30443 - DIV - UEZ - Angeda 20-D

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Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.)
Agenda 20D
Wege zu mehr Wachstum und
Verteilungseffizienz
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-602-14839-4 (Druckausgabe)
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5
Inhalt
Vorwort
7
I
Wachstumspotenzial und Reformen
11
I.1
Wachstum und Reformen – eine Bilanz
13
II
Verteilungseffekte im Wachstumsprozess
43
II.1
II.2
II.3
II.4
II.5
II.6
II.7
Dimensionen der Einkommensverteilung
Einkommensverteilung aus makroökonomischer Perspektive
Arbeitsentgelte und Haushaltseinkommen
Haushaltseinkommen vor und nach staatlicher Umverteilung
Armutsrisiken im internationalen Vergleich
Strukturen und Determinanten der Einkommensmobilität in Deutschland
Einkommensungleichheit und -armut in Deutschland
45
51
69
87
107
131
169
III
Wachstumspolitische Handlungsempfehlungen
197
III.1
III.2
III.3
III.4
Humankapitalbildung
Beschäftigungsmobilisierung
Haushaltskonsolidierung und Investitionsstimulierung
Vertrauensstabilisierung als Wachstumsfaktor
199
223
245
271
Die Autoren
301
7
Vorwort
Vor gut vier Jahren hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) seine Studie
„Vision Deutschland: Der Wohlstand hat Zukunft“ vorgelegt. Anlass für diese wirtschaftspolitische Reformwerkstatt war, dass Deutschland damals im Jahr 2005 unter dem Eindruck eines wachstumspolitisch verlorenen Jahrzehnts stand. Die Arbeitslosigkeit lag auf
Rekordniveau und nach Ansicht von vielen Ökonomen war ein Potenzialwachstum von
nicht viel mehr als 1 Prozent pro Jahr zu erwarten – das hieß praktisch Stagnation. Damit
verband sich die ungemütliche Aussicht auf längerfristig eingeschränkte Verteilungsspielräume, eine strukturell verfestigte Arbeitslosigkeit, stagnierende Realeinkommen und
dauerhaft unsolide Staatsfinanzen. In der „Vision Deutschland“ wurde gezeigt, wie sich
Deutschland mit beherzten Reformen aus der Wachstumsmisere befreien und auf einen
nachhaltig höheren Wachstumspfad zurückkehren kann.
Tatsächlich hat Deutschland bis zum Jahr 2008 einen von vielen nicht erwarteten wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnet. Dies lässt sich auf eine glückliche Mischung aus
wirtschaftlichen Faktoren und den einsetzenden Wirkungen von strukturellen Reformen
zurückführen. Aufgrund seiner Exportorientierung profitierte Deutschland in dieser Zeit
stark vom Investitionsboom in der Weltwirtschaft, der historisch einmalig war. Die deutschen Unternehmen konnten ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Kostendisziplin steigern
und die umfangreichen Umstrukturierungen der Vergangenheit ermöglichten erfolgreiche
Produkt- und Prozessinnovationen. Alles in allem hat sich das niedrige deutsche Potenzialwachstum seit dem Jahr 2003 nahezu verdoppelt. Die Reformpolitik der Bundesregierung
hat daran einen erheblichen Anteil.
Mit dem vorliegenden Band legt das IW Köln einerseits eine Bilanz des letzten Aufschwungs vor. Andererseits skizziert es damit Bedingungen für einen neuen Aufschwung.
Denn erneut steht Deutschland vor großen Herausforderungen. Ein Wirtschaftseinbruch
von historischer Dimension droht die Früchte des letzten Aufschwungs zunichte zu machen: Die Beschäftigungsgewinne der letzten drei Jahre werden im nächsten Jahr aufgezehrt sein, das Realeinkommen pro Kopf wird im Jahr 2009 nicht viel höher liegen als im
Jahr 2006. Die Finanzmarktkrise hat eine systemische Verwundbarkeit der Realwirtschaft
durch Entwicklungen auf den Finanzmärkten und ganz neue Übertragungswege internationaler Risikoinfektionen zutage treten lassen, vor deren Hintergrund sich das bisherige
Erfahrungswissen über das konjunkturelle Auf und Ab als ergänzungsbedürftig erweist.
