Multimorbidität als Herausforderung des Gesundheitswesens in einer älter werdenden Gesellschaft Margarete Uranüs Landesnervenklinik Sigmund Freud / Graz Abtlg. für Alterspsychiatrie / Alterspsychotherapie Vorstand: Prim. Dr. Ch. Jagsch 2. Forum Gesundheitswirtschaft Basel 27/28.Juni 2013 Multimorbidität in der Literatur Aging with multimorbidity – A systematic review of the literature Alessandra Marengoni et al; Ageing Research Reviews Sept 2011 Gebräuchliche Definitionen Multimorbidität (nach van den Akker 1996): gleichzeitiges Auftreten von zwei oder mehr chron. und/oder akuten Krankheiten bei einer Person Komorbidität ( nach Feinstein 1967): jede assoziierte Erkrankung die aus einer anderen Erkrankung entsteht Fortschritt der Medizin verzögert Auftreten der Multimorbidität Anteil von Menschen mit 5 oder mehr Erkrankungen bei 58 bis 63 Jährigen Quelle: Alterssurvey 2010, DZA ©IHL, 2010 Lebenserwartung 1951: 2011: Männer Frauen 62,38 78,11 67,75 83,45 Quelle: Statistik Austria 6/2012 Quelle: CIA World Fact Book Demographie in Österreich 2010 8,4 Mio Einwohner 60 jährig 1,9 Mio (= 23,1%) 80 jährig 4,6% ( 8 Diagnosen; 7,5 Medikamente ) 2050 9,5 Mio Einwohner 60 jährig 3,2 Mio (= 34,1%) 80 jährig 13,2% ( d.h. 3x so viele über 80 jährige Pat. ) Quelle: Statistik Austria 2010 Häufigste chronische Erkrankungen bei Älteren Nach ICD-10 Patientenangaben: Herz-Kreislauf-Erkrankungen Arthrosen Erkrankungen des Bewegungs- u. Stützapparates Herzinsuffizienz Chronische Rückenschmerzen Osteoporose Koronare Herzerkrankungen PAVK COPD Schlaganfall Verletzungen Bösartige Neubildungen Diabetes Depressionen Demenz u. Multimorbidität – erst in höherem Alter problematisch Quelle: ÖBIG; Gesundheit und Krankheit der älteren Generation in Österreich 2012 Quelle: Berliner Altersstudie 1996 Je mehr Krankheiten eine Person hat desto schlechter ist die selbst wahrgenommene Lebensqualität Foto: Knut Vahlensiech Multimorbidität Ängste der Patienten /Angehörigen Angst vor Verlust der Selbstständigkeit eine Last für Andere werden Verlust der Selbstbestimmung dem Ausgeliefertsein an Maschinen einem qualvollen Sterben Kosten Foto: BR Gesundheitsausgaben in Österreich lt. System of Health Accounts (SHA) Quelle Statistik Austria 4/2013 Ausgaben 2011 32,4 Mrd. Euro Davon 30,7 Mrd. Euro laufende Gesundheitsausgaben 1,7 Mrd. Euro für Investitionen im Gesundheitsbereich Setzt sich zusammen aus A) laufende Gesundheitsausgaben B) Investitionen im Gesundheitsbereich Gesundheitsausgaben in Österreich lt. System of Health Accounts (SHA) Quelle Statistik Austria 4/2013 Anstieg d. Gesundheitsausgaben zw. 1990 und 2010 jährlich um 5,1% 2010 auf 2011 Steigerung von 2,6% Foto: BilderBox.com Table 7 . Personal expenditure on health by age and gender, 2009 (in Mio. Euro) 1-4 15-44 45-64 65-74 75-84 85+ Female Personal health care services 138 2617 2724 1844 2403 2020 In-patient services 47 1129 1405 1144 1564 1236 Day care services 1 17 18 14 16 8 85 1411 1186 540 392 174 5 61 115 146 430 601 4 101 134 83 93 61 28 570 765 511 476 269 19 468 610 394 343 165 Therapeutic appliances and other med. durables 8 102 156 117 134 104 Total personal health care services and goods 170 3288 3623 2439 2972 2350 175 70 2076 852 2732 1639 1779 1230 1489 1044 610 381 1 11 21 16 12 3 97 1135 950 414 231 83 6 78 122 119 202 144 5 82 123 80 64 23 37 516 689 438 309 96 Pharmaceuticals and other med. non-durables 26 410 514 314 211 59 Therapeutic appliances and other med. durables 11 106 175 124 98 37 Total personal health care services and goods 217 2675 3545 2297 1862 729 Out-patient services Home care Ancillary services to health care Medical goods dispensed to out-patients Pharmaceuticals and other med. non-durables Male Personal health care services In-patient services Day care services Out-patient services Home care Ancillary services to health care Medical goods dispensed to out-patients Jährlicher Netto-GKV-Umsatz der Apotheken in den einzelnen Altersklassen Quelle: Apotheker Berater, Ausgabe 8/2012 Gesundheit und Krankheit der älteren Generation in Österreich Quelle: ÖBIG 2012 Frauen: Frauen verbringen mehr LJ mit chron. KH Frauen beurteilen ihren Gesundheitszustand tendenziell ungünstiger als Männer Sind häufiger v. Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates betroffen und damit Mobilitätseinschränkungen Stürze bes. in höherem Lebensalter passieren Frauen öfters als Männer Sind häufiger psychisch beeinträchtigt Pflegebedürftigkeit ist größer (wg. höheren Alters u. Probleme des Bewegungs – u. Stützapparat Frauen sind im hohen Alter überwiegend alleinstehend Pflege von Frauen muss in deutlich höherem Maße institutionell geleistet werden Männer: Lebenserwartung ist um ca 5a geringer als bei Frauen Wenn Männer sehr alt werden haben sie vergleichsweise günstigere Lebensbedingungen und eine gute Lebensqualität Das therapeutische Team in der Behandlung multimorbider Patienten Arzt Sozialarbeit Pflegedienst Diätberatung Physiotherapie Patient Physikalische Therapie Ergotherapie Logotherapie Seelsorge Folgen der Multimorbidität für das Gesundheitssystem Zahl der Arztkontakte steigt Zahl der KH Aufenthalte steigt (häufiger u. länger) Zahl der ärztlichen Verordnungen steigt (Gefahr UAW) Clinical Practice Guidelines and Quality of Care for Older Patients With Multiple Comorbid Diseases Quelle: JAMA 2005; 294:716-724 Cynthia M Boyd Jonathan Darer Chad Boult Linda P Fried Lisa Boult Albert W Wu Multimorbidität und Leitlinien Hypothetische geriatrische Patientin: 79a, DM Typ II, Hypertonus, COPD, Osteoporose, Arthritis Bei leitliniengerechte Therapie: > 12 verschiedene Medikamente > Insgesamt 19 Einzeldosen > 5 verschiedene Einnahmezeiten > 18 evidenzbasierte Ratschläge zur Lebensführung und Diät > Zahlreiche Praxisbesuche, Patientenschulungen und Selbstkontrollen > 4 Routinebesuche beim Hausarzt mit 15min, min. 1 Augenarztbesuch pro Jahr Quelle: Boyd et al JAMA 2005; 294;716-724 Multimorbidität und Leitlinien Folge: Relevantes Risiko von UAW und Wechselwirkungen Die Medikation ist nicht unangemessen, allerdings soll die Patientin für 2 ihrer Erkrankungen Medikamente einnehmen die sich auf andere ihrer 5 Erkrankungen negativ auswirken könnten Pat. muss in 8 Bereichen darauf achten die Therapie nicht durch ihre Ernährung (z.B. Fruchtsäfte, Alkohol) zu beeinträchtigen Die Empfehlungen widersprechen sich teilweise (z.B. Empfehlung zur Bewegung bei Diabetes und Arthritis) Quelle: Boyd et al JAMA 2005; 294;716-724 Multimorbidität und Leitlinien Fazit: krankheitsspezifische Leitlinien Enthalten zumeist keine Empfehlung zur notwendigen Adaptation bei älteren Patienten Enthalten zumeist keine Empfehlung zur notwendigen Prioritätensetzung bei Multimorbidität Sind bei Multimorbidität schwierig zu implementieren Können gefährlich werden ( Interaktionen, UAWs, Hospitalisierung, Einnahmefehler…) Quelle: Boyd et al JAMA 2005; 294;716-724 Leitlinien für Patienten mit Mehrfacherkrankungen Behandlungsprioritäten setzen Berücksichtigung des Gesamtzustand des Patienten Ressourcenorientiert behandeln Ziel = Verbesserung der Lebensqualität Multimorbidität führt zu Polypharmazie Anzahl Medis & Wechselwirkungen Quelle: Hiemke C., et al.; Wechselwirkungen bei der Psychopharmakatherapie; Arzneimitteltherapie 21,11 (2003) 331-335 Compliance – Anzahl an Arzneimittel Quelle: Darnell et al, J.Am.Ger.Soc. 1986 Medikation und ihre Folgen negative „Behandlungskaskaden“ Neuroleptika + / Benzodiazepine > Sturz > Schenkelhalsfraktur > Pneumonie Acetylcholinesterasehemmer Bradycardieneigung, Synkope > Stürze + ß-Blocker > Arzneimittel mit GI-Blutungsrisiko NSAR (De Abajo BMJ 1999 Oksbjerg Dalton S Arch Intern Med 2003) SSRI NSAR + Glucocortikoide NSAR + SSRI (überadditiv) Kombination erhöht Risiko um das 10 fache! (Dalton S Arch Intern Med 163, 59-64; 2003) NSAR + Biphosphonate Pharmakotherapie im Alter Strenge Indikationsprüfung Niedrige Anfangsdosis - langsame Dosisanpassung („slow and low“) Auswahl der optimalen Applikationsform Einfaches Verordnungsschema Regelmäßiges Hinterfragen der Therapie (gibt es noch eine Indikation für dieses Medikament? Profitiert der Patient wirklich noch davon?) Auslass- und Absetzversuche Aktives Monitoring von Nebenwirkungen Zusammenfassung 1 Gleichzeitiges Auftreten mehrerer Erkrankungen ist von hoher sozialmedizinischer und gesundheitsökonomischer Bedeutung Dies gilt vor allem für chronische Erkrankungen die eine dauerhafte oder wiederkehrende medizinische Behandlung erfordern Quelle: „Multimorbidity and quality of life“ Fortin M Dubois F Hudon C et al (2007) Zusammenfassung 2 Eine bedarfsgerechte Versorgung sollte sich nicht nur auf einzelne Hauptdiagnosen konzentrieren sondern immer auch das Gesamtbild der Morbidität – mit Blick auf Lebensqualitätseffekte – berücksichtigen Behandlungsziele bei Multimorbidität sind: Quelle: „Gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Multimorbidität im Alter“ ; Hodek Ruhe Greiner Springer-Verlag 2009 Quelle: „Herausforderung an die Gesundheitsforschung für eine alternde Gesellschaft a Beispiel „Multimorbidität“: Scheidt-Nave Richter Fuchs Kuhlmey Springer-Verlag 2010 Bewältigung tägl. Anforderungen (ADL`s) Selbstbestimmte Lebensführung (Autonomie) Soziale Aktivitäten Lebensqualität Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit