ADHS und Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen: (wie) passt das zusammen? OA Dr. M. Fuchs Univ. Klinik f. Kinder- und Jugendpsychiatrie Department für Psychiatrie und Psychotherapie kurze Vorstellung… • OA Dr. Martin Fuchs – Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie – Pychotherapeutische Medizin in Ausbildung (Systemische Familientherapie) • Arbeitsplatz: Medizinische Universität Innsbruck, Univ. Klinik f. Kinder- und Jugendpsychiatrie • Klinik: OA Station B, OA Ambulanz • Forschung: Epidemiologie, PS • Lehre: MUI, AZW (Pflegeberufe), Pädagogische Hochschule Tirol • Partnerschaft, 1 Tochter, 1 Sohn [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS und Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter ? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Ziel und Gliederung • Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen – Situation aktuell (DSM-5) – Wrap-up des bisher gehörten • ADHS bei Jugendlichen – Situation aktuell (DSM-5) • ADHS und PS – Gemeinsames Vorkommen? – Neurobiologie: „common ground“? • Implikationen für Diagnostik und Behandlung [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Fallbeispiel • Weibl. Jugendliche • Rez. Suizidale Krisen, zuletzt mehrere Kurzaufenthalte, auch im Unterbringungsbereich • Aufenthalt in therapeutischer WG • Somatisch und hirnorganisch keine path. Befunde • Neurokognitive Leistungsdiagnostik: oberer Durchschnittsbereich – Gymnasium abgebrochen – Derzeit kein Ausbildungsverhältnis [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Fallbeispiel • Klinische Symptomatik: – – – – – – – – – – • Mass. SV an beiden UA und OS (Rasierklingen, Zigaretten) Ritualisierte SV zum Spannungsabbau (vorher Duschen, besondere Musik) 2 Suizidversuche, chron. Suizidgedanken ohne Konkretisierung Hochgradige Affektlabilität, Affektregulation kaum möglich Gefühle von innerer Leere Identitätsstörung: ausgeprägt instabiles Selbstbild, wenige rasch wechselnde Ziele Depressive Episoden mit Anhedonie, soz. Rückzug, Antriebsminderung On/off-Beziehung mit jungem Mann Cannabis-Konsum zum Spannungsabbau Wutausbrüche, verlässt Visitengespäche schreiend Beginn d. Symptomatik m. 13 Jahren [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Fallbeispiel • 16-jährige junge Frau mit dem Vollbild einer Borderline-PS • Bestätigung durch SKID-II, AIDA • Erster Kontakt mit KJP (mit ähnlich ausgeprägter Klinik!) mit 13 Jahren • 2012 Diagnose: – „F43.2 Depressive Anpassungsstörung mit Borderline Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Fallbeispiel • Ein Leben zeitweise im Minenfeld: – – – – Nähe-Distanz Zurückweisung Intoxikationen Konflikte und Konfliktbewältigung – Partnerschaft – Soziale Bühnen: Arbeitsplatz, Schule, Freundeskreis… [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 „He who must not be named“? • Pat. erfüllt klinisch 9 von den geforderten 9 Kriterien für eine Borderline-PS nach DSM-5, erfüllt auch im korrespondierenden strukturierten klinischen Interview (SKID-II) alle geforderten Kriterien – Symptomatik verursacht mass. Leidensdruck – behindert die Entwicklung • Warum bekommt Pat. mit 13 Jahren die Diagnose „F43.2 Depressive Anpassungsstörung mit Borderline Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ ? • Warum soll man die Störung nicht beim Namen nennen? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Larrivee, Dialogues Clin Neurosci. 2013 Mögliche Erklärung: 2 hartnäckige Mythen • 2 grundlegende Irrtümer verhinderten lange eine vernünftige Diskussion: • Persönlichkeit ist ab dem Erreichen der Volljährigkeit (18. Geburtstag) stabil, nur vorher findet Entwicklung (deshalb Persönlichkeitsentwicklungsstörung) statt, möglicherweise eine Entwicklung „zum guten“ • Eine PS stellt für Betroffene ein lebenslanges „Schicksal“ dar und ist nur sehr eingeschränkt therapier- bzw. veränderbar Schmeck, 2008 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeit • Trait-Merkmale von Persönlichkeit („Big Five“) erst ab dem 4.