Waldenser Tag in Rohrbach

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Waldenser Tag in Rohrbach
25. Juni 2006
1. Teil Die Waldenser in Italien gestern
Liebe Waldenserfreunde!
In einem kurzen ersten Teil erwähne ich, wie im 12. Jahrhundert die
Religionsgemeinschaft der Waldenser entstanden ist und schildere einige Stationen
ihrer achthundertjährigen Geschichte. Dann gehe ich im zweiten Teil von der
Gegenwart Richtung Zukunft der Waldenser in Italien.
Die Entscheidung von Waldes im 12. Jahrhundert
Waldes, ein reicher Kaufmann aus Lyon, entschliesst sich 1170 nach einer tiefen religiösen
Krise, Jesus nachzufolgen und wie die Apostel zu leben. Sodann lässt er Teile der Bibel in
die Volkssprache übersetzen, dass sie auch von der Bevölkerung ohne Latein Kenntnisse
gelesen werden kann. Waldes verschenkt seinen Reichtum und entschliesst sich, in Armut
zu leben und das Evangelium zu verkünden.
Zu dieser Zeit ist es verboten, die Lehre des evangelischen Glaubens ohne
Klosterzugehörigkeit zu verbreiten. D.h. Laien dürfen weder die Bibel lesen noch die
Lehre verbreiten. Für Waldes ist das Lesen der Bibel keine Häresie. Für ihn ist die
Heilige Schrift der katholischen Kirchenbehörde übergeordnet. Damit wird eines der
Fundamente der Römischen Kirche in Frage gestellt, nämlich die Autorität des
Bischofs.
Die Predigten von Waldes ziehen Männer wie Frauen in ihren Bann, die seinem
Beispiel folgen; so entsteht die Bewegung der Armen von Lyon.
Die Waldenser und die offizielle Kirche
Die Waldenser bestreiten die politische Autorität der katholischen Kirche.
Rom allerdings beansprucht das Recht, nicht nur geistliche, sondern auch weltliche
Macht auszuüben.
Waldes verneint das Fegefeuer: im Leben gibt es nur zwei Wege, die Sünde und die
Gnade; so kann es keine Fürsprachen von Heiligen und keine Bittmessen geben.
Nun werden die Waldenser aus Lyon verstossen und verteilen sich in alle
Richtungen und nehmen an Zahl und Bedeutung zu.
Die Waldenser sind aus der Römischen Kirche ausgeschlossen und werden als
Häretiker bekämpft und teils grausam verfolgt.
Die Armen aus Lyon praktizieren den christlichen Glauben vorerst im Untergrund.
Nun bildet sich bei den Waldensern eine unabhängige christliche Gemeinschaft mit
eigener Identität, eine Identität, die von Rom nicht akzeptiert wird.
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Die Ausbreitung der Waldenser im Mittelalter
Die Waldenser sind im Mittelalter an kein geschlossenes geographisches Gebiet
gebunden. Bereits zu Waldes Lebzeiten, in der ersten Hälfte des 13. Jh., findet
seine Lehre eine starke Ausbreitung in der Lombardei, wo sie „Poveri Lombardi“
(Arme Lombarden) genannt werden. Wichtig für sie sind Solidarität Gemeinschaftssinn
und das Handwerk.
In Mailand eröffnet die waldensische Bewegung eine Religionsschule und in
Bergamo findet 1218 ein wichtiges Treffen zwischen Waldensern aus Lyon und aus
der Lombardei statt. Die Lombardei ist somit Stützpunkt für die Ausbreitung des
Waldensertums nach Westeuropa, besonders nach Österreich, Deutschland und die
Schweiz. Starke waldensische Gemeinden bilden sich in den Tälern des westlichen
Piemonts.
Ungeachtet aller Unterdrückung, organisieren sich die Waldenser. Ihre Prediger
werden „barba“, d.h. „Onkel“ genannt, im Gegensatz zu den katholischen „padri“
(Väter). Sie durchwandern Europa und besuchen regelmässig Gruppen von
Gläubigen. Während der Winterpause versammeln sich die Barben, um im Studium
ihr Bibelwissen zu vertiefen.
