Als der Wiener Kongreß 1815 das Ende der Napoleonischen Kriege

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Als der Wiener Kongreß 1815 das Ende der Napoleonischen Kriege
besiegelte, erschien dies vielen als der Schlußstrich unter die letzte
Nachwirkung der Französischen Revolution. Es begann die »Restauration«, eine Epoche, die unter Metternich zu einer politisch
erstarrten, repressiven und autoritären Phase deutscher Geschichte
wurde. Bespitzelung und Zensur waren an der Tagesordnung, jedes
Mittel, unliebsame Äußerungen zu unterbinden, war dem Staat
recht. In der gleichen Zeit nahmen Veränderungen ihren Anfang,
wie man sie bis dahin nicht gekannt hatte und deren Folgen wir
noch heute spüren: Die Ausbreitung der Industrialisierung und das
Auftreten ihrer Schwester, der Pauperisierung, die rasante Beschleunigung der Kommunikation und damit jeglicher politischer und
gesellschaftlicher Entwicklung. Die Literatur spiegelt die Zerrissenheit und Härte dieser Epoche wider. Die Märzrevolution 1848 wird
zu Recht als das Datum einer politischen, sozialen und kulturgeschichtlichen Wende angesehen: die Moderne beginnt.
Der vorliegende Band handelt von der Literatur in dieser Epoche
und von ihren vielfachen Verflechtungen mit der Geschichte. Er be-
richtet über die Situation der Autorinnen und Autoren (als Opfer
ihrer Zeit, aber auch als »Eingreifende«), über den Buchmarkt,
über literarische Gegenöffentlichkeit. Gattungs-Kapitel belegen
die Zusammenhänge anhand von Beispielen aus je verschiedenen
Perspektiven: Reiseliteratur, Novelle, Bildungsroman, Zeitroman,
Frauenromane, Populäre Romane, Kinder- und Jugendliteratur,
Theater und Lyrik. Eigene Kapitel gelten Heinrich Heine und
Georg Büchner. Überblicksdarstellungen wechseln sich ab mit Interpretationen; gemeinsam ist den Beiträgen der Grundkonsens, die
literarischen Ereignisse vor dem Hintergrund soziokultureller Evolution zu beobachten und darzustellen.
Hansers Sozialgeschichte
der deutschen Literatur
vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Begründet von Rolf Grimminger
Band 5
Zwischen Restauration
und Revolution
1815-1848
Herausgegeben von Gert Sautermeister
und Ulrich Schmid
Deutscher Taschenbuch Verlag
Register: Manfred Pfister
Dezember 1998
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
1998 Carl Hanser Verlag München Wien
Umschlaggestaltung: Balk & Brumshagen
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Appl, Wemding
Printed in Germany
ISBN 3-446-12779-8 (Hanser)
ISBN 3-423-04347-4 (dtv)
5
Inhalt
Einleitung
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Peter Stein
Sozialgeschichtliche Signatur 1815-1848
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Germaine Goetzinger
Die Situation der Autorinnen und Autoren
Ulrich Schmid
Buchmarkt und Literaturvermittlung
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94
Sigrid Weigel
Literarische Gegenöffentlichkeit in der März-Revolution Gert Sautermeister
Reiseliteratur als Ausdruck der Epoche
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Manfred Heigenmoser
Bildungsroman, Individualroman, Künstlerroman
Wolfgang Beutin
Historischer und Zeit-Roman
9
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195
Rachel McNicholl /Kerstin Wilhelms
Romane von Frauen . . . . . . . .
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210
Reinhart Meyer
Novelle und Journal
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234
Hans Adler
Der soziale Roman
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INHALT
6
Wolfgang Lukas
Novellistik . .
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Holger Böning
Volkserzählungen und Dorfgeschichten
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281
Hainer Plaul/Ulrich Schmid
Die populären Lesestoffe . .
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313
Ortwin Beisbart
Kinder- und Jugendliteratur
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3 66
Gertrud Maria Rösch
Geschichte und Gesellschaft im Drama
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378
Reinhart Meyer
Komödien . .
Reinhart Meyer
Theaterpraxis
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421
Hans-Wolf Jäger
Versepik . . . .
