DEUTSCHES ÜBERSEE-INSTITUT Forschungsgruppe: „Informelle Politik und politische Parteien im interregionalen Vergleich“ Arbeitspapier Die gesellschaftliche Anbindung der marokkanischen Parteien Dirk Axtmann (Deutsches Orient-Institut)* Januar 2003 * Der Autor dankt Sigrid Faath, Ursel Clausen (beide DOI, Hamburg) und Mohamed Ibahrine (Hamburg) für ihre hilfreichen ergänzenden Hinweise. Für im Manuskript verbliebene Fehler zeichnet der Verfassers selbstverständlich alleine verantwortlich. 1 2 3 4 5 6 1 Der kontrollierte marokkanische Parteienpluralismus...................................................... 1 Die schwache Verankerung der politischen Parteien ....................................................... 3 2.1 Eine respektable formale Verankerung der Parteien ................................................. 3 2.2 Die schwache Verankerung der politischen Parteien Marokkos im Spiegel von Wählerfluktuation, Wahlbeteiligung und Umfragen ................................................. 5 Ursachen 1: die Parteien ................................................................................................. 10 3.1 Das geringe programmatische Profil der marokkanischen Parteien........................ 10 3.2 Die strukturellen Defizite der politischen Parteien.................................................. 12 Ursachen 2: das marokkanische politische System ........................................................ 14 4.1 Die formale Schwäche der politischen Parteien in Verfassung und Verfassungsrealität .................................................................................................. 15 4.2 Informelle Aspekte der Interesseneinbindung: der marokkanische Neopatrimonialismus ............................................................................................... 16 4.3 Marokkanische Parteien und Wahlen ...................................................................... 19 4.3.1 Der autoritäre Kontext: der „manipulierte Pluralismus“ ............................. 19 4.3.2 Wahlsystem und Parteiensystem.................................................................. 21 4.4 Die marokkanischen Parteien in der Regierung ...................................................... 23 Resümee: Chancen und Risiken auf dem Weg zu einer besseren gesellschaftlichen Anbindung der Parteien .................................................................................................. 26 Literatur .......................................................................................................................... 28 Der kontrollierte marokkanische Parteienpluralismus Abgesehen von dem (konfessionalistisch geprägten) Sonderfall Libanon steht Marokko seit seiner Unabhängigkeit am 2.3.1956 in der arabischen Welt mit seiner ununterbrochenen Tradition des Parteienpluralismus alleine. Wurden in anderen Staaten der Region in den 1950er und 1960er Jahren politische Parteien noch als Risiken für die „nationale Einheit“ und als Bremsklotz auf dem Wege der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gebrandmarkt, so legten alle marokkanischen Verfassungen seit 1962 in Art. 3 den Parteienpluralismus fest: „Il ne peut y avoir de parti unique au Maroc“.1 Mit der 1959 vollzogenen Sezession der Union Nationale des Forces Populaires/UNFP, dem Vorläufer der heutigen Regierungspartei Union Socialiste des Forces Populaires/USFP vom Parti de l’Istiqlal („Unabhängigkeit“)/PI spaltete der Mohammed V. erfolgreich die Unabhängigkeitsbewegung zur Stärkung der eigenen Position (vgl. Willis 2002: 7-8). Seit 1958 förderte der Monarch außerdem die Gründung des Mouvement Populaire/MP als Gegengewicht zu PI und UNFP (vgl. Abschnitt 4.3.1). Die Auflösung des Parlaments 1965 leitete eine Phase der Unterdrückung der politischen Parteien ein. 1 Politische Parteien wurden in Marokko seit den 1950er Jahren formal auf der Grundlage des königlichen Erlasses (Dahir) Nr. 1-58-376 vom 15.11.58 zur Gründung von Vereinigungen (insbes. Art. 15-20) zugelassen. Für eine zusammenfassende Beschreibung dieses Gesetzes vgl. Faath 1992: 372. 2 Nach den gescheiterten Putschversuchen von 1971 und 1972 integrierte Hassan II. (König 1961-1999) durch das „nationale Projekt“ der Westsahara-Annexion die Oppositionsparteien besser in das politische Leben des Landes. So entwickelte sich seit den 1970er Jahren ein eng kontrollierter Parteienpluralismus, der in der Literatur aufgrund des zentralen Einflusses des Palasts zu Recht als „pluralisme autoritaire“ (Djaziri 1997: 437) bzw. als „manipulated pluralism“ (Zartman 1990: 223) bezeichnet wurde. Die innere Dynamik des Parteienpluralismus sowie der effektive Handlungsspielraum der politischen Parteien war dabei eng mit dem Verhältnis zwischen politischen Parteien und Palast gekoppelt. In den 1970er Jahren wurden eine Reihe von traditionellen Oppositionsparteien (z.T. erneut) legalisiert: So die USFP, die sich 1972 von der UNFP abgespalten hatte, und der ehemalige Parti Communiste Marocain, der sich 1974 in Parti du Progrès et du Socialisme/PPS umbenannte. Im Rahmen der sogenannten „démocratie hassanienne“ konnten die politischen Parteien an den (manipulierten) Parlamentswahlen teilnehmen (vgl. Abschnitt 4.3) und waren teilweise an Regierungen beteiligt (vgl. Abschnitt 4.4). Als loyale Opposition im Parlament konnten die Oppositionsparteien in Einzelfragen Kritik an der Regierung üben. Kritik am Monarchen blieb jedoch tabu. Abweichende Meinungen der Oppositionsparteien (etwa in der Westsaharafrage oder anlässlich der Verlängerung der laufenden Legislaturperiode von 1981 bis 1983) beantwortete die Monarchie regelmäßig mit politischer Repression. Zusätzlich regte der Monarch seit dem Ende der 1970er Jahre die Gründung einer Reihe von „Verwaltungsparteien“ an, angefangen mit dem Rassemblement National des Indépendants/RNI (1978), dem Parti National Démocratique/PND (1981) sowie der Union Constitutionnelle/UC (1983). Diese dienten jeweils der Mobilisierung und Anbindung bestimmter Eliten (Unternehmer, Verwaltungskader, Großgrundbesitzer etc.) an den Palast und als organisatorischer Kern der „königstreuen Mehrheiten“ im Parlament. Als Antwort auf die gestiegenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen führten zwei Verfassungsänderungen 1992 und 1996 durch die Aufwertung des Parlaments und die Einführung der Direktwahl für das Unterhaus zu einer begrenzten Annäherung des marokkanischen politischen Systems an formal demokratische Arrangements. Diese Verfassungsreform geschah unter Einbindung der traditionellen Oppositionsparteien USFP, PI und PPS, die sich 1992 im sogenannten „demokratischen Block“ (arab.: „Al-Kutla adDimuqratiya“) zusammengeschlossen hatten. Die politische Öffnung des Landes gipfelte im Februar 1998 in der Ernennung einer Koalitionsregierung unter Einschluss der bisherigen Oppositionsparteien PI und USFP. Das Projekt der „alternance“ wurde nach den Wahlen vom 3 27.9.02 mit der Ernennung eines Kabinetts von Technokraten und Vertretern verschiedener Parteien unter dem parteilosen Driss Jettou am 7.11.02 fortgesetzt. Angesichts der in den letzten Jahren formal gestiegenen Rolle der Parteien offenbart sich jedoch – wie in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas – eine „Krise der Parteien in Marokko“ (Santucci 2001: 93; zur „Krise der Parteien“ in der Region vgl. Faath 1996; AbuKhalil 1997; Willis 2002). Das folgende Kapitel 2 beschreibt diese Krise insbesondere als Widerspruch zwischen der langen Tradition des marokkanischen Parteienpluralismus und seiner mangelhaften Verankerung in der Bevölkerung. Kapitel 3 und 4 versuchen diese mangelhafte Anbindung der Parteien mit „hausgemachten“, parteiinternen sowie den strukturellen Besonderheiten des marokkanischen politischen Systems zu erklären. 2 2.1 Die schwache Verankerung der politischen Parteien Eine respektable formale Verankerung der Parteien Nach der marokkanischen Unabhängigkeit verfügten die aus der Unabhängigkeitsbewe- gung hervorgegangenen Parteien PI und USFP durch ihre umfangreichen Parteiapparate, ihre Jugendorganisationen sowie die parteinahen Gewerkschaften über einen effektiven Rückhalt sowohl unter städtischen Intellektuellen wie in der organisierten Arbeiterschaft. Dagegen kann im Fall der von oben durch den Palast initiierten Parteien MP, RNI, PND und UC kaum von einer echten Massenbasis gesprochen werden (vgl. Faath 1987: 242; Köhler 1988: 36). Diese Parteien dienten, wie oben erwähnt, v.a. der Anbindung kleiner definierter Elitengruppen wie der ländlichen Notabeln bzw. der neuen Verwaltungseliten an das neopatrimoniale System des Landes (vgl. Abschnitt 4.2). Es liegen dem Autor keine systematischen Erhebungen für die Mitgliederentwicklung der marokkanischen Parteien seit der Unabhängigkeit vor. Es dürfe jedoch feststehen, dass der PI bis heute deutlich die mitgliederstärkste Partei ist. Nelson (1965; zit. in: Faath 1987: 247) sprach dem PI für das Jahr 1958 1,6 Mio. Mitglieder zu, davon rund 240.000 „aktive Mitglieder“, d.h. solche, die Mitgliedsbeiträge entrichten. Ihrai (1986; zit. in: Faath 1987: 247) nennt für Anfang der 1960er Jahre Mitgliederzahlen für PI (200.000-250.000), USFP (100.000), RNI (50.000-100.000) und MP (50.000-100.000). Santucci (2001: 47) konstatierte für die letzten Jahrzehnte eine „décrue manifeste du nombre des syndiqués et des militants politiques“. Unter Berufung auf Parteiquellen nennt er (ebd.: 93, 95, Fußnote 94) für die 1990er Jahre Mitgliederzahlen für PI (700-750.000 Mitglieder), USFP (90-120.000 Mitgl.; vergleichbar: Köhler 1988: 36) und PPS (40.000 Mitgl.). Lei- 4 der verfügen wir über keine Angaben zu den formalen Anforderungen an eine Parteimitgliedschaft was ideologische Konformität, die Höhe der Mitgliedsbeiträge und die Striktheit ihrer Eintreibung, sowie genauere Angaben zur Struktur der Mitglieder anbelangt. Trotz der systematischen Wahlmanipulationen, schnitten die Linksparteien USFP, PPS und Organisation de l’Action Démocratique et Populaire/OADP, bei den Wahlen seit den 1970er Jahren (die als „palastnah“ geltende UC seit 1983) relativ besser in den Metropolen Fes, Casablanca und Rabat ab (vgl. stellvertretend Santucci 2001: 71). Hingegen mobilisieren die palastnahen Parteien PND, RNI, MP, aber auch der PI (neben seiner traditionellen Hochburg in der Handelsbourgeoisie von Fes) die Wählerschaft