Das den Waldensern durch die Verfolgungen aufgezwungene Leben im Untergrund
ist gefährlich. Zur Tarnung geben sie sich als wandernde Kleinhändler aus.
Die Waldenser und die Reformation
Die Kunde von der Reformation in Deutschland und in der Schweiz gelangt auch
bald zu den Waldensern in den Alpentälern. An der historischen Synode im Jahr
1532 in Chanforan, in den Waldenser Tälern, geleitet vom Neuenburger und Genfer
Reformator Wilhelm Farel, werden wichtige Beschlüsse gefasst, ich nenne die zwei
Wichtigsten:
- Anschluss an die schweizerische Reformation
- Übersetzung der Bibel ins Französischen, die damalige Umgangssprache
Anschliessend organisieren sich die Waldenser als Kirche, verlassen den
Untergrund und treten mit ihrem Glauben an die Öffentlichkeit, bauen die ersten
Kirchen und schicken ihre Prediger zum Studium an Calvins Akademie in Genf.
Die Waldenser Kirche wird sowohl vom theologischen als auch vom
organisatorischen Gesichtspunkt her eine reformierte Kirche von eindeutig
calvinistischer Prägung.
Die Ausweisung von Hugenotten und Waldensern aus Frankreich
und aus Savoyen
Hugenotten
In Frankreich führte die Widerrufung des Edikts von Nantes 1685 zu einer
Massenflucht der Hugenotten. 200'000 bis 300'000 fliehen in die Schweiz, nach
Holland und Brandenburg.
Waldenser
Die Widerrufung des Edikts von Nantes traf im damaligen französischen
Val Pragelato auch Waldenser.
Zwischen 1685 und 1687 verliessen über 2'000 Waldenser das Val Pragelato
Richtung Schweiz mit der festen Absicht, Kolonien nach dem Vorbild ihrer
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Heimatgemeinde zu Gründen. Die Pfarrer führten sie zuerst nach Erlangen, dann
weiter nach Hanau und Darmstadt.
Das war die erste Ausweisung von Waldensern
Dann erfolgte die zweite Ausweisung, und zwar nicht von Frankreich, sondern durch den
Herzog von Savoyen. Sein 43 jähriger Onkel, der französische König Louis XIV, drängt ihn
dazu unmissverständlich.
Im Januar 1686 erlässt der damals 21 jährige Herzog von Savoyen ein eigenes Edikt
gegen die 14'000 Waldenser, die auf seinem Gebiet lebten, d.h. im Val San Martino,
Val Perosa linkes Ufer, Val Luserna und Val Angrogna.
Das Verdikt lautet:
- Entfernung der Pastoren
Alle Kinder werden katholisch getauft
Wenige Tage später gibt es im Grossen Rat von Bern eine heftige Aufregung wegen
des Vorgehens des Herzogs von Savoyen.
Die Bestürzung veranlasst die evangelischen Stände Bern und Zürich, zwei
Emissäre zum Herzog von Savoyen zu schicken. Zwei Monate lang verhandeln sie
mit ihm, vergeblich. Er gibt kein Jota nach und droht mit Krieg.
Am 10. Mai 1686 greifen sechstausend Franzosen und einige Tausend Savoyer die
kaum bewaffnete Waldenser Bevölkerung an. Der Blitzkrieg dauert drei Tage. Von
den 14’000 Waldensern kommen mehr als 2'000 um, 8500 Frauen, Männer und
Kinder werden in Kerker eingesperrt und teilweise als Galeerensklaven verkauft.
Die Schweizer Kantone bemühen sich auf diplomatischem Weg während Monaten
zugunsten dieser in Kerkern eingesperrten und sehr leidenden Glaubensbrüder, die
kaum Stroh zum liegen, Wasser und Essen bekommen.
2700 Waldenser erhalten 1687 schliesslich die Erlaubnis, ins schweizerische Exil zu
gehen. Noch auf ihrem Fussmarsch werden den Eltern Kinder entrissen.