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526
Gert Sautermeister
Lyrik und literarisches Leben
Peter Stein
Operative Literatur
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Gert Sautermeister
Religiöse und soziale Lyrik Johann Jokl
Heinrich Heine
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7
INHALT
Gustav Frank
Georg Büchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
Anhang
Anmerkungen . . . . .
Bibliographie . . . .
Register . . . . . . . .
Inhaltsverzeichnis . . .
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. 607
. 689
. 729
. 751
Einleitung
»Bewegung« und »Fortschritt« einerseits, »Beharrung«, ja «Restauration« als partielle Wiederherstellung des durch die Französische
Revolution und durch Napoleon umgestürzten Alten auf der anderen Seite — das sind die beiden Pole, zwischen denen sich die politische, soziale und künstlerische Entwicklung in den Jahren zwischen dem Wiener Kongreß 1815 und der europäischen Revolution
1848/49 vollzieht. Damit sind zugleich die politischen Eckdaten
der Epoche benannt. Ihre (bis heute gegenwärtige) Voraussetzung
ist die revolutionäre Umgestaltung Europas samt dem damit einhergehenden permanenten Kriegszustand von 1792 bis 1815. Ihr
unmittelbarer Ausgangspunkt ist der darauf folgende Versuch, mit
dem Wiener Kongreß die alte Ordnung, das »Ancien régime«, in
Europa wiederherzustellen, ohne die regierenden Kriegsgewinnler
der napoleonischen Ära einschneidend zu schwächen. Den Abschluß der Epoche »zwischen Restauration und Revolution« bildet
schließlich das Scheitern des halbherzigen bürgerlichen Aufstands
gegen spätabsolutistische und kleinstaatliche Strukturen. So ist die
Physiognomie dieser Jahre entscheidend durch ihren Übergangscharakter geprägt sowie durch die damit verknüpfte tendenzielle
Offenheit, im Sinne des Strukturwandels wie in dem des Experiments.
Die Spannungsverhältnisse in der Epoche finden ihren Ausdruck
in erster Linie im politischen Bereich: darauf verweist nachdrücklich die Antithese »Zwischen Restauration und Revolution». Restaurativer Stillstand und revolutionäre Bewegung, Status quo und
Rebellion bilden aber auf vielfache Weise und in vielen Bereichen
eine Dialektik, die die Literatur der Zeit herausfordert.
Dabei bezeichnen die Stichworte »Bewegung« bzw. «Fortschreiten« und »Beharrung« im unmittelbaren Wortsinn ein entscheidendes, von den Zeitgenossen als umwälzend empfundenes Phänomen:
von der gemächlichen Fußreise, noch zu Anfang des Jahrhunderts
u. a. vom Italienwanderer Johann Gottfried Seume emphatisch verteidigt, führt ein rascher Wandel zur Schnellpost, zum Dampfschiff
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EINLEITUNG
und zur Eisenbahn. Nicht nur Personen und Waren treten mit diesen völlig neuartigen Verkehrsmitteln schneller, müheloser und billiger in Austausch; auch Nachrichten, Schriftzeugnisse und damit
Gedanken verbreiten sich mit einer bis in die ersten Jahrzehnte des
19. Jahrhunderts unvorstellbaren Geschwindigkeit, nicht zuletzt
auch durch das neue Medium der Telegraphie. Damit wird
der Konflikt zwischen progressiver Bewegung und den Kräften der
Beharrung (Zoll und Kleinstaaterei, Zensur und Reiseverbote) in
brisanter Weise verschärft. Wie intensiv das Literatursystem auf die
neuen technischen Perspektiven reagiert, zeigen nicht wenige
programmatische Zeitungs- und Zeitschriftentitel der Jahre nach
1830. >Deutsche Schnellpost<, >Telegraph für Deutschland<, >Das
Dampfschiff<, >Pilot<, >Eisenbahn<, >Leipziger Locomotive< oder
>Weser-Dampfboot> sind nur einige der Titel, die die verheißungsvolle Dynamik der industriellen und (im Blattinnern) der politischen Revolution verkünden. Der Ende 1843 in Paris gegründete
>Vorwärts< überträgt in seinem Editorial das Bild des Feuers, das die
Dampfmaschinen antreibt, auf »die Arbeit des Geistes«, die »sich
mit immer wachsender Energie« vollziehe und »in rastloser, feuriger Schnelligkeit (...) ihr ernstes Spiel « treibe:
Überall entstehen große und kleine Zeitungen; jede Meinung, jede beginnende Parthei, sobald sie das Bedürfnis nach Ausprägung und fester Gestaltung fühlt, sieht sich gedrungen ein Organ zur Herausarbeitung ihres Inhalts und hiermit auch zur Propaganda zu schaffen. Es ist ein hartes Ringen
auf den Wahlplätzen der Discussion, und je mehr sie vorrückt in Entwicklung der Lebensfragen, desto gewaltiger wird der Gedankenkrieg, desto
lichter und glühender lodert die Hoffnungsflamme im begeisterten Herzen;
denn es gilt die Zukunft der Welt.'