-6. Lebensjahrzehnt einigermaßen stabil • Wahrscheinlich verändert sich die Persönlichkeit im Schnitt zwischen 20 – 40 Jahren mehr als im Jugendalter • Längsschnittdaten zeigen keinen wesentlichen Anstieg der Stabilität von Persönlichkeit mit dem 16. oder 18. Lebensjahr Specht 2011, Roberts 2006, Asendorpf 2002 • „Persönlichkeit verändert sich im Lauf des Lebens ständig, aber wird mit dem Alter visköser.“ Andrew Chanen, Basel 2014 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Epidemiologie: Verläufe im Längsschnitt • 50% - 70% aller erwachsenen psychiatrischen Patienten weltweit waren im Jugendalter bereits symptomatisch Jones 2013, Copeland 2011, Kessler 2007, Kim-Cohen 2003 • • • Trennung in „KJP-Welt“ und „Erwachsenen-Welt“ mittels 18. Geburtstag macht in Kenntnis epidemiologischer Längsschnittdaten keinen Sinn! Aber: Symptome sind im Längsschnitt häufig wenig stabil („heterotypic continuity“) Besonders Persönlichkeitsstörungen zeigen hohe kurzfristige Stabilität aber geringe Stabilität über längere Zeiträume von bspws. 10 Jahren Schmeck, Schlüter-Müller 2009 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Borderline-PS im Jugendalter • Punktprävalenz im Jugendalter ca. 1,5% Johnson, 2008 • „Heavy User“: 10% aller ambulanten, bis zu 50% der stationären Diagnosen Kaess, 2014 • Diagnosegruppe in KJP mit schlechtestem psychosozialem Outcome und niedrigster Lebensqualität Kaess, 2014 • Diagnostische Stabilität im Jugendalter vergleichbar mit Erwachsenenalter Kaess, 2014 • Natürlicher Verlauf: onset in Pubertät, peak in später Adoleszenz, danach lineare Abnahme Cohen, 2005 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Borderline-PS im Jugendalter • Diagnostische Stabilität bei kategorialer Diagnosestellung nicht sehr hoch: 85% der Erwachsenen „remittieren“ nach 10 Jahren, 99% nach 16 Jahren Gunderson, 2011; Zanarini, 2012 • Aber: negative psychosoziale Auswirkungen bleiben stabil! – „Diagnostic features decline, functional impairment is absolutely flat!“ Andrew Chanen, Basel 2014 • Subklinische Formen sind ähnlich behandlungsbedürftig, werden bei kategorialer Diagnosestellung aber nicht erfasst, dimensionale Modelle wünschenswert Zimmerman 2012, Chanen 2013, Kaess 2014 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Bio-Psycho-Soziales Modell • Neurobiologische Grundrisken: – Heritabilität 40%, Komplexe Genetik, Gen-Umwelt Assoziationen Amad 2014, Kaess 2014 – Stressachse verstellt: abgeschwächte Cortisol-Antwort auf Stress, ähnlich NSSV Kaess 2014 • Psychologische Grundannahmen: – Bindung, Emotions- und Affektregulation, TOM, Mentalisieren Allen & Fonagy 2008 – Psychodynamische Theorien: „strukturelle Störung“ Kernberg 2000 • Umweltfaktoren – Aversive Aufwuchsbedingungen in Kindheit (Bindung stärkerer Prädiktor als Trauma!) Kaess 2013 – Mobbingerfahrung Lereya 2013 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Behandlung • Spezifische Behandlungsansätze: – – – – – TFP: am Kongress AIT: am Kongress MBT: am Kongress DBT HYPE [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Botschaften an die Patienten: Psychoedukation • Deine Erkrankung ist wie eine Welle, die anschwillt, groß und heftig wird, aber nach einer gewissen Zeit wieder verebbt. • So ist der Verlauf bei den allermeisten Menschen mit einer Borderline-PS. • Wir müssen jetzt, wo die Welle heftig und stark ist, gut zusammenarbeiten. • Eine Borderline-PS kann man gut behandeln, aber deine Mithilfe ist entscheidend. [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS im Jugendalter [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS Basics • DSM-5: – Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung – Erkrankung über die gesamte Lebensspanne – Spektrum-Erkrankung • Erste Symptome: – vor dem 12. Lebensjahr (DSM-5), vor dem 7. Lebensjahr (ICD-10) • Prävalenz: – 4,8% in Kindheit und Jugend KiGGS 2007 – 2,5% im Erwachsenenalter Kessler 2006, Bernardi 2012 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Verlauf • Verlauf: – ca. 50-70% der Fälle persistieren ins Jugendalter – Davon persistieren 50-70% der Fälle ins Erwachsenenalter Spröber 2013 • Metaanalyse von follow-up Daten: • – 15% Persistenz in das 25. LJ (alle Kriterien nach DSM-4) – 65% Persistenz in das 25. LJ (Kriterien für „in partieller Remission“) Faraone 2006 Selbst Patienten in partieller Remission zeigen im Vergleich zu Kontrollgruppen schlechteres psychosoziales Outcome im Längsschnitt Faraone 2006 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS Basics • Klassische Symptomtrias: – Unaufmerksamkeit – Hyperaktivität – Impulsivität • Klinische Diagnose, rel. umfangreiche Abklärung • Integratives Bio-Psycho-Soziales Krankheitsmodell – Neurobiologisch determinierte Grundrisken – Soziale Rahmenbedingungen – Lernerfahrungen • Integratives Bio-Psycho-Soziales Behandlungsmodell – Psychotherapie – Psychoedukation – Psychopharmakotherapie [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS: kontroversielle genetische Befunde • Familien, -Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen: – Genetische Heretabilität: 6075% • D.h. die Unterschiede bzgl. ADHS-Kernsymptomatik in untersuchten Stichproben sind zu 60-75% erblich bedingt – Nicht-geteilte Umweltbedingungen: 20-25%: • Hauptrisikofaktoren: niedriges Geburtsgewicht, Rauchen in SS; aber auch Geburtskomplikationen, Inkubator, Beatmung als Säugling, Chirurg. Eingriff als Säugling – Geteilte Umweltbedingungen: <5% Cortese 2012 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS im DSM-5: Neuerungen • „Neurodevelopmental Disorder“ bzw. „Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung“ • Erstmanifestation vor dem 12. Lebensjahr • ASD kein Ausschluss • Erkrankung mit Lebenszeitperspektive: – Kriterien für Erwachsenenwelt beschrieben – Erwachsene und Jugendliche >17 Jahre benötigen weniger Kriterien zum Erfüllen der Diagnose [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS im Jugendalter: Unaufmerksamkeit • chaotische Organisation mit gravierenden Planungs- und Durchführungsproblemen in verschiedenen Lebensbereichen • Schwierigkeiten zuzuhören oder soziale Situationen vollständig zu erfassen • Wiederspruch zum im Jugendalter zunehmenden Autonomiebestreben und dem Wunsch nach Eigenverantwortung • Misserfolge sozial, in Ausbildung, beruflich nach Spröber, 2013 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS im Jugendalter: Hyperaktivität • • Verschiebung der äußeren Hyperaktivität zu einer inneren Unruhe und dem Gefühl, nicht entspannen zu können Sozial verträglichere Formen, um mit motorischer Unruhe umzugehen, wie – Wippen auf einem Stuhl , wiederholtes Klicken eines Kugelschreibers, rhythmisches Bewegen eines Beines • • Techniken zur Selbststimulation, z.B. Smartphone Freizeitaktivitäten und Ausbildungsberufe, die Bedürfnis nach Bewegung befriedigen und dem Vermeiden von Gleichförmigkeit/Ruhe dienen – z. B. risikoreiche Extremsportarten, freiberufliche Tätigkeiten nach Spröber, 2013 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS im Jugendalter: Impulsivität • niedrige Frustrationstoleranz, überschießende Emotionen, plötzliche Wutausbrüche, Sprunghaftigkeit und ausgeprägte Ungeduld • impulsive Entscheidungen: – Beziehung, Sexualität – Drogenkonsum – Ausbildung • „Sensation Seeking“ nach Spröber, 2013 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS: Besonderheiten der Therapie im Jugendalter • • Anspruchsvolle Entwicklungsaufgaben, Eigenverantwortung Autonomiefindung vs. chronische Erkrankung – Infrage Stellen der Diagnose und bisherigen Therapie • • • Selbstmedikation (Cannabis), geringe Motivation zu Abstinenz oder Konsumreduktion Suchtartiges Computer/Videospiel u. Internet-Verhalten Komorbide Phänomene: – Störungen des Sozialverhaltens 40% – Affektive Störungen 50% – Angststörungen 50% – Persönlichkeitsstörungen ?? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS und Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter ? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Wie es lange gesehen wurde: • KJP-Störungen unterscheiden sich von „Erwachsenenerkrankungen“ • Der 18. (oder 16.) Geburtstag ist ein valides Instrument zur Trennung von Lebensabschnitten, die offenbar nichts miteinander zu tun haben • Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung wird frühestens am 18. Geburtstag verliehen, bis dahin hat sich ADHS ausgewachsen [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Paradigmenwechsel im DSM-5 • ADHS wurde zur Erkrankung mit Lebenszeitperspektive • Altersbeschränkung für PS wurde aufgehoben • ADHS (aus klassischer Sicht eine Erkrankung des Kindesalters) und PS (aus klassischer Sicht eine „Erwachsenen-Erkrankung“) rücken näher zusammen! • Zusammenhang klinisch und in Forschung schon längst bekannt! [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS + PS: prospektive Längsschnittdaten • 52,1% v. ADHS Patienten (7.-11.LJ) entwickelten PS zwischen 16.-26.LJ – 13,5% BPS (vs. 1,2% KG, OR=13,6) – auch andere PS (paranoid, antisozial, ängstlich vermeidend) – Rate bei den Pat. besonders hoch, deren ADHS ins Jugendalter persistierte Miller 2008 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Miller, J Clin Psychiatry, 2008 Daten aus Erwachsenen-ADHS Stichproben • 372 erwachsene ADHSPatienten (33+/-10 Jahre) aus deutscher Spezialambulanz – Am häufigsten Cluster B: • • • • 35,2% histrione PS, 29,8% narzisstische PS, 27,2% BPS Nur 5.7% antisoziale PS Jacob 2007 • 60 erwachsene ADHS-Patienten aus deutscher Spezialambulanz – 25% mind. eine PS – 21,7% ängstlich vermeidende PS, 18,3% BPS – Schweregrad d. kindl. ADHS war mit häufigerem Auftreten von PS assoziiert Mathies 2011 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Daten aus Borderline-Stichproben • Borderline Patienten wurden retrospektiv nach ADHS in Kindheit oder Jugend befragt (WURS) – 59.8% Hinweise auf ADHS Fossati 2002 • 118 Patientinnen mit BorderlinePS wurden retrospektiv nach ADHS in Kindheit sowie emotionalem Missbrauch in Kindheit befragt – 41% berichteten über ADHS in Kindheit – ADHS in Kindheit war signifikant mit emotionalem Missbrauch sowie massiverer BPSSymptomatik im Erwachsenenalter assoziiert! [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Philipsen, 2008 Daten aus Gefängnissen • Signifikanter Zusammenhang zwischen ADHS, Störung des Sozialverhaltens bzw. früher antisozialer PS: – Abram, 2003; Rösler 2004, 2009; Sevecke 2008; Plattner 2011; Stadler 2012 • Schlechte Prognose: „Early Starter“: ADHS + SSV vor dem 10. LJ – männliches Geschlecht, reduziertes Angsterleben, reduzierte Impulskontrolle, frühe Delinquenz, Antisoziale PS [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Größte Studie: USA • NESARC: USA-weite epidemiologische Studie, 34.000 Probanden, Durchschnittsalter 18,4 Jahre, Achse 1/2Störungen, in dieser Publikation Fokus auf ADHS – Lebenszeitprävalenz für ADHS von 2,5% – Komborbidität ADHS und PS: 62,8% • Komorbidität ADHS und BPD: 33,69% • BPD in Kontrollgruppe: 5,17% Bernardi 2012 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS + PS • Zahlreiche epidemiologische Studien (prospektiv, retrospektiv, Borderline-Samples, ADHSSamples, forensische Samples) belegen die enge Verwobenheit von ADHS und Persönlichkeitsstörungen, speziell von ADHS und BorderlinePersönlichkeitsstörungen! • Wie kann man sich das erklären? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 2 Zusammenhänge • „Common Ground“ – Gemeinsame Neurobiologische Grundlagen – Gemeinsame Umweltfaktoren – Gemeinsame Neuropsychologische Muster • Entwicklungsbedingt: – schwere chronische psychische Erkrankung behindert Entwicklungsaufgaben • Identität • Soziale Rolle • Soziales Kommunizieren [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Common Ground: gemeinsame Risikofaktoren • Genetik: bei beiden Störungen ähnlicher genetischer Hintergrund – holländische Zwillingsstudie: ADHS+BPS 50% Heritabilität! Distel 2011 • Umweltbedingungen: – Niedriges Geburtsgewicht, Rauchen in SS Mathies 2014 • Missbrauchserfahrung in Kindheit: kindliches ADHS erhöht Wahrscheinlichkeit? Philipsen 2008 • Mobbing: kindliches ADHS erhöht Wahrscheinlichkeit? Lereya 2013 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Common Ground: Impulsivität und Emotionsregulation • Impulsivität: – Gefordertes Kriterium für ADHS und für BPS – Kriterienbeschreibung nach DSM-5 überschneidet sich weitgehend! • Unterscheidung zwischen „Borderline-Impulsivität“ und „ADHS-Impulsivität“ klinisch nicht möglich! Mathies 2014 • Emotionale Dysregulation: – Kriterium für BPS – Kein Kernkriterium für ADHS, aber als „Zugehöriges Merkmal“ im DSM-5 explizit erwähnt ADHS Aufmerksamkeitsdefizit Motorische Unruhe Desorganisation BPS Impulsivität Emotionale Instabilität Spannungszustände mit Regulation durch SV Wiederholte Suizidalität Dissoziative Symptomatik, paranoide Symptomatik Bemühen, Verlassenwerden zu vermeiden [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Kaskade ADHS + BPS? • gemeinsame Genetik bzw. Vulnerabilität • • • Ungünstige Umweltbedingungen (Trauma, Mobbing, Eltern auch ADHS?) – • • • Impulsivität Emotionale Dysregulation Gen-Umwelt Interaktion ADHS ADHS-Symptomatik erhöht Risiko für traumatische Erfahrungen schwere chronische psychische Erkrankung behindert Entwicklungsaufgaben – Identität – Soziale Rolle – Soziales Kommunizieren • BPS im Jugendalter • schwere Verlaufsform? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 KJP-Störungen entwickeln sich zu PS • schwere chronische psychische Erkrankung (wie ADHS) kann zu Beeinträchtigung der Persönlichkeits-Entwicklung und dem Ausbilden einer PS führen • Z.B. Ramklint 2002 • Innsbrucker Daten: – Retrospektive Längsschnittstudie: 1000 ehemalige KJP Patienten 25 Jahre nachverfolgt – 17,2% der ehemaligen KJP Patienten entwickelten eine PS im Erwachsenenalter Fuchs 2014, submitted [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Zusammenfassung [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeitsstörungen • Diagnose von PS im Jugendalter möglich und sinnvoll • Missverständnisse verhinderten bisher neutrale Diskussion • Langzeitverlauf: „Diagnostic features decline, functional impairment is absolutely flat!“ • Früherkennung und Behandlung ist Chance für Betroffene sowie für Entstigmatisierung des Störungsbildes [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS • Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung mit Lebenszeitperspektive – 50-70% Persistenz in Jugend – Davon 50-70% Persistenz ins Erwachsenenalter • Klinische Symptomatik ändert sich im Jugendalter • Autonomiefindung vs. chronische Erkrankung • Erkrankung verhindert, dass Jugendliche ihr Potential ausschöpfen • Komorbiditäten mitdenken! [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 ADHS + (B)PS • Zahlreiche Studien belegen die enge Verwobenheit dieser 2 Störungen! • 2 Zusammenhänge: – Grundlegende gemeinsame Muster (Neurobiologie, Neuropsychologie) – schwere chronische psychische Erkrankung (wie ADHS) kann zu Beeinträchtigung der Persönlichkeits-Entwicklung und dem Ausbilden einer PS führen • Subtyp von BPS mit ADHS als Vorläufererkrankung? – Schwerer Verlauf? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Fazit für Praxis • Jugendliche Patienten mit BPS: an nie diagnostiziertes ADHS denken! • Jugendliche Patienten mit ADHS: an PersönlichkeitsPathologie denken! • In Abhängigkeit davon Behandlung optimieren… – Behandlungsprogramme für ADHS + BPS nicht verfügbar! [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Literaturtipps Kaess 2014 Mathies 2014 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 WORKSHOP [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeit Persönlichkeitsstörungen [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Jugend • Jugendalter für KJP spannende Zeit mit einer Reihe von einschneidenden Veränderungen: – ADHS: klin. Symptomatik ändert sich stark: hyperkinetische Symptome nehmen ab bzw. ändern sich, Unaufmerksamkeit und Impulsivität bleiben Faraone 2006 – Geschlechterverteilung von affektiven Störungen ändert sich in Richtung der bekannten Verteilung der Erwachsenenwelt Hayward 2002, Fuchs 2013 – Essstörungen zeigen Ersterkrankungsgipfel, insgesamt konstante Prävalenz aber immer jüngereres Ersterkrankungsalter Herpertz-Dahlmann 2011 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 „Synaptic Pruning“ • Geburt: 100 Milliarden Neuronen mit rel. wenigen synaptischen Verbindungen – Enorme Zunahme der Zahl der synapt. Verbindungen in den ersten Lebensjahren – Mit zunehmender Hirnreifung rund um Beginn der Pubertät völlige Reorganisation: Abbau redundanter Verbindungen durch Reduktion von Synapsen (engl. „pruning“ = Beschneidung) – Ca. 50% der kortikalen Synapsen werden in Pubertät abgebaut! • • Gehirn wird effizienter, energetisch ökonomischer, schneller durch Reduktion auf wenige, dafür umso besser eingespielte Verbindungen Pathogenese von ASD? – „pruning“-Defizite bei autistischen Patienten? [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Tang, Neuron 2014 Persönlichkeit • Persönlichkeit und Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen sind Ausdruck der charakteristischen [..] Verhaltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen er gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Suche nach einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen sucht. – Fiedler 2005 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeit • Charakteristisches Muster von Gedanken, Gefühlen, Verhalten, welches eine Person einzigartig macht • Nachweisbar ab 4. Lebensjahr • Entwicklung über Lebensspanne [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeitsforschung • „BIG FIVE“ – EXTRAVERSION • kontaktfreudig • zurückhaltend – NEUROTIZISMUS • überempfindlich • entspannt – GEWISSENHAFTIGKEIT • gründlich • unsorgfältig – OFFENHEIT • kreativ • phantasielos – VERTRÄGLICHKEIT • friedfertig • Streitsüchtig Specht 2011, Roberts 2006, Asendorpf 2002 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeit • Trait-Merkmale von Persönlichkeit („Big Five“) erst ab dem 4.-6. Lebensjahrzehnt einigermaßen stabil • Wahrscheinlich verändert sich die Persönlichkeit im Schnitt zwischen 20 – 40 Jahren mehr als im Jugendalter • Längsschnittdaten zeigen keinen wesentlichen Anstieg der Stabilität von Persönlichkeit mit dem 16. oder 18. Lebensjahr Specht 2011, Roberts 2006, Asendorpf 2002 • „Persönlichkeit verändert sich im Lauf des Lebens ständig, aber wird mit dem Alter visköser.