überproportional in den mittleren Städten und auf dem Land. Vergleichbar der Situation in anderen Maghreb-Staaten in den 1990er Jahren, schnitten die bei den Wahlen von 1997 und 2002 angetretenen Islamisten ebenfalls in den größeren Städten am stärksten ab. Bis heute bestehen enge Beziehungen zwischen den marokkanischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft, die ihr Personal zumeist aus der engen politischen Elite rekrutieren (vgl. NDI 1997: 13-14). Wie für die Parteien gilt auch für die zunehmend vielfältigeren zivilgesellschaftlichen Gruppen,2 dass diese durch klientelistische Beziehungen an den Staat gebunden sind (vgl. Bendourou 1996: 116; vgl. Abschnitt 4.2). Besonders enge Verbindungen bestehen zwischen den politischen Parteien und der traditionell pluralistischen organisierten marokkanischen Gewerkschaftsbewegung (vgl. Faath 1996: 35, 38; Mennouni 1979; Denœux/Gateau 1995). In einer im Herbst 1993 durchgeführten Umfrage3 unter Parlamentariern der 1993 gewählten Repräsentantenkammer/Chambre des représentants (vgl. Parejo Fernández 1999) gaben 53,03% der Befragten an, gewerkschaftlich organisiert zu sein. Dabei dominierte die Mitgliedschaft in der Lehrergewerkschaft mit 27,3% und in den parteinahen Gewerkschaften Confédération Démocratique du Travail/CDT (21,2%) und Union Générale des Travailleurs du Maroc/UGTM (18,2%).4 Ohne dass es automatische Doppelmitgliedschaften zu geben scheint, reicht die personelle Verflechtung zwischen Parteien und Gewerkschaften so weit, dass in Traditionsparteien wie der USFP und der PI die Gewerkschaften per Sitzeproporz in den Entscheidungsgremien der ihnen nahestehenden Partei vertreten sind. Die Bedeutung der Gewerkschaften innerhalb der 2 Vgl. zu Gruppen der Zivilgesellschaft in Marokko stellvertretend Hegasy 1997; Heinz 1994/1995. 3 Die Befragung wurde im Herbst 1993 während der ersten Sitzungsperiode der 1993 gewählten Repräsentantenkammer/Chambre des Représentants durchgeführt. An der Befragung nahmen 62 Parlamentarier mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten innerhalb ihrer Parteien teil. Die Abgeordneten kamen zu 56,1% aus den Parteien der damaligen Opposition (insbes. USFP, PI, OADP), zu 40,9% aus den Reihen der ProRegierungsparteien (RNI, MP, UC) sowie aus verschiedenen Gewerkschaften. 5 Parteien zeigt sich auch daran, dass die CDT und UGTM im Mai 1992 einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Bündnisses zwischen den großen Oppositionsparteien hatten. Wenn auch weniger institutionalisiert, gibt es enge personelle Verflechtungen zwischen politischen Parteien und dem Dachverband der großen privaten Unternehmen, der Confédération Générale des Entrepreneurs Marocains/CGEM (vgl. Patton 1999: 201-203, 208; Benhaddou 1997: 119; Leveau 1993: 72). In Ermangelung systematischer Feldstudien können die Beziehungen zwischen den politischen Parteien und den erwähnten zivilgesellschaftlichen Gruppen, Gewerkschaften und Unternehmerschaft bislang jedoch allenfalls an Biographien einzelner Politiker festgemacht werden. 2.2 Die schwache Verankerung der politischen Parteien Marokkos im Spiegel von Wählerfluktuation, Wahlbeteiligung und Umfragen Seit den 1990er Jahren hat sich in der vergleichenden Parteienforschung insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Parteiensystemen der sogenannten „dritten Welle“ das Kriterium der Institutionalisierung des Parteiensystems als fruchtbar erwiesen. Dieses Kriterium bezieht sich auf den Grad der Verfestigung des parteipolitischen Wettbewerbs und die Verankerung der politischen Parteien in der Bevölkerung (vgl. Nohlen 32000: 69, 473-475; Bendel/Grotz 2001: 76-77; Mainwaring/Scully 1995). Dabei hat sich insbesondere die Analyse der Wählerfluktuation (volatility), d.h. der aggregierten Wählerwanderungen innerhalb eines Parteiensystems zwischen zwei Wahlterminen, als ein zentraler Indikator zur Messung der Institutionalisierung eines Parteiensystems etabliert.5 So scheinen in Marokko nach den durch die Gründung von „Palastparteien“ provozierten Wählerwanderungen bei den Wahlen von 1984 gegenüber 1977 (Volatilitätsindex: 54,85) die entsprechenden Werte für die Wahlen 1993 und 1997 auf ein zunehmend institutionalisiertes Parteiensystem hinzuweisen. Mit rein rechnerischen Volatilitätsindizes von 23,3 (Wahlen 4 Die beiden größten Gewerkschaften UGTM und die CDT stehen dem PI bzw. der USFP nahe. In den 1970er Jahren entstanden eine Reihe von regierungsnahen Gewerkschaften, die jedoch keinen den erwähnten Organisationen vergleichbaren Mitgliederanhang erringen konnten (vgl. Bendourou 1996: 115-116). 5 Das Konzept der Volatilität/volatility misst die aggregierten Wählerwanderungen unter den Parteien zwischen zwei aufeinander folgenden Wahlen. Diese berechnen sich aus der halbierten Summe der Prozentdifferenzen aller Parteien zwischen zwei aufeinander folgenden Wahlen. Die errechneten Werte liegen theoretisch zwischen 0 (maximale Konstanz) und 100 (maximale Fluktuation). Je höher der jeweilige Wert, als desto instabiler muss das Parteiensystem gelten, da entweder die Bindung zwischen Wähler und Partei schwach ausgebildet ist, oder Parteien von einer Wahl zur nächsten „verschwinden“ oder neu auf der politischen Landkarte auftauchen (Nohlen 32000: 473-475; Bendel/Grotz 2001: 77). Die angegebenen Volatilitätsindizes entstammen eigenen Berechnungen auf der Grundlage von Montabes Pereira/Parejo Fernández 1999. 6 1984-1993) und 22,2 (Wahlen 1993-1997) weist das marokkanische Parteiensystem zwar eine deutlich höhere Wählerfluktuation auf als die westlichen Demokratien (Durchschnitt 19451989: ca. 8,5). Im Vergleich mit den entsprechenden Werten für die jungen Demokratien Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bewegen sich die marokkanischen Werte jedoch eher im respektablen Mittelfeld (vgl. Bendel/Grotz 2001: 72-73, 77). Die Aussagekraft der Wählerfluktuation bleibt jedoch im Fall Marokkos beschränkt. Aufgrund der kontinuierlichen Wahlmanipulationen gaben die offiziellen Wahlergebnisse in Marokko bis weit in die 1990er Jahre weniger Aufschluss über den tatsächlichen Rückhalt der politischen Parteien in der Wählerschaft, als über das Gewicht, das der Palast den Parteien in der politischen Landschaft zugestand (vgl. Sehimi 1991; Santucci 1991). Zur Steigerung dieser „künstlichen Stabilität“ des marokkanischen Parteiensystems trug auch bei, dass seit den Parlamentswahlen von 1984 alle Kandidaten auf Order des Palasts unter dem Label einer Partei kandidieren mussten (vgl. Abschnitt 4.3.1). Die rein rechnerische Analyse der Wählerfluktuation bedarf daher einer kontextbezogenen Interpretation und der Hinzuziehung weiterer Indikatoren (vgl. Nohlen 32000: 473-475; Bendel/Grotz 2001: 77). Im Unterschied zur statistisch erfassten Wählerfluktuation legt die kontinuierlich gesunkene Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen eine „crise du politique, et [une] crise corrélative des partis [..] nahe (Santucci 2001: 93; s. auch Moore 1993: 44-45; Catusse 2000: 57, 64). Bei Parlamentswahlen seit 1977 stieg die Wahlenthaltung nach offiziellen Angaben von 17,7% (1977), 32,6% (1984), 37,3% (1993) und 41,7% (1997) bis auf 48,4% der eingeschriebenen Wähler im Jahr 2002 (vgl. Abbildung 1). Auch der im gleichen Zeitraum gestiegene Anteil von ungültigen Stimmzetteln (1984: 11,1%; 1993: 13,0%; 1997: 14,6%; 2002: 15,5%) zeugt von der gesunkenen Legitimität der politischen Parteien in Marokko wie der Wahlprozesse generell (Abbildung 1; vgl. Santucci 2001, Catusse 2000). Wahlenthaltung und ungültige Stimmabgabe treten v.a. in den Metropolen auf und betreffen damit überproportional die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangenen USFP, PPS und OADP (vgl. López Garcia 1992: 256-260). In der bereits erwähnten Umfrage (vgl. Fußnote 3) unter den Parlamentariern der 1993 gewählten Repräsentantenkammer nannten die meisten der Befragten (überproportional die Abgeordneten von USFP, PI, PPS) die politischen Parteien als „wichtigsten Faktor für den Wandel der letzten Jahre in der marokkanischen Politik und Elite“. Damit gaben die Befragten, wenn auch nicht mit überwältigender Mehrheit, den politischen Parteien den Vorzug vor der „allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung“, der „Jugend“, den „Intellektuellen“, dem „Bildungssystem“, und der „Monarchie“ (vgl. Parejo Fernández 1999: 252-257). Davon un- 7 beschadet blieb die Monarchie für die überwältigende Mehrheit, nämlich für 96,2% von den 76% der Befragten, die diese Frage beantworteten, die mit Abstand wichtigste Institution des Landes. Abbildung 1: Wahlbeteiligung und ungültige Stimmabgabe bei marokkanischen Wahlen (1977-2002) 100 80 60 Wahlbeteiligung (%) 40 Ungültige Stimmen (%) 20 0 1977 1984 1993 1997 2002 Quelle: eigene Darstellung basierend auf Montabes Pereira/Parejo Fernández 1999: 634-635 (1977-1997). Angaben für 2002: http://www.map.co.ma/mapfr/fr.htm (Zugriff am 30.9.02). Wahlbeteiligung: Abgegebene Stimmen (gültig und ungültig) in % der registrierten Wähler; Ungültige Stimmen in % der abgegebenen Stimmen. Im Gegensatz zu dieser Befragung der parlamentarischen Elite lassen Umfragen älteren wie jüngeren Datums unter der marokkanischen Bevölkerung auf ein deutlich geringes Ansehen der politischen Parteien schließen. Eine 1980 unter Schülern durchgeführte Umfrage (Suleiman 1987: 107) förderte eine eklatante Unkenntnis gerade der jungen, besser gebildeten Generation zum Thema „politische Parteien“ zutage.6 Auf die Frage, was eine politische Partei sei, blieben 90 Prozent der Befragten die Antwort ganz schuldig. Vier Prozent der Befragten gaben an, nicht zu wissen, was eine politische Partei sei, und lediglich sechs Prozent konnten annähernd eine Definition von politischen Parteien geben. Nach einer 1999 unter 600 jungen Wahlberechtigten durchgeführte Umfrage7 äußerten lediglich 2 Prozent der Befragten die Ansicht, die politischen Parteien artikulierten ihre Sorgen „in angemessener Weise“. 95 Prozent der Befragten fühlten sich keiner politischen Partei verbunden (vgl.: Maghraoui 2001: 86, Fußnote 8). Auch nach einer 2001 in Maroc Hebdo Inter- 6 Der Fragebogen wurde an 1267 Schüler im Alter von acht bis 16 Jahren an verschiedenen Schulen in den urbanen Räumen von Rabat, Marrakesch und Casablanca verteilt. 