Das Zitat zeigt deutlich, daß die Verknüpfung der »rastlosen,
feurigen Schnelligkeit« mit den Journaltiteln kein Zufall ist. Die
neuen Transportformen sind die unabdingbare Voraussetzung
eines mächtig expandierenden Pressemarkts, v. a. in den vierziger
Jahren. Diese Ausweitung des Informations- und Medienangebots,
von der Tageszeitung über die ersten »Illustrirten Zeitungen« bis
zum Konversationslexikon, setzt einen erhöhten Kapitaleinsatz voraus, trägt selbst aber durch die nicht geringen Gewinne (im Er-
EINLEITUNG
11
folgsfall) zur Kapitalisierung im Buch- und Pressegewerbe bei. Der
wachsende Bedarf an Texten für den immer größeren Ausstoß der
Schnellpressen eröffnet neue Berufsfelder im Bereich des Journalismus und verändert das tradierte (Selbst-)Verständnis von Autorschaft. Bereits vor 1848 findet sich überdies die Erstveröffentlichung literarischer Werke in Zeitungen oder Zeitschriften, die
dann in der zweiten Jahrhunderthälfte für die meisten Romane und
Novellen des Realismus zur Regel wird.
Die neuen Verkehrsmöglichkeiten stehen somit in einem ausgeprägten dynamischen Wechselverhältnis mit dem alles umgreifenden wirtschaftlichen Wandel, der sich während der Jahre 1815-1848
in immer schnellerem Tempo vollzieht. Die Industrialisierung und
Kapitalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft sind Voraussetzung für die Entwicklung und die zügige Ausbreitung der
neuen Verkehrsmittel, sie werden ihrerseits aber von diesen entscheidend gefördert und vorangetrieben. Innovative Formen der
Kapitalbildung und -verwertung (Aktiengesellschaften, zunehmende Investitionsfinanzierung durch Privatbanken) und dynamisch expandierende Betriebsgrößen (v. a. im Berg- und Maschinenbau) entwickeln sich im engsten Zusammenhang mit der
rasanten Ausbreitung von Dampfschiffahrt und Eisenbahn.
Von diesen Veränderungen sind die spätabsolutistischen Herrschaftsträger und ihre Wirtschaftsform ebenso betroffen wie die
aus den ländlichen Regionen in die Städte (oder ins Ausland) wandernden ländlichen Unterschichten. Damit kommt, verschärft in
den vierziger Jahren, erstmals die neue »sociale Frage« ins Blickfeld
der Zeitgenossen und der Literatur; Bettina von Arnims >Armenbuch<-Projekt legt davon ebenso beispielhaft Zeugnis ab wie die
vielfältigen literarischen und journalistischen Reaktionen auf den
schlesischen Weberaufstand von 1844.
Neuen Existenz- und Rahmenbedingungen sieht sich aber auch
das städtische Bürgertum ausgesetzt. Die Umbrüche der napoleonischen Zeit haben die jahrhundertelang dominierende stadtpatrizische Führungsschicht politisch weitgehend entmachtet, insbesondere
durch den Übergang der alten Reichsstädte an die neu entstandenen oder in ihrer Macht aufgewerteten Territorialstaaten. Die
Handwerker verlieren nun den Schutz der Zunftbestimmungen, die
12
EINLEITUNG
sich zunehmend als Hemmnis der industriell-kapitalistischen Umwälzung erweisen; damit verbunden sind auch tiefgreifende Veränderungen im Bereich des Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftendrucks
sowie der Distribution.
