Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 22 1.2.4 Einkommen und Nachfrage Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Bwl und Vwl ergibt sich daraus, daß man gesamtwirtschaftlich nichts ausgeben kann. Alles was man ausgibt, gibt man irgend wem. Die Auszahlungen des Einen sind daher die Einnahmen der Anderen. Daher kann man, so plausibel die Sache auch betriebswirtschaftlich erscheint, volkswirtschaftlich nicht sagen, die Kosten seien zu hoch. Die Kosten von A sind die Einnahmen von B. Die Einnahmen von B ermöglichen die Ausgaben von B – und die Ausgaben von B sind wieder die Einnahmen von A. Diese Logik wird dann und nur dann durchbrochen, wenn wir entweder nur einen Teil der Wirtschaft betrachten – dies wird gleich wichtig, wenn wir zur Außenwirtschaft kommen. Denn dann kann natürlich ein Land mehr ausgeben als es einnimmt – mit der Folge, daß es sich im Ausland verschuldet. Oder aber dann, wenn B einen Teil seiner Einnahmen nicht wieder ausgibt. Aber, das der Einwand von Say: Warum sollte irgend jemand einen Teil seines Einkommens nicht ausgeben wollen – wer Kapital bereitstellt, verzichtet doch auf Konsum, wer Arbeit bereitstellt, verzichtet auf Freizeit. Warum sollte irgend jemand diesen Verzicht leisten, wenn nicht, um sich mit dem so erzielten Einkommen früher oder später etwas zu kaufen? Ein Angebot (so Say) ist daher immer zugleich eine Nachfrage – oder in der Logik des volkswirtschaftlichen Kreislaufs – eine (geplante) Einnahme ist immer zugleich eine (geplante) Ausgabe. Zwingender wurde dieses Argument von Walras vortragen. So lange ich Einkommen nicht wegwerfe, plane ich, irgendetwas damit anzufangen. Dieses „irgendetwas“ ist aber immer eine Nachfrage. Falls ich es ausgeben will, ist es eine Konsumnachfrage – und falls ich es sparen will, frage ich eben Geld (oder Wertpapiere oder was immer) nach. Also muß die (geplante) Nachfrage (addiert über alle Märkte) immer so hoch sein, wie das (geplante) Angebot (addiert über alle Märkte). Aber dies nun heißt nicht, daß Walras es geschafft hätte, damit alle Probleme per Definition zu beseitigen. Es genügt nämlich nicht, daß die aggregierte Nachfrage gleich dem aggregierten Angebot ist, damit ein Gleichgewicht erreicht wird. Dies muß auch für die einzelnen Märkte gelten – und dies wird bei Walras über den Preismechanismus erreicht. Sehen wir uns dies in der aggregierten Form an. Wenn Sie eine Volkswirtschaft in der einfachsten Form betrachten, so besteht diese nur aus unterschiedlichen Unternehmen und Haushalten (geschlossene Volkswirtschaft ohne Staat).1 1 Ich erinnere daran, daß diese Unterscheidung funktional, nicht personal ist. Eine Person, die z.B. eine Putzhilfe anstellt, zählt in dieser Betrachtung als ein Unternehmen, das (mit dem Einsatz von Arbeit (der Putzhilfe) und Kapital (Staubsauger etc.)) Dienstleistungen erstellen läßt, welche die gleiche Person in ihrer Eigenschaft als Haushalt konsumiert. 22 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 23 In der makroökonomischen Betrachtungsweise werden diese zu Sektoren zusammengefaßt. Durch diese Aggregation verschwinden die Lieferungen und Zahlungen der Unternehmen untereinander – denn was beim Unternehmen A Kosten sind (der Kauf von Vorleistungen bei Unternehmen B) sind bei Unternehmen B Erlöse (der Verkauf von Schmiermitteln z.B.). Die einzige Ausnahme zu dieser Betrachtung bildet der Kauf von Investitionsgütern. Denn dieser erhöht den Sachkapitalbestand. Die Haushalte (denen gehören ja die Unternehmen) sind am Ende der Periode um die Nettoinvestitionen reicher. Und dieser Zugang zum Vermögen muß auch in der Aggregation ausgewiesen werden. Abb. 9 – Kreislaufbeziehung Löhne Gewinneinkommen Einkommen Ausgaben / Kosten Unternehmenssektor Haushaltssektor Konsumnachfrage Erlöse Nachf rage Investitionen Ausgaben / Einkommensverwendung Investitionsfinanzierung Das Problem besteht jetzt darin, daß die Entscheidung der Haushalte zu sparen gleichbedeutend damit ist, Geldvermögen nachzufragen. Für die Unternehmen bedeutet dies, daß ein Teil des Geldes, das sie den Haushalten (in Form von Löhnen und Gewinneinkommen) geben, nicht wieder an sie zurückfließt. Bestünden die Einnahmen der Unternehmen nur aus der Konsumnachfrage der Haushalte, so müßten sie Jahr für Jahr mehr (Löhne und Gewinneinkommen) auszahlen, als sie über ihre Verkäufe erlösen. Das kann aber auf die Dauer nicht gut gehen. Arbeiten die Unternehmen nur mit Fremdkapital, so werden sie sehr schnell überschuldet sein und pleite gehen. Haben sie auch Eigenkapital, so können sie zwar vielleicht ihre Löhne und Zinsen weiter zahlen – aber irgendwo müssen sich die niedrigeren Verkäufe zeigen – und in diesem Fall heißt dies dann eben, daß die Lohn- und Zinszahlungen nur zu Lasten der Gewinne auf das Eigenkapital weiter gezahlt werden können – und so ein Renditeeinbruch regt ja auch nicht gerade dazu an, das Geschäft weiter auszubauen. 