Noch bedeutsamer aber ist, dass sich viele – und nicht nur Globalisierungsgegner –
in ihrer Kritik am Paradigma der internationalen Arbeitsteilung bestätigt sehen. Die
Zwillingskrise von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft wird begleitet von einer Legitimations- und Vertrauenskrise der marktwirtschaftlichen Ordnung. Eine Debatte um das „Geschäftsmodell Deutschland“ mit seiner starken Industrie und seiner hohen Exportorientierung hat eingesetzt, ebenso wie eine Neuauflage der Diskussion um die „Grenzen des
Wachstums“. Gleichzeitig verschiebt sich die strukturelle Arbeitsteilung zwischen Markt
und Staat, die womöglich längerfristig wirksam ist und die durch zahlreiche unternehmensseitige Forderungen nach Staatshilfe noch verstärkt wird.
8
Vorwort
Angesichts der schnell steigenden Staatsquote ist derzeit völlig offen, ob und wie
diese Gewichtsverschiebung vom Markt zur Politik wieder revidiert werden kann. Weil
Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise scheinbar die Befürworter von mehr Staatseingriffen
bestätigen, droht eine völlige Überforderung dessen, was staatliche Aktivität zu leisten imstande ist. Der Preis dafür ist der Verzicht auf zukünftiges Wachstum. Deshalb erinnert das
IW Köln mit dem vorliegenden Band an die Grundlagen wirtschaftlichen Wachstums. Es
knüpft an den Wachstumstreibern Investitionen, Beschäftigung, Humankapital und Staatsfinanzen an, die in der „Vision Deutschland“ identifiziert wurden, und skizziert die Reformen in den wichtigsten wirtschaftspolitischen Aktionsfeldern Arbeitsmarkt, soziale
Sicherung, Steuern und Finanzen (Kapitel I.1).
Zur Bilanz des letzten Aufschwungs zählt aber auch, dass dessen Qualität zumindest
in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung nicht richtig angekommen ist. Die Reform
der Grundsicherung für Arbeitsuchende veränderte das durchschnittliche Sicherheitsempfinden am Arbeitsmarkt. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer durch die Große Koalition ermöglichte – zusammen mit konjunkturbedingt wachsenden Steuereinnahmen –
zwar beachtliche Konsolidierungsfortschritte der öffentlichen Hand, schmälerte aber im
Zusammenwirken mit einer hohen Inflationsrate die Massenkaufkraft. Eine insgesamt
moderate Lohnpolitik bis in das Jahr 2008 hinein begrenzte den Verdienstzuwachs breiter
Bevölkerungskreise und kontrastierte mit stark zunehmenden Gewinneinkommen. Was
aus ökonomischer Sicht eine Vorbedingung für die spürbare Verbesserung der Arbeitsmarktsituation war, betrachteten viele Bürger als einen Aufschwung, der nicht bei ihnen
angekommen ist.
Der statistisch messbare Aufschwung und das Einschwenken auf einen insgesamt
höheren Wachstumspfad wurden in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach nicht zur
Kenntnis genommen oder gar verdrängt. Das IW Köln hat deshalb auch die Verteilungsbilanz des letzten Aufschwungs einer eingehenden Analyse unterzogen, um daraus Lehren
für eine verteilungspolitische Absicherung des nächsten Aufschwungs ziehen zu können.
Daraus folgt eine ganze Reihe von differenzierten Befunden:
Die funktionale Einkommensverteilung war in den letzten Jahren von einer rückläufigen Lohnquote geprägt (Kapitel II.2). Die Bedeutung der Arbeitnehmerentgelte für das
Haushaltsmarkteinkommen hat abgenommen. Zudem hat die Streuung der Einkommen
aus selbstständiger Tätigkeit deutlich stärker zugenommen als bei den Einkommen aus abhängiger Beschäftigung (Kapitel II.3).