Mit der Grunderfahrung der Beschleunigung als übergeordnetem Lebensgefühl verknüpft ist allerdings noch ein anderer kennzeichnender Aspekt der Epoche. Der in Deutschland (im Gegensatz
zu Frankreich und England) äußerst unterschiedliche Entwicklungsstand der einzelnen Regionen und ihrer Ordnungen macht
sich auch in den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten bemerkbar; er spiegelt sich darüber hinaus in ideologischen Bereichen, besonders auffällig auf dem Gebiet der Religion. Vom Konflikt um die »Union« der lutherischen und der reformierten Kirchen
in Preußen über die Auseinandersetzungen zwischen den katholischen Rheinprovinzen und der preußischen Bürokratie bis zur
demokratisch organisierten »Los-von-Rom-Bewegung« der Deutschkatholiken zieht sich die »Maskerade« (Robert Prutz) der konfessionell eingekleideten, verdeckt aber politischen Konflikte. Da
politische Vereine (und Parteien) in der Epoche verboten waren, behauptete die Religion ihre zentrale Rolle als selbstverständlicher, allen an der öffentlichen Diskussion Beteiligten von der Kindheit an
vertrauter Bezugspunkt. Religiöser Rhetorik, biblischen Bilderwelten und kirchlichen Ausdrucksformen verdanken selbst die Appelle
zur Abschaffung der Religion noch ihre sprachliche Überzeugungsund Durchschlagskraft; so apostrophierte etwa Heine in seiner
>Romantischen Schule< die Jungdeutschen als »Apostel«, und das
>Manifest der Kommunistischen Partei< fand erst auf dem Umweg
über »Glaubensbekenntnis« bzw. »Katechismusform« (Friedrich
Engels) Ende 1847 seine endgültige sprachmächtige Gestalt. Andererseits können Brüchigkeit und Anfechtung der Glaubensüberzeugung auch die Beharrungskraft der privaten Frömmigkeit der
Zeit herausfordern, wovon die zwanghaft-ängstlichen (und zugleich untergründig erotischen) Gedichte des späten Clemens Brentano ebenso beredt Zeugnis ablegen wie die religiöse Lyrik Eduard
Mörikes oder Annette von Droste-Hülshoffs.
Diese Erschütterung gründet, im Vorfeld der intellektuellen Aneignung von Welt, nicht zuletzt in neuen Dimensionen der Wahr-
EINLEITUNG
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nehmung: der Blick auf die Landschaft aus der sie durcheilenden
Eisenbahn (durch die wiederum die Landschaft buchstäblich
einschneidend verändert wird), die Darstellungsformen des Panoramas und des Dioramas sowie die mit dem Jahr 1839 in die Öffentlichkeit tretende Daguerreotypie, die Frühform des Mediums Fotografie, sind zentrale Beispiele für die Veränderung des Blicks und
der Welt-Erfahrung. Heine sprach, anläßlich der beiden 1843 neu
eröffneten Eisenbahnlinien nach Orléans und Rouen, von »Erschütterung« und beschrieb ein »unheimliches Grauen, wie wir es
immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind«:
Wir merken bloß, daß unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen,
fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns
erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend
und zugleich beängstigend. (...) Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die
Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. 2
Zur Bewußtseins- bzw. Mentalitätsgeschichte der Epoche tragen
freilich, weit über den Bereich der Wahrnehmung hinaus, künstlerische und philosophische Geisteshaltungen ebenso bei wie soziale
Normen und Formen der Geselligkeit, aber auch Disziplinen wie
Pädagogik, Medizin und Naturwissenschaften. Die Literatur steht
mit all diesen Bewußtseinsformen in einem differenzierten Wechselspiel und prägt sie durch ihre ästhetischen Intentionen und Gestaltungsformen entscheidend mit; so bildet sie eine aussagekräftige Quelle für die Mentalitätsgeschichte der Epoche.
