der Gesamtstruktur der modernen Gesellschaft beigetragen
hat, und dies über die Entwicklung und Anwendung akademischen Wissens
(siehe Parsons/Platt 1990/1973). Die Theorie der Universität und des Wissenssystems der Gesellschaft sind bei Parsons konsequent im Rahmen des so genannten allgemeinen Handlungssystems geschrieben, in dem er hervorhebt, dass
soziale Systeme immer in einem bestimmten Austauschverhältnis mit anderen
nichtsozialen Systemen stehen: die Schulklasse etwa mit den Persönlichkeitssystemen der Teilnehmer und dem kulturellen System der Bildungsideen, Lehrmethoden und Wissensvorräte (siehe Parsons 1959). Die Universität ist in diesem Sinne für Parsons ein durch rationales Handeln charakterisiertes soziales
System, welches über Wissen bzw. Wissenschaft mit dem kulturellen System,
über das Medium Intelligenz mit den Verhaltenssystemen und über kognitives
Lernen und Kompetenz mit Persönlichkeitssystemen verknüpft ist, und zusammenfassend die Funktion der treuhänderischen Verwaltung kognitiver Rationalität ausübt. Und in gewisser Weise ist eine Soziologie der Universität – wie sie
hier von Parsons und Platt mit diesen Verbindungslinien vorgelegt wurde – dann
auch mehr als eine Soziologie des Sozialsystems Wissenschaft. Die Universität
ist dabei der zentrale Punkt, von dem aus neben der Wissenschaft auch Fragen
14
Thomas Kurtz
der akademischen Berufe, der Erziehung und Sozialisation sowie solche, die die
Persönlichkeit betreffen, beantwortet werden können.
Als Kompetenz bezeichnen Parsons und Platt dann ganz konkret „die Fähigkeit der individuellen Persönlichkeit, Ziele durch Wahlentscheidungen zu
erreichen, bei denen gültiges und signifikantes Wissen eine zunehmende Rolle
spielt“ (Parsons/Platt 1990/1973: 97), wobei sich der kompetente Umgang mit
dem Wissen auch in den Formen seiner Anwendung in sozialen Systemen zeigt
– Goffman würde dies als strategische Interaktion beschreiben. Und wenn man
sich die vor über 30 Jahren veröffentlichte Studie zur amerikanischen Universität näher ansieht, dann findet man hier mehrere Stellen, die umstandslos auch in
neueren Arbeiten zu Wissensberufen bzw. zur Wissensgesellschaft stehen könnten. Exemplarisch sei dazu nur angeführt, wie die Autoren die Form des kompetenten Umgangs mit Wissensangeboten bestimmen, wenn sie schreiben: „Es
geht nicht so sehr um das, was man bereits weiß, sondern darum, wie kompetent
man ist, das in Erfahrung zu bringen, was man wissen muß, und sich ständig zu
informieren“ (Parsons/Platt 1990/1973: 302). Es wird nicht übertrieben sein zu
behaupten, dass genau damit eine der wesentlichen Schlüsselkompetenzen für
den modernen Menschen angesprochen ist.
Neben der Frage aber, wie kompetent jemand ist, das richtige Wissen zur
Lösung bestimmter Probleme auszuwählen und anzuwenden, gibt es in der
neueren wissenssoziologischen Debatte noch einen weiteren Punkt zum Verhältnis von Wissen und Handeln. Was immer man von der Beschreibung der
Gesellschaft als Wissensgesellschaft halten mag, von einer Gesellschaftsbeschreibung also, die sich sozusagen ähnlich wie die der Risikogesellschaft oder
der Organisationsgesellschaft auf einen Begriff reduzieren lässt und damit zeigt,
was für sie das herausragende Merkmal zur Bestimmung der modernen Gesellschaft ist, so macht sie doch auf ein grundlegendes Problem des Handelns in der
modernen Gesellschaft aufmerksam. Wer nämlich vom Handeln spricht, muss
zugleich immer auch dessen andere Seite – das Wissen – mitthematisieren.