Auch auf der Mikroebene zeigt sich eine ungleichere Verteilung der Markteinkommen, dies aber vorwiegend in der oberen Hälfte der Verteilung. Durch Umverteilung via
Transfers und Abgaben konnte der Staat aber dieser Entwicklung entgegenwirken, sodass
die Nettoeinkommen der Haushalte im Jahr 2006 sogar dichter beieinanderlagen als noch
im Jahr 1995 (Kapitel II.4).
Bei einem EU-Vergleich verschiedener Indikatoren für Armutsrisiken erreicht
Deutschland mittlere bis gute Platzierungen. Für eine in Deutschland vielfach behauptete
überdurchschnittlich hohe Armutsgefährdung gibt es somit keinen empirischen Beleg. Die
sogenannte Armutsrisikoquote weist in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen EULändern zudem nur ein schwach ausgeprägtes Altersprofil auf (Kapitel II.5).
Vorwort
9
Arbeit und Bildung sind die wesentlichen Bestimmungsgründe für soziale Aufstiegsmobilität. Diese hat aber zumindest für das unterste Einkommensfünftel im Zeitverlauf
abgenommen. Außer Arbeitslosen und Geringqualifizierten stiegen auch Migranten und
Personen in Haushalten, in denen Kinder hinzukamen, seltener in höhere Einkommensbereiche auf als früher (Kapitel II.6).
Haushaltsgröße und Haushaltszusammensetzung haben sich seit Mitte der 1990er
Jahre merklich verändert. Vor allem Haushaltsformen mit einer größeren Einkommensungleichheit innerhalb des jeweiligen Haushaltstyps (Einpersonenhaushalte, Paare ohne
Kinder, Alleinerziehendenhaushalte, Haushalte mit Migrationshintergrund) haben an Bedeutung gewonnen (Kapitel II.7).
Diese verteilungspolitischen Befunde ergeben als gemeinsamen Nenner, dass nicht
alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen vom Wachstum profitiert haben. Dies rechtfertigt aber nicht die üblichen verteilungspolitischen Reflexe zulasten oberer Einkommensschichten. Die Befunde deuten vielmehr darauf hin, dass der Zugang zu Arbeit und Bildung von entscheidender Bedeutung ist, um an den Erträgen des Wachstums dauerhaft teilhaben zu können. Sie setzen ihrerseits Investitionen und Innovationen voraus, um den
Wachstumspfad dauerhaft erhöhen zu können. Alles in allem ergibt sich eine vergleichsweise klar umrissene Strategie zur Stärkung von Wachstumstreibern, die gleichzeitig die
verteilungspolitischen Effekte im Blick hat und sich als ein Fünfklang aus Arbeit, Integration, Bildung, Investitionen und Innovationen beschreiben lässt:
Voraussetzung für mehr Arbeit ist neben einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik,
einer ausreichenden qualifikatorischen Lohndifferenzierung und einem Verzicht auf gesetzliche Mindestlöhne die Konzentration des arbeitsmarktpolitischen Mitteleinsatzes auf
die Anbahnung von Erwerbsarbeit. Jede Form einer bezahlten Erwerbstätigkeit ist dem Bezug von Transferleistungen vorzuziehen. Dies gilt vor allem für die Ausgestaltung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende, die statt der bereits sehr früh einsetzenden hohen
Transferentzugsraten bei der Anrechnung von Hinzuverdiensten einen linearen Tarif aufweisen sollte, um die Anreize zu einer Vollzeitbeschäftigung zu erhöhen (Kapitel III.2).
Zur besseren Integration von Menschen mit Migrationshintergrund muss bereits im
Kindergarten und später in der Ganztagsschule dafür gesorgt werden, durch mehr individuelle Förderung Defizite zu verhindern. Ausreichende Deutschkenntnisse sind der
Schlüssel zur beruflichen und sozialen Integration. Integrationskurse sind daher zielgruppenspezifisch auszudehnen. Der Ausbau der beruflichen Integrationsberatung und der
Nachqualifizierungsangebote für erwachsene Einwanderer mit niedrigen oder fehlenden
Abschlüssen erhöht deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie eine einheitliche und
übergreifende Anerkennungsregelung für ausländische Qualifikationsnachweise.