Die „Glorreiche Rückkehr 1689“
Dank einer günstigen politischen Konstellation gelingt es nahezu 1'000 bewaffneten
Männern, zwei Jahre später, durch ein militärisches Unternehmen in die Heimat
zurückzukehren. Ein Drittel der Rückkehrer stirbt in Gefechten gegen den Feind oder
an Erschöpfung. Das Wagnis ist unter dem Namen als „Glorreiche Heimkehr“
bekannt.
Dann erfolgt 1698/1699 die dritte Ausweisung
Hier trifft es französische Waldenser, die auf der linken Seite des Val Perosa
wohnen. Dieses Gebiet geht im Jahr 1690 von Frankreich an Savoyen über.
Der Herzog macht die geheime Absprache mit dem König Ludwig XIV wahr und
erlässt am 1. Juli 1698 das Edikt, nach dem die dort lebenden Waldenser das Land
zu verlassen haben, sofern sie ihrem Glauben treu bleiben wollen.
Unter Führung ihrer Pfarrer zogen etwa 3000 Menschen, darunter Greise und kleine
Kinder, im September 1698 über den Mont Cenis-Pass nach Genf, mit Henri Arnaud
und weiteren sieben Pfarrer, die auf französischem Boden geboren waren und damit
unter das Edikt fallen..
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In Genf wurden die Flüchtlinge freundlich empfangen, konnten dort aber nicht lange
bleiben.
Die evangelischen Kantone der Schweiz erklärten sich bereit, die Flüchtlinge den
Winter über aufzunehmen. Dank grosszügiger Unterstützung durch die Niederlande
und England gelang es, die Waldenser aus dem Perosatal vor allem in Württemberg
und die Pragelaner in Hessen anzusiedeln.
Die bürgerliche Freiheiten
Nachdem die Waldenser in den Waldenser Tälern über 100 Jahre abgekapselt, wie
in einem Ghetto ausharren, erteilt ihnen der savoyische König Carlo Alberto mit dem
Edikt vom 17. Februar 1848 alle bürgerlichen Rechte. Dies jedoch bedeutet für sie
noch keine Religionsfreiheit; die römisch-katholische Religion bleibt Staatsreligion in
Italien, während die Reformation der Waldenser nur „toleriert“ wird.
2. Teil Die Waldenser in Italien heute und
morgen
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Waldenser in Italien nehmen wie folgt dazu Stellung:
Die Tavola Valdese in Rom
Pädagogen
Ein Waldenser Pfarrer
Der Direktor des Waldenser Gymnasiums in Torre Pellice
Die Waldenser Kirche in Italien aus der Sicht
der Tavola Valdese in Rom
Zum Thema Waldenser Kirche Heute, schreibt die Tavola Valdese:Die Wahl einer Frau als Moderatorin während der Waldenser Synode 2005 ist das
beste Zeugnis gegen die zunehmende politische und publizistische Gleichstellung in
Italien. Die Medien haben heftig reagiert. Dutzende von Text- und Fernsehbeiträgen
in bedeutenden Zeitungen und Fernsehanstalten sind zu dieser Wahl erschienen.
Diese Berichte lösten ein enormes Echo aus. Doch leider haben die Medien nicht
das ganz Selbstverständliche herausgepflückt, sondern daraus einen religiösen
extravaganten Gebrauch gemacht. Die Waldenser, das heisst die Protestanten,
verträten für die Inhalte der italienischen Kultur nach wie vor eine unverständliche
Realität. Die Waldenser seien Religions-Konformisten und werden es auch bleiben.
Vor diesem einzigartigen Ereignis, in Italien zum höchsten Amt eine Frau zu wählen,
gab es schon vorher einen ähnlichen Fall.
Als bei der Baptisten Kirche eine Frau als Präsidentin gewählt wurde, reagierten die
Medien nicht. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Waldenser die einzigen
Protestanten in Italien sind, die die Medien „in Fahrt“ zu bringen vermögen.
Deshalb tragen die Waldenser eine besondere Verantwortung, sich in den Medien
für mehr Menschlichkeit und eine gesunde Wirtschaft einzusetzen.
Die Publizität in den Medien für die Olympischen Winterspiele 2006 in Turin ist von
der Öffentlichkeit in gleicher Weise als eine neue publizistische Ära zur Kenntnis
genommen worden.