7 Die Umfrage wurde von dem den amerikanischen Demokraten nahestehenden National Democratic Institute for International Affairs (NDI) im Großraum Rabat und Salé durchgeführt. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden in Auszügen durch die PPS-nahe Zeitung Al Bayane (Casablanca) vom 17.11.99 veröffentlicht. 8 national in Auszügen veröffentlichten Umfrage (Alaoui 2001)8 erklärten 87,6% der Befragten, über „keine Parteibindung“ zu verfügen; lediglich 8,7% der Befragten äußerten in der Umfrage „Sympathie“ mit einer politischen Partei. Nach einer für die politischen Parteien „schmeichelhafteren“ Umfrage in La vie économique9 vom 20.3.2001 erklärten immerhin 27,9% der Befragten, „Mitglied oder ‚Sympathisant’“ einer Partei zu sein.10 Aufgrund der Widersprüchlichkeit, der methodischen Ungenauigkeiten sowie der oft sehr pointierten und dadurch ungenauen journalistischen Aufarbeitung des Materials können wir den Wert solcher Untersuchungen nicht absolut setzen. Dennoch können solche Umfragen durchaus als anekdotisches Stimmungsbild der Ablehnung dienen, die den marokkanischen Parteien in breiten Schichten der Bevölkerung entgegengebracht wird. Diese sinkende gesellschaftliche Anbindung der politischen Parteien in Marokko kann zunächst nicht abgekoppelt von dem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel des Landes in den letzten Jahrzehnten betrachtet werden (vgl. Faath 1996: 33; Santucci 2001: 89, 93; Baduel 1998: 23). Damit ist die Krise der marokkanischen Parteien durchaus den Krisenerscheinungen westlicher Parteiensysteme (so Santucci 2001: 47) bzw. derjenigen in anderen Entwicklungsländern zu vergleichen. Hinzu kommen jedoch noch landesspezifische Aspekte der marokkanischen politischen Kultur. Eine inzwischen in die Jahre gekommene Studie kommt, für ein Entwicklungsland im Ergebnis wenig überraschend, zu dem Schluss, dass die marokkanische politische Kultur durch eine passive Haltung gegenüber den als unrepräsentativ bis korrupt, dabei jedoch als allmächtig empfunden staatlichen Strukturen gekennzeichnet sei11 (vgl. Suleiman 1987; vgl. 8 Die Umfrage in Maroc Hebdo International 488 (30.11.-6.12.01) wurde durch das Institut CSA-TMO Maroc im November 2001 unter 1.200 Befragten durchgeführt (vgl. Alaoui 2001). Die oben erwähnten Aussagen lesen sich bei Alaoui wörtlich so, dass 87,6% der Befragten sich selbst als „en dehors de la mouvance partisane“ bezeichneten, und „le capital de sympathie des partis marocains ne dépasse pas 8,7% des 1.200 interviewés“. 9 Die Umfrage wurde vom 12.-18.3.2001 im Auftrag von La vie économique durch das Institut CSA-TMO Maroc in Zusammenarbeit mit der (USFP-nahen) Fondation Bouabid pour les sciences et la culture (Rabat) durchgeführt. In Einzelinterviews legten die Demoskopen einem Sample von 1001 Befragten 26 teils offene, teils mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten versehene Fragen vor. Die Befragten deckten alle Altersstufen ab 18 Jahren ab, wobei 73% der Befragten in die Alterklasse der 18-44-Jährigen (d.j. der jünegren Wahlberechtigten) fiel. Die Fragen sollten u.a. das Wissen und die Erwartungen der Interviewten bezüglich des Regierungswechsels von 1998 und der „im Gang befindlichen Demokratisierung“ erhellen. Als kritisch ist dabei einzuschätzen, dass die Befragten beinahe ausschließlich aus dem urbanen Milieu stammten. Darüber hinaus waren die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten (wie „einigermaßen zufrieden/assez satisfait“ oder „ziemlich wichtig“/assez important“ vage und können für den einzelnen Befragten positiv oder negativ belegt sein. 10 Nur indirekt sei an dieser Stelle auf weitere Umfragen verwiesen, die ein düsteres Bild von der Verankerung der marokkanischen Parteien zeichnen. So verweist Entelis (2002) auf eine Umfrage in Le Journal (Rabat) vom Juli 1998, der zufolge lediglich 3,1 Prozent der Marokkaner Vertrauen in die Parteien hätten. Ebenfalls bei Entelis (2002) findet sich der Hinweis auf eine weitere Umfrage (Le Monde, 3.12.01) der zufolge neun von zehn Befragten weder den Namen noch die ideologische Orientierung auch nur einer politischen Partei kannten. 11 In ihrer Umfrage aus dem Jahr 1969 konstatierten Pascon/Ben Nahar (zit. in Suleiman 1987), ausgehend von der Befragung von 296 männlichen, v.a. in ländlichen Regionen beheimateten Jugendlichen im Alter von 14- 9 auch Saaf 1992: 248). Auch 30 Jahre später verband sich nach der bereits erwähnten Umfrage in Maroc Hebdo International (vgl. Fußnote 8) bei 51,3% der Befragten die mehrheitliche Geringschätzung der politischen Parteien mit einer Ablehnung der „Politik im allgemeinen“ („..la politique ne leur dit rien [..]“) (vgl. zu dieser Meinung ebenso Kadiri 2002). Eine weitere Studie (vgl. Suleiman 1987: 113-116) gelangt zu einer stärker differenzierenden Sichtweise und bedient sich dabei der Terminologie von Almond/Verba (1963: 24-25). Neben der breiten Mehrheit der Marokkaner, die sich durch „a relatively passive set of selforientations“ auszeichne und „oriented toward authoritarian government structure“ sei, macht die Studie in der marokkanischen Bevölkerung auch durchaus eine zu politischem Aktionismus neigende Minderheit mit „specialized input orientations“ und einem „activist set of selforientations“ aus. Eine am Ende der 1970er Jahre unter Studenten durchgeführte Studie12 (Nedelcovych 1980, zit. in: Suleiman 1987: 103-104) belegt, dass auch eine typischerweise stärker zu politischem Engagement neigende Gruppe die etablierten politischen Parteien (einschließlich der Oppositionsparteien) mehrheitlich als „Fassaden zum Systemerhalt“ empfand. Die Parteien stellten für die befragten Studenten eine deutlich weniger attraktive Organisationsform dar als andere, informelle Formen des politischen Engagements. Hier scheint die Neigung zum informellen, außerhalb politischer Parteien laufenden politischen Engagement vorgezeichnet, wie es sich am Ende der 1990er Jahre wiederholt in Streiks der arbeitslosen Akademiker niederschlug. Auch nutzten die Befragten nach eigenem Bekunden gezielt Wahlen, um Antisystemparteien zu wählen, oder aber gingen bewusst nicht zur Wahl. Als Antisystemparteien mussten zum Zeitpunkt der Umfrage etwa die Kommunisten des PPS gelten. Übertragen auf heute wären hierunter mit Abstrichen verschiedenen islamistischen Gruppen zu zählen, deren Einfluss sich in den letzten Jahren gerade in den Studentengewerkschaften bemerkbar gemacht hat. Welches sind jedoch die Ursachen der schwachen Anbindung der politischen Parteien an die marokkanische Bevölkerung? Wir unterscheiden im folgenden „hausgemachte“ Defizite 18 Jahren, einen eklatanten Gegensatz zwischen der prinzipiellen Allmacht, die die Befragten den staatlichen Strukturen als Inkarnation der neopatrimonialen Strukturen zuschrieben, und andererseits der mangelnden „responsiveness“ der staatlichen Strukturen. 12 Im Rahmen der Untersuchung wurde 402 Studenten verschiedener Fachrichtungen an der Universität Mohammed V in Rabat 231 Fragen vorgelegt, die sich eng an entsprechende Fragebögen in westlichen Ländern anlehnten. Nach Suleiman (1987: 103) waren die Studenten im Ergebnis „highly predisposed toward eventual political participation, with some 90 percent indicating either intense (41 percent) or moderate (51 percent) feelings toward political participation. […]. [.], the students appeared to understand politics, appreciate the importance of voting, and feel that good political leadership makes a difference [...] However, when it came to personal political efficacy – that is, items indicating personal involvement and possible success in politics – the students’ attitude indicated that they believed the system to be unresponsive and, consequently, the students felt alienated. This was also reflected in the low levels of student participation in clubs and organizations as well as political parties. If anything, they seemed more willing to join, or to sympathize with, the (antiestablishment) student union“. 10 bei den politischen Parteien selbst (Kapitel 3) sowie Ursachen, die wir in den Rahmenbedingungen des marokkanischen politischen Systems verorten (Kapitel 4). 3 3.1 Ursachen 1: die Parteien Das geringe programmatische Profil der marokkanischen Parteien „The programme does not interest people, it is primarily the man that they vote for. The programme comes later“. Mahjoubi Aherdane, Vorsitzender des Mouvement National Populaire/MNP, vor den Kommunalwahlen des Jahres 1997 (Le Temps du Maroc, 23.5.97; zit. in: Willis 2002: 22, Fußnote 52). Das marokkanische Parteienspektrum, wie es in der Legislaturperiode 1997-2002 mit 15 Parteien in den parlamentarischen Gremien repräsentiert war, deckt formal eine große Bandbreite von national-konservativen, linkssozialistischen Parteien bis hin zu islamistischen Strömungen ab (vgl. Mattes 1999: 43). Die wichtigsten marokkanischen Parteien können heute programmatisch grob folgenden Strömungen zugeordnet werden: USFP: reformistischsozialdemokratisch; PI: traditionalistisch-kleinbürgerlich-islamisch (aber nicht islamistisch!); UC: konservativ-wirtschaftsliberal; RNI: großbürgerlich-rechtsliberal; PND: ländlichrechtsliberal; MP: royalistisch-ländlich-berberisch; PPS: einst kommunistisch, heute zur Sozialdemokratie tendierend; Mouvement Populaire Démocratique et Constitutionnel/MPDC (seit 1999: Parti de la Justice et du Développement/PJD): islamistisch (aktualisierte Variante der Einteilung bei Köhler 1988: 27-28). Diese Zuordnung zu programmatischen Strömungen kann jedoch nicht über die generelle programmatische Schwäche der marokkanischen Parteien hinwegtäuschen. Hierzu trägt insbesondere bei, dass die Integration der Parteien in das politische System Marokkos traditionell über Patron-Klient-Verhältnisse (vgl. Abschnitte 3.2 und 4.2) erfolgt, und nicht dadurch, dass sie effektiv die in der Bevölkerung vorhandenen Interessen artikulieren und an das politische System weitervermitteln (vgl. Willis 2002: 14-18; Moore 1993; Faath 1996). Die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangenen Parteien (USFP, PI, PPS), insbesondere die prononcierten Linksparteien USFP und PPS traten bis in die 1970er Jahre zwar als prononcierte Ideologieparteien mit dem Anspruch auf Systemveränderung auf. In dem Maße wie sie sich in das System integrierten, wurden sie jedoch kompromissbereiter. Lediglich in einzelnen Punkten wie der Sozialpolitik) nahmen die Oppositionsparteien in der