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BULLETIN
DER
BUNDESREGIERUNG
Nr. 04-1 vom 27. Januar 2002
27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer
des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse:
Herr Bundesratspräsident!
Herr Bundeskanzler!
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts!
Herr Ministerpräsident!
Verehrter Herr Professor Geremek!
Verehrte Gäste!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!
Nie mehr wird der Name „Auschwitz“ fallen, ohne Entsetzen, Trauer und Scham
auszulösen. Nach dem 27. Januar 1945 wurden die Bilder aus dem befreiten
Konzentrationslager zum unauslöschlichen Zeugnis einer von Deutschen in Gang
gesetzten Todesmaschinerie, die erst gestoppt werden konnte, als ihr rund dreizehn
Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Heute, 57 Jahre nach der Befreiung
von
Auschwitz,
sind
wir
im
Plenarsaal
des
Deutschen
Bundestages
zusammengekommen, um aller Opfer der nationalsozialistischen Barbarei zu
gedenken.
Ein deutsches Regime hat die Welt in einen Krieg und Millionen von Menschen in
den Tod getrieben. Bis heute verbindet sich mit dem Namen „Auschwitz“ die
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ungeheuerliche Dimension und Perversion des Völkermordes an sechs Millionen
Juden. Aber auch Millionen von Nichtjuden aus der Sowjetunion, aus Polen und
vielen anderen europäischen Ländern, Sinti und Roma, Homosexuelle, behinderte
und
kranke
Menschen,
Andersdenkende
wurden
Mitglieder
in
von
Glaubensgemeinschaften,
Konzentrationslager
verschleppt,
politisch
ausgebeutet,
misshandelt und systematisch ermordet.
Die bittere Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind, muss uns bis heute irritieren und
beunruhigen. Wie konnte es geschehen, dass jeder Maßstab für Recht und Unrecht
verloren ging und die Fundamente eines zivilisierten Kulturstaates untergraben
wurden? Warum haben so viele dazu geschwiegen, warum haben nur so wenige
gewagt, die Würde des Nächsten und sein Recht auf Leben zu verteidigen? Wie war
es möglich, dass die Fähigkeit, mitzufühlen und mitzuleiden, verloren ging und damit
auch jeder Sinn für Würde und Selbstachtung? Und vor allem: Wie können wir, die
Nachfolgenden, verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht? Niemand hat bis
zum heutigen Tage verbindliche, schlüssige oder gar beruhigende Antworten auf
diese Fragen geben können.
Von Johann Baptist Metz stammt der Satz: „Auschwitz standzuhalten heißt nicht,
Auschwitz zu begreifen. Wer hier begreifen wollte, hätte nichts begriffen“. Auschwitz
standzuhalten - das heißt vor allem, die Erinnerung an das Leid der Opfer wach zu
halten und immer wieder auch in diese tiefsten Abgründe unserer Geschichte
hinabzusteigen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird niemals
abgeschlossen sein, weil die Einsichten, Lehren und Konsequenzen daraus niemals
sicher und niemals selbstverständlich sein werden.
Die erste Konsequenz war am Beginn der Bundesrepublik unser Grundgesetz: eine
freiheitliche, demokratische, rechtsstaatliche Verfassung, die die Achtung der
Menschenwürde zum obersten Maßstab des Zusammenlebens erklärte. Die zweite
Konsequenz ist die Europäische Union, die europäische Integration, die feste
Einbindung Deutschlands in eine europäische Nachkriegsordnung, die sich dann,
Schritt für Schritt, zu einer stabilen Staatengemeinschaft entwickelt hat.
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„Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg“ - das war der leitende Wille all derer, die die
Schrecken des Zweiten Weltkrieges und den Terror des Hitlerfaschismus überlebt
hatten. Das Grundmotiv der europäischen Einigung war eine konkrete Utopie des
Friedens. Diesem Ziel schien Europa nie näher als 1989: Mit dem Fall der Mauer in
Berlin verband sich die Hoffnung, das Ende des Kalten Krieges könnte ein goldenes
Zeitalter des Friedens eröffnen. Doch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Statt
endlich die von vielen ersehnte Friedensdividende einzufahren, sind wir heute mit
immer neuen Konfliktherden, mit immer neuen Ausbrüchen von Gewalt konfrontiert.
Auch in Europa standen und stehen wir vor dem Dilemma, dass der Einsatz von
Gewalt nun doch wieder als - wenn auch letztes - Mittel erscheint, um Gewalt
einzudämmen.
Blicken wir seit dem Schrecken des 11. September vorigen Jahres anders auf
Auschwitz? Verändert dieses Datum unser Gedenken? Wichtiger ist eine andere
Frage: Welche Konsequenzen hat unser Gedenken an Auschwitz für heute
angesichts einer neuen, unerhörten Bedrohung unserer Freiheit, unserer Art des
Zusammenlebens, unserer Werte? Vielen, gerade in der älteren Generation, hat sich
die Erinnerung insbesondere an das Jahr 1938 aufgedrängt und die mit diesem Jahr
verbundene Erfahrung, dass die so verständliche Friedenssehnsucht nicht schon die
angemessene politische Antwort auf die Bedrohung durch einen Gewalttäter und ein
Gewaltsystem war. Der entsetzlichste Krieg der Geschichte folgte; Hitlerdeutschland
beging die furchtbarsten Verbrechen der bisherigen Geschichte.
Ich weiß, geschichtliche Parallelen stimmen nie ganz. Aber aus der bitteren
Erfahrung des 20. Jahrhunderts haben wir doch hoffentlich endgültig gelernt, dass es
notwendig ist, für die Werte der Zivilisation auch einzustehen und sie zu verteidigen und zwar rechtzeitig!
Die Utopie eines friedlichen Europa hat in den letzten 50 Jahren reale Kraft entfaltet
und eindrucksvolle Erfolge erbracht. Gerade jetzt müssen wir daran weiter arbeiten namentlich durch die Erweiterung der Europäischen Union, die eine Vereinigung
Europas ist. Wir müssen uns immer wieder neu der Werte versichern, die die
Grundlage der europäischen Kultur und das Fundament unserer demokratischen
Gesellschaft sind: Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit,
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Respekt und Toleranz - die Ideale von Humanismus und Aufklärung, die von den
deutschen Nationalsozialisten mit Füßen getreten wurden.
Für uns Deutsche ist es aber besonders beschämend, wenn Rechtsextremismus,
Rassismus, Antisemitismus hierzulande wieder einen gefährlichen Nährboden von
Ignoranz und Arroganz finden. Rassisten reicht die Feststellung, dass sich eine
andere Gemeinschaft anders orientiert, um sie zu bekämpfen, sie zum Feind zu
erklären. Wo genau die Unterschiede und wo die Gemeinsamkeiten liegen,
interessiert sie nicht. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen souveräner
Behauptung des Eigenen und primitiver Ausgrenzung des Anderen.
Deshalb ist es nicht nur gefährlich, wenn junge Menschen zu wenig über andere
Religionen wie das Judentum oder den Islam wissen. Es ist auch gefährlich, wenn
sie zu wenig über die eigene Kultur und die eigene Geschichte wissen. Wie sollen,
wie können sie die europäische Kultur und ihre Werte verstehen, ohne deren
jüdische und christliche Grundlagen zu kennen? Wie sollen sie den Wert von Freiheit
und Demokratie begreifen, wenn sie nichts vom Schicksal derer erfahren, die unter
Unrechtsregimen leiden, die durch Unrechtsregime sterben mussten?
Gedenktage allein reichen selbstverständlich nicht aus, um gerade junge Menschen
für die Ideale der Demokratie und für die Idee eines vereinten Europa zu begeistern.
Wer diesen Gedenktag aber als rhetorisches Ritual kritisiert, der unterschätzt die
Chance, auch und gerade Jugendlichen authentische Erfahrungen weiterzugeben.
In diesem Jahr haben wir den polnischen Historiker und Politiker Bronislaw Geremek
gebeten, über seine Erfahrungen zu sprechen. 1932 in Warschau geboren, hat
Bronislaw Geremek unter zwei Diktaturen gelitten. Sein Vater kam in Auschwitz ums
Leben, seine Mutter und er selbst überlebten nur mit viel Glück. Im kommunistischen
Polen engagierte sich Bronislaw Geremek für die verbotene Gewerkschaft
„Solidarnosc“ und wurde einer der engsten Mitarbeiter Lech Walesas. Obwohl er
mehrfach inhaftiert wurde, ließ er in seinem politischen Engagement für die Freiheit
nicht nach.
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Wir alle erinnern uns gut daran: Mutige Polen waren die ersten, die in den 80er
Jahren am Eisernen Vorhang rissen. Ohne sie und ohne die Ungarn, die Tschechen,
die Ostdeutschen, die ihrem Beispiel folgten, wäre der Kommunismus nicht
überwunden, wäre der Weg in ein ungeteiltes Europa nicht geebnet worden. Bei der
Verleihung des Karlspreises 1998 in Aachen hat der polnische Europäer Bronislaw
Geremek gesagt: „Sofern überhaupt etwas gegenüber dem Schrecken des Krieges,
dem Drama der Schoah, der Schmach der totalitären Systeme ein Gewicht haben
kann, ist es eben der Gedanke an die Leistung der europäischen Zivilisation und an
den Geist Europas. In der europäischen Idee fand ich die Hoffnung...“.
Die europäische Idee hat auch Deutsche und Polen langsam, nach und nach,
einander näher gebracht. Dieser Prozess hatte viele Stationen: von Erklärungen der
beiden Bischofskonferenzen über den Kniefall von Willy Brandt 1970 in Warschau bis
zum Händedruck von Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki. Keine
Nation unserer Nachbarn hat so sehr unter der deutschen Gewaltherrschaft gelitten
wie die Polen. Sechs Millionen polnische Bürger, darunter drei Millionen Juden, sind
dem nationalsozialistischen Angriffskrieg und dem Terror der Besatzungszeit zum
Opfer gefallen. Heute, gut 50 Jahre später, verbindet Polen und Deutsche wieder viel
mehr als eine „Interessengemeinschaft“, nämlich - davon bin ich fest überzeugt Sympathie und Solidarität und ein gemeinsamer Geist.
Ich begrüße deshalb besonders herzlich Bronislaw Geremek und mit ihm Marek
Edelman, einen der Führer und Helden des Warschauer Gettoaufstands. Ebenso
begrüße
ich
Freya
von
Moltke
und
Rosemarie
Reichwein,
die
bewunderungswürdigen Frauen des deutschen Widerstands.
Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Polen und Deutsche diesen Gedenktag
heute gemeinsam begehen. Auch das ist ein Beweis für die Kraft der europäischen
Idee, der wichtigsten Konsequenz aus dem Leid der Opfer, derer wir heute
gedenken.
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