Ein hohes Niveau formaler und beruflicher Bildung der Bevölkerung kann sowohl das
Wirtschaftswachstum als auch die Verteilungsgerechtigkeit verbessern. Die bildungspolitischen Reformmaßnahmen sollten vor allem bei einer stärkeren Förderung bildungsferner
Schichten und bei Migranten ansetzen, um deren Potenziale zu erschließen. Dazu ist die
frühkindliche Förderung quantitativ und qualitativ zu verbessern, es sind mehr Leistungsanreize an den Schulen zu etablieren und die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Bil-
10
Vorwort
dungsgängen sollte erhöht werden. Möglichst viele der Studienberechtigten sollten auch
tatsächlich ein Studium aufnehmen. Um den Wachstumspfad durch ausreichend technisches Wissen abzusichern, sollten die Absolventenzahlen in Studienfächern der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT-Fächer) gesteigert werden
(Kapitel III.1).
Der Staat muss nach Überwindung der Wirtschaftskrise seine Haushalte wieder in
Ordnung bringen. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte darf aber nicht erneut
– anders als zwischen 2004 und 2008 – teilweise zulasten der öffentlichen Investitionen
gehen. Wachstumspolitisch von zentraler Bedeutung ist, dass die Schuldenbremse die Anstrengungen darauf lenkt, den Anstieg der konsumtiven Staatsausgaben zu begrenzen,
nicht aber die öffentlichen Investitionen schädigt oder zu weiteren Steuererhöhungen führt.
Umso wichtiger ist die Priorisierung der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte auf
Investitionen. Mehr unternehmerische Investitionen im FuE-Bereich können durch eine
steuerliche FuE-Förderung angeregt werden. Die Bedingungen für Innovationen lassen
sich durch weitere Fortschritte bei den Rahmenbedingungen für Beteiligungs- und Wagniskapital, die substanzielle Bilanzierbarkeit und Beleihbarkeit geistigen Eigentums und immaterieller Vermögensgüter sowie die Erhöhung des ökonomischen Werts von Patenten
und Schutzrechten als Anreiz für mehr FuE-Investitionen verbessern (Kapitel III.3).
Die Finanzkrise hat aber auch gelehrt, dass die klassischen Wachstumstreiber um den
eigenständigen Wachstumsfaktor Vertrauen ergänzt werden müssen. Wenn die Menschen
anderen vertrauen, erreichen sie größeren Wohlstand. Vertrauen lässt sich von staatlicher
Seite durch eine gute Ordnungspolitik fördern, indem die Eigentums- und Verfügungsrechte gesichert werden, Haftung konsequent eingefordert wird, der Staat verlässliche Rahmenbedingungen vorgibt und für transparente sowie nachvollziehbare Regelungen sorgt.
Bessere Regulierungen vor allem im Finanzsektor (zum Beispiel eine risikoorientierte
Würdigung der Geschäftsstrategie, eine Erfassung systemischer Risiken, eine funktionsfähigere Bankenaufsicht) können Vertrauen stabilisieren und damit Wachstum fördern
(Kapitel III.4).
Das IW Köln hofft, mit diesen Politikpfaden eine wirtschaftspolitische Agenda für die
neue Legislatur umreißen zu können. Zu einer Wachstumsstrategie gibt es – zumal in Zeiten eines scharfen Wirtschaftseinbruchs – keine realistische Alternative. Die Orientierung
an den Wachstumstreibern der „Vision Deutschland“ hat daher nichts von ihrer Berechtigung verloren, ist aber noch um den Wachstumsfaktor Vertrauen zu ergänzen. Eine
Schärfung der präventiven Maßnahmen, die Wachstums- und Verteilungsaspekte gleichermaßen berücksichtigen, kann eine Wachstumsstrategie noch besser gegen die allfällige
Kritik immunisieren, sie gehe zulasten einer ausgewogenen Verteilung. Letztlich kann nur
eine wachstumsorientierte investive Politik Verteilungskonflikte dauerhaft entschärfen.
Es gilt, dies zur Richtschnur der Politik in und nach der Krise zu machen.