23 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 24 Der Nachfrage der Haushalte nach Ersparnis steht also ein Einnahmeausfall der Unternehmen gegenüber – es sei denn, diese fehlende Nachfrage der Haushalte nach Gütern und Dienstleistungen wird durch eine andere Nachfrage kompensiert – durch die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionen. Damit also die Unternehmen kostendeckend produzieren können, muß die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionsgütern (I) gleich der Nachfrage der Haushalte nach zusätzlichem Geldvermögen (S) (der gewünschten Ersparnis) sein. Die Crux an der Sache ist, daß die Nachfrage nach Investitionen von anderen Akteuren (den Unternehmen) geplant wird als die Nachfrage nach Ersparnis (den Haushalten). Damit die Bedingung S = I erfüllt ist, müßten z.B. die Unternehmen gerade dann ihre Investitionen erhöhen, wenn die Nachfrage der Haushalte nach Gütern und Dienstleistungen zurückgeht. Das hört sich erst mal unplausibel an. Die Frage ist daher, was diese beiden Nachfragen zum Ausgleich bringt. Was also geschieht, wenn, sage, das produzierte Angebot yS 1000 beträgt, die Konsumnachfrage (C) 800 und die Unternehmen planen nur Investitionen im Umfang von 100? Hierauf gibt es zwei Antworten. angebotsorientiert: Die Preise passen sich an. Angebotsorientiert wird die Ersparnis interpretiert als ein Angebot von Kapital, die Investition umgekehrt als Nachfrage nach Kapital am Kapitalmarkt – wobei der Preis am Abb. 10 Ausgleich von I und S am Kapitalmarkt der reale Zinssatz ist. In der Kapitalmarkt betrachteten Situation ist die Nachfrage nach Geldvermögen (S) und daher das Angebot an iR S Kapital höher als die Nachfrage der Überlassung von Ersparnis zum Zwecke der Investition: I = 100 (qua Annahme). S = y – C = 1000 – 800 = 200 Es liegt also ein Überschußangebot am Kapitalmarkt vor – mit der Folge, daß der I Preis der Überlassung von Kapital, der reale Zinssatz, sinkt. Im Beispiel sinke der Zinssatz von, sage, 6% auf 4 %. Die InvestiI, S tionsnachfrage steigt von 100 auf 150. Und, + dI - dS weil Sparen jetzt weniger Zinsen in der Zukunft erbringt, sparen die Haushalte weniger (150 statt 200). Die Konsumnachfrage steigt entsprechend von 800 auf 850. Die Konsequenz der höheren Investition ist, daß in der Zukunft das Volkseinkommen steigt – denn die Investitionen erhöhen den Kapitalstock und die Produktionsfunktion 24 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 25 (y=f(K,L)) sagt uns, daß ein höherer Kapitaleinsatz eine höhere Produktion ermöglicht. Ferner steigt der Reallohn (denn der reale Zinssatz ist gefallen, daher ist r gesunken und die factor-price-frontier weist aus, daß ein niedrigeres r ein höheres wR bedeutet). Und der Reallohnsatz steigt deshalb, weil der höhere Kapitaleinsatz auch mehr Arbeit erfordert, weil also die Nachfrage nach Arbeit steigt. Angebotsorientiert führt also eine höhere Sparbereitschaft auf • niedrigere Zinsen • höhere Investitionen sowie (in der Zukunft, wenn die Investitionen kapazitätswirksam werden) • ein höheres Volkseinkommen und • höhere Beschäftigung bei höheren Reallöhnen. Damit dies funktioniert, müssen die Preise hinreichend flexibel sein – im hier skizzierten Beispiel müßten die (realen) Zinsen sinken und die Reallohnsätze steigen können. nachfrageorientiert: Einkommen (und Beschäftigung) passen sich an. Keynes zeigte, daß es höchst fragwürdig ist, daß der Zusammenhang so funktionieren kann, wie die Neoklassik ihn skizziert. Das Problem ist, daß wenn wir über den Kreditmarkt reden, die Kreditnachfrage eben nicht nur aus Investitionsvorhaben resultiert. Vielmehr ist es so, daß Unternehmen, die auf Grund einer zu geringen Nachfrage ihre Produkte nicht verkaufen können, eine zusätzliche Kreditnachfrage entfalten müssen, um ihre Verluste zu finanzieren. Auch Unternehmen, die nicht so viel verkaufen wie geplant, müssen nämlich Löhne auszahlen, die Miete überweisen und ihren Zinsverpflichtungen nachkommen. Daher lautete das Argument von Keynes (nicht in der „Allgemeinen Theorie“ von 1936, sondern bereits in „Vom Gelde“ von 1930): • Übersteigt die Ersparnis der Haushalte die von den Unternehmen geplanten Investitionen, dann entstehen bei den Unternehmen Verluste. • Diese Verluste erzeugen eine zusätzliche Kreditnachfrage • Und diese zusätzliche Kreditnachfrage verhindert, daß die Zinsen sinken.2 Die Ersparnis finanziert deshalb die Verluste, die sie selbst verursacht. Sie führt nicht zu einer Vermögensbildung, sondern lediglich zu einer Vermögensumverteilung: die Haushalte, denen die Unternehmen gehören, werden um die Verluste ärmer, die übrigen um diesen Betrag reicher. Dementsprechend steht sie nicht für eine zusätzliche Investition zur Verfügung. Daher kann der Zinssatz nicht für einen Ausgleich von Investition und Ersparnis sorgen. 2 Umgekehrt entstehen (unverteilbare) Gewinne, wenn die Unternehmen mehr investieren als die Haushalte sparen wollen. Ein Investitionsboom finanziert sich daher von selbst. Dies ist die Logik des „Wirtschaftswunders“ der 50iger, in dem hohe Investitionen mit einer geringen Ersparnis der Haushalte einhergingen. Diese Extragewinne bewirken dann natürlich eine ungleiche Vermögensverteilung, weil sie eben bei den Eigentümern der Unternehmen anfallen. 25 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 26 Wenn aber nicht der Zinssatz, was dann? Keynes Antwort war die einkommensabhängige Ersparnis. Wenn S bei einem Einkommen von 1000 höher als die geplanten Investitionen ist, dann muß das Einkommen eben so lange fallen, bis die Haushalte zu arm sind, um mehr sparen zu können, als die Unternehmen investieren wollen. In unserem Beispiel betragen die geplanten Investitionen 100. Bei einem Einkommen von 1000 wollen die Haushalte 200 sparen. Nehmen wir mal als einfachsten Fall an, wir hätten keinen autonomen Konsum und die marginale Sparquote (s) sei konstant (und daher gleich der durchschnittlichen). Dann haben wir: S = s * y ==> s = S/y ==> s = 200/1000 = 0,2 Gleichgewicht besteht bei S = I und die Investitionen betragen annahmegemäß 100. Also muß gelten: s*y=I bzw. 0,2 * y = 100 ==> y* = (1/0,2) * 100 = 500 Wenn also das Einkommen von 1000 auf 500 fällt, dann fällt die Ersparnis so weit, daß Ersparnis und Investitionen ausgeglichen sind. Und dieses Ergebnis wird sich einstellen, denn die Unternehmen machen ja, so lange die Ersparnis höher als die Investitionen ist, Verluste. und diese Verluste regen zu einer Einschränkung der Produktion an. Allgemein beträgt