Vergangenheit eine begrenzte „fonction tribunicienne” (Santucci 2001: 39; Sehimi 1991: 228) wahr. Seit 1989 hat sich die marokkanische Linke um die USFP und die ex-kommunistische 11 PPS von der Errichtung des Sozialismus distanziert und erfüllt seit 1998 in der Regierung buchstabengetreu die von den internationalen Gläubigerorganisationen verordneten Strukturanpassungsmaßnahmen. Die „Palastparteien“ MP, RNI, PND und UC stellen noch konturlosere Gruppierungen dar. Sie stellen de facto eher die organisierte Form von Klientelgruppen und Foren zur Verteilung von Posten und Pfründen dar. Programmatisch traten RNI und UC seit den 1980er Jahren fast ausschließlich mit der Forderung nach Wirtschaftsliberalismus hervor und entwickelten sich zu „pressure groups“ (Köhler 1988: 43) der Wirtschaftsverbände und der Verwaltung (vgl. Abschnitt 4.2; Willis 2002; Köhler 1988; Sehimi 1991). Zugleich unterwirft der autoritäre innenpolitische Kontext alle politischen Parteien unter einen strengen innenpolitischen Minimalkonsens. Hierunter fällt die Anerkennung der innenpolitischen Hegemonie des Monarchen ebenso, wie in der Außenpolitik das Festhalten an der „Marokkanität“ der Westsahara (vgl. Abschnitt 4.1; Cubertafond 1999). Die etablierten politischen Parteien weisen somit heute in programmatischer Hinsicht keine großen Unterschiede mehr auf; sie haben sich zu catch all-parties (in den Worten von Santucci (2001: 96): partis attrape-tout) entwickelt. Die geringe programmatische Polarisierung des Parteiensystems war Grundvoraussetzung für die Einbindung der politischen Parteien in den Prozess der politischen Öffnung seit Beginn der 1990er Jahre. Zugleich stellen die marokkanischen Parteien aber just zu einem Zeitpunkt, da sie durch die gestiegene Bedeutung von Wahlen formal an Bedeutung für das politische System gewonnen haben, für den Großteil der Bevölkerung keine glaubwürdigen Akteure mehr dar (vgl. Maghraoui 2001: 80-82, Claisse 1992: 306-307). Die Parteiführer werden von der breiten Bevölkerungsmehrheit vielmehr v.a. als auf den Erhalt der eigenen Macht bedacht wahrgenommen. Anstatt die alltäglichen Probleme der Wähler aufzugreifen, pflegen die ehemaligen Oppositionsparteien immer noch das alte Image als Parteien der Befreiungsbewegung. Dabei wird die marokkanische Bevölkerung – im Gegensatz zum Führungspersonal der politischen Parteien – im Durchschnitt immer jünger und verbindet wenig mit der alten Rhetorik des Befreiungskampfes (vgl. Saaf 1992: 235-237; Maghraoui 2001: 81; Santucci 2001: 76; Chahir 2002; Darif 2002). Auch in den zunehmend kompetitiveren Wahlkämpfen der 1990er Jahre haben sich die politischen Parteien als wenig profilierte Wahlkämpfer erwiesen. Bis heute kann beinahe keine der legalisierten marokkanischen Parteien ein schriftliches Programm vorlegen, noch ihre Wählerschaft und deren spezifische Interessen präzise umreißen (vgl. NDI 1997: 14-15). Es scheint, dass der späte Hassan II. diesen Umstand zunehmend selbst als Problem der Stabilität 12 des marokkanischen politischen Systems erkannte: Vor den Wahlen von 1997 mahnte er die Parteien, realistische und realisierbare Programme auszuarbeiten und merkte an, dass diejenigen Parteien, die kein Programm vorlegen könnten, es „nicht verdienten, Parteien genannt zu werden“ (zit. in: Darif 2002). Seit einigen Jahren entwickeln sich islamistische Gruppierungen mit ihrer Forderung nach Linderung der sozialen Auswirkungen der Strukturanpassungsmaßnahmen mit einigem Erfolg zur Konkurrenz zu den traditionellen Parteien (vgl. Faath 1996: 38; Bendourou 1996: 117119; Escobar Stemmann 2001: 31). Für Entelis (2002) repräsentiert die (formal nicht legalisierte) radikal-islamische Gruppe Al-cAdl wa-l’Ihsan (Gerechtigkeit und Wohlfahrt) von Scheich Abdessalam Yassine, „vermutlich die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Hoffnungen der Bevölkerungsmehrheit besser [..] als alle anderen [Parteien, D.A.]. [...] Obwohl ihr Programm in vielem vage bleibt, ist ihre Fähigkeit zur gesellschaftlichen Mobilisierung in der Tat beeindruckend“. Zugleich konnten in den letzten Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen vereinzelt ihre persönlichen Verbindungen zu politischen Parteien dazu zu nutzen, um einzelne gesellschaftspolitisch bedeutsame Themen zu artikulieren (vgl. NDI 1997: 13-14).13 3.2 Die strukturellen Defizite der politischen Parteien „Les élites ont vieilli. [...] Le plus grand danger, c’est la mort par effritement des partis politiques. Si les militants ne font pas de révolution interne au sein de leurs formations, celles-ci deviendront des coquilles vide qui ne pourront prétendre jouer un rôle de médiation“. Mohamed Sassi, Abgeordneter der USFP (zit. in: Garçon 2000: 30) Die mangelnde gesellschaftliche Anbindung der marokkanischen Parteien hängt, eng mit dem Mangel an parteiinterner Demokratie, der Ausrichtung auf eine oder wenige Führerfiguren sowie mit der Dominanz der Patron-Klient-Verhältnisse im marokkanischen Parteiensystem zusammen (vgl. stellvertretend Willis 2002: 12-14; Faath 1996; AbuKhalil 1997: 154; Tachau 1994: XX). Die Fixierung auf einen oder wenige politische Führer (arab.: „zaim“, pl. „zuamâ’“) ist tief in der klientelistischen politischen Kultur Marokkos verankert (vgl. Abschnitt 4.2). Die Vor13 So wurden Forderungen nach einer Reform des konservativen Personenstandsgesetzes (die sog. mudawwana) im Kontext der Debatten um die Verfassungsreform 1992 von der OADP-nahen Union de l’Action Féminine in einem offenen Brief vom 5.3.92 an den Parlamentspräsidenten, die Führer der im Parlament vertretenen Fraktionen sowie die Parteiführer verschickt, in dem die Organisation auf den grundlegenden Widerspruch zwischen dem verfassungsmäßigen Gleichheitsgebot der Verfassung und der Gesetzeslage hinwiesen. Die folgenden Aktionen der Frauenorganisationen für eine Reform des Personenstandsgesetzes wurden auch von politischen Parteien wie der USFP und dem PPS unterstützt. Unter dem Druck der (islamistischen) Straße und unter Mitwirkung des Ministers für religiöse Stiftungswesen (Habous), Alaoui M’Daghri, wurde das Gesetzesprojekt jedoch im Jahr 2000 begraben. 13 sitzenden der marokkanischen Parteien führen i. d. R. seit Jahrzehnten die marokkanischen Parteien in patriarchalischer Weise.14 Aus dem inneren Demokratiemangel resultiert dabei eine strukturelle innere Reformunfähigkeit. Den jungen Politikern bieten sich unter diesen Bedingungen in marokkanischen Parteien relativ wenig Aufstiegsmöglichkeiten. Die politischen Parteien sind so relativ wenig aufnahmefähig für neue gesellschaftliche Fragen (vgl. NDI 1997: 15; Leveau 1998: 14; Jamai 2001; Santucci 2001: 94). Wie in vielen Ländern der Dritten Welt finden in Marokko traditionelle Loyalitäten und Abhängigkeiten ihren Niederschlag im „modernen Gewand“ des Parteienpluralismus, sind viele Parteien „little more than large-scale interlinking patron-client networks“ (Willis 2002: 14; auch: Tachau 1994: XX). Was die Mitgliederwerbung sowie die Anziehungskraft auf die Wählerschaft anbelangt, so hängt die Attraktivität eines Parteiführers bzw. seiner Organisation von seiner vermuteten Fähigkeit ab, den Anhängern direkt oder über Ämter materielle Vorteile zu verschaffen. Umgekehrt geht das Betreben einer Parteiorganisation dahin, bestimmte einflussreiche Personen zu kooptieren, die ihnen die Stimmen einer bestimmten Gruppe oder Region „liefern“ (Willis 2002: 14) können.15 Unter diesen Umständen sichert zwar die personalistische Ausrichtung den marokkanischen Parteien die Loyalität einer bestimmten, oft regional, tribal oder familiär definierten Gefolgschaft. Dies gilt jedoch nur solange sich einzelne Wählergruppen von der Unterstützung einer bestimmten Partei berechtigt Zugang zu materiellen Gütern erhoffen dürfen. Zugleich setzt diese personalistische Prägung der marokkanischen Parteien in Zeiten des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels der Mobilisierung einer mehr an programmatischen Fragen interessierte Wählerschaft enge Grenzen (vgl. Willis 2002: 14). Dieses angedeutete utilitaristische Verständnis von Parteimitgliedschaft macht auch vor gewählten Mandatsträgern nicht halt. Nach der bereits erwähnten Umfrage (vgl. Fußnote 3) haben nicht weniger als 53,5% der 1993 gewählten Parlamentarier im Laufe ihres Lebens mindestens einmal die Parteizugehörigkeit gewechselt. Unter den gewählten Parlamentariern des Jahres 1997 wechselten innerhalb der ersten zwei Monate der Legislaturperiode zwölf, bis 14 Formalisierte Formen der Führungsnachfolge sind unter diesen Umständen kaum etabliert. Die Parteiführer treten in der Regel erst mit ihrem Tod ab. Als bisher einzige Ausnahme ersetzte der PI auf dem 13. Parteitag (13.-22.2.98) Generalsekretär M’hamed Boucetta durch Abbas El-Fassi. Es ist bezeichnend für das patriarchalische Parteienverständnis bei den traditionellen Linksparteien wie den rechten/konservativen Parteien, dass es sich bei dem neuen PI-Vorsitzenden um den Neffen und Schwiegersohn des historischen Parteigründers Allal El-Fassi handelt (vgl. Willis 2002: 13, Fußnote 33; NOJ 1998: 121). 15 Aus solchen Mechanismen lassen sich im Fall Marokko z. T. (parteiideologisch kaum nachvollziehbare) abrupte Wählerverschiebungen in bestimmten Regionen nachhalten. Willis (2002: 14 und 22, Fußnote 39) verweist auf das Beispiel des formal „kommunistischen“ PPS, der durch eine erfolgreiche Kooptationspolitik innerhalb von zehn Jahren in einer Gegend in Zentralmarokko einen Großteil der regionalen Abgeordneten beider Parlamentskammern sowie die Bürgermeisterposten besetzt. 14 Ende 2000 nicht weniger als 102 (von insgesamt 325) Abgeordneten die Parteizugehörigkeit, darunter einige mehr als einmal. Dabei wechseln Parlamentarier typischerweise zu einer Partei, bei der sie ihre Interessen (wie die ihrer eigenen „Klienten“) besser gewahrt sehen, d.h. in aller Regel zu Parteien, die Ämter zu vergeben haben (vgl. Willis 2002: 15). Für die personalistische Ausrichtung des marokkanischen Parteiensystems typisch ist auch das häufige Unvermögen von ideologisch oft ähnlichen Parteien miteinander zu kooperieren. Nur vor diesem Hintergrund sind die in den letzten Jahrzehnten häufigen, z. T. vom Palast geförderten Sezessionen (vgl. Abschnitt 4.3.1) in den marokkanischen Parteien zu verstehen. Innerparteiliche Konflikte werden in aller Regel durch Parteiaustritte der jeweils „unterlegenen Fraktion“ aufgelöst. (Willis 2002: 7-8, 13-14). Theoretisch haben die politischen Parteien sehr wohl die Notwendigkeit einer stärkeren inneren Demokratisierung und Professionalisierung erkannt (vgl. NDI 1998 sowie 1997: 15). Erst zögerlich nehmen sich jedoch einzelne Reformversuche aus. So wurde auf dem VI. Kongress der USPF (26.