Die vorliegende Literaturgeschichte betrachtet ihren Gegenstand
als vielgestaltiges Feld von Spannungsverhältnissen. In der Zeit
»zwischen Restauration und Revolution« ist nicht etwa ein literarischer Stil federführend; vielmehr durchkreuzen und überlagern sich
verschiedene literarische Strömungen: Traditionen der Spätaufklärung, goethezeitliche Kunstperiode und radikaler Bruch mit
ihr, Spätromantik und ihr verpflichtetes Epigonentum, biedermeierliche Idyllik und vormärzliches Aufbegehren. Das Fortwirken
bzw. die Spätzeit bestimmter Stile ist für die Epoche ebenso kenn-
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EINLEITUNG
zeichnend wie vorausweisende, die Zukunft vorwegnehmende
Schreibweisen. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist ein auffälliges Charakteristikum der Epoche.
Diesen vielfältigen Spannungsverhältnissen kann nur ein erweiterter Literaturbegriff gerecht werden, der die vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Etikettierungen und Kanonbildungen in
Frage stellt und überschreitet:
Die Geschichte der Literatur ist ebenso schwierig zu beschreiben wie die
Naturgeschichte. Dort wie hier hält man sich an die besonders hervortretenden Erscheinungen. Aber wie in einem kleinen Wasserglas eine ganze Welt
wunderlicher Tierchen enthalten ist, die ebensosehr von der Allmacht
Gottes zeugen wie die größten Bestien, so enthält der kleinste Musenalmanach zuweilen eine Unzahl Dichterlinge, die dem stillen Forscher
ebenso interessant dünken wie die größten Elefanten der Literatur. 3
Selbstverständlich kann es dabei nicht darum gehen, die »Literaturgeschichte wie eine wolllgeordnete Menagerie« (Heine) vorzustellen; die »Geringfügigkeiten« müssen (um Heine weiter zu folgen) in den Zusammenhang der »großen Fakta« und der »Ideen«
eingeordnet werden. Daher befaßt sich der vorliegende Band
ebensosehr mit hoher wie mit populärer Literatur; neben die
Werke mit kanonischer Geltung treten relativ unbekannte, außerhalb der üblichen literaturwissenschaftlichen Betrachtung stehende
Texte und Textbereiche, sofern sie die Physiognomie der Epoche
erhellen oder für sie charakteristisch sind. Die Begrenzung der Seitenzahl verbietet eine alle Details erfassende Rekonstruktion der
Epoche; Idealziel der vorliegenden Darstellung ist es aber doch, wesentliche Züge der Zeit zu erhellen. So gilt auch für diesen Band
Claus-Michael Orts grundlegende Aussage: »Sowohl der Umfang
des je angesetzten Referenzsystems als auch die Zeitdauer, während welcher es untersucht werden soll, unterliegt per se forschungspraktischer Beschränkung. « 4 Die einzelnen Artikel dieses
Bands, auf deren Lesbarkeit und Verständlichkeit die Herausgeber
besonders bedacht waren, stehen deshalb nicht nur für sich selbst
bzw ihren jeweiligen Gegenstand. Querverweise und ein Register
ermöglichen es, Verbindungen herzustellen und durch Lektüre-
EINLEITUNG
15
anschlüsse weiterreichende Zusammenhänge zu bilden. Für den
Hauptteil des Bands wurde die Anordnung nach Gattungen gewählt, weil das seit der Antike tradierte Gattungsgefüge in dieser
Epoche noch weitgehend verbindliche Geltung hat und, bei aller
tendenziellen Auflösung durch die Journal-Form oder durch die
Gattungsmischung im Roman, den Charakter der meisten Buchpublikationen bestimmt. Praktische Gründe der Übersichtlichkeit
wie der Lesbarkeit legen es darüber hinaus nahe, die hier skizzierten Spannungsverhältnisse und Widersprüche innerhalb der einzelnen Literaturgenres aufzuweisen und zu verfolgen. Ergänzt werden
diese Gattungsdarstellungen durch die einleitenden, »Gesellschaft
und Öffentlichkeit« charakterisierenden Beiträge, durch die beiden
Artikel zur Reiseliteratur und zum Bildungsroman sowie durch
zwei exemplarische Personal- und Werkprofile (Georg Büchner und
Heinrich Heine). Anhand des Themas »Reise und Reiseliteratur«
lassen sich dominierende Entwicklungslinien der Epoche von den
äußeren Phänomenen her ins Auge fassen, die in vielfältiger Weise
zu den literarischen Erscheinungsformen führen; die Betrachtung
der Gattung Bildungsroman dagegen lenkt den Blick vom Innern
der Werke her auf epochale und zum Teil sehr moderne Erfahrungen des Individuums. Diesen doppelten Blick ergänzen die beiden
Autoren-Porträts mit ihren gattungsübergreifenden Werkanalysen.