das Einkommen ein mehrfaches der autonomen (nicht einkommensabhängigen) Nachfrage (Investitionen, autonomer Konsum, Exportnachfrage, Staatsnachfrage). Einkommen = Multiplikator * autonome Nachfrage. Im einfachsten Fall ist dieser Multiplikator gleich eins geteilt durch die marginale Sparquote. Er fällt niedriger aus, • wenn Steuern beachtet werden (es wird dann angenommen, daß der Staat sein Budget bereits verabschiedet hat. Höhere Steuereinnahmen führen in diesem Fall nicht zu zusätzlichen Staatsausgaben, werden vom Staat mithin gespart), • wenn das Ausland ins Spiel kommt (weil ein Teil der Nachfrage dann ins Ausland geht (Importnachfrage wird)), • wenn die Zinsen im Modell beachtet werden (weil für ein höheres Volkseinkommen mehr Geld angeboten werden muß und dies – unter sonst gleichen Umständen – ein höheres Zinsniveau erfordert). Diese Modifikationen betreffen jedoch nur die Höhe des Multiplikators. Die Logik des Zusammenhangs bleibt davon unberührt. Nach Keynes wird also die Gleichheit von I und S (von gesamtwirtschaftlichem Angebot und gesamtwirtschaftlicher Nachfrage am Gütermarkt) nicht über die Preise hergestellt, sondern über die Anpassung des Einkommens. Dies eben nicht, weil irgendwelche Preise fix wären (starre Löhne oder so), sondern weil der Preismechanismus systematisch nicht 26 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 27 funktioniert: Der Zins ist zwar flexibel. Er fällt aber dennoch nicht, weil die Verluste selbst eine zusätzliche Kreditnachfrage bewirken. Also: Hohe Ersparnis Die Unternehmen machen Verluste Die Unternehmen schränken die Produktion ein Das Einkommen geht zurück Daher geht die Ersparnis zurück. Am Ende steht ein Gleichgewicht, in dem das Einkommensniveau realisiert wird, bei dem I = S ist – und es gibt keinen Grund, warum bei diesem Einkommen gerade Vollbeschäftigung herrschen sollte. Natürlich findet dieser Mechanismus seine Grenze dann, wenn Vollbeschäftigung erreicht ist. Das Einkommen kann nicht mehr weiter steigen, weil die Produktion nicht mehr weiter ausgeweitet werden kann – die Unternehmer finden keine Arbeiter mehr. Daher bieten sie die Löhne hoch – und die steigenden Lohnkosten wiederum lassen die Preise steigen (Lohn-Preis-Spirale). Unterhalb des Vollbeschäftigungsniveaus kann es, bei Kapazitätsengpässen, zwar ebenfalls zu steigenden Preisen kommen. Diese Preissteigerungen sollten sich aber wieder zurückbilden, wenn die Kapazitäten ausgeweitet wurden – wenn sie nicht zuvor in höhere (Nominal-)Lohnabschlüsse gemündet hatten. I.2.5 Resümee: angebots- vs. nachfrageorientierte Theorie Es gibt also zwei theoretische Sichtweisen: die angebots- und die nachfrageorientierte Sicht. Bei der angebotsorientierten Sichtweise sorgt der Preismechanismus dafür, daß alles, was produziert wird, auch abgesetzt werden kann. Die Nachfrage ist daher im Prinzip kein Problem und deshalb entscheidet die Höhe des Angebots an Faktorleistungen, gegeben die Produktionsfunktion, über die Höhe des Volkseinkommens. Daraus folgt natürlich, daß das Faktorangebot auch ausgenutzt wird. Die angebotsorientierte Theorie weist also ein Gleichgewicht am Arbeitsmarkt, sprich Vollbeschäftigung, aus. Arbeitsmarkt und Kapitalmarkt sind in Sonderheit darüber verbunden, daß (wegen des Faktorpreiszusammenhangs) Zinssatz, Profitrate und Reallohnsatz funktional voneinander abhängen. In die Arbeitsnachfragefunktion gehen die am Kapitalmarkt geforderten Zinsen ein und am Kapitalmarkt fragen die Unternehmen wenig Kapital nach, wenn die Löhne hoch sind. Die Einschränkung ist dabei die Forderung, daß der Preismechanismus funktionieren muß. Die Preise müssen schnell genug reagieren können, um eine zügige Anpassung zu 27 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 28 ermöglichen. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, reagieren die Preise träge, oder sind in Sonderheit die Löhnsätze nach unten rigide, dann kann die Markträumung dauern. Es kann daher für einige Zeit Arbeitslosigkeit auftreten, aber diese sollte mit der Zeit von selbst wieder verschwinden. Ich komme hierauf später wieder zurück. Abb. 11 – Logik der angebotsorientierten Theorie Gleichgewicht am Arbeitsmarkt Gleichgewicht am Kapitalmarkt Arbeitseinsatz (L*) Kapitaleinsatz (K*) Produktionsfunktion Output = Angebot (= Einkommen) y* = PF(L*, K*) Nachfrage In der nachfrageorientierten Theorie ist umgekehrt die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen die entscheidende Größe Hier paßt sich das produzierte Angebot der Nachfrage an – und daher ist mit der Nachfrage zugleich die Beschäftigung bestimmt. Weder die Beschäftigung, noch die Reallohnsätze bestimmten sich am Arbeitsmarkt. Die Beschäftigung nicht, weil sie durch die Nachfrage vorgegeben wird und der Reallohnsatz nicht, weil er, über die Wirkungskette: realer Zinssatz – Profitrate – Reallohnsatz, auf den Vermögensmärkten bestimmt wird. Ein nachfrageorientiertes Gleichgewicht kann daher – jedenfalls bei Keynes – ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung sein. Ich weise erneut darauf hin, daß, wie schon eingangs hervor gehoben, diese Position, daß Keynes auch für die lange Frist gilt, eine Minderheitenmeinung ist. Üblicher Weise wird davon ausgegangen, daß die keynesianische Theorie eine Theorie rigider Preise sei. In dieser Logik gilt die angebotsorientierte Theorie auf mittlere bis lange Sicht, während Keynes (allenfalls) für kürzere Zeiträume relevant ist. Keynes würde dann nur eine Theorie der Konjunkturpolitik liefern. 