Dank dem grossen Einsatz der Waldenser Kirche, insbesondere durch Pfarrer
Giuseppe Platone, ist in Italien erstmals ein interkonfessionelles nationales
Olympisches Komitee entstanden, das den Sportlern in den verschiedenen
Olympischen Dörfern einen echten multikonfessionellen und multireligiösen
Seelsorgedienst angeboten hat.
In den kürzlich stattgefundenen nationalen Wahlen sind drei Waldenser ins
italienische Parlament in Rom gewählt worden
Valdo Spini und Paolo Ferrero
vom centro sinistra (Mitte links) und
Lucio Malan des centro-destra (Mitte rechts)
Alle drei sind bezeichnend für ihre diverse Religiosität.
In der kürzlichen Volkswahl eines Kandidaten zum Präsidenten der Region FriaulJulisch-Venetien hat sich etwas aussergewöhnliches ereignet. Der Kandidat
Riccardo Illy wurde in den Medien wie folgt vorgestellt:
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Kandidat der Mitte-links Partei, von geringem Ansehen, weil Waldenser, Vertreter einer
kleinen kulturellen und religiösen Minderheit, politisch unfähig.
Das Volk hat, ungeachtet der negativen Medienberichte, Riccardo Illy aus Triest zum
Präsidenten der Region Friauli Venezia gewählt. Diese Region hat eine Fläche von
rund 8'000 km2, und ist etwa halb so gross wie das Bundesland Schleswig Holstein.
Ein weiteres Beispiel:
In der Piemonteser Politik hat sich etwas Seltsames ereignet. Auf der ersten Seite
der katholischen Bistums-Wochenzeitung von Turin wurde eine polemische
Auseinandersetzung gegen die Präsidentin der Region Piemont, Frau Mercedes
Bresso, geführt, weil sie religiös laienhaft sei und keine konfessionslose Haltung
einnehme. Sie sagte in einem Interview, im Rahmen des Themas Religiosität,
mehrmals, wenn sie zu einem Glauben konvertieren würde, dann zur Waldenser
Kirche, da dieser Glaube eher ihrem Gewissen entspräche.
Wir dürfen die Stellung und den Einfluss der Präsidentin der Region Piemont nicht
unterschätzen. Die Region ist fast so gross wie das Bundesland Hessen.
In diesem politischen und kulturellen Klima ist es für den Glauben der Waldenser
Kirche in Italien eine besondere Verpflichtung, sich für die Freiheit und den religiösen
Pluralismus einzusetzen, aber auch für die Trennung von Staat und Kirche.
Unter dem Begriff „Gemeinsame Kirche“ mit den Immigranten aus dem Süden und
dem Osten der Welt, die in Italien und in Europa immer zahlreicher werden, gibt es
Fortschritte. In Pordenone, in der Region Friauli, ist eine neue ganesische
Waldenser Kirchgemeinde entstanden.
In der Waldenser Kirche sind drei afrikanische Pfarrer integriert. In Genua gibt es
eine Kirchgemeinde mit Mitgliedern aus Lateinamerika. Im weitern gibt es je eine
koreanische und eine philippinische Waldenser Kirchgemeinde. Diese sind für die
Waldenser eine grosse und komplexe Herausforderung.
Das verlangte einen Reifungsprozess und viel gegenseitiges Vertrauen und Respekt,
um angemessene Formen der Integration zu finden.
Was sagen die Pädagogen zur Jugend ?
Die Jugend ist, wie überall, selbständiger geworden. Ihr soziales Verhalten
ändert sich schneller. Die Waldenser Kirche hat sich auf diese Veränderungen
eingestellt und regt neue Formen von Beschäftigung für die angehenden
Erwachsenen an, die ihren Bedürfnissen entsprechen und ihre Leistungsfähigkeit
fördern. Auch müssen die Jungen mehr Kompetenz erhalten und entsprechend mehr
Verantwortung tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Jugend-Arbeitslosigkeit
in allen Waldenser Tälern zu ernsthaften Problemen führt.
Es ist auch von der nicht erfreulichen Tatsache auszugehen, dass viele Jugendliche
nach der Konfirmation kirchlichen Anlässen, wie Gottesdiensten fern bleiben, wie in
anderen Kirchen.