16
Peter Stein
Sozialgeschichtliche Signatur 1815-1848
I. Entzifferung der Epochensignatur
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit tiefgreifenden
Umbruchs. In diesen Jahrzehnten begannen sich Strukturen zu wandeln, die jahrhundertelang die Grundlage des Wirtschaftens und
Lebens gebildet hatten. Das war trotz vieler Ungleichzeitigkeiten
ein gemeineuropäischer Prozeß, in dem die deutschen Territorien
eine mittlere Position zwischen westeuropäischer Fortgeschrittenheit und osteuropäischer Beharrung innehatten. Die Ursachen lagen vor allem in der wachsenden Dynamik jener modernen Wirtschaftsformen, die durch ein komplexes Ineinandergreifen von freigesetzter Arbeitskraft, Kapitalakkumulation, Marktmechanismen
und neuen technischen Produktionsweisen charakterisiert und mit
dem Oberbegriff »Industrielle Revolution« noch nicht zutreffend
genug beschrieben sind. Die Jahre von 1815 bis 1848 wurden schon
von den Zeitgenossen als eine Epoche grundlegender Umwälzungen und des Übergangs erkannt. Unmittelbarer Anlaß der neuartigen Epochenerfahrung waren vor allem die geschichtsträchtigen
Umbrüche des staatlichen Lebens, die als tiefgreifende Revolutionierung überkommener soziopolitischer Ordnungen wahrgenommen wurden. Daß die Pariser Ereignisse ab 1789 kein separater
Vorgang waren und weder durch Napoleons Sieg noch durch seine
Niederwerfung 1814, weder durch den Wiener Kongreß 1815 noch
durch die Niederschlagung der verschiedenen aufständischen Bewegungen bis 1848 sich in ihrer Wirksamkeit brechen ließen — darin
waren sich Gegner wie Befürworter der »Revolution« einig. Allein
schon auf dieser außen- und innenpolitischen Ebene, im neuartigen
Kriegs- und Bürgerkriegszustand von Staat und Gesellschaft,
Mächten und Parteien, wurden unumkehrbare Handlungen vollzogen und tiefe Zäsuren sichtbar. Dabei verstärkte sich die Einsicht,
man sei insgesamt einem markanten historischen Prozeß unterwor-
ENTZIFFERUNG DER EPOCHENSIGNATUR
17
fen, dessen Bewegungsgesetz zunächst eher geschichtsphilosophisch
als sozialgeschichtlich-analytisch beschrieben werden konnte. Auch
wenn zutraf, daß die Politik das (neue) Schicksal war und in Napoleon, dem dieses Diktum zugeschrieben ist, sogar reale Gestalt annehmen konnte, traf doch auch zu, daß Politik nicht die letzte Ursache der tiefgreifenden Umwälzung war. Was dem zeitgenössischen
Bewußtsein als von handelnden Menschen betriebene Politik bzw.