-31.3.2001), dem ersten Parteitag seit 1989, die geheime Wahl zur Besetzung der Parteigremien eingeführt. Dennoch wurde auch bei dieser Gelegenheit eine modernistische Strömung aus den Führungsgremien herausgehalten (vgl. Dalle 2001: 15). Auch die gemäßigten Islamisten des MPDC (seit 1999: PJD) setzen inzwischen formal auf die demokratische Wahl ihrer inneren Führungskräfte – und versuchen sich damit von anderen, nicht legalisierten islamistischen Gruppierungen wie Al-cadl wal-Ihsan und deren autoritären inneren Strukturen abzusetzen (Escobar Stemmann 2001: 31). Ein verändertes Verhältnis deutet sich auch im Verhältnis zwischen den politischen Parteien und den ihnen nahestehenden Gewerkschaften an (vgl. Abschnitt 2.1). In den parlamentarischen Gremien, in denen Gewerkschaftsvertreter aufgrund der Besonderheiten des marokkanischen Wahlsystems vertreten sind (vgl. Abschnitt 4.3.2), stimmten die gewerkschaftlich organisierten Abgeordneten in der Vergangenheit in aller Regel entsprechend der Marschroute „ihrer“ Partei. Dennoch hat sich gerade die USFP-nahe CDT in den letzten Jahren als äußerst kritisch gegenüber der als unsozial empfundenen Politik der Regierung erwiesen und in einer Reihe von Abstimmungen auch gegen die „eigene Regierung“ votiert (vgl. Daoud 1999). 4 Ursachen 2: das marokkanische politische System Die schwache Verankerung der marokkanischen politischen Parteien hängt auch eng mit den prägenden Strukturen im marokkanischen politischen System zusammen. Hier sind eine 15 Reihe von Faktoren zu nennen, die in der Summe deutlich den Spielraum der Parteien beschnitten , zu einer eigenen Rolle im politischen System Marokkos zu finden: die geringe Rolle, die der Monarch den Parteien seit der Unabhängigkeit zugestand; die Schwäche der repräsentativen Institutionen; die Einbindung der Parteien in das neopatrimoniale Makhzen-System, die manipulierten Wahlen und die über die Jahre eher „symbolische“ Regierungsbeteiligung der politischen Parteien. 4.1 Die formale Schwäche der politischen Parteien in Verfassung und Verfassungsrealität Der Gedanke eines liberalen Parteienpluralismus westlicher Prägung kollidierte seit der Unabhängigkeit mit den zunehmend autokratischen Tendenzen von Mohammed V.. In der Machtkonzeption von Mohammed V. wie Hassan II. (König 1961-1999) sollte der Parteienpluralismus dem Palast in erster Linie die Möglichkeiten für eine „ausgleichende Koalitionenbildung“ (vgl. Faath 1987: 240) eröffnen und in letzter Konsequenz die monarchische Staatsform stärken. Als Hassan II. in Art. 3 der Verfassung von 1962 das bis heute geltende Verbot einer Einheitspartei verankerte, markierte dies den Sieg monarchischen Machtkonzeption über die Bestrebungen des PI, nach der Unabhängigkeit ein Einparteienregime in Marokko zu installieren. Diese monarchische Konzeption von der Rolle der Parteien spiegelte sich auch in ihrer formalen Aufgabenzuschreibung wider. Nach Art. 3 der ersten Verfassung von 1962 kam den politischen Parteien lediglich die Rolle zu, „zur Organisation und Repräsentation der Bürger bei[zu]tragen“. Die entsprechenden Artikel in den Verfassungen von 1970, 1972, 1992 und 1996 „banalisierten“ (so Sehimi 1991: 222, vgl. sinngemäß Santucci 2001: 59) die Rolle der politischen Parteien zusätzlich dadurch, dass sie ihnen gleichwertig die Gewerkschaften, die berufsständischen Kammern sowie die lokalen Körperschaften an die Seite stellten.16 Die Verfassungsreform von 1992 führte zu einer eng begrenzten Ausweitung der parlamentarischen Kompetenzen, insbesondere durch den Ausbau der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung. Dennoch bleibt die Rolle der marokkanischen Parteien im politischen Prozess durch die Hegemonie der Exekutive über die nationale Legislative und die kommunalen Körperschaften, d.h. die natürlichen Foren parteilicher Repräsentation, empfindlich eingeschränkt (stellvertretend Willis 2002: 2). 16 Der entsprechende Art. 3 der Verfassung von 1962 – „Les partis politiques contribuent à l’organisation et à la représentation des citoyens“ – wurde seit der Verfassung von 1970 ergänzt: „Les partis politiques, les organisations syndicales, les conseils communaux [seit 1996: „les collectivités locales“, D.A.] et les chambres professionnelles concourent à l’organisation et à la représentation des citoyens. Il ne peut y avoir de parti unique“. 16 In der Gesetzgebung ist die – vom König eingesetzte – Regierung durch die Beschränkungen des Gesetzgebungsbereichs sowie die Instrumente des rationalisierten Parlamentarismus im wesentlichen Herrin des Verfahrens. Durch die Einführung eines Zweikammerparlaments (Verfassungsreform von 1996), in dem sich beide Kammern wechselseitig kontrollieren, ist das Gesetzgebungsprozedere noch komplizierter (und durch den Palast leichter kontrollierbar) geworden. Auch die parlamentarische Kontrollfunktion unterliegt bis heute hohen Hürden. So ist zur Annahme des Misstrauensvotums eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten des (direkt gewählten) Unterhauses) erforderlich. In der Realität des marokkanischen Parlamentarismus nutzten die Oppositionsparteien in den vergangenen Jahrzehnten die parlamentarische Plattform (außer in den Perioden parlamentarischer Vakanz, 1965-1970, 1971-1977 und 1983-1984) durchaus zu vehementer Kritik an der Regierung. So kritisierten die Oppositionsparteien USFP und PI nach 1983 vehement die sozialen Verwerfungen infolge der Strukturanpassungsmaßnahmen. Kritik am Monarchen bleibt dabei jedoch tabu. Im Sinne einer stärkeren parteipolitischen Profilierung wirkt sich nach wie vor einschränkend aus, dass sich der Monarch (vgl. Abschnitt 3.1) das inhaltliche Monopol in einer Reihe von (potentiell konfliktträchtigen) Politikbereichen wie der Religion und der Außenpolitik vorbehält. 4.2 Informelle Aspekte der Interesseneinbindung: der marokkanische Neopatrimonialismus Auf die Bedeutung der Patron-Klient-Logik für den Zusammenhalt in den meisten marok- kanischen politischen Parteien wurde bereits hingewiesen (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Struktur spiegelt letztlich im Kleinen die Einbindung der Parteien in das größere, landesweite Netz der informellen Interessenvermittlung wider, in dessen Zentrum der Monarch steht und für das sich im politischen Vokabular des Landes der Begriff des Makhzen17 eingebürgert hat (vgl. Willis 2002: 14-18; Santucci 2001: 91-92; Moore 1993: 42-43). Dieses Netz gegenseitiger Loyalitäten und Dienste kollidiert im Kern mit der Konzeption der freien Interessenartikulation und -vermittlung an das politische System, wie sie im westlichen Pluralismusverständnis den politischen Parteien zukommt: 17 Der Begriff Makhzen bezeichnet im Arabischen soviel wie „Warenlager“, wovon sich in den europäischen Sprachen magasin und Magazin herleiten. Im traditionellen marokkanischen Sprachgebrauch bezeichnet Makhzen die Verwaltung des Sultans, sowie in der übertragenen Bedeutung die der Zentralgewalt unterworfenen Gebiete im Gegensatz zu den abgelegenen Stammesgebieten, die sich der direkten Herrschaft des Sultans entzogen. Seit der Unabhängigkeit Marokkos bezeichnet der Begriff Makhzen (vgl. Laroui 1977, Waterbury 1970, Moore 1970, Leveau 21985) das informelle, auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Geflecht von Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung sowie Vertreter traditioneller Gruppen wie Stammesvertreter und religiöse Autoritäten, in dessen Zentrum der Monarch steht. 17 „Une des caractéristiques de la société marocaine est que l’intégration idéologique, politique et sociale ne s’accomplit pas à travers les partis [..] ou par l’armée [..], l’Etat monarchique entend réaliser l’unité nationale à travers un modèle d’intégration unique de loyautés différenciées. […]. Ni les acteurs (partis politiques, syndicats, associations) ni les lieux de la représentation (parlement, conseils locaux, colloques nationaux) ne sont suffisamment crédibles, ni suffisamment ancrés dans le social pour constituer des moyens d’agrégation et de transmission de la demande“ (Claisse 1992: 287, 306-307). Die Überzeugung von der Allmacht des Makhzen ist, wenngleich offiziell tabuisiert, immer noch bis weit in die formale politische Klasse hinein wirkungsmächtig. In der bereits erwähnten Untersuchung von Parejo Fernández (1999: 260-275, 330) bejaht ein Drittel der befragten Parlamentarier dass der „Makhzen immer noch Marokko regiert“ und dass es „in Marokko keine Legitimität und Zugang zur Macht außer über den Palast gibt“. Es mag jedoch ein Indiz für die tendenziell zunehmende Autonomie der politischen Parteien sein, dass diese Aussagen bei den jüngeren Abgeordneten auf relativ geringere Zustimmung stießen. Wir können nicht per se von der Inkompatibilität zwischen den informellneopatrimonialen Strukturen und den politischen Parteien ausgehen. So bestand per definitionem eine besonders enge Verbindung zwischen dem Makhzen und den „Palastparteien“ (vgl. Santucci 2001: 85; Leveau 1998: 14). Sehimi belegte anhand seiner Untersuchung der Kandidaturen bei den Wahlen zur Repräsentantenkammer von 1984, dass die dem Palast nahestehenden Parteien PND, RNI, MP, UC, aber auch der bis 1997 in der Opposition stehende PI, durch ihren hohen Anteil von Beamten (ohne Lehrer und Universitätsprofessoren) deutlich besser in die Verwaltung integriert waren als etwa die Kandidaten der USFP und der kleineren Linksparteien OADP und PPS (Sehimi 1986; zit. in: De Mas 1991: 82-84; vgl. auch Santucci 1991, 2001; Parejo Fernández 1999). Die „Verwaltungsparteien“ banden jeweils spezifische Eliten und (über deren klientelistische Verflechtungen) Wählergruppen an den Palast. So waren unter den Kandidaten von PND, RNI und MP die in der Landwirtschaft (d.h. v.a. als Großgrundbesitzer) tätigen Kandidaten gemessen am Parteiendurchschnitt überrepräsentiert. Als das eindrücklichste Beispiel dieser (gelenkten) Integrationsfunktion politischer Parteien kann immer noch der landesweite Erfolg der UC bei den Kommunalwahlen 1983 (wenige Monate nach seiner Gründung) und den Parlamentswahlen 1984 als Sammlungsbewegung der jungen Verwaltungskader gelten (vgl. Willis 2002: 14; Moore 1993). Ebenso wiesen sowohl die (bis 1997) regierungsnahe UC wie der PI eine Überrepräsentierung von freien Berufen auf. Diese Befunde aus den 1980er Jahren gelten im wesentlichen auch noch für die 1990er Jahre (vgl. Parejo Fernández 1999; Santucci 2001: 71). Die Monarchie kam jedoch seit den 1970er Jahren nicht umhin, im Zuge der „union nationale“ auch den Oppositionsparteien im Austausch gegen Loyalität einen gewissen Grad an 18 kontrollierter Partizipation und Zugang zu Pfründen und Einfluss im neopatrimonialen Makhzen-System zu gewähren. So ist die Bildung der Regierung der alternance 1998 nicht von der sukzessiven Integration der (ehemaligen) Oppositionsparteien USFP und PI in das neopatrimonial organisierte marokkanische Herrschaftszentrum zu trennen (vgl. Santucci 2001; Daoud 1997). Aufgrund ihrer engen Verzahnung mit dem Staatsapparat hat Santucci (2001: 96, s. auch Djaziri 1997: 439-440) die marokkanischen Parteien in Anlehnung an Katz/Mair (1995) prägnant als „Kartellparteien“ bezeichnet, denn „(l)eur organisation [..] [est] commandée moins par leur lien avec la société civile que par leur déplacement vers l’Etat dont ils retirent une part de leur financement [..]