Schwangerschaft & Geburt Hier kommen Kinder zur Welt. Der Holzvogel über dem Marburger Geburtshaus soll zeigen: Freie Hebammen haben trotz allem eine Zukunft Ein wunderbares Widerstands-Nest Text Nora Imlau Fotos ANDREAS VARNHORN 88 ELTERN September 2011 Auf dem Gartenweg geht ein Mann rauchend hin und her. In der Haustür erscheint Sabine Pfützner, Hebamme seit 15 Jahren, sonnengebräunt, mit Kurzhaarschnitt und Lachfältchen um die Augen, und ruft: „Oh, das Interview! Das hatte ich ja vor lauter Kinderkriegen ganz vergessen!“ Und schon ist sie wieder weg. Der werdende Papa drückt seine Zigarette aus. Das erste Kind? Nein, das zweite. Aufgeregt? „Na klar, aber mit der Sabine packen wir das schon.“ Sabine Pfützner kommt gerade wieder aus dem Haus. „Ich habe mit Pia gesprochen. Es geht ihr so gut, dass wir uns ruhig einen Moment hier draußen unterhalten können. Setzen wir uns in den Garten?“ Sabine Pfützner ist in und um Marburg bekannt wie ein bunter Hund. Die Münchnerin, die vor über 20 Jahren der Liebe wegen nach Hessen kam, treibt heute für die ganze Region eine ganzheitliche Betreuung rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit voran, wie sie andernorts immer mehr verloren geht. Vom „Hebammensterben“ sprechen die Zeitungen bereits, wenn sie von den Folgen der unverhältnismäßigen Erhöhung der Haftpflichtprämien für Hebammen im vergangenen Jahr sprechen: Vor allem viele freie Hebammen machten ihre Praxen dicht oder bieten nur noch Vor- Immer mehr freie Hebammen schließen ihre Praxen – die außerklinische Geburtshilfe lohnt sich kaum noch. Was da verloren geht, zeigt ein Besuch bei Sabine Pfützner in ihrem „Marburger Storchennest“ und Nachsorge an, weil sich die außerklinische Geburtshilfe nicht mehr lohnt. Auch für Sabine Pfützner bedeuteten die neuen Versicherungsprämien einen krassen Einschnitt. „Ich hatte nur zwei Möglichkeiten: aufgeben oder kämpfen!“ Als Marathonläuferin weiß sie, dass sich Durchhalten meist lohnt. Deshalb geht sie in die Offensive. Lässt sich ihre Hebammenpraxis nach den strengen Kriterien als Geburtshaus zertifizieren. Stellt erst eine zweite und bald eine dritte Hebamme ein, um trotz der stetig steigenden Nachfrage keine Schwangere ablehnen zu müssen. Und setzt ein Storchennest aufs Dach, das allen zeigt: Hier wird weiterhin geschlüpft. Der Erfolg gibt ihr recht: Immer mehr Schwangere lassen sich von ihr betreuen, und immer mehr entschließen sich dazu, ihre Kinder nachher auch mit ihr zusammen zu bekommen – bei sich zu Hause oder im „Marburger Storchennest“. Außerklinische Geburten sind in Deutschland heute eine Seltenheit. Nur etwa fünf Prozent aller Neugeborenen kommen nicht in der Klinik zur Welt. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Eltern wünschen sich maximale Sicherheit. Völlig verständlich sei das, sagt Sabine Pfützner. Auch wenn nicht alle Ärzte dieser Meinung sind – sie verweist gern auf die Zahlen, die die Deutsche Gesellschaft für außerklinische Geburtshilfe erhoben hat und die zeigen: Hebammengeleitete Haus- und Geburtshausgeburten sind in Deutschland für Mutter und Kind heute so sicher wie Klinikgeburten. „Jede Schwangere kann sich mit gutem Gewissen für den Ort entscheiden, an dem sie sich am wohlsten fühlt“, sagt Sabine Pfützner. „Und genau um diese Wahlfreiheit geht es mir: Ich möchte Paaren aufzeigen, was alles möglich ist, und sie dann in ihrer persönlichen Entscheidung unterstützen.“ Die Frauen, die zu ihr kommen, wissen diese Wahlfreiheit zu schätzen. So wie Nachbarin Katja, die gerade über den Gartenzaun schaut. Sie brachte ihre Tochter vor anderthalb Jahren im Klinikum zur Welt, hatte mit Sabine Pfützner jedoch ausgemacht, zu Hause mit ihrer Begleitung so lange wie möglich zuzuwarten: „Sabine half mir, Wehe um Wehe zu veratmen, beruhigte meinen Mann, überprüfte immer wieder Laras Herztöne, und als der Muttermund sieben Zentimeter geöffnet war, riet sie uns, loszufahren. Zwei Stunden später war Lara da. Für uns war es die perfekte Geburt.“ Sabine Pfützner entschuldigt sich für einen Moment. Sie will nach Pia sehen. Nach wenigen Minuten kehrt sie zurück, den Daumen in die Luft gereckt: „Sieht alles super aus. Acht Zentimeter, und so tapfer. Und dabei sind wir schon seit heute Nacht um eins dran!“ Aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden, weil sich ein Kind auf den Weg macht, ist für Sabine Pfützner Alltag. Für jede Frau, die sie bei der Geburt begleiten soll, lebt sie bis zu fünf Wochen in permanenter Rufbereitschaft: von drei Wochen vor dem errechneten Termin bis 14 Tage danach. In dieser Zeit ist sie Tag und Nacht erreichbar und garantiert, jederzeit binnen weniger Minuten da zu sein. Kino ist in dieser Zeit ebenso tabu (kein Handyempfang) wie ein Ausflug zu Ikea nach Frankfurt (zu weit weg). Und weil viele Frauen ihre Kinder mit ihr bekommen wollen, überlappen sich die Rufbereitschaften meist oder gehen nahtlos ineinander über. Im Schnitt alle zwei Jahre hat sie manchmal überraschend eine Woche Pause zwischenSeptember 2011 ELTERN 89 Schwangerschaft & Geburt Jeden Montag Storchentreff: Viele Mütter halten Kontakt zu ihrer Hebamme. Den Babys, die an der Pinnwand zu sehen sind, hat Sabine Pfützner auf die Welt geholfen drin: „Das ist dann mein Urlaub.“ Sabine Pfützner wurde schon vom Weihnachtsbaum und von der Silvesterparty zu Geburten gerufen, einmal hat sie sogar ihre eigene Geburtstagsfeier verpasst. Und wenn ihr Freund sie am Wochenende besuchen kommt, kann sie ihm nicht versprechen, für ihn Zeit zu haben. „Die Geburtshilfe steht für mich über allem“, sagt Sabine Pfützner. „Das weiß mein Freund. Und er trägt es zum Glück mit, weil er genau wie ich der Meinung ist, dass Kinder in Geborgenheit geboren werden sollten.“ Reich wird man als Hebamme nicht. Der Stundenlohn liegt im Schnitt bei 7,50 Euro. „Wenn es mir ums Geld gegangen wäre, hätte ich in meinem früheren Job bleiben müssen“, sagt Sabine Pfützner. Nach ihrer Ausbildung als Kranken­ schwester und Rettungsassistentin koordinierte sie die Einsätze der Rettungs- und Notarztwagen im Landkreis. „Das war eine gut bezahlte, unkündbare Stelle im mittleren Management, ich habe ein Team von 150 Leuten geleitet – da hatte ich finanziell eigentlich ausgesorgt.“ www.eltern.de Wo finde ich eine Hebamme, die zu mir passt? Diese und viele weitere Fragen beantwortet unser Top-Thema unter www.eltern.de/hebamme 90 ELTERN September 2011 Hätte ihr zu dieser Zeit jemand prophezeit, dass sie heute ausgerechnet Geburten begleiten würde – sie hätte es wohl nicht geglaubt. „Während meiner Ausbildung zur Krankenschwester fand ich’s im Kreißsaal am schlimmsten. Da wurden die Frauen noch zur Geburt festgebunden! Schrecklich!“, erinnert sie sich. „Da hab ich gedacht: Kriegt eure Kinder – aber ohne mich!“ Dabei wäre es wohl auch geblieben – wenn Sabine Pfützner, die schon als Schülerin in die Entwicklungshilfe wollte, nicht immer wieder fürs Internationale Rote Kreuz nach Afrika gegangen wäre. Ihr erster Auslands­einsatz führte sie nach Tansania, wo sie gemeinsam mit einer schwedischen Hebamme eine Notfallambulanz für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ruanda aufbaute. „Und auf einmal spürte ich, dass es mich in jeder der wenigen freien Minuten in unseren provisorischen Kreißsaal zog.“ Die Geburten, die dort stattfinden, sind das genaue Gegenteil von denen, die sie aus deutschen Kreißsälen kennt: selbstbestimmt, frei, geborgen. „Da waren einfach Frauen, die Frauen geholfen haben, Kinder zu bekommen.“ So viel echte Hilfe, so viel Würde inmitten von Tod und Leid – die Erfahrung lässt Sabine Pfützner nicht los. Als sie nach ihrer Rückkehr eine Ausschreibung zur Hebammenausbildung in Marburg sieht, beschließt sie: Eine Bewerbung schreibe ich. Ein Angebot ans Schicksal. Und das greift zu. Dass ihr Beruf eine Berufung sei, klingt Sabine Pfützner etwas zu religiös. Aber, ja, gute Geburtshilfe sei ihr eine echte Herzensangelegenheit – und der Wunsch, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen, spiele da sicherlich mit rein. Dann springt sie plötzlich auf: „Jetzt muss ich aber wirklich los. Kinder kriegen!“Weg ist sie. Aus dem gekippten Fenster des Geburtszimmers ertönt ein leises Stöhnen. Zwei Stunden später eine SMS: „Ich habe ganz vergessen, zu sagen, warum ich glaube, dass meine Arbeit die Welt verbessert. Also: Weil ich glaube, dass eine sanfte, selbstbestimmte Geburt die Interessen des Kindes, der Mutter und auch des Vaters am besten wahrt. Weil ich möchte, dass sich Schwangere und junge Eltern von Anfang an getragen und gut aufgehoben fühlen. Weil ungestörtes Kuscheln gleich nach der Geburt Gold für die Bindung ist. Weil eine gute Geburt stark und selbstbewusst machen kann. Und weil ich glaube, dass ich Eltern dabei helfen kann, an sich selbst zu glauben.“ Kurz darauf piepst das Handy noch mal: „Ach ja, und: Es ist ein Mädchen!“ Wie gefällt Ihnen dieser Artikel? Bewerten und kommentieren Sie ihn unter www.eltern.de/abstimmen