von geschichtlichen Subjekten herbeigeführter Traditionsbruch im
»Revolutionszeitalter« (Niebuhr) erschien, ließe sich aus größer
werdender Distanz ebensosehr als langfristige Umschichtung von
Formationen verstehen, für die der (politische) Revolutionsbegriff
allein kaum noch zureichend sein kann. »>Die Gesellschaft<«, so
hatte es hellsichtig Alexis de Tocqueville bereits 1850 diagnostiziert,
»wird nicht hier und da verändert, sie befindet sich als Ganzes in
einem Prozeß der Transformation. «I
In den sozialgeschichtlichen Darstellungen zum deutschen
19. Jahrhundert geht es um die analytische Fassung der Materialität
dieser großen ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Transformation. Insofern »Herrschaft die Wirtschaft und
Kultur, Wirtschaft die Herrschaft und Kultur, Kultur die Herrschaft
und Wirtschaft « 2 dialektisch bedingen, hat auch Literaturgeschichte Kenntnis von diesen Forschungen zu nehmen. Das in ihnen
formulierte Wissen verdankt sich einem bis zur Gegenwart reichenden Erfahrungsraum und entziffert auf andere Weise die Signatur
dieser Epoche, als es deren kundigste Augenzeugen, zu denen im
weitesten Sinne die Schriftsteller zählen, je vermochten. Dennoch
ist der Historiker kein besserer Epochenzeuge; er sieht aus dem Abstand und von dort weniger und zugleich mehr.
18
SOZIALGESCHICHTLICHE SIGNATUR
II. Von der »Agrarrevolution« zur Industriellen Revolution
1. Feudale Agrargesellschaft und »Agrarrevolution«
Obgleich das Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
immer noch eine Agrargesellschaft war, in der — von wenigen Handels- und Gewerberegionen abgesehen — um 1815 über 60 Prozent
der arbeitenden Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft ihr
Auskommen hatten, bestand doch die jahrhundertealte agrarische
Welt nicht mehr ungebrochen. Gerade in diesem traditionellen
Kernbereich gesellschaftlicher Reproduktion vollzogen sich bis
1848 folgenreiche Umbrüche. Die auch als »Agrarrevolution« bezeichnete grundlegende Modernisierung, die die politische Änderung der bäuerlichen Sozialverfassung (sog. Bauernbefreiung) und
die von Wissenschaft und Technik getragene Effektivierung der
agrarischen Produktion betraf, ging der Industriellen Revolution
voraus und bildete ein entscheidendes Fundament für den industriegesellschaftlichen »Take-Off« (Rostow). 3
Die politische Reformierung der feudalen Agrarverfassung, teilweise in einzelnen Regionen und bäuerlichen Segmenten schon ab
dem 18. Jahrhundert einsetzend, brach im Kern mit dem überkommenen System rechtlicher Bindungen und wirtschaftlicher Zwänge.
Die Abschaffung der verschiedenen Formen der Leibeigenschaft,
die Ablösung der Frondienste und Abgaben, die Entlassung in
gesellschaftliche und berufliche Mobilität (Freizügigkeit, Heirat,
Bildung, Gewerbefreiheit, Freiheit des Güterverkehrs usw) transformierte den mediaten Bauern im Prinzip zum »freien Eigentümer
von Boden und Arbeitskraft«. 4 So unterschiedlich im einzelnen der
Grad dieser bäuerlichen Emanzipation war, die übergreifende Tendenz läßt sich so bezeichnen: Landwirtschaft wurde zu einem mit
Kapital arbeitenden, gewinnorientierten >Gewerbe<, das sich nach
Marktgesetzen auszurichten hatte. Die hierzu erforderliche neue
Freiheit war für einen großen Teil der Bevölkerung durchaus ambivalent: Sie löste die Betroffenen nicht nur aus feudalherrschaftlichen Bindungen, die mit der modernen Idee des Rechtssubjekts
unvereinbar waren, sondern zugleich auch aus schützenden dörflich-genossenschaftlichen Sozialbindungen (Aufteilung der alten All-
AGRARREVOLUTION
19
mende, Fortfall des Weiderechts, Armenschutz usw.), sofern die
Personen nicht durch Patronat und eine rigide Gesindeordnung abhängig blieben.