“ Andrew Chanen, Basel 2014 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Persönlichkeitsstörung • Persönlichkeitsstörungen sind Störungen der Persönlichkeit und des Verhaltens, bei denen bestimmte Merkmale der Persönlichkeitsstruktur in besonderer Weise ausgeprägt, unflexibel oder wenig angepasst sind. – Erlebens- und Verhaltensmuster aufgrund von Entwicklungsbedingungen in der Kindheit und späteren Lebensabschnitten, genetischen Faktoren oder erworbenen Hirnschäden. – weichen von einem flexiblen, situationsangemessenen Erleben und Verhalten in charakteristischer Weise ab. – persönliche und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit ist meistens beeinträchtigt [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Dimensional-kategoriales Hybridmodell im DSM-5 • Bekannte kategoriale Klassifikation des DSM-IV-TR mit 3 Clustern und 10 verschiedenen PS – Erheblicher Mangel an Reliabilität – Erheblicher Mangel an Validität untereinander • • Hohe Überlappung der vermeintlich spezifischen Kriterien Extreme Heterogenität von Patienten mit der gleichen PS-Diagnose – Persönlichkeitsforschung nicht berücksichtigt • • • Seit 15 Jahren Diskussion um ein alternatives Modell Alternatives Modell als zusätzliches Tool enthalten, bekanntes kategoriales Modell weiterhin gültig ABER: Altersbeschränkung aufgehoben!!! [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Dimensional-kategoriales Hybridmodell im DSM-5 • Grundlegende Elemente der Persönlichkeitsfunktion beschrieben – Selbst – Interpersonell • Problematische Persönlichkeitsmerkmale in 5 Merkmalsdomänen beschrieben – In Anlehnung an Big Five • Weiterhin 5 spezifische PS enthalten – – – – – • Vermeidend Selbstunsichere PS Borderline PS Narzisstische PS Zwanghafte PS Schizotype PS Aber auch „merkmalsspezifizierte PS“ d.h. dimensionale Beschreibung der PS ohne Einengung auf die 5 spezifischen PS möglich [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Dimensional-kategoriales Hybridmodell im DSM-5 • • Elemente der Persönlichkeitsfunktion Selbst: – – • Interpersonell: – – • Identität: erleben der eigenen Person als einzigartig, mit klaren Grenzen zwischen sich und anderen; Stabilität des Selbstwerts und der Selbsteinschätzung; Fähigkeit zur Selbstreflexion Selbststeuerung: Verfolgen von kohärenten und sinnhaften kurz- und langfristigen Zielen; Orientierung an konstruktiven und prosozialen Maßstäben des Verhaltens; Fähigkeit, eine Reihe von Emotionen zu erleben und zu regulieren Empathie: Verständnis und Anerkennung des Erlebens und der Motive anderer; Toleranz gegenüber unterschiedlichen Sichtweisen; Verstehen der Wirkungen des eigenen Verhaltens auf andere Nähe: Tiefe und Dauer von (positiven) Beziehungen mit anderen; Wunsch und fähigkeit, anderen Menschen nahe zu sein; gegenseitiger Rspekt, der sich im Interpersonellen Verhalten zeigt Ausmaß der Beeinträchtigung von 0-4 [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Dimensional-kategoriales Hybridmodell im DSM-5 • Fünf breite Domänen der Variation von Persönlichkeitsmerkmalen mit jeweils zugeordneten „Facetten) – Negative Affektivität vs. Emotionale Stabilität – Verschlossenheit vs. Extraversion – Antagonismus vs. Verträglichkeit – Enthemmtheit vs. Gewissenhaftigkeit – Psychotizismus vs. Adäquatheit • Vergleiche „Big Five“ in der PS Forschung! [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 Dimensional-kategoriales Hybridmodell im DSM-5 • • • • • Algorithmus: A) mindestens mittelgradige Beeinträchtigung eines der 4 Elemente der Persönlichkeitsfunktion B) Eines oder mehrere problematische PS Merkmale C) – F) Rel. durchgängige Beeinträchtigung, rel. Stabilität, Ausschluss anderer psychischer Störung als bessere Erklärung, Ausschluss v. Intoxikation oder somatischer Erkrankung Nicht besser dadurch erklärbar, dass sie als normal für eine individuelle Entwicklungsphase oder eine soziokulturelle Umgebung verstanden werden [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 AIDA: Assessment of Identity Development in Adolescence [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015 AIDA: Assessment of Identity Development in Adolescence [email protected] universität innsbruck---kongress 30.01.2015