Es gibt dennoch viele Zeichen dafür, dass die Jugendlichen tätig sein wollen, aber in
einer anderen Form, nämlich da, wo sie gemeinsam und nicht einzeln auftreten.
Zur Förderung und Betreuung dieser neuen Formen gibt es regionale
Koordinationsstellen, für Theatergruppen, auch Laientheater und für kleinere
Sängerchöre und Pfadfinder.
So entstand in Torre Pellice eine Jugendgruppe ehemaliger Konfirmanden zur
Gestaltung gewisser Gottesdienste, die dem Gusto Jugendlicher entsprechen.
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Eine weitere Gruppe leistet Freiwillenarbeit während Grossanlässen der Kirche, wie
an der Synode.
Dass auch kleine Kinder reifer sind als früher, zeigt sich daran, dass
Sonntagsschüler bereit sind, im Gottesdienst einen aktiven Beitrag zu leisten in Form
eines Textvortrages oder eines Liedes. So wird die Bindung der Eltern zur Kirche
gefestigt.
Die Erfahrungen eines Waldenser Pfarrers
Die hinterste Waldenser Gemeinde im Germanascatal heisst Prali. In dieser
hochgelegenen Ortschaft leitet der Deutsche Pfarrer Wilfried Pfannkuche die
Waldenser Gemeinde. Er nimmt auf meine Frage zur Zukunft der Waldenser wie
folgt Stellung:
„Zuerst erwähne ich den bedeutenden Waldenser Pfarrer Giovanni Miegge, der von
1900 bis 1960 lebte. Dieser sagte:
Die Jungen müssen die Freizeit zu nutzen verstehen: lesen, lesen, lesen und
ihre alte Welt und Kultur intelligent pflegen. Das tolle an Pfarrer Miegge war
ja, dass er seine Jungs wirklich pastoral begleitete. Schon allein die Tatsache,
dass er ihnen einen „Brief“ geschrieben hat. Nicht über die Kirche, sondern
über ihr eigenes Leben, über ihre Zukunft.
Was sollen wir ihnen denn heute für einen Brief schreiben? Wer weiss denn heute
schon, was er morgen machen will? Auf alle Fälle müsste ich als Pfarrer von Prali
heute an jeden einzelnen Jugendlichen einen persönlichen Brief schreiben. Ein
Traktat für alle wäre ein Traktat für niemanden. Das gilt ja vielleicht sogar für die
ganze sich immer wohl noch zu sehr in Traktaten formulierenden Kirche.
In einer völlig zersplitterten, vereinzelten und auch vereinsamten Gesellschaft,
müssen wir uns wohl oder übel an jeden Einzelnen wenden. Das hat Jesus auch
getan. Jedem Einzelnen müssen wir nachgehen wie ein Hirte den Schafen. Auf die
Frage nach der Zukunft der mir anvertrauten Jugendlichen von Prali kann ich also
nur mit einzelnen Fallstudien antworten.
Das ist z.B. Felix. (Name geändert)) Interessiert, hoch begabt, sehr gutes Abitur, Liebe
zur Waldenser Geschichte, immer hilfsbereit, auch mitzuhelfen das Waldenser
Museum in Prali offen zuhalten. Felix entscheidet sich, in Mailand Physik zu
studieren. Ganz selten kehrt er nach Prali zurück. Vielleicht wird er einmal die Kirche
in Mailand besuchen.
Alberto war mein schlauester Konfirmand. Egal, was man ihn fragte: er wusste
immer die richtige Antwort. Immer wieder habe ich darauf bestanden: Alberto muss
studieren. Er ist gleich nach dem Gymnasium in einer Fabrik im Tal arbeiten
gegangen. Da verdiente er sofort viel Geld, um sich Klamotten, ein tolles Auto und
alles andere für den grenzenlosen Genuss des Lebens kaufen zu können. Jeden
Monat baute er einen Unfall. Bisher ist ihm nichts passiert.