Es waren die immer stärkeren Unterschiede zwischen zugewonnenem und verlorenem Eigentum und Geld, die bäuerliche Schichten sozial und mental zu trennen begannen, so daß ständische
Gemeinsamkeiten zerbrachen. Sahen sich die Gewinner dieser Entwicklung als ländliche Unternehmer bereits städtischen Mittelschichten angenähert, mußten die Verlierer, die sich vergrößernde
Schicht der Landbesitzlosen und Pauper, ihre Deklassierung zu
einem ländlichen Proletariat erfahren. In dem Maße, wie diese
Bevölkerungsgruppe in den dreißiger und vierziger Jahren sozial
enteignet wurde, ohne schon von den erst langsam durch die Industrialisierung geschaffenen modernen Wirtschaftsbereichen aufgefangen zu werden, bildete sich hier bis 1848 ein beträchtliches
Konfliktpotential. Das Landleben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war dementsprechend keine vorindustrielle oder vorkapitalistische Idylle, auch wenn die harte Modernisierung in Gestalt
von Maschinentechnik, Kredit- und Versicherungswesen, Düngertechnik, Wegebau usw weitgehend erst nach 1848 griff.
2. Handwerkskrise und Proto-Industrialisierung
Etwa parallel zu den Umbrüchen in der Agrarverfassung kam es
auch zu einer Krise des alten Handwerks und der Manufaktur. Die
Einführung der Gewerbefreiheit, in Preußen 1810/11 für den östlichen Teil begonnen, jedoch erst 1845 in stark abgebremster Form
gesamtstaatlich abgeschlossen, signalisierte das allmähliche Ende
der jahrhundertealten Zunftverfassung, die aber immer noch nicht
aufgehoben war. Sie schuf die Voraussetzung dafür, daß Landgewerbe und städtisches Handwerk, teilweise gegen deren erklärten
Willen, dem modernen Konkurrenzprinzip und der Marktgesellschaft geöffnet wurden. Damit zeichneten sich auch für den sekundären Sektor, der etwa ein Sechstel der Arbeitenden im Gebiet des
Deutschen Bundes umfaßte, einschneidende Umbrüche einer traditionalen Lebens- und Produktionsweise ab. Sie wurden bis 1848 vor
20
SOZIALGESCHICHTLICHE SIGNATUR
allem deswegen als schwere Krise empfunden, weil die langfristig
kompensatorisch wirkenden Folgen des Systemwandels zur Industriewirtschaft für die meisten real noch kaum spürbar waren. So
mußten ambivalente Identitätsveränderungen im Selbstbild des
Handwerks die zwangsläufige Folge sein. Auf der einen Seite fürchtete der Handwerker, wie Nipperdey plastisch beschreibt,
das Aufbrechen der Zunft- und Kleinstadtwelt, den Einbruch der Konkurrenz durch den neuen Bevölkerungsüberschuß wie die Industrie, den
Verlust von Sicherheit, die Möglichkeit von Proletarisierung — wie sie die
Not der proletaroiden Allein- und Kleinmeister, aber auch der Gesellen in
der Krise der vierziger Jahre so eindrücklich machte. 5
Hier ist die Grundlage für kleinbürgerliches Philister- und
Spießertum bzw. für den labilen <Mittelstand> von kleinem Gewerbe, Krämern und Händlern, karikiert in der Figur des deutschen Michel. Auf der anderen Seite entsprang dieser sozialen Basis
aber auch der Typ des gesellschaftlich und politisch lebhaft engagierten Kleinbürgers, der auf seine Deklassierung zum Handarbeiter mit politisch wachem Bewußtsein bzw einem radikalen Protestverhalten reagierte.
Wendet man den Blick weg von der handwerklichen Gewerbewirtschaft zum Bereich der frühindustriellen Produktion, so zeigt
sich ein anderes Bild. Ein umfangreicher Bereich der seit der frühen
Neuzeit tradierten Manufaktur, der auch in der Form von >Hausindustrie> und >Heimgewerbe> als gewerbliche Warenproduktion existierte, blieb bis ins 20. Jahrhundert bedeutsam. Andere Bereiche
transformierten sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lediglich
zu einer >proto-industriellen> Produktionsweise. Das Nebeneinander von Proto-Industrie anstelle von Industrialisierung und ProtoIndustrie als Übergang zur (Früh-)Industrialisierung blieb charakteristisch für den deutschen Vormärz. In diesem Mischzustand
klang die haus- und familienwirtschaftlich strukturierte feudale
Produktionsweise ebenso aus, wie die marktwirtschaftlich strukturierte industriekapitalistische Produktionsweise darin einen ihrer
Auslöser fand.
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