Michael Hüther / Hans-Peter Klös / Rolf Kroker
Köln, im Juni 2009
I Wachstumspotenzial und Reformen
13
Kapitel I.1
Michael Grömling / Axel Plünnecke / Benjamin Scharnagel
Wachstum und Reformen – eine Bilanz
Inhalt
1
Deutschland im Sog der Finanzmarktkrise
14
2
Rückblick auf den vergangenen Aufschwung
16
3
Stärkung der Wachstumskräfte
22
4
Reformen in Deutschland
27
Zusammenfassung
40
Literatur
41
14
Wachstum und Reformen – eine Bilanz
1 Deutschland im Sog der Finanzmarktkrise
Der im Jahr 2004 gestartete Aufschwung in Deutschland ist vorbei. Bereits im zweiten Quartal 2008 konnte die deutsche Wirtschaft die Leistung des vorangegangenen Quartals nicht mehr erreichen (Abbildung I.1.1). In den weiteren Quartalen hat sich die Abwärtsbewegung beschleunigt fortgesetzt.
Wirtschaftsdynamik in Deutschland
Abbildung I.1.1
Preis-, arbeitstäglich- und saisonbereinigtes Bruttoinlandsprodukt, Index: 2000 = 100
114
112
110
108
106
104
102
100
98
I/01
I/02
I/03
I/04
I/05
I/06
I/07
I/08
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2009
Die weltweite Finanzmarktkrise hat mehr und mehr auf die realwirtschaftlichen Sektoren in Deutschland durchgeschlagen. Auslöser der mittlerweile in vielen Ländern akuten
Wirtschaftsprobleme – nicht nur auf den Finanzmärkten – war die Immobilien- und Hypothekenkrise in den USA: Zunächst brachen dort zur Jahreswende 2006/2007 die Kurse
hypothekengesicherter Papiere mit BBB-Ratings (zweitrangige Immobilienkredite, sogenannte Subprime Credits) und im Sommer 2007 die Kurse hypothekengesicherter Papiere
mit AAA-Ratings ein. Zuvor hatte die US-amerikanische Geldpolitik ab dem Jahr 2005
wieder einen restriktiveren Kurs eingeschlagen. Die Immobilienpreise stiegen kaum noch
und waren seit dem Sommer 2006 rückläufig. In der Folge mussten zwei Hedgefonds der
Investmentbank Bear Stearns geschlossen werden und es kam zu einer markanten Herabstufung der Ratings von hypothekengesicherten Papieren. Zudem brach die Refinanzierung
über den Geldmarkt von Zweckgesellschaften zusammen, die selbst nicht mit Eigenkapital ausgestattet waren, aber über Liquiditätszusagen der Banken verfügten, die diese
Zweckgesellschaften eingerichtet hatten (Jäger et al., 2009, 28 f.).
Daraufhin gab es am Interbankenmarkt, auf dem sich Banken untereinander mit Liquidität versorgen, große Engpässe und es entstand eine erhebliche Vertrauenskrise im Bankensektor. Es war nicht sicher, welche Banken mit welchem Engagement und Risiko und
über welchen Kanal in die Krise am Subprime-Markt verwickelt sind. Die Notenbanken
haben mit Rekordsummen versucht, den Banken genügend Liquidität zur Verfügung zu
stellen. Die Krise am Subprime-Markt in den USA hat weitere Kreise gezogen und eine
Wachstum und Reformen – eine Bilanz
15
Reihe von Banken kam unter Druck – auch in Deutschland. Viele Staaten mussten massiv
eingreifen, um Banken und Finanzmärkte zu stabilisieren. Dennoch ist das Vertrauensoder vielmehr das Misstrauensproblem noch nicht abschließend gelöst.