28 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 29 Es bleibt daher Ihnen überlassen, welcher Sicht Sie sich anschließen: Ob Sie davon ausgehen, daß wir es mit zwei konkurrierenden Ansätzen zu tun haben oder ob Sie für langfristigere Fragen angebotsorientiert und für kurzfristigere eher mit Keynes argumentieren. Abb. 12 – Logik der nachfrageorientierten Theorie Nachfrage Angebot = Einkommen = Output (Umkehrfunktion der) Produktionsfunktion -1 (Beschäftigungsfunktion): L,K = PF (y) Arbeitsnachfrage Kapitalnachfrage Arbeitslosigkeit 29 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 30 I.3 Außenwirtschaftliches Mit der Außenwirtschaft kommen zwei Modifikationen in die makroökonomische Betrachtung. Erstens rückt ein zusätzlicher Preis in den Blickpunkt: der Wechselkurs. Und zweitens wird der geschlossene Kreislauf, der für die Theorie der geschlossenen Volkswirtschaft gilt, durch die Betrachtung des Auslands aufgebrochen.3 Die Transaktionen mit dem Ausland werden in der Zahlungsbilanz erfaßt. Diese beiden Aspekte sollen in diesem Abschnitt kurz wiederholt werden. I.3.1 Zahlungsbilanz Alle Transaktionen, die mit dem Ausland stattfinden, werden in den Teilbilanzen der Zahlungsbilanz abgebildet. Dabei erfaßt die Leistungsbilanz die Lieferungen ans Ausland und die Bezüge aus dem Ausland, während die Kapitalbilanz Dispositionen über Vermögen und Vermögensänderungen erfaßt. Die Leistungsbilanz besteht im wesentlichen aus den Teilbilanzen: Handelsbilanz. Diese erfaßt die Ex- und Importe von Gütern und Dienstleistungen. In manchen Statistiken ist sie nochmals unterteilt in Handelsbilanz (Güter) und Dienstleistungsbilanz. Erwerbs- und Vermögenseinkommen. Erfaßt Lohneinkommen von Inländern im Ausland und umgekehrt (Pendler) sowie Zinszahlungen. Transfer- oder Schenkungsbilanz. Erfaßt Leistungen ohne Gegenleistung. Hier werden vor allem erfaßt: Zahlungen der BRD an internationale Organisationen, Überweisungen ausländischer Arbeitnehmer mit Wohnsitz im Inland ans Ursprungsland, Entwicklungshilfe – soweit sie als Schenkung und nicht als Darlehn gewährt wird. Der Saldo der Leistungsbilanz ist damit die Differenz von allen Zahlungen ans Ausland (für Güter, Schenkungen, Bankgebühren etc.) und allen Zahlungen aus dem Ausland an Inländer. Eine aktive Leistungsbilanz bedeutet also, daß eine Volkswirtschaft im Verkehr mit dem Ausland mehr eingenommen als ausgegeben hat. Das Vermögen gegenüber dem Ausland ist gestiegen. Umgekehrt bedeutet eine passive Leistungsbilanz, daß sich die Volkswirtschaft im Ausland verschuldet hat. In Zukunft stehe Ex für alle Transaktionen mit dem Ausland, die zu Einnahmen führen und Im stehe für alle Transaktionen, die zu Ausgaben führen. Ex – Im ist daher gleich dem Saldo der Leistungsbilanz. Die Kapitalbilanz erfaßt die Veränderung der (privaten und öffentlichen) Vermögensbestände. Abgesehen von dem Posten „Errors and Omissions“ ist der Saldo der Kapitalbilanz also die Gegenbuchung zum Saldo der Leistungsbilanz. Das, was in der 3 Allerdings ist die Welt insgesamt dann wiederum eine geschlossene Volkswirtschaft. Hierauf wird noch zurück zu kommen sein. 30 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 31 Leistungsbilanz an Einnahmeüberschüssen erzielt wurde, wird in der Kapitalbilanz als Vermögenszugang gegengebucht. Die privaten und öffentlichen Kapitalexporte (Kex) plus dem Zugang an Devisenbeständen der Notenbank (D) müssen also (abgesehen von den Errors und Omissions) gleich den Kapitalimporten plus dem Saldo der Leistungsbilanz sein. Es muß also gelten: D + Kex – Kim = Ex – Im Die Kapitalbilanz kann schließlich weiter abgegrenzt werden in • Direktinvestitionen • langfristigen Kapitalverkehr und • kurzfristigen Kapitalverkehr Zahlungsbilanz der BRD 2004 (Mio. €; Quelle: Deutsche Bundesbank) Leistungsbilanz Ex Im Handelsbilanz 835 723 Erwerbs. + Vermögenseink. 107 107 Übertragungen (nur: Saldo) 28 Saldo LB 84 Kapitalbilanz Saldo Kapitalbilanz (Kex – Kim) 112 Devisenbilanz Erhöhung Devisenreserven (+D) 1 Errors and Omissions nicht erfaßt 27 Im Jahre 2004 nahm die BRD 84 Mrd. € mehr vom Ausland ein als sie an das Ausland zahlte. Dies besagt der Saldo der Leistungsbilanz. Entsprechend erhöhte sich das Vermögen gegenüber dem Ausland (Saldo der Kapitalbilanz plus Saldo der Devisenbilanz). Allerdings gibt es Erhebungsfehler in Höhe von 27 Mrd. Entweder wurde mehr exportiert als statistisch erfaßt oder ein Teil der Kapitalimporte wurde nicht erfaßt. Bitte beachten Sie ferner, daß die Statistik nur den Saldo der Kapitalbilanz ausweist. Also nicht die Höhe aller Kapitalex- und -importe, sondern nur die Nettokapitalexporte bzw. Importe. Das macht einerseits Sinn, weil man ja sonst jede Menge Mehrfachzählungen in der Statistik hätte: Viele Geschäfte an Devisen(termin)märkten und bei Finanzderivaten 31 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 32 sind sehr kurzfristig und sie lösen eine Reihe weiterer Kurssicherungsgeschäfte aus. Der gleiche Vermögenswert wird also innerhalb eines Jahres mehrfach umgeschlagen, mehrmals ex- und importiert. Andererseits könnte man so das Gewicht des Kapitalverkehrs leicht unterschätzen: Der jährliche Umsatz alleine auf den internationalen Devisenmärkten macht mehr als das 50fache der Ex- und Importe aus und es gibt Schätzungen, nach denen lediglich 10% der Devisengeschäfte durch den Außenhandel bedingt sind. Und die Devisengeschäfte sind ja ihrerseits nur ein Teil des internationalen Kapitalverkehrs. Von den Erhebungsfehlern sehe ich in Zukunft ab. Daher gilt: Kex – Kim + D = Ex – Im Diese Beziehung besagt, daß einem Exportüberschuß saldenmechanisch ein Kapitalexportüberschuß (Kex > Kim) gegenüberstehen muß. Kapitalexport ist Erwerb zusätzlichen Vermögens gegenüber dem Ausland. Wenn eine Ökonomie daher nicht gerade ihre Währungsreserven aufstocken will (+D), dann kann sie nur entweder einen Überschuß der Leistungsbilanz oder (Netto-) kapitalimporte