“. Tatsächlich verfügen wir jedoch kaum über präzise und systematischen Informationen darüber, wie genau die Einbindung der politischen Parteien in das neopatrimoniale Makhzen-System erfolgt. Nach der erwähnten Befragung von Parejo Fernández (1999) bezeichneten sich immerhin 15% der befragten Parlamentarier selbst als Teil des Makhzen. Dies galt erwartungsgemäß relativ häufiger für Vertreter der traditionellen „Verwaltungsparteien“ RNI, PND, Mouvement National Populaire/MNP und MP. Jedoch vermutet Willis (2002: 10), dass die meisten marokkanischen Parteien heute über ein oder mehrere zentrale Führungspersonen verfügen, die engen Kontakt zum Führungskreis des Königreiches sowie zum Innenministerium halten. Der Hinweis auf Tesslers Interpretationsschema vom „konzentrischen Aufbau“ der marokkanischen Elite mag eine Vorstellung vom „informellen“ Beitrag der marokkanischen Parteien für die Stabilität des politischen Gesamtsystems ermöglichen. Tessler beschrieb die marokkanische politische Elite als eine „Reihe konzentrischer“ Kreise (Tessler 1982: 37-40, vgl. auch Hermassi 1972: 102-104; Marais 1973: 193-195 und Waterbury 1970: 86-90). Der harte Kern des Makhzen rekrutiert sich danach bis heute aus der relativ engen Entourage des Königs, aus hohen Geistlichen, Militärs, Notabeln, Unternehmern und Weggefährten (etwa Studienkollegen) des Königs. Dieser unmittelbaren Umgebung des Palasts schließt sich danach der Kreis der engeren Staatselite von mehreren hundert Personen an, der sich v.a. aus Parteiund Gewerkschaftsführern, sowie Parlamentariern und hohen Beamten zusammensetzt.18 Es zeichnet sich ab, dass die politischen Parteien an der Nahtstelle zwischen diesem inneren und 18 Der folgende, dritte konzentrischen Kreis umfasste nach Tessler Anfang der 1980er Jahre ca. 700 Personen, die die Stützen des Staates in ländlichen Regionen, Armeeangehörige sowie durch ihre herausragende Stellung in der Gesellschaft (etwa religiöse Würdenträger und Geschäftsleute) darstellen. Gerade in der ersten Kategorie finden sich nach Tessler viele Vertreter der politischen Parteien mit starker ländlicher Verankerung. Auch im letzten „konzentrischen Kreis“ auf der lokalen Ebene bildeten „party officials at the grassroots level“ sowie Parlamentarier, die mit einer starken Position in ihrem Wahlkreis, einen wichtigen Teil der lokalen und ländlichen Unterelite. 19 dem äußeren Kreis des neopatrimonialen Herrschaftssystems durchaus eine bedeutende Relaisfunktion übernehmen. So bleibt festzuhalten, dass sich die politischen Parteien in Marokko gerade deshalb zu kontinuierlichen Akteuren in der marokkanischen politischen Landschaft entwickeln konnten, weil sie selbst Teil, bzw. eine Erscheinungsform des informellen Interessenausgleichs im marokkanischen politischen System wurden (vgl. Moore 1993: 44-49; Sehimi 1991: 226). Im Hinblick auf die gestiegene Rolle der politischen Parteien seit den 1980er Jahren bringt es diese enge Verquickung mit dem Staat heute mit sich, dass die Parteien v.a. als Teil des staatlichen informellen Machtapparats wahrgenommen werden. Gerade weil die politischen Parteien über Jahrzehnte gewohnt waren, sich auf das Spiel des neopatrimonialen Systems einzulassen, fehlt ihnen heute der Reflex, sich eigenständig und auf der Basis einer Programmatik um Wählerstimmen zu bemühen (vgl. Maghraoui 2001). 4.3 Marokkanische Parteien und Wahlen Wahlen stellen nach der westlich-liberalen Theorie idealtypisch den Anlass dar, bei dem die politischen Parteien, gestützt auf ein Programm um das Mandat des Wählers werben. Formal pluralistische Wahlen und ein pluralistisch zusammengesetztes Parlament gehören seit der Unabhängigkeit fest zum marokkanischen politischen System. Der autoritären Kontext, in dem Wahlen seit der marokkanischen Unabhängigkeit stattfanden, die Schaffung von „Palastparteien“ ohne programmatisches Profil und Rückhalt in der Bevölkerung, das Wahlsystem und nicht zuletzt der kontinuierliche Wahlbetrug haben jedoch in Marokko über Jahrzehnte mit verhindert, dass sich die politischen Parteien im Kontext von Wahlen als effektive Organe der Interessenorganisation und –aggregation etablieren konnten (vgl. stellvertretend: Daoud 1997: 117; López Garcia 1992: 257; Santucci 2001: 87). 4.3.1 Der autoritäre Kontext: der „manipulierte Pluralismus“ Mit der 1959 vollzogenen Sezession der UNFP, dem Vorläufer der heutigen Regierungspartei USFP vom PI initiierte der Monarch eine bis in die 1990er Jahre beibehaltene Strategie, zur Stärkung der eigenen Position die vorhandenen Rivalitäten unter den Parteien zu schüren (vgl. u.a. Willis 2002: 7-8). Als eine weitere, bis heute wiederholt angewandte Strategie des Machterhalts, förderte der Monarch 1958 gezielt die Gründung des auf dem Land stark verankerten MP als Gegengewicht zu den (städtischen) Parteien der Unabhängigkeitsbewegung. Der MP begrenzte im Parlament von 1963-65 in einer Koalition mit anderen kleineren Parteien den Einfluss von PI und UNFP. 20 Im Zuge der Erneuerung des Wahlprozesses seit den 1970er Jahren schuf der Palast systematisch neue Parteien. So initiierte der Palast 1978 die Gründung des RNI als Organisationsplattform für die palasttreuen „Unabhängigen“ in der 1977 gewählten Repräsentantenkammer. Vor den Wahlen von 1984 lancierte der Palast die UC als Vertretung der Industriellen und der neuen Verwaltungseliten (vgl. Sehimi 1991). In diesem Kontext sanktionierte der Monarch in letzter Konsequenz die politischen Parteien in ihrer Rolle als formale Repräsentationsorgane. Während der Monarch bei den Wahlen von 1977 noch die Wahl „unabhängiger Kandidaten“ geförderte hatte, verfügte er vor den Wahlen von 1984, dass Kandidaten in jedem Fall unter dem Etikett einer Parteizugehörigkeit bei den Wahlen anzutreten hätten. Zusätzlich zur Regulierung des „Parteiangebots“ bei Wahlen nahm die Verwaltung seit den 1970er Jahren und bis heute auf verschiedenste Weise (Einschüchterung von Kandidaten, Manipulationen der Wählerregister, direkte Fälschung von Wahlergebnissen) auf den Ausgang der Wahlen Einfluss. Dabei profitierten zunächst v.a. die „Verwaltungsparteien“ von den Manipulationen der Verwaltung. Zusätzlich profitierten aber auch wechselseitig die Oppositionsparteien (1977: PI, 1984: USFP) von der „Förderung“ durch das Innenministerium, solange sie innenpolitisch die Hegemonie der Monarchie anerkannten. Selbst eine Partei wie die 1983 gegründete, formal linksextreme OADP erlangte 1984 ein Mandat, als sie sich hinter die Westsaharapolitik des König stellte (vgl. López Garcia 1992). In den 1990er Jahren trat das bislang dominierende Ziel der Eindämmung der Oppositionsparteien durch die „Palastparteien“ in den Hintergrund. Dagegen strebte Hassan II. nunmehr die Bildung eines „gouvernement d’alternance“ an, d.h. einer Koalitionsregierung unter Einschluss der Oppositionsparteien, die sich 1992 im sog. „demokratischen Block“ (Al-Kutla ad-Dimuqratiya) zusammengeschlossen hatten. Für die Wahlen von 1993 und 1997 kann man insgesamt von einem geringeren Grad der Beeinflussung ausgehen (vgl. stellvertretend Catusse 2000, Daoud 1997, Santucci 2001). Dennoch wurde die Regierungsübernahme durch die bisherige Opposition, wie in der Vergangenheit, letztlich durch das „‚savoir-faire’ électoral de l’administration“ (Santucci 2001: 72) sowie eine Reihe von, mehr oder weniger vom Palast unterstützten Parteiabspaltungen und -neugründungen ermöglicht. So spaltete sich 1991 der MNP vom MP ab, 1996 seinerseits der Mouvement Démocratique et Social/MDS vom MNP. Ebenfalls 1996 spalteten sich der PSD von der OADP und der Front des Forces Démocratiques/FFD vom PPS ab. Mit dem Ziel einer späteren Koalitionsbildung strebte der Palast seit 1996 die Bildung eines zentristischen Blocks (um RNI, MNP und FFD) als Scharnier zwischen der Kutla und dem rechtskonservativen Wifaq-Bündnis um UC, PND und MP an (vgl. Daoud 1997). Die extreme Zersplit- 21 terung des Parteiensystems sicherte dem Palast die zentrale Vermittlerfunktion bei der langwierigen Bildung des gouvernement d’alternance unter Abderrahman Youssoufi (vgl. Leveau 1998: 14; Daoud 1997; 1998; Santucci 2001).19 Um die Islamisten in das legale Parteiensystem zu integrieren, erhielt zugleich die gemäßigt islamistische Gruppierung At-Tawhid wa Al-Islah von Abdellilah Benkirane die Möglichkeit, dem MPDC, einer Abspaltung des MP von 1967, beizutreten (vgl. stellvertretend: Leveau 1998: 14-15). Nach den Wahlen von 1997 war der MPDC (seit 1999: PJD) mit zwölf Abgeordneten im Parlament vertreten. Bei den Wahlen vom 27.9.02 wurde der PJD mit nunmehr 42 Mandaten hinter USFP und PI drittstärkste Partei. Zugleich verwehrt das Innenministerium der islamistischen Gruppe Al-cAdl wa-l’Ihsan („Gerechtigkeit und Wohlfahrt“) von Scheich Abdessalam Yassine bis heute die Legalisierung. 4.3.2 Wahlsystem und Parteiensystem Auch die kontinuierliche Einschränkung des direkten Wahlrechts beschnitten seit den ersten Parlamentswahlen von 1963 die Möglichkeiten der politischen Parteien, im Kontext eines freien, parteilich geprägten und auf nationaler Ebene organisierten Wahlwettbewerbs eine bessere Anbindung an die marokkanische Gesellschaft zu erlangen. 1970 wurden zwei Drittel und bei den folgenden Wahlen von 1977, 1984 und 1993 jeweils ein Drittel der Abgeordneten in der Repräsentantenkammer (Majlis an-Nuwwâb) in indirekter Wahl gewählt. Bei den Wahlen 1997 und 2002 wurde zwar (wie 1963) die gesamte Repräsentantenkammer direkt gewählt und damit eine zentrale Forderung der Oppositionsparteien erfüllt. Im Gegenzug stellte jedoch die Verfassung von 1996 der Repräsentantenkammer, wie bereits 1963, die indirekte gewählte, mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattete Rätekammer (Majlis al-Mustasharîn) zur Seite. Die turnusgemäße Erneuerung eines Drittels der Rätekammer alle drei Jahre (bzw. des indirekt gewählten Anteils der Abgeordneten in der Repräsentantenkammer bei den Wahlen 1970-1993) obliegt verschiedenen Wahlmännerkollegien von kommunalen Abgeordneten, berufsständischen Vereinigungen und Arbeitnehmervertretungen. Durch die Überrepräsentierung des ländlichen Raumes (vgl. Nohlen 32000: 77-80) und die Vertretung berufsständischer Organisationen ist der Wahlkörper bei den indirekten Wahlen zur Rätekammer strukturell konservativer als die Gesamtbevölkerung. 19 Diese Zersplitterung der Parteienlandschaft wurde in der Literatur auch mit der deutlichen Ausweitung der staatlichen Parteienfinanzierung im Kontext der Wahlen in Verbindung gebracht (vgl. Daoud 1997: 114). 22 Auf Druck des Palasts kandidierten parallel zu den direkten Wahlen seit 1984 auch bei den indirekten Wahlen in den Wahlmännerkollegien (Listenwahl, Proporz) die meisten Kandidaten formal auf Parteilisten (insbesondere der palastnahen Parteien UC, PND, RNI und MP).20 Zugleich verfügen die politischen Parteien jedoch auf der Ebene der Provinzen und der Berufsverbände über eine noch geringere Organisationskapazität als auf der nationalen Ebene. Noch weniger als auf nationaler Ebene entscheiden hier das Parteilabel, sondern berufliches Ansehen und der Einfluss des Kandidaten im eigenen Wahlmännerkollegium über den individuellen Wahlerfolg (vgl. Catusse 2000: 61). Dies führte zu einer künstlich aufgesetzten „Verparteilichung“ der indirekten Wahlen – mit z.T. kritischen Resultaten. In den 1990er Jahren ließen sich Kandidaten ihre Kandidatur auf bestimmten Parteilisten in den Wahlmännerkollegien in zunehmendem Maße von den Parteien bezahlen – eine Praxis, die in den relativ freien marokkanischen Medien in den 1990er Jahren regelmäßig angeprangert wurde und weiter zur Diskeditierung der politischen Parteien beitrug.21 Als zweiten, „parteienschwächenden“ Aspekt des marokkanischen Wahlsystems muss man seit der Unabhängigkeit die für die Direktwahl der Abgeordneten angewandte relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen hervorheben (vgl. stellvertretend Sehimi 1991; Santucci 1991, 2001: 87). Die Wahlentscheidung für einen einzelnen Kandidaten je Wahlkreis (scrutin uninominal) wurde in Entwicklungsländern oft mit dem Argument der Einfachheit der Wahl begründet. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Kandidat und Partei ist aber auch hervorzuheben, dass dieser Wahlmodus tendenziell die Autonomie des einzelnen Abgeordneten gegenüber einer Parteiorganisation steigert und zur Zementierung traditioneller Gesellschaftsstrukturen beitragen kann (vgl. Nohlen 32000; Nohlen et al. 1999). Mohammed V. setzte die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen Ende der 1950er Jahre gegen den Wiederstand von PI und UNFP mit dem Ziel durch, auf Kosten der national organisierten Parteien einzelne ländliche Notabeln und Unabhängige zu stützen. In den folgenden Jahrzehnten erleichterte der Wahlmodus die Manipulation der Wahlen. Seit den 1970er Jahren richteten sich auch die Oppositionsparteien in diesem Wahlsystem ein, in dem sie ihre Mandate v.a. aufgrund des verwaltungsinternen „Quotensystems“ bekamen (vgl. Chambergeat 1961; El Mossadeq 1987; Sehimi 1991; López Garcia 1992). 20 Lediglich in den Arbeitnehmervertretungen kandidierten einzelne Gewerkschaftslisten. Auf diesen Listen gewählte Abgeordnete stellten in den Einkammer-Parlamenten von 1984 und 1993 1,6% bzw. 0,9%, in der 1997 gewählten Rätekammer 10% der Mandatsträger (vgl. Montabes Pereira/Parejo Fernández 1999). 21 Ein Bericht in der Zeitung L’Opinion (15.9.00) kritisierte, dass anlässlich der turnusmäßigen Erneuerung eines Drittels der Rätekammer am 15.9.00 eine Reihe von Kandidaten ihre formale Parteizugehörigkeit wechselten. 23 Es bleibt abzuwarten, ob die Listenwahl in kleinen Wahlkreisen mit nationaler Zusatzliste, wie sie im Vorfeld der Parlamentswahlen 2002 u.a. mit dem Argument eingeführt wurde, die Parteistrukturen zu stärken, auf Dauer den Reformdruck innerhalb der politischen Parteien erhöhen wird (vgl. Chahir 2002). Nach der bereits zitierten Umfrage in Maroc Hebdo International (s. Fußnote 8) ließen sich bei den Wahlen von 1997 noch mehr als zwei Drittel der Befragten bei ihrer Wahlentscheidung vom Vertrauen in einen bestimmten Kandidaten leiten. Nach der gleichen Umfrage soll dies für die kommenden Wahlen nur noch für 57,2% derjenigen gelten, die beabsichtigen zu wählen. Es liegt an den Parteien, diese sinkende Bindung der Wähler an den einzelnen Abgeordneten durch eine wachsende Parteiloyalität aufzufangen. 4.4 Die marokkanischen Parteien in der Regierung Nach der westlich-liberalen Theorie gehört die Bildung von Regierungen, neben den Auf- gaben der Interessenartikulation und -aggregation, sowie der Elitenrekrutierung zu den ureigensten Aufgabenfeldern der politischen Parteien (vgl. u.a. Beyme 21984). Im Unterschied zu den politischen Parteien in den meisten anderen Ländern der arabischen Welt verfügen die politischen Parteien in Marokko sowohl auf lokaler wie auf nationaler Ebene formal seit der Unabhängigkeit des Landes über Regierungsverantwortung. Zugleich oblag seit der Unabhängigkeit nach Verfassung und Verfassungsrealität allein dem König die Ernennung der Regierung. Dabei spiegelten sich in der Kabinettszusammensetzung nicht unbedingt parlamentarische Mehrheiten wider (vgl. Montabes Pereira/Parejo Fernández 1999: 624). Von den bislang 15 Regierungschefs seit der Unabhängigkeit Marokkos waren lediglich 5 formal parteilich gebunden.22 Davon wurden zwei Premiers, Ahmed Osman und Maâti Bouabid, 1978 bzw. 1983 erst in ihrer Eigenschaft als Regierungschefs Führer der „lancierten“ Mehrheitsparteien RNI bzw. UC. In der Kabinettszusammensetzung schlug sich so eher nieder, welche „symbolische“ Vertretung der Palast den politischen Parteien in der Regierung zugestand (vgl. Cubertafond 1999: 173). Entsprechend ihrer Einbindung in das neopatrimoniale Makhzen-System (vgl. Abschnitt 4.2) hatten die politischen Oppositionsparteien ihrerseits ein vitales Interesse an einer Regierungsbeteiligung, unterstrich diese doch formal ihre innenpolitische Bedeutung: 22 Unter den 15 Regierungschefs zählt der Verfasser Mohammed V. (Premier 1960-1961) und Hassan II. (Premier 1961-1963, 1965-1967) mit. Eine formale parteiliche Bindung wiesen auf: Ahmed Balafrej (PI, Premier 1958), Abdallah Ibrahim (PI bzw. später UNFP, Premier 1958-1960), Ahmed Osman (ab 1978 RNI, Premier 1972-1979), Maâti Bouabid (ab 1983 UC, Premier 1979-1983) und Abderrahman Youssoufi (USFP, Premier 1998-2002). 24 „In a system in which legitimacy is attached to cooperation between monarchy and the nationalist movement, association in government increases the attractiveness of the party to its constituents (and vice versa, as demonstrated popularity increases the party’s claim on association in government) (Zartman 1990: 225).“ In den ersten Regierungen nach der Unabhängigkeit (1956-1963) teilten sich in aller Regel verschiedene Vertreter von PI, UNFP, MP und weiteren kleineren Parteien mit Vertrauten des Königs die Kabinettsposten. In der zweiten Hälfte der 1960er und frühen 1970er Jahren standen die politischen Parteien dagegen in Fundamentalopposition zu den TechnokratenKabinetten, jener Zeit. Im Zuge der begrenzten Öffnung des politischen Systems erging 1976 die Einladung an den PI in die Regierung einzutreten, der sie von 1976-1985 mit kurzen Unterbrechungen angehörte. Die USFP bildete, abgesehen von ihrer Präsenz in den Übergangskabinetten vor den Wahlen von 1977 und 1984 die „loyale Opposition“ (Zartman 1990: 227). Durch das Übergewicht des 1978 als formale Plattform „unabhängiger“ Parlamentarier gegründeten RNI sowie die Anwesenheit der PI-Vertreter in den Regierungen seit 1978 erreichte der Anteil der parteilich gebundenen Minister in den marokkanischen Kabinetten am Ende der 1970er Jahre formal einen ersten Höhepunkt. Abbildung 2 verdeutlicht die folgende „départisation“ (Sehimi 1992: 220-222; vgl. ebenso Saaf 1991: 80-81; Santucci 2001: 41) der Regierungsmannschaften im Verlauf der 1980er Jahre. Dies hing sowohl mit dem Austritt des PI aus der Regierung, wie auch mit der zunehmenden Verdrängung der „Palastparteien“ aus der Regierung zusammen. Anstelle der parteilichen Zugehörigkeit entschied nunmehr in erster Linie die Nähe zum König, gepaart mit technokratischem Fachwissen über die Regierungszugehörigkeit. Die wenigen parteilich gebundenen Minister (zumeist UC, RNI, PND und MP) in der Regierung waren in jener Zeit in ihren eigenen Parteien „eher Hinterbänkler“. Sie standen in der Regel kleineren Ressorts vor und hatten sich den Direktiven aus den (mit Vertrauensleuten des Königs besetzten) Schlüsselministerien zu beugen (Sehimi 1992: 220222; Santucci 2001: 42). Im Durchschnitt der 1990er Jahre stieg der Anteil an „parteilich gebundenen“ Ministern erneut an und erreichte mit dem Antritt des gouvernement d’alternance im Februar 1998 einen neuen Höhepunkt (vgl. Abbildung 2). Wie in der Vergangenheit spiegelte der Regierungswechsel von 1998 nicht in erster Linie geänderte Mehrheitsverhältnisse in der Repräsentantenkammer wieder, sondern den seit 1993 erklärten Willen Hassans II., unter Einbindung der bisherigen Oppositionsparteien eine Regierung der alternance zu bilden (vgl. Garçon 2000: 27). Die Bildung der Koalitionsregierung aus den ehemaligen Oppositionsparteien PI und USFP und der „alten Palastpartei“ RNI sowie MNP, FFD, PPS und PSD war nicht denkbar ohne das vermittelnde Eingreifen des Monarchen (vgl. Leveau 1998: 14). Wie in