Die Finanzmarktkrise hat längst die Realwirtschaften rund um den Globus in Mitleidenschaft gezogen – ungeachtet der Tatsache, dass in vielen Ländern mit milliardenschweren Konjunkturpaketen versucht wird, die Wirtschaft zu stabilisieren. Im April 2009 erwartete der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Rückgang der Weltwirtschaft für das
laufende Jahr. Deutschland ist stark von diesem Abschwung betroffen. Zum einen übertragen sich die Verwerfungen der Finanzmärkte auf die hiesigen realwirtschaftlichen Aktivitäten über Vermögensverluste in Form von Aktienmarkteinbrüchen, über Wechselkursschwankungen und über schwierigere Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und
private Haushalte. Zum anderen ist für Deutschland ein weiteres wichtiges Übertragungsfeld zu lokalisieren, das unter den Turbulenzen leidet: die exportorientierte Industrie.
Export- und Importquote in Deutschland
Abbildung I.1.2
Anteil der Exporte und Importe am nominalen Bruttoinlandsprodukt, in Prozent
Importquote
Exportquote
50
45
40
35
30
25
20
15
10
1991
1993
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
Quellen: Statistisches Bundesamt, 2009; eigene Berechnungen
Die gesamtwirtschaftliche Exportquote ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten
markant auf zuletzt mehr als 47 Prozent des nominalen BIP gestiegen (Abbildung I.1.2).
Vor allem das Verarbeitende Gewerbe ist in seiner Entwicklung stark von der Auslandsnachfrage abhängig. Die Auftragseingänge der Industrie aus dem Ausland sind bereits seit
Ende des Jahres 2007 rückläufig. Zum Jahresende 2008 lagen sie um ein Drittel unter dem
Höchstwert vom November 2007. Ein Zyklenvergleich der Aufträge aus dem In- und Ausland im Verarbeitenden Gewerbe zeigt, dass der derzeitige Einbruch besonders gravierend
ist (Abbildung I.1.3). Während der Rückgang bis August 2008 dem Muster zurückliegender Zyklen zum Ende eines Aufschwungs gefolgt ist, stürzten die Auftragseingänge ab
September 2008 – dies fällt zeitlich zusammen mit der Insolvenz der US-amerikanischen
Bank Lehman Brothers – regelrecht ab.
Nur aufgrund des starken Überhangs aus dem Vorjahr lag die preisbereinigte Bruttowertschöpfung des Produzierenden Gewerbes im Jahr 2008 noch um 0,4 Prozent über dem
16
Wachstum und Reformen – eine Bilanz
Industrieaufträge im Konjunkturverlauf
Abbildung I.1.3
Realer Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe in den letzten drei konjunkturellen
Abschwungphasen, Index: jeweils erster Monat = 100
Aufträge aus dem Ausland
Aufträge aus dem Inland
110
100
90
80
70
60
8
009
2/2
200
11/
008
8/2
008
5/2
2/2
008
Abschwung 2007/2008/2009
9/2
001
11/
200
1
11/
200
7
001
6/2
001
3/2
992
Abschwung 2000/2001
199
2
1/1
993
12/
200
0
11/
8/1
5/1
2/1
992
Abschwung 1992/1993
992
50
Quellen: Deutsche Bundesbank, 2009; eigene Berechnungen
Vorjahreswert. Auch die Bauwirtschaft verzeichnet seit dem ersten Quartal 2008 eine rückläufige Produktion – konnte aber im Gesamtjahr 2008 ebenfalls noch wegen der guten
Ausgangslage die Wertschöpfung des Jahres 2007 übertreffen. Der Dienstleistungssektor,
auf den fast 70 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung entfallen, trat im Jahr
2008 mit Blick auf den Verlauf gerade noch auf der Stelle. Auch hier wird sich die rückläufige Industrieproduktion zunehmend negativ niederschlagen. Vor dem Hintergrund der
sich im Jahr 2008 mehr und mehr verschlechternden Entwicklung wird für Deutschland im
Jahr 2009 der stärkste Wirtschaftseinbruch seit dem Zweiten Weltkrieg erwartet.
2 Rückblick auf den vergangenen Aufschwung
Vergleicht man über einen längeren Zeitraum das Wirtschaftswachstum in Deutschland mit dem anderer Länder, so fällt auf, dass es Deutschland im zurückliegenden Aufschwung nicht gelungen ist, sich von einem der hinteren Plätze nach vorne zu bewegen.