aufweisen. Wer einen Leistungsbilanzüberschuß hat, exportiert Kapital. Wer erfolgreich Kapital importiert, hat ein Leistungsbilanzdefizit. Entsprechend kann nur entweder der Saldo der Kapitalbilanz oder der Saldo der Leistungsbilanz das Kriterium für die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft sein. Nie beides zugleich. Eine zweite Überlegung ergibt sich ebenfalls aus den einfachen Gesetzen der Buchführung: Die Exporte von Land A gehen ja irgendwo hin. Sie sind daher in irgend einem Land der Welt Importe. Für die Welt insgesamt muß daher gelten: Ex = Im und Kex = Kim abgesehen von statistischen Erhebungsfehlern ist der Saldo der Leistungs- und der Kapitalbilanz für die Welt insgesamt gleich Null.4 (Tatsächlich weist die Statistik Jahr für Jahr einen globalen Importüberschuß aus, was daran liegt, daß Frachten und Versicherungen bei Ex- und Importen unterschiedlich berücksichtigt werden.) Daraus ergeben sich zwei weitere Bemerkungen: Erstens: Wenn Land A einen Exportüberschuß hat, dann muß zwingend ein anderes Land einen Importüberschuß aufweisen. Dies ist ein Zusammenhang, der z.B. in den Achtzigern in der politischen Diskussion um die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer gerne übersehen wurde: Man hielt den Entwicklungsländern gerne vor, sie hätten zu viel importiert (über ihre Verhältnisse gelebt). Es kamen aber nur wenige auf die Idee, den Industrieländern 4 Wie oben bereits erwähnt, sind wir, wenn wir die Welt insgesamt betrachten, wieder im Falle einer geschlossenen Volkswirtschaft. Daher muß hier wieder gelten, daß jede Ausgabe (Im) zugleich anderswo als Einnahme (Ex) verbucht werden muß. Einnahmeüberschüsse für alle kann es nicht geben. 32 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 33 vorzuhalten, sie hätten zu viel exportiert (und so die Verschuldung der Entwicklungsländer verursacht.) 5 Zweitens. Die Saldenbeziehung kann einen Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes abgeben: Ein durchschnittliches Land hat einen Leistungs- und Kapitalbilanzsaldo von Null. Je nachdem, ob man die Wettbewerbsfähigkeit an der Kapital- oder der Leistungsbilanz festmacht, weist also ein positiver Saldo eine über-, ein negativer Saldo eine unterdurchschnittliche Wettbewerbsfähigkeit aus. Abb. 13 - BRD - Leistungsbilanzsaldo in % des BIP 6,00% 5,00% 4,00% 3,00% 2,00% 1,00% 0,00% -1,00% -2,00% 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 (Quellen: SVR, Bundesbank, Schätzung für 2005: Economist) Nach dem die Leistungsbilanz der BRD in Folge der zweiten Ölpreiserhöhung kurzzeitig ins Minus gerutscht war, explodierte der Überschuß im Laufe der Achtziger. In der Folge der Wiedervereinigung stellte sich ein Leistungsbilanzdefizit ein (Wegbrechen der RGWMärkte für Ostdeutschland und Deindustrialisierung des Ostens), das zu Beginn dieses Jahrzehnts wieder in einen strukturellen Überschuß umgekehrt wurde. Die USA weisen (spätestens seit der Reagan-Ära) ein kräftiges Leistungsbilanzdefizit auf, das in den letzten Jahren deutlich wächst. 5 Oder, um ein Beispiel aus jüngerer Zeit anzuführen: Vor einigen Monaten forderte Schröder die USA auf, ihr Leistungsbilanzdefizit abzubauen, um so den Wechselkurs des $ zu stabilisieren. Letzteres, damit die Abwertung des $ die deutsche Exportindustrie nicht in Schwierigkeiten bringen würde. Daß ein Abbau des Defizits in den USA einen Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse anderswo impliziert – also z.B. eine Verminderung der Exporte der BRD erfordern könnte, kam ihm dabei nicht in den Sinn. 33 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 34 Abb. 14 - USA: LB-Saldo in % des BIP 1,00% 0,00% 1990 -1,00% 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 -2,00% -3,00% -4,00% -5,00% -6,00% -7,00% Quellen: SVR; Economist (für 2004 / 05) I.3.2 Realer Wechselkurs Der Wechselkurs (e) bezeichnet den Preis einer Währung gegenüber anderen Währungen. Er bildet sich über Angebot und Nachfrage nach Währungen an den Devisenmärkten.6 Wenn man von Transportkosten absieht, so ist der Preis, für den ein Exporteur sein Produkt im Ausland anbieten kann (unter Wettbewe rbsbedingungen7) gleich dem Preis im Inland mal dem Wechselkurs. Es wäre also der Angebotspreis für Veltins in den USA: pVeltins,USA [$] = pVeltins,BRD [€] * e [$/€] Die Konkurrenzfähigkeit mit anderen Bieren in den USA ergibt sich durch den Vergleich der Preise, z.B. durch den Vergleich mit dem Preis von Budweiser. pBud,USA zu pVeltins,USA 6 7 In dieser Veranstaltung kann nicht auf die unterschiedlichen Wechselkurstheorien eingegangen werden. Es sei aber an das oben erwähnte große Gewicht der Vermögensdispositionen an den Devisenmärkten erinnert. Angebot und Nachfrage an den Devisenmärkten folgen deshalb wohl vor allem Vermögenskalkülen. Daher, und darauf wird im Abschnitt zur Geldpolitik noch zurück zu kommen sein, ist der Wechselkurs auch für die Zinspolitik der Notenbank von Bedeutung. Tatsächlich weichen Preisforderungen regional voneinander ab. So sind z.B. Levis-Jeans in den USA ein (billiger) Massenartikel, während sie in Europa als (teure) Markenware plaziert werden. Ein solches „pricing to market“, bei dem die Preisgestaltung den jeweiligen Marktbedingungen angepaßt wird, ist ein Ausdruck unvollständiger Konkurrenz. (Vergleichen Sie übernächstes Jahr mal die Preise für Konzertkarten der Stones in Berlin und Prag.) 34 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 35 Es sind also drei Preise für die Bestimmung der Wettbewerbsfähigkeit eines Anbieters im Ausland wichtig: – der heimische Preis (der die Kosten der Produktion in heimischer Währung reflektiert) – der Wechselkurs, der die Kosten in heimischer Währung in die Kosten in