Denn sowohl in traditionalen Gesellschaften als auch in der modernen Wissensgesellschaft ist Wissen notwendige Voraussetzung für Handeln. Das Wissen
kann mit Nico Stehr als Handlungsvermögen, als die „Fähigkeit zum sozialen
Handeln“ definiert werden (Stehr 2000: 81). Ohne Wissen gäbe es nur instinktives Verhalten, aber kein absichtsvolles Handeln, das Wissen ist – wie Parsons
und Platt formulieren – „die primäre Adaptationsquelle für Handeln im allgemeinen“ (Parsons/Platt 1990/1973: 96). Aber genau dieses Wissen, welches
Bedingung für das Handeln ist, wird in der modernen Wissensgesellschaft zugleich auch zum Problem des Handelns – macht also aus dem Handeln unsicheres Handeln (Kurtz 2006b).
Was ist damit gemeint? Gegenüber vormodernen und frühmodernen Gesellschaften hat sich das Verhältnis von Wissen und Handeln in der Moderne
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
15
radikal verändert. Die immense Zunahme von Wissen in der heutigen Gesellschaft eröffnet eine solche Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten, dass das Wissen zusehends an Sicherheit verliert. Denn mit der Zunahme von Wissen nimmt
immer zugleich auch das Nichtwissen als dessen andere Seite zu (siehe auch
Wehling 2006) – und die Adaption von bestimmtem Wissen lässt sogleich die
Frage aufkommen, ob anderes Wissen nicht angemessener gewesen wäre. In
diesem Sinne folgt aus der zunehmenden Wissensbasierung der Gesellschaft
nicht nur eine Multioptionalität des Handelns (im Sinne von Gross 1994), sondern zugleich auch das Risiko, die falsche Entscheidung zu treffen. Das sich
vervielfältigende und sich oftmals widersprechende Wissen in der Moderne
führt geradezu zum Verlust von Handlungssicherheit. Man kann heute nicht
mehr alle Handlungsoptionen in seine Entscheidungsfindung einbeziehen, und
daraus ergibt sich letztendlich der Zwang zum Handeln ohne ausreichend sichere Wissensgrundlagen. Und so wird es dann auch nicht überraschen, dass heute
eine besondere Form der Kompetenz immer mehr an Bedeutung gewinnt; nämlich die Kompetenz, mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen.9 Man
braucht sich dazu exemplarisch nur große Organisationen anzuschauen, die eine
enorme Menge an Kapital, Zeit und Personal in die Informationsbeschaffung
investieren; diese Organisationen suchen konsequent ihre Umwelt nach etwaigem Überraschungspotential ab (siehe dazu etwa Feldman/March 1990).
Das was ich hier zum Verhältnis von Wissen und Handeln und zur Bedeutung des kompetenten Umgangs mit Nichtwissen in der Wissensgesellschaft
gesagt habe, ist sicherlich kein ganz neues Phänomen; neu ist dabei aber „das
Ausmaß an Ungewissheit und das zu bewältigende Mischungsverhältnis von
Wissen und Nichtwissen“ (Willke 2002: 44). Grundlegend gilt dieses Phänomen
natürlich auch für die so genannten klassischen Professionen der Ärzte, Rechtsanwälte, Seelsorger und Lehrer, die es mit kranken Personen, streitenden Personen, mit der Seelsorge bedürftigen Personen und mit zu erziehenden Personen
zu tun haben (siehe ausführlicher Kurtz 2005: 135ff.). Und dies sind im Übrigen
auch genau die Berufsgruppen, an denen man in der Soziologie zuerst auf die
Unsicherheitsthematik im beruflichen Handeln gestoßen ist. Berücksichtigen
9
Und in diesem Sinne bestimmt Helmut Willke „die Unfähigkeit, mit Nichtwissen kompetent
umzugehen“ als die Krises des Wissens in der modernen Gesellschaft (Willke 2002: 18). Zur
daran anschließenden Frage, wie man denn die notwendigen Kompetenzen zum Umgang mit
unsicheren Wissensangeboten vermitteln und erwerben sollte, wird es sicherlich die unterschiedlichsten Vorschläge geben, wobei ich hier nur einen – bisher gleichwohl ziemlich unbeachteten – kurz erwähnen möchte, der mir nämlich eine Richtung anzudeuten scheint, an
der man etwa bei Studienreformen ansetzen könnte. Dieser Vorschlag stammt von Niklas
Luhmann und findet sich in dem aus seinem Nachlass posthum veröffentlichten Werk Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Luhmann schlägt dort nämlich vor, „daß das Lernen von
Wissen weitgehend ersetzt werden müßte durch das Lernen des Entscheidens, das heißt: des
Ausnutzens von Nichtwissen“ (Luhmann 2002: 198).