Von 1995 bis 2008 legte das reale BIP hierzulande insgesamt um 22 Prozent zu (Abbildung I.1.4). Unter den Staaten der EU-15 sowie den USA und Japan wuchsen lediglich
Italien und Japan in diesem Zeitraum mit jeweils 18 Prozent noch weniger. In den USA
erhöhte sich das reale BIP dagegen seit 1995 sogar um 46 Prozent.
Dennoch ist festzuhalten, dass die deutsche Wirtschaft zuletzt auf ein paar sehr gute
Jahre zurückblicken kann. Denn seit dem Beginn der wirtschaftlichen Erholung im Jahr
2004 ist die preisbereinigte Wirtschaftsleistung um insgesamt fast 8 Prozent gewachsen. In
nominaler Rechnung belief sich im Jahr 2008 der Wert der gesamtwirtschaftlichen Produktion auf fast 2.500 Milliarden Euro. Für diese wirtschaftliche Erholung in Deutschland
können eine Reihe von Argumenten angeführt werden (Grömling et al., 2007; Hüther,
2008; Grömling, 2009):
Wachstum und Reformen – eine Bilanz
17
Deutschland im internationalen Wachstumsvergleich
Abbildung I.1.4
Reales Bruttoinlandsprodukt, Index: 1995 = 100
Vereinigtes Königreich
Welt
USA
Italien
Frankreich
Deutschland
Japan
170
160
150
140
130
120
110
100
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
Quellen: IWF, 2008; eigene Berechnungen
Weltwirtschaftsboom: Das Wachstum der Weltwirtschaft war in den Jahren von 2003
bis 2007 insgesamt so hoch wie noch nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Welthandel expandierte in dieser Zeit um jahresdurchschnittlich 8 Prozent. Vor allem die immer
stärkere Einbindung Asiens in die Weltwirtschaft hatte dieses Tempo ausgelöst. Dazu kam
eine gute Wachstumsperformance in den rohstoffreichen Ländern sowie in Mittel- und
Osteuropa. Deutschland war offensichtlich mit seinem Produktportfolio vergleichsweise
gut aufgestellt, um dieses globale Potenzial zu nutzen. Vor allem das auf hochqualitative
und differenzierte Industrieprodukte ausgerichtete Warenangebot zusammen mit einer
guten globalen Vernetzung ermöglichte die außerordentliche deutsche Exportentwicklung.
Jedenfalls hat in den letzten Jahren kein Land mehr Waren exportiert als Deutschland.
Die wirtschaftliche Erholung in Deutschland wurde maßgeblich vom Außenhandel und von
der Industrie, die fast 90 Prozent des deutschen Außenhandels bestimmt, getragen.
Wettbewerbsfähigkeit: Die starken Exportsteigerungen, die zum Teil bereits in der
zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu beobachten waren, können auch mit der zu dieser Zeit
einsetzenden stärkeren Kostendisziplin in Deutschland erklärt werden. Während die nominalen Arbeitskosten je Arbeitnehmerstunde im Zeitraum 1991 bis 1996 um 5 Prozent pro
Jahr angestiegen waren, kam es im Zeitraum 1997 bis 2008 nur noch zu einem Anstieg von
durchschnittlich 1,6 Prozent pro Jahr. Dabei darf nicht übersehen werden, dass trotz der
moderateren Kostenerhöhungen das hiesige Arbeitskostenniveau – vor allem in der Industrie – immer noch deutlich über dem anderer Länder liegt.
Auch die Lohnstückkosten, die neben den Arbeitskosten das Produktivitätsniveau
berücksichtigen, liegen in Deutschland im Verarbeitenden Gewerbe deutlich über dem
internationalen Durchschnitt (Schröder, 2008). Jedoch zeigt ein Blick auf die Entwicklung
in Deutschland und in 15 anderen Industrieländern, dass sich der in den frühen 1990er
Jahren aufgebaute Lohnstückkostennachteil der hiesigen Industrie zurückbildet (Abbildung I.1.5). Während die Lohnstückkosten in den anderen Industrieländern auf Euro-Basis
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