Ich könnte die Liste fortsetzen, aber hier unterbreche ich die Fallstudie. Eines ist
klar: keiner von diesen Jugendlichen geht sonntags in die Kirche. Einige fühlen sich
aber geradezu natürlicherweise zugehörig. Alles ist hier irgendwie Kirche. Kirche
unterscheidet sich gar nicht besonders von anderen Veranstaltungen des kleinen
Bergdorfes Prali.
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Es fehlt an Vertrauen. An der Bereitschaft zur Zukunft. Am Willen zur Zukunft. Die
besten Zeiten spüren die meisten hinter sich. Die italienische Gesellschaft ist
insgesamt wenig optimistisch. Man lebt etwas fatal in den Tag hinein. Man bleibt
weiterhin in Italien, gerne auch bis weit über dreissig wohnt man bei seinen eigenen
Eltern. Zu dieser Gesellschaft gehört unsere Jugend heute ganz selbstverständlich
dazu, mehr als zur besonderen Kirche und Geschichte einer winzig kleinen
Minderheit. Und wir wollen ja auch unsere Kinder nicht einfach – koste es, was es
wolle – an eine besondere Gruppe binden, bei aller Liebe, wollen wir doch einfach
nur, dass auch sie Christus kennen und lieben lernen. Und wenn sie begabt sind,
dann mögen sie doch bitte auch dahingehen, wo ihre Begabung gefördert wird,
selbst wenn sie dort sehr viele Kompromisse eingehen werden müssen.“
Das Waldenser Gymnasium in Torre Pellice
Gründung
Kurz vor den Lettere Patenti 1848, das heisst nach 150 Jahren eingeschlossen
gewesen zu sein in ihren Tälern, wie in einem Ghetto, erscheint eine Leitperson: der
englische General Charles Beckwith, der gegen den Analphabetismus kämpfte, weil
es während der Ghetto-Zeit gar keine Schulen gab.
Dieser Beckwith spornt die Waldenser an, das Ghetto zu verlassen und sich nach
Italien hin zu öffnen. Er sagt:
„Von jetzt an seid ihr Missionare
oder ihr seid nichts“
General Charles Beckwith hat sich sehr für eine taugliche Bildung der Bevölkerung
eingesetzt. Er gründete in allen Waldenser Dörfern und Weilern eine Schule und regte im
Jahr 1831 die Gründung eines Waldenser Gymnasiums an.
Heute
Das heutige staatlich anerkannte Collegio bietet alle Studienrichtungen mit Abitur an.
Die Schüler werden während ihres ganzen Studiums am Collegio betreut, wobei
nicht nur auf die schulischen Bedürfnisse, sondern auch auf die menschlichen
Aspekte und Probleme der Heranwachsenden eingegangen wird
Die Studenten und Studentinnen werden dazu motiviert, Initiativen zu ergreifen und
Projekte, wie die Schülerzeitung, eine Theatervorführung oder das Konzept der
Veranstaltungen zum Ende des Schuljahres zu planen aber auch zu realisieren.
Die Ausbildung der Schüler und Schülerinnen ist nicht nur in ihren Lehrplänen,
sondern vor allem in ihrer Methodik europäisch geprägt
Regelmässige, zweiwöchige Aufenthalte an ausländischen Schulen motivieren das
Erlernen von Fremdsprachen und ermöglichen ein richtiges „Eintauchen“ in kulturell
und sozial-ökonomisch unterschiedliche Realitäten. Dieses Lernen sowohl am
Collegio als auch an den Auslandschulen ist eine grundlegende Eigenschaft der
Ausbildung und eine sehr bereichernde Lebenserfahrung.
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Zu dieser europäischen Prägung trägt auch die regelmässige Mitarbeit ausländischer
Studenten und Lehrkräfte bei.
Das Ausbildungskonzept der Schule sichert allen Schülern und Schülerinnen,
unabhängig von ihrer Herkunft und Überzeugung, eine Vertiefung und Festlegung
des Grundwissens. Sie sollen zu verantwortungsvollen Bürgern und Bürgerinnen
heranwachsen und als freie Menschen am kulturellen und sozialen Leben Europas
teilnehmen. Gerade weil das Collegio eine protestantische Schule ist, verzichtet es in
seiner Pädagogik und Didaktik zwar auf eine konfessionelle Prägung, misst aber der
Vermittlung christlicher Grundwerte grosse Bedeutung bei.