der Währung der ausländischen Konkurrenten übersetzt – der Preis der Anbieter im Ausland, der deren Kosten in deren Währung ausdrückt. Diese drei Größen sind im realen Wechselkurs (eR) zusammengefaßt. In diesem stehen das Preisniveau des Inlandes und des Auslandes als Index der jeweiligen Preise. Es ist: eR = PBRD [€] $ ⋅ e PUSA [$] € Der reale Wechselkurs der BRD gegenüber den USA ergibt sich als Preisniveau der USA geteilt durch Preisniveau der BRD mal dem Wechselkurs des $. Die Währungseinheiten kürzen sich bei der Berechung heraus. Der reale Wechselkurs ist also eine dimensionslose Größe. Der reale Wechselkurs der BRD gegenüber den USA steigt, wenn entweder der Dollar abwertet und/oder das Preisniveau in der BRD schneller steigt als das in den USA. Ein steigender realer Wechselkurs (eine reale Aufwertung) bedeutet, daß die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes sinkt. Importe werden billiger, Exporte teuerer. Eine reale Abwertung ergibt sich, wenn der Dollar aufwertet und/oder das Preisniveau in den USA schneller steigt als in der BRD. In diesem Falle erhöht sich die Wettbewerbsfähigkeit von Anbietern mit Standort in der BRD gegenüber Anbietern aus den USA. Für die BRD verteuern sich Importe (aus den USA) und verbilligen sich Exporte. Allerdings hat der reale Wechselkurs ein Manko: Er liefert nur Informationen über die Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit, nicht über deren Niveau: Die nationalen Preisniveaus, die in die Berechnung des realen Wechselkurses eingehen, sind ja Indexziffern, d.h. sie werden für ein willkürlich gewähltes Jahr = 100 gesetzt. Damit ist der reale Wechselkurs ebenfalls eine Indexziffer, seine absolute Höhe hängt von der Wahl des Basisjahres ab. Um dies am Beispiel des realen Wechselkurses der BRD zu den USA zu illustrieren: Jahr 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 Realer Wechselkurs BRD/USA (Quelle: SVR) eR eR e ($/€) PBRD PUSA (1997 = 100) (2001 = 100) 1,13 97,1 93,2 100,00 132,96 1,12 98,0 94,7 98,19 130,56 1,07 98,5 96,7 91,89 122,17 0,92 100 100 78,17 103,94 0,90 102,0 102,8 75,21 100,00 0,95 103,4 104,5 79,19 105,29 1,13 104,5 106,8 93,68 124,56 Beide Reihen sagen aus, daß die BRD von 1997 bis 2001 gegenüber dem Dollar real abgewertet hat und von 201 bis 2003 real aufgewertet hat. Die absolute Höhe des realen 35 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 36 Wechselkurses hängt hingegen vom Basisjahr ab. Sie liegt 2003 bei 124,5, wenn man 2001 als Basis nimmt und bei 93,7, wenn man 1997 als Basis nimmt. Wenn man also entscheiden will, ob ein Land real überbewertet (und daher zu teuer, nicht hinreichend konkurrenzfähig) ist oder nicht, ob der reale Wechselkurs zu hoch ist oder nicht, braucht man neben dem realen Wechselkurs noch eine zweite Information: Man muß sich ein Urteil darüber bilden, in welchem Jahr denn ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht herrschte (welches Jahr man als Basis nimmt), bzw. bei welchem realen Wechselkurs denn Konkurrenzfähigkeit erreicht wäre. Ein weiteres Problem liegt in der – letztlich willkürlichen – Wahl des Preisindex. Lege ich, wie in der obigen Tabelle geschehen, den Verbraucherpreisindex zu Grunde? Oder nur den Preisindex der Exportgüter? – Dann aber habe ich u.a. das Problem, daß ich Güter nicht erfasse, die bei einem niedrigeren realen Wechselkurs wettbewerbsfähig würden und dann exportiert werden könnten. Oder den Produzentenpreisindex? – In diesen gehen die indirekten Steuern nicht ein und diese müssen die Exporteure ja auch nicht zahlen. Oder den BSP-Deflator? Oder den Großhandelspreisindex? Das Problem an der Sache ist, daß sich diese Indices keineswegs gleichmäßig entwickeln. Als der Dollar Anfang der Achtziger innerhalb kurzer Zeit massiv aufwertete, gab es in den USA eine Diskussion um die Überbewertung des $ (vor allem gegenüber dem Yen). Wie hoch diese Überbewertung ausfiel, hing aber ganz von der Wahl des Index ab – ja, Bergsten zeigte sogar, daß sich ein Index wählen ließ, nach dem diese reale Aufwertung gar nicht statt gefunden hatte. Ich erwähne dies nicht, um zu zeigen, daß es keinen Sinn macht, sich Statistiken anzusehen. Aber Sie sollten sich Ihr eigenes Urteil auch nicht sofort von jeder Statistik erschlagen lassen. Will man die (Entwicklung der) Wettbewerbsposition der BRD allgemein – und nicht nur gegenüber einem einzelnen Land – bestimmen, so zieht man den handelsgewichteten realen Wechselkurs (trade-weighted real exchange-rate) heran. Um ihn zu bilden, gewichtet man die Entwicklung der Indices der realen Wechselkurse gegenüber dem Ausland mit dem Anteil der jeweiligen Länder am Außenhandel der BRD. Um die Sache übersichtlich zu halten, sei dies am Beispiel der Entwicklung des realen Wechselkurses der BRD gegenüber der iberischen Halbinsel demonstriert. Sowohl Portugal als Spanien haben die gleiche Währung wie die BRD, also ist der nominale Wechselkurs definitionsgemäß gleich eins. Für die Entwicklung des realen Wechselkurses sind damit nur mehr die Inflationsdifferentiale entscheidend. 