16
Thomas Kurtz
muss man hier allerdings, dass bei ihnen das grundlegende Problem der Wissensgesellschaft, dass nämlich das vielfältige Wissen nicht nur Voraussetzung,
sondern zugleich auch noch das Problem für das Handeln ist, noch verschärft
wird durch die Abhängigkeiten von der Person des Klienten und von der Interaktionssituation.
Das Problem bei diesen professionellen Interventionen ist nämlich, dass sie
eigentlich immer auf die Mitarbeit der Klienten angewiesen sind. Kein Arzt
kann Patienten zwingen, gesund zu werden, der Pfarrer kann nicht für den Ungläubigen oder aber auch Gläubigen glauben und auch der im Unterricht agierende Lehrer kann die Probleme seiner Schüler nicht im Sinne eines technischen
Experten kausaladäquat für sie lösen. Er kann ihnen zwar das Lernen durch
günstige Lernarrangements so angenehm wie möglich gestalten, er kann ihnen
aber das Lernen nicht abnehmen, lernen müssen die Schüler selbst; und wie
jeder weiß, können diese dann auch immer ganz anders reagieren als sich das
der professionelle Praktiker vorgestellt hat. Und dadurch, dass diese Arbeit
immer in der direkten Interaktion zwischen Professionellem und Klienten stattfindet, muss auch immer in der konkreten Situation entschieden werden, und
zwar ohne auch immer über das für die Situation optimal notwendige Wissen zu
verfügen. Oder in den Worten von Niklas Luhmann: „Der Arzt muß verschreiben oder operieren, der Richter muß die vorgetragenen Fälle entscheiden und
der Lehrer muß Fragen der Schüler beantworten und Leistungen zensieren;
(und) bei allen Möglichkeiten der Vertagung oder des routinierten Zeitgewinns
bleibt ein Rest von Unsicherheit, der durch Entschlußkraft zu überwinden ist.“10
Aber wie gesagt, die Unsicherheitsproblematik ist nicht auf diese Form der
direkten Professionellen-Klienten-Interaktion beschränkt. Auch die Handlungslogik der immer mehr an Einfluss gewinnenden Berufsgruppe der Experten,
Ratgeber und Berater ist nicht mehr die einer technisch-instrumentellen Anwendung von wissenschaftlichem Regelwissen, das wie die aus naturwissenschaftlichen Gesetzen abgeleiteten Technologien verstanden werden kann. Wie das
Wissen der Professionen, so ist auch das Expertenwissen ein sozusagen „interpretationsbedürftiges, kontingentes, fortwährend zu reproduzierendes Wissen
(...), das keineswegs unbeirrbar effiziente Lösungen produziert“.11
Und wenn denn auch die Notwendigkeit des kompetenten Umgangs mit
Nichtwissen und Ungewissheit nicht unbedingt ein neues Phänomen darstellt, so
findet es sich doch in der modernen Wissensgesellschaft als ein geradezu gesell-
10
11
Luhmann o. J.: 6. Bei diesem Zitat handelt es sich um eine der frühen Aussagen Luhmanns zu
den Professionen, das sich in einem Anfang der 1970er Jahre geschriebenen Teilkapitel seiner
bis heute unveröffentlicht gebliebenen Studie zur Theorie der Erziehung findet.
Stehr 1994: 371. Dazu, dass Unsicherheit in der modernen Gesellschaft nicht nur eine Herausforderung in Arbeit und Beruf ist, sondern geradezu ein Alltagsphänomen darstellt, siehe etwa
Hörning 2001.
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
17
schaftsweit generalisiertes Phänomen, das nicht nur auf Individuen zutrifft,
sondern auch – worauf schon früh Erving Goffman hingewiesen hat – auf Interaktionssituationen, aber natürlich auch auf Organisationen und die Gesellschaft
im Ganzen. Damit sind wir in gewisser Weise wieder bei Max Weber angekommen, wenngleich dieser noch geglaubt hatte, das Unsicherheitsproblem
durch starre Regeln lösen zu können, während heute eher Kompetenzen im
Sinne von Kreativität und Reflexivität eine Rolle spielen und sich zudem im
Kontext der Wissensgesellschaft weder Personen noch Organisationen mehr
damit begnügen können, bestimmte einmal erworbene Kernkompetenzen zu
haben, sondern diese ständig weiterentwickeln müssen.
5.
Auf dem Wege zu einer Soziologie der Kompetenz
Ich hatte am Anfang meiner Überlegungen behauptet, dass wohl niemand auf
die Idee kommen würde, gerade die Soziologie als die Grundlagenwissenschaft
bzw. als die leitende Wissenschaft zur Erforschung des Kompetenzerwerbs in
der modernen Gesellschaft zu bestimmen, und hatte das damit begründet, dass
die Verwendung des Kompetenzbegriffs im Wesentlichen auf die Fähigkeiten
und Befähigungen von Personen zielen würde. Aber jetzt, nachdem ich einige
grundlegende soziologische Herangehensweisen an das Kompetenzthema angesprochen habe, kann man fragen: Warum eigentlich nicht, warum sollte man
nicht gerade der Soziologie eine größere Rolle bei der Bestimmung dieses Themas zuweisen? Denn der Überblick hat doch zumindest gezeigt, dass Kompetenz letzten Endes vielleicht doch etwas mehr ist als nur die Fähigkeit einer
Person. Kompetenzen sind sowohl relevant für Personen, für Organisationen12
wie auch für die Gesellschaft im Ganzen, so dass sich der Kompetenzbegriff
etwa anbieten würde, das Zusammenwirken von Person und Organisation13 aber
auch von Organisation und Gesellschaft genauer zu bestimmen.
Das Themenspektrum möglicher soziologischer Forschungen zu Kompetenzen und zum Kompetenzerwerb hat dann mindestens zwei Seiten. Die eine
Seite setzt an der Form Person an und fragt nach den Wissens- und Kompetenzstrukturen, die man erwerben muss, um sich in einer unsicheren Welt zurechtzu-
12
13
So hat etwa die neuere Organisationsforschung gezeigt, dass wir nicht mehr nur von kompetenten Personen ausgehen können, sondern immer auch von der kompetenten Organisation.
Siehe dazu etwa den Beitrag von Thomas Klatetzki in diesem Band sowie das Teilkapitel „Die
kompetente Organisation“ in Baecker (2003: 185ff.), in dem die kompetente Organisation als
eine Organisation definiert wird, „die über ein Wissen verfügt, mit dessen Hilfe Informationen
kommuniziert werden können, die anläßlich von Variationen in der Umwelt des Systems oder
im System auf die Veränderung der eigenen Strukturen zielen“ (Baecker 2003: 190).
Siehe etwa zum Verhältnis von Person, Organisation und Wissen Kurtz 2002.
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Thomas Kurtz
finden. Die andere Seite setzt an der Form der modernen Organisation an und
fragt etwa danach, welche personalen Kompetenzen Organisationen brauchen,
um sich in der Wirtschaft der Gesellschaft zu halten; also dort, wo sich – wie
Dirk Baecker (1993: 14) formuliert – das Schicksal der Organisation entscheidet. Berücksichtigt werden muss dabei allerdings immer auch, dass etwa in
Ausbildungsprozessen Kompetenzen in einer Organisation vermittelt werden,
die in einer anderen Organisation – die nach anderen, nämlich eigenen Regeln
operiert – angewendet werden sollen, was schlichterdings in einer einfachen
Eins-zu-eins-Übertragungslogik nicht vorstellbar ist (siehe Kurtz 2007b). Und
genauso wenig können etwa Organisationen davon ausgehen, dass die Summe
der kompetenten Organisationsmitglieder zugleich auch schon eine kompetente
Organisation ausmacht; die kompetente Organisation setzt sich nicht aus dem
im Gedächtnis von Personen abgespeicherten Wissen zusammen, sondern aus
der Form des kommunizierten Organisationswissens (Stichwort: intelligente,
lernende bzw. wissende Organisation – siehe dazu Vollmer 1996).
Dies wären aber nur zwei mögliche Perspektiven einer Soziologie der
Kompetenz. Formen von Kompetenz sind Thema in allen Funktionsbereichen
der Gesellschaft, und so ist vielleicht gerade die Soziologie, die sich ja nicht als
eine Reflexionstheorie zur wissenschaftlichen Betreuung eines einzelnen Funktionssystems und deren Organisationen etabliert hat, die Disziplin, welche die
Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Formen von Kompetenz in
der Gesellschaft aufzeigen kann.