der Ver- 25 gangenheit besetzte der König auch in der neuen Regierung die Ressorts Inneres, Äußeres und Religiöse Angelegenheiten mit parteilosen Vertrauten.23 Abbildung 2: Prozentanteile von parteilich gebundenen und nichtgebundenen Ministern in den marokkanischen Regierungen für ausgewählte Jahre, 1978-2002 (Prozentanteile der parteilich gebundenen und parteilosen Minister jeweils zum 31.12. eines Jahres) 100 80 60 40 parteilich gebunden 20 "Technokraten" 19 78 19 81 19 85 19 88 19 90 19 92 19 96 19 98 20 00 20 02 0 Eigene Darstellung basierend auf: NOJ 1987-2000; für 1998/1999: Santucci 2001: 111; für 1977, 1981 und 1985: Sehimi 1992: 220-222. In der in- und ausländischen Presse wurde verschiedentlich der „amateurisme“ (Tuquoi 1999) der Regierung Youssoufi darauf zurückgeführt, dass die Verteilung der Ministerposten und der Zuschnitt einzelner Ressorts in erster Linie der Logik der Koalitionsarithmetik zu schulden war (vgl. stellvertretend Daoud 1998, 1999; Dalle 2001: 15, Ghiles 2001: 14). Hieraus resultierte die extrem heterogene Zusammensetzung der Regierung – nicht weniger als sieben Parteien (USFP, PI, RNI, FFD, MNP, PSD, PPS) stellten Minister – sowie die teils unklaren Ressortabgrenzungen.24 Nach der bereits erwähnten Umfrage in Maroc Hebdo International (vgl. Fußnote 8) führten mehr als 48% der Befragten das Versagen der Regierung insbesondere in der Sozialpolitik auf den „Mangel an qualifizierten und effizienten Fachkräften in der Regierung“ zurück. Verschiedentlich wurde die Forderung erhoben, mehr „technocrates colorés“, d.h. „Technokraten mit (parteilicher) Färbung“ auf Regierungsposten zu in- 23 Unter dem neuen König Mohammed VI. wurde zwar die Entlassung des langjährigen Innenministers Driss Basri (9.11.99) als ein wichtiges Signal der Öffnung gewertet. Doch zugleich war es selbstverständlich, dass in der Folge mit Ahmed Midaoui und Driss Jettou (19.9.01) erneut parteilose Vertrauensleute des Königs in das Ressort Inneres berufen wurden (vgl. Garçon 2000: 30). 24 Zu den Schwerfälligkeiten innerhalb der Regierung Youssoufi vgl. Tuquoi 1999, Dalle 2001, Leveau 1998: 15. Nach François Soudan (in: Jeune Afrique/L’intelligent, Nr. 2064, 1.-7.8.00; 67) sind etwa insgesamt fünf Ministerien mit Bildungsfragen befasst. Auch in der Wirtschaftspolitik wird die Forderung nach einem „Superminister“ erhoben, der die Ministerien der Finanzen und der Wirtschaft gemeinsam unter seiner Ägide vereint (vgl. Rochebrune 2000: 78, Ghiles 2001: 14). 26 stallieren (so die Forderung eines Vertreters der Arbeitgeberorganisation CGEM; Rochebrune 2000: 78). Die letzten Kabinettsumbildungen tragen dieser Kritik an der „Regierungsfähigkeit“ der politischen Parteien Rechnung. Bereits am 6.9.2000 reduzierte Mohammed VI. den Kabinettsumfang deutlich von 41 auf 33 Posten. Der Anteil der parteilich gebundenen Minister sank dabei gegenüber 1998 von 85,4% auf 75,8%. In der Regierungsmannschaft unter Driss Jettou die nach dem Wahlen vom 27.9.02 am 7.11.02 eingesetzt wurde, blieb bei vergrößertem Kabinettsumfang (39 Posten) das zahlenmäßige Verhältnis zwischen drei Vierteln parteilich gebundener Minister gegenüber einem Viertel Technokraten gewahrt. 5 Resümee: Chancen und Risiken auf dem Weg zu einer besseren gesellschaftlichen Anbindung der Parteien Marokko wurde in den letzten Jahren als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für eine durchgreifende Demokratisierung in der arabischen Welt gehandelt. Als ein Faktor, der die Chancen auf Demokratisierung erhöhe, wird dabei zumeist auf die gewachsenen Kultur des Parteienpluralismus in Marokko genannt (vgl. stellvertretend: Bendourou 1996: 119; Baaklini et al. 1999: 111). Mit Blick auf die etablierten Ansätze der akteurstheoretischen Demokratisierungsforschung (vgl. stellvertretend: Merkel 1994; Przeworski 1992) wollten (übermäßig) optimistische Beobachter daher in der politischen Öffnung Marokkos in den 1990er Jahren gar Ansätze einer paktierten Transition sehen (vgl. Baaklini et al. 1999; 110-132, kritisch hierzu El Mossadeq 1998; Leveau 1998). Tatsächlich hat die Regierungsübernahme durch die bisherigen Oppositionsparteien am 14.3.98 weder die hegemoniale Stellung des Königs erschüttert, noch trat die Regierung Youssoufi 1998 ihr Amt nach einem deutlichen Wahlsieg an. Dennoch bietet die stark konsensuelle alternance durchaus die Option auf eine stärkere Rolle der politischen Parteien in der Zukunft. Der späte Hassan II. (gest. 1999) machte die politischen Parteien auch im Hinblick auf einen möglicherweise anstehenden (und 1996 erfolgten) Thronwechsel zu einem – wenn auch untergeordneten Partner – im Prozess einer politischen Öffnung, die ihre Legitimität stark über Wahlen (vgl. Abschnitt 4.3) und die Beteiligung der bisherigen Oppositionsparteien an der Regierung bezog (vgl. Abschnitt 4.4). Im Sinne einer größeren Glaubwürdigkeit dieser Öffnungspolitik ist dieser Prozess nicht ohne einen impliziten Kompetenztransfer hin zu den politischen Parteien denkbar (Cubertafond 1999: 187). 27 Auch das in den 1990er Jahren verbesserte institutionelle Umfeld bietet heute einen günstigeren Rahmen für eine bessere Verankerung der politischen Parteien, als dies in der Vergangenheit der Fall war (vgl. Kapitel 4). Hier ist insbesondere die gestiegene Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament seit der Verfassungsreform von 1992 zu nennen. Seit den Wahlen von 1998 ist die Regierung darüber hinaus stärker als bisher an die parlamentarische Mehrheit gebunden und die Praxis in der 2002 gewählten Legislative könnten langfristig die Parlamentarisierung der politischen Systems weiter vorantreiben. Auch die Einführung der Listenwahl in kleinen Wahlkreisen mit nationaler Zusatzliste, wie sie im Vorfeld der Parlamentswahlen 2002 eingeführt wurde, könnte den Reformdruck innerhalb der politischen Parteien im Sinne einer Stärkung der Parteistrukturen erhöhen. Zuletzt stellt die zunehmende Auflösung der traditionellen gesellschaftlichen Bindungen auf Dauer nicht nur (wie in Abschnitt 2.2 festgehalten) eine Gefahr für die Mitgliederbasis der politischen Parteien dar. Vielmehr stellt die mögliche stärkere Trennung zwischen Gesellschaft und politischem System auch eine Chance für eine größere Bedeutung der politischen Parteien als Instanzen der Interessenartikulation und -aggregation dar (vgl. Moore 1993: 43; Santucci 2001: 92-93). In ähnlicher Weise wurde auch argumentiert, dass die fortdauernde wirtschaftliche Privatisierungspolitik und Liberalisierung auf Dauer die Ressourcen des Makhzen-Systems beschneiden könnte, über die Allokation von materiellen Vorteilen politische Parteien an sich zu binden. Ebenso könnte sich der Druck auf die Parteien erhöhen, die Wähler eher über die Programmatik, denn über Stimmenkauf anzusprechen (vgl. Willis 2002: 19; Moore 1993: 66). Hierzu kommen die politischen Parteien jedoch nicht darum herum, bestimmte gesellschaftliche Konfliktlinien (etwa Laizismus vs. Islamismus, soziale Sicherung vs. wirtschaftliche Modernisierung) besser inhaltlich zu besetzen, um in der öffentlichen Meinung an Profil zu gewinnen. Auf der organisatorischen Ebene sind ebenfalls mutige Reformen unerlässlich (vgl. stellvertretend: Leveau 1998: 14; Jamai 2001; NDI 1997; Maghraoui 2001: 81). 28 6 Literatur AbuKhalil, As‘ad (1997); „Change and Democratization in the Arab World“: the Role of Political Parties“; in: Third World Quarterly 18, 1; S. 149-163 Alaoui, Abdelali Darif (2001); „Sondage sur les Marocains et la politique. Désintéressement total“; in: Maroc Hebdo International 488 (30.11.-6.12.01); S. 5 Almond, Gabriel/Sidney Verba (1963); The Civic Culture; Princeton: Princeton University Press Baaklini, Abdo/Guilain Denœux/Robert Springborg (1999); Legislative Politics in the Arab World. The Resurgence of Democratic Institutions; Boulder, CO/London: Lynne Rienner Bendel, Petra/Florian Grotz (2001); „Parteiensysteme und Demokratisierung. 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Jüngst erschienen: AP (12/2002) AP (7/2002) AP (4/2002) AP (11/2001) AP (3/2001) Die Gemeinschaftsverbundenheit formaler und informeller Politik – Über die Implikationen von Rechtsgemeinschaft und politischer Vergemeinschaftung für die Entstehung von Parteienpluralismus in der außereuropäischen Welt Paul Georg Geiss Tansania: Informelle und formelle gesellschaftliche Verankerung politischer Parteien in Afrika Gero Erdmann Die gesellschaftliche Verankerung politischer Parteien in Südkorea Patrick Köllner Die Sahel- und Sahara-Staatengemeinschaft (SinSad): Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung, Konfliktvermittlung und regionalen Interessensicherung Hanspeter Mattes Gewaltsame Konflikte in Nordafrika / Nahost: analytische Defizite, schwierige Früherkennung und limitierte Interventionsmöglichkeiten Sigrid Faath / Hanspeter Mattes Generell wird die Forschungsarbeit des Deutschen Übersee-Instituts, soweit sinnvoll und möglich, zu Forschungsschwerpunkten verdichtet. Dabei stehen Aktualität, regionale und überregionale Relevanz und Forschungsbreite grundsätzlich vor langfristigen und theoretisch abstrahierenden Spezial- und Generalanalysen. Aktuell existieren folgende Forschungsgruppen: 1. Globalisierung, soziale Entwicklung und der Gesundheitssektor: nationale Politiken und „Global Governance“ 2. Parteien im Spannungsfeld informaler und informeller Politik 3. Krisenprävention und peace-building 4. Neuer Regionalismus Nähere Informationen über die Forschungsarbeit des Deutschen Übersee-Instituts erhalten Sie in unserem Online-Angebot. Dort sind die Arbeitspapiere vollständig online gestellt und können kostenfrei als Printausgabe ebenso bestellt werden wie alle anderen entgeltlichen Publikationen des Forschungsverbundes. Der Verbund Deutsches Übersee-Institut betreibt anwendungsorientierte Forschung, Beratung und Dokumentation auf dem Gebiet der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und des Nahen und Mittleren Ostens sowie der Nord-Süd- und Süd-SüdBeziehungen. Das DÜI umfasst das Institut für Afrika-Kunde, Institut für Asienkunde, Institut für Iberoamerika-Kunde, Deutsches Orient-Institut, Institut für Allgemeine Überseeforschung sowie die Übersee-Dokumentation. D EU TSCHES ÜBER SE E -IN S TI TU T Neuer Jungfernstieg 21 · 20354 Hamburg Telefon +49 (0)40 42825-593 · Fax +49 (0)40 42825-547 · Email: [email protected]