36 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 37 Schritt 1 besteht in der Berechnung der Entwicklung des realen Wechselkurses der BRD gegenüber den einzelnen Ländern: Jahr PBRD PSpan PPort eRBRD/Span eRBRD/Port 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 100,0 100,9 101,4 103,0 105,0 106,5 107,6 100,0 101,8 104,2 107,8 111,6 115,1 118,5 100,0 102,7 105,1 108,1 112,9 116,9 120,6 100,00 99,11 97,35 95,57 94,10 92,53 90,79 100,00 98,27 96,54 95,26 93,07 91,12 89,20 Die BRD hat – jedenfalls wenn wir die Verbraucherpreisindices zu Grunde legen, seit 1997 gegenüber Spanien um rund 9% abgewertet und gegenüber Portugal um rund 11%. Im zweiten Schritt sind jetzt die Gewichte zu bestimmen, mit denen die beiden bilateralen realen Wechselkurse in die Berechnung des realen Wechselkurses gegenüber iberischen Halbinsel insgesamt eingehen. Dies wäre am Beispiel Portugals: (Summe Exporte + Importe der BRD gegenüber Portugal) geteilt durch (Summe Exporte nach Spanien + Portugal + Summe Importe aus Spanien + Portugal) Auf der Grundlage der Außenhandelsumsätze 2004 betrugen diese Gewichte: Gewicht Portugal = (4638 + 6807)/( 4638 + 6807 + 17312 + 36809) = 0,175 Gewicht Spanien = (17312 + 36809)/( 4638 + 6807 + 17312 + 36809) = 0,825 Als realer Wechselkurs gegenüber der iberischen Halbinsel ergibt sich somit (für 1997 = 100) für das Jahr 2003 der Wert eRBRD/iberisch = 89,2 *0,175 + 90,79 * 0,825 = 90,5 Die BRD hat also – unter zu Grunde Legung des Verbraucherpreisindex – gegenüber der iberischen Halbinsel zwischen 1997 und 2003 um 9,5 % real abgewertet. Klausurfrage: Berechnen Sie die Entwicklung des realen Wechselkurses der BRD gegenüber dem Rest der Welt. (Erlaubte Hilfsmittel: Taschenrechner, Statistisches Jahrbuch.) I.3.3 Zwei Perspektiven an die Außenwirtschaft Wenn wir bei unserer Sichtweise aus Abschnitt I.2 bleiben, in der wir die angebots- und nachfrageorientierte Sicht über deren Interpretation der Produktionsfunktion unterschieden haben, dann kann die nationale Ökonomie kann letztlich nur über drei Einflußkanäle von der Weltwirtschaft beeinflußt werden. 37 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 38 Durch internationale Wirtschaftsbeziehungen kann die Produktivität steigen. Durch internationale Wirtschaftsbeziehungen kann sich das Faktorangebot verändern. Durch internationale Wirtschaftsbeziehungen kann sich die Nachfrage verändern. Da die Nachfrage, der sich die heimischen Unternehmen gegenübersehen, gleich der Nachfrage der Haushalte nach Konsumgütern, der Staatsnachfrage, der Nachfrage nach Investitionsgütern plus der Exportnachfrage seitens des Auslands ist, gilt: Y(D) = C + I + G + Ex Und da die Haushalte ihr Einkommen nur verwenden, um entweder Konsumgüter im Inland nachzufragen, Importgüter zu kaufen, Steuern zu zahlen (T) oder zu sparen, muß ferner gelten: Y = C + S + T + Im Die Gleichsetzung der beiden Ausdrücke ergibt: C + I + G + Ex = C + S + T + Im oder, umgestellt: I = S + (T – G) + (Im – Ex) bzw., wegen (Im – Ex) = (Kim –Kex) I = S + (T – G) + (Kim – Kex) Die Investitionen in einer Volkswirtschaft sind gleich der Ersparnis der Haushalte (S) plus dem Budgetüberschuß (T – G: Steuern minus Staatsausgaben) plus dem Defizit der Leistungsbilanz (also gleich: plus den (Netto-)Kapitalimporten).8 I.3.3.1 angebotsorientierte Sicht In der angebotsorientierten Sichtweise: y = f (K,L) sind die relevante Größe die Kapitalbewegungen. Ein Land, das bessere Verwertungsbedingungen für Kapital (mithin eine höhere Profitrate) bieten kann, induziert Kapitalimporte. Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit ist mithin der Profitratenvergleich. Diese Kapitalimporte ermöglichen wiederum, wegen I = S + (T – G) + (Kim – Kex) Die Kapitalimporte haben zwei Wirkungen: 8 Ex post – in der Systematik der VGR – gilt diese Gleichheit immer, weil das Zeug, das die Unternehmen nicht los werden, als Investition gezählt wird (ungeplante Lagerinvestitionen). Ex ante, das heißt für den Vergleich geplanter Investitionen und Ersparnis – gilt sie nur für das Gleichgewicht, ist Gleichgewichtsbedingung. 38 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 39 Erstens erhöhen sie (über die Produktionsfunktion) das Einkommen (das produzierte Angebot) direkt. Diese Wirkung ist allerdings für das Inland nicht unbedingt Wohlfahrt steigernd – das zusätzliche Kapital-Einkommen wird ja von den ausländischen Eignern als Gewinn angeeignet. Zweitens bedeutet ein höheres Kapitalangebot aber auch eine höhere Arbeitsnachfrage (denn irgendwer muß die zusätzlichen Maschinen ja bedienen). Daher steigen die Löhne und deshalb kann die Beschäftigung steigen. Wie oben schon betont: Angebotsorientiert bedeutet die Erhöhung der Beschäftigung eben nicht einen Abbau der Arbeitslosigkeit. Diese war auch vor dem Kapitalzustrom Null. Jede, der wollte hatte einen Arbeitsplatz. Aber auf Grund der zuvor niedrigeren Löhne wollten eben weniger als bei dem jetzt höheren Lohnniveau. Daher ist nach dem Kapitalzustrom das (Voll-)Beschäftigungsniveau höher. Umgekehrt bedeutet die Globalisierung in dieser Sicht deswe gen ein Problem, weil, auf Grund der Erleichterung der Kapitalbewegungen, Profitratendifferenzen jetzt schneller Kapitalbewegungen auslösen. Das Kapital wandert aus Ländern mit zu hohen Löhnen ab, daher sinkt dort die Arbeitsnachfrage und daher die Beschäftigung. Die Arbeitslosenzahlen steigen dann ebenfalls, wenn ein zu generöses Sozialsystem die notwendige Absenkung der Lohnsätze verhindert und die Menschen sich lieber arbeitslos melden, statt für etwas weniger Geld arbeiten zu gehen. Der Gegenposten zu (Netto-)Kapitalimporten sind Importüberschüsse: Ex – Im = Kex - Kim In dieser Sichtweise wären also die Exporte der BRD nicht deswegen so hoch, weil die Unternehmen in der BRD billig produzieren können und deswegen auf den Weltmärkten hochgradig wettbewerbsfähig sind. Sie sind vielmehr deshalb so hoch, weil die BRD Wettbewerbsnachteile hat, und das Kapital daher in Länder mit besseren Profitaussichten abwandert. Die Leistungsbilanzüberschüsse der BRD wären dann der Reflex der Kapitalexportüberschüsse. Und warum kauft das konkurrenzfähigere Ausland in der weniger konkurrenzfähigen BRD? Die Antwort hängt wieder an der Vollbeschäftigungsannahme. Weil in den Ökonomien, in welche die Kapitalimporte fließen, nicht einfach mehr produziert werden kann (in dem Land