Im Sinne der Auslotung der Relevanz des Kompetenzbegriffs für die Soziologie versammelt der vorliegende Sammelband programmatische Beiträge,
die aus unterschiedlichen Perspektiven, also anhand verschiedener soziologischer Theorien und Themenfelder die Möglichkeiten einer soziologischen Annäherung an die Kompetenzthematik testen. Bei aller Vielfalt und Breite der
Auseinandersetzung mit Kompetenz weist das Spektrum der Beiträge folgende
vier Akzentuierungen auf: Die Beiträge im ersten Teil des Bandes nähern sich
von theoretischen Ansätzen und Überlegungen her, anhand derer sich Kompetenz vor allem als Zumutung begreifen lässt. Die im zweiten Teil des Bandes
versammelten Beiträge beleuchten Gründe für die Durchsetzung bzw. Übernahme des Kompetenzbegriffs sowie Probleme und Konsequenzen der Implementation von Kompetenz im Bildungs- bzw. Erziehungssystem. Die Beiträge
im dritten Teil des Bandes betrachten Kompetenz vor allem im Hinblick auf die
Orientierung des Handelns sowohl individueller als auch kollektiver Akteure.
Mit dem Fokus auf Performanz und Inszenierung steht in den im vierten Teil
des Bandes versammelten Beiträgen schließlich die Realisierung von Kompetenz im Mittelpunkt. Implizit oder explizit stellen die Autoren letztlich auch die
Frage nach dem Sinn und Nutzen des Kompetenzbegriffs als soziologische
Der Kompetenzbegriff in der Soziologie
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Kategorie, um dergestalt den Boden zu bereiten für eine dezidiert soziologische
Kompetenzforschung.14
Die Beiträge im Einzelnen
1
Zumutung
Ausgehend von der Beobachtung, dass das Eigenständige der Bildungssoziologie gegenüber erziehungswissenschaftlichen Herangehensweisen gegenwärtig
kaum zu erkennen ist und dass diese in der aktuellen Kompetenzdiskussion eher
still geblieben ist, unternimmt Reiner Keller in seinem Beitrag den Versuch, die
Bildungssoziologie in der Wissenschaftslandschaft neu zu positionieren. Dies
kann in seiner Perspektive nicht dadurch gelingen, dass man den praxisbezogenen Fragestellungen der Bildungswissenschaften folgt und nach den Optimierungsbedingungen von Kompetenz fragt. Ein Programm der Bildungssoziologie
könnte vielmehr darin bestehen, die an Kompetenz gestellten Erwartungen in
öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen herauszuarbeiten und auf dieser
Basis zu untersuchen, welche Formen des Umgangs soziale Akteure im Rahmen
ihrer „alltäglichen Lebensführung“ mit den insbesondere in der Theorie reflexiver Modernisierung thematisierten Ungewissheitsbedingungen entwickeln.
Boris Traue untersucht in seinem Beitrag die im Bildungssystem und in der
Arbeitswelt stattfindende Umstellung von Qualifikation auf Kompetenz und
fragt dabei danach, inwieweit veränderte Formen der Produktionsweise die
Konzepte des Arbeitsvermögens beeinflusst haben, welche neuen Formen von
Expertise in diesem Zusammenhang entstehen und wie sich damit schließlich
auch das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst verändert hat. Dabei zeigt er,
dass die Einführung des Kompetenzbegriffs zwar der zunehmenden Subjektorientierung im Bildungssystem geschuldet ist, dass aber die damit verbundenen
reformistischen und emanzipatorischen Ansprüche nicht gänzlich eingelöst
werden konnten. Zwar sind die Einzelnen jetzt mehr oder weniger selbst für die
Entwicklung der Kompetenzen verantwortlich, die sie am Arbeitsmarkt präsentieren müssen, ob sie damit aber wirklich kompetente Subjekte sind, wird immer
noch von Experten definiert.
Auch Inga Truschkat hebt in ihrem Beitrag hervor, dass mit der Einführung
des Kompetenzbegriffs stärker die neuen Anforderungen an das Individuum
sowie seine Fähigkeiten gefasst werden sollen. Diese neuen Zumutungen an das
Individuum in der modernen Arbeitswelt umfassen jetzt insbesondere auch
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Ein Nachfolgeband mit empirischen Studien im Rahmen einer solchen Soziologischen Kompetenzforschung ist in Planung.
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