In diesem Zusammenhang werden an der Schule neben den verschiedenen
obligatorischen Fächern auch Themen wie die Erziehung zum Frieden, Respekt und
Wertschätzung gegenüber der Vielfalt menschlichen Lebenskulturen behandelt. Dies
geschieht mit dem Ziel, bei den Jugendlichen das Interesse an einer multikulturellen
Gesellschaft zu wecken.
Morgen
Der Direktor des Collegio, Dr. Elio Canale, nennt vier Punkte:
1. Das Collegio ist eine Bildungsstätte für kommende Theologen und weitere
Studienrichtungen an Universitäten.
In den Waldenser Tälern gibt es viele Beispiele von Personen, die das
Collegio besucht haben und die über einen Universitätsabschluss verfügen:
- der Gemeindepräsident von Torre Pellice
- die meisten Hausärzte in den Waldenser Tälern
- viele Gymnasiallehrer, auch in staatlichen höheren Bildungsanstalten
2. Die Bildungsaufgabe stützt sich auf das Evangelium und die biblischen
Werte auch innerhalb des Lehrkörpers, und zwar im Sinne des Verbandes
Evangelischer Erzieher und durch die engen Kontakte mit dem
pädagogischen Institut der evangelischen Kirche in Westfahlen.
3. Diese Grundhaltung ist nötig
- Weil sich die katholische Kirche in Gesellschaft und im Schulunterricht
immer stärker ausbreitet,
- weil die islamische Gesellschaft in Italien eine immer grössere Bedeutung
erhält. Das zeigt sich auch darin, dass die islamische Religionsgesellschaft
dem italienischen Staat das Gesuch gestellt hat, in den öffentlichen
Schulen den Koran zu lehren,.
- die katholische Kirche unterstützt dieses Gesuch und gibt dem
Koranunterricht die gleiche Bedeutung, wie der christlich-katholischen
Lehre.
4. Das abgetretene italienische Parlament hat die Möglichkeit blockiert, dass
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zur Revision der Studienprogramme experimentiert und diese auf den
neusten Stand gebracht werden können. Das Collegio hat damit ein Problem,
denn die heutigen Studienprogramme sind nicht mehr aktuell. Ein Teil ist 1994
und der andere Teil seit 1998 angepasst worden. Heute sind sie überholt.
Die neue Regierung will nun diese Anpassungen ermöglichen. So hoffen wir,
dass dies bald erfolgt, damit wir die alten Studienprogramme bald
aktualisieren können.
Und noch etwas
In seinem Schreiben vom April 2006 an die Freunde, die das Waldenser
Gymnasium finanziell unterstützen, schreibt der Direktor des Collegio:
„Wie immer müssen und wollen wir den Freunden und Förderern des Collegio
danken, die uns auch im Jahr 2005 aus Deutschland, der Schweiz, aus
England und aus Italien unterstützt haben und deren Hilfe für uns
unentbehrlich ist. Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Zuneigung und Ihre
Aufmerksamkeit. Ohne Ihre Hilfe könnte das Gymnasium nicht weiter geführt
werden.“
Schlussbemerkung
Liebe Waldenser Freunde, ich schliesse mit zwei Wörtern, die mir der Direktor der
Collegio Valdese, Dr. Elio Canale, mit auf den Weg gegeben hat, zwei Wörter, die
sich heute in ganz Italien in aller Munde verbreiten
Vaticano, Papa-re , auf Deutsch: Vatikan, Papst-König
Diese zwei Wörter besagen, dass der Papst sich wie ein König benimmt und seinen
Einfluss auf dem politischen Feld, insbesondere im italienischen Parlament und bei
der Regierung immer stärker zur Geltung bringt. Das Erstaunliche ist, dass
Parlament und Regierung, diese Einmischung stillschweigend dulden.
Weder Prodi, noch sein politischer Gegenspieler Berlusconi, nehmen dazu Stellung.
Nicht einmal die sonst so kritischen Journalisten protestieren dagegen.
Ich schliesse meine Äusserungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Charles Buffat
Bernische Waldenserhilfe
Bern, den 25. Juni 2006
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