herrschte ja Vollbeschäftigung) müssen die Kapitalgüter, die für die zusätzlichen Investitionen erforderlich sind, quasi mitgebracht werden: Im – Ex = I – S – (T – G) I.3.3.2 nachfrageorientierte Sicht In der nachfrageorientierten Sichtweise ist die relevante Kategorie der Leistungsbilanzüberschuß. Exportnachfrage ist zusätzliche Nachfrage des Auslands nach inländischen Gütern und Importe bedeuten, daß ein Teil der heimischen Nachfrage im Ausland statt im 39 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 40 Inland anfällt. Ein Leistungsbilanzüberschuß bedeutet mithin, daß das Ausland im Inland mehr nachfragt als umgekehrt – und diese zusätzliche Nachfrage ermöglicht eine höhere Beschäftigung im Inland: dy = Multiplikator * (Ex - Im) Da die Ökonomie nicht bei Vollbeschäftigung gestartet ist kann sich die Produktion der höheren Nachfrage anpassen. Das Einkommen steigt – und mit einem höheren Einkommen ist auch die Ersparnis höher, wegen S = s * Y steigt S, wenn Y steigt. Entsprechend sind bei einem Leistungsbilanzüberschuß Einkommen und Beschäftigung höher als bei ausgeglichener Leistungsbilanz, bei einem Leistungsbilanzdefizit sind sie niedriger. Ein Land mit einem Leistungsbilanzüberschuß erhöht somit seine Beschäftigung zu Lasten des Auslandes. (Joan Robinson prägte hierfür den Ausdruck beggar-thyneighbour-policy.). Außenwirtschaft ist somit ein Wettbewerb um Marktanteile, um Absatzmärkte (wie dies schon der Merkantilismus postulierte). Und da die Summe aller Leistungsbilanzüberschüsse Null sein muß, bietet es sich an, dies zum Kriterium der Wettbewerbsfäfhigkeit zu machen: Ein Land mit einem (strukturellen) Leistungsbilanzüberschuß ist überdurchschnittlich wettbewerbsfähig. Ein Land ist unterdurchschnittlich wettbewerbsfähig, wenn es ein Defizit aufweist. Was ist dann mit den Unterschieden in den Profitraten? Nun, in der Neoklassik hatte ja der Arbeitsmarkt nur deshalb eine Einfluß auf die Profitrate, weil die Unternehmen bei einer höheren Profitrate (= niedrigeren Reallohnsätzen) nicht mehr genug Arbeiterinnen finden würden. Keynesianisch konnten sie hingegen ihre Profitrate durchsetzen, indem sie höhere Preise nahmen. (Weil der Reallohnsatz ja Geldlohnsatz durch Preisniveau ist, so daß ein höheres Preisniveau bei gegebenem Geldlohnniveau eine höhere Profitrate bedeutet.) Die Profitrate erscheint hier daher als eine Kategorie der Produktionskosten. Hohe Lohnsätze bei zugleich hoher internationaler Wettbewerbsfähigkeit sind deshalb kein Widerspruch. Sie sind (abgesehen von Unterschieden in der Produktivität) Ausdruck dessen, daß die Kapitalkosten in einem Land niedriger sind als in anderen – zum Beispiel, weil das Land auf Grund einer stabilen Währung ein niedrigeres Zinsniveau als andere Länder aufweist. I.4 Beispielfragen 1) Erläutern Sie den Unterschied zwischen Politikfeldern, Instrumenten und Zielen an einem Beispiel Ihrer Wahl. 2) Erläutern Sie den Begriff „Zielkomplementarität“ bzw. „Zielharmonie“ an einem Beispiel Ihrer Wahl. 40 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 41 Hinweis: Es muß sich nicht um ein ökonomisches Beispiel handeln, falls Ihnen gerade keines einfällt. 3) Was verstehen Sie unter einem policy-mix? Erläutern Sie den Begriff an einem Beispiel. 4) Welche beiden Einflußfaktoren bestimmen die Wahl einer wirtschaftspolitischen Maßnahme? 5) Welches sind die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes? (Magisches Viereck ...) 6) Skizzieren Sie kurz den nachfrageorientierter Sichtweise. Unterschied zwischen angebots- und Hinweis: Das „kurz“ ist auch so gemeint. Drei, vier Sätze genügen. 7) Wie ist die (durchschnittliche) Arbeitsproduktivität definiert? 8) Was versteht man unter der Beschäftigungsschwelle? 9) „Der technische Fortschritt zerstört Arbeitsplätze.“ Steht hinter dieser Aussage eine angebots- oder eine nachfrageorientierte Sichtweise? 10) „In einer geschlossenen Volkswirtschaft (ohne Staat) stehen den Kosten der Unternehmen Lohn- und Gewinneinkommen in gleicher Höhe gegenüber.“ Erklären Sie kurz diesen Zusammenhang. 11) Volkswirtschaftlich betrachtet kann man Geld nicht ausgeben. Richtig oder falsch? Und warum? 12) Erläutern Sie den Unterschied zwischen Nominallohnsatz und Reallohnsatz. 13) Die Klassik erklärt den Reallohnsatz über die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft. Erläutern Sie an Hand der factor-price-frontier, wieso dies zugleich eine Profittheorie ist. 14) Wie passen sich geplante Investitionen und geplante Ersparnis in der angebotsorientierten Theorie einander an? Wie in der nachfrageorientierten Theorie? 15) Welches sind die wichtigsten Teilbilanzen der Zahlungsbilanz? Hinweis: Bitte zählen Sie nicht nur die Namen auf, sondern sagen Sie auch in zwei, drei Worten, was in der jeweiligen Bilanz erfaßt wird. 16) Kann ein Land zugleich (Netto-)Kapitalimporte aufweisen und Exportüberschüsse erzielen? Hinweis: Nur „Ja“ oder „Nein“ wäre als Antwort etwas knapp ... 17) Die USA werden gelegentlich aufgefordert die Ersparnis der Haushalte zu erhöhen (oder das Budgetdefizit zu senken) um das Defizit in ihrer Leistungsbilanz abzubauen. Was haben diese Größen miteinander zu tun? 41 Betz / Internationale Wirtschaftspolitik WS 2006 / Teil I Einführung S. 42 18) Die BRD erzielt seit einigen Jahren wieder einen deutlichen Leistungsbilanzüberschuß. Warum kann man (angebotsorientiert) dennoch behaupten, sie habe ein Wettbewerbsproblem? 19) Das Preisniveau von Land A sei von 100 auf 110 gestiegen. Die A-Mark habe gegenüber der B-Mark um 5% aufgewertet und die Preise in B-Land seien um 20% gestiegen. Wie hat sich der reale Wechselkurs von A gegenüber B entwickelt? 20) Was verstehen Sie unter einer beggar-thy-neighbour Politik? 42