Grundlegende Dimensionen versicherungspsychiatrischer

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Qualitative versicherungspsychiatrische
Validierung (II): Grundlegende Dimensionen
versicherungspsychiatrischer Abklärungen
Dr. med. Dr. phil. H.-J. Haupt
6. Februar 2010
Vorbemerkung
Im letzten Beitrag wurden die Besonderheiten der qualitativen Validierung heraus gearbeitet. In diesem Artikel werden die grundlegenden Aspekte der qualitativen Validierung
beschrieben, mit anderen Worten: die grundsätzlich bei jeder versicherungspsychiatrischen Abklärung zu beurteilenden Dimensionen. Die qualitative und quantifizierende
Abklärung und schliesslich Beurteilung der Dimensionen
1. Beschwerden und Symptome
2. Funktionseinschränkungen bzw. ev. Strukturschäden
3. Aktivitätseinschränkungen
4. Gesundheitsressourcen- und -potenziale
ermöglicht die Erstellung eines validen versicherungspsychiatrischen Leistungsbildes. Basierend auf diesen Überlegungen wird schliesslich das Modell der versicherungspsychiatrischen Abklärungskaskade vorgestellt.
„Beschwerden“1
Von Verdeutlichung spricht man, wenn grundsätzlich nachvollziehbare, also vorhandene
Beschwerden jedoch (etwas) übertrieben dargestellt werden. Bei nahezu jeder Begutachtung sind Verdeutlichungstendenzen zu beobachten. Das Phänomen ist gut nachvollziehbar, denn immerhin sind die Gutachtenergebnisse entscheidend für den Antragserfolg.
Aggravation hingegen meint die bewusste verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. Und noch ein dritter Begriff
1
Diese Überschrift ist durchaus doppeldeutig gemeint
1
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spielt hier eine Rolle: die „Simulation“. Unter Simulation wird das „bewusste, gesteuerte
und absichtliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken“ [May] verstanden. Das Problem für jeden Gutachter: die drei Aspekte
lassen sich in der Praxis nicht immer scharf trennen, es gibt ein Kontinuum von Abstufungen im Spektrum Verdeutlichung/Aggravation/Simulation.
Die versicherungsmedizinische Begutachtung behilft sich da in der Regel mit der Methode der „diskreten Randzeichen“ (s.u.). Dabei besteht die Gefahr sich auf „Glatteis“
zu begeben, denn die diskreten Zeichen sind gedeutet, interpretiert. Es sind keine „handfesten“, systematisch erhobenen und klar ausweisbaren Befunde. Eher Beobachtungen
am Rande, die der erfahrenen Interpretation bedürfen2 .
Die Beschwerdevalidierung hingegen versucht Phänomene wie Antwortverzerrungen
explizit diagnostisch / systematisch anzugehen. Dazu verwendet sie Methoden aus den
Bereichen der
• Testdiagnostik
• Kommunikations-/Sozialwissenschaften
• Sozialpsychologie, kognitiven Psychologie sowie der Psychoanalyse
und verbindet sie mit bewährten Vorgehensweisen der traditionellen versicherungsmedizinischen Begutachtung. Damit erhält auch die Diagnostik von Informationsverzerrungen
die Chance, die Qualitätsstufe der (qualitativen) Evidenzbasierung zu erlangen.
„.... Wasser lassen müsse sie ‚oft, fast jede Stunde‘ (nicht jedoch während
der zweistündigen Untersuchung und auch nicht unmittelbar danach).....“
„Auf die offensichtlich ödematöse Schwellung ihres Armes verwiesen, benennt
sie den .... Armstützstrumpf, den sie jetzt nur nicht mitgebracht habe....“
„.... ihre Beschwerden schliessen freilich, wie sich erfragen liess, Besuche
im Heimatland und mancherlei Bekanntschaften und freundschaftliche Beziehungen nicht aus. Eine ältere Freundin und noch eine in ... lebende Bekannte besuchen sie regelmässig und es bereite ihr sichtlich Freude, mit diesen
plaudern zu können....“ [see]
Vor allem die Unterstützung durch bewährte Methoden aus dem Bereich der (paradigmatisch und methodologisch-methodisch) qualitativ orientierten Sozialwissenschaften
erlaubt es, auch die Verzerrungen in Gutachtertexten exakt zu erfassen, die häufig ja
Anlass von Einwänden seitens von Versicherten bzw. deren RechtsvertreterInnen sind.
Stereotypen, selbsterfüllende Prophezeiungen und Heuristiken spielen beim Umgang des
Gutachters mit dem Probanden eine nicht zu unterschätzende Rolle. Und fliessen (zumindest) implizit in die Beurteilung mit ein. Mit modernen textanalytischen Verfahren wie
der Diskursanalyse und der Content Analysis lassen sich diese Gutachter-Verzerrungen
valide und reliabel erfassen. Diese Verfahren spielen vor allem dann eine grosse Rolle,
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Durch ihre „beiläufige“, oft „zufällig“ wirkende Charakteristik kann es Probleme mit der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Deutungen geben.
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wenn im Rahmen der Symptomvalidierung vorgängige Befunde und Beurteilungen (neu)
eingeschätzt werden müssen.
Durch das Prinzip der Untersuchungsdokumentation (digitale Aufzeichnung quasi als
elektronischer Notizblock und Erinnerungsstütze für GutachterInnen zum Komplettierung ihrer Notizen haben GutachterInnen die Möglichkeit, die während der Untersuchung
angelaufenen Interaktionen noch einmal Revue passieren zu lassen. Ein deraart reflektierter und sorgfältiger Umgang mit den eigenen Interaktionen ist angesichts des sich
abzeichnenden Trends in Richtung Gutachten-Coaching (Versicherte bereiten sich mit
Unterstützung durch professionelle Gutachten-Coachs auf die Begutachtung vor) dringend zu empfehlen, im angloamerikanischen Raum sind derartige Coachings bereits gang
und gäbe. In zahlreichen Internet-Foren werden bereits Strategien und Tipps für Begutachtungssituationen diskutiert. Dazu eine kleine Kostprobe aus dem deutschen Forum
„www.unfallopfer.de“:
1. „Damit Sie aber nicht wertvollste Fakten vergessen
• sollten Sie in jedem Fall sofort nach der Begutachtung alles notieren, was
genau wie gesagt wurde und ablief.
• Noch besser: Diktieren Sie umgehend alles auf ein Band.
2. Gutachten angreifen und zerpflücken!
a) Sie könnten sich vorerst auch auf Angriffe zum Gutachten beschränken.
b) Sie müssen dabei jede einzelne (!) angreifbare/falsche Feststellung der Gutachter mit Gegenargumenten regelrecht zerpflücken.
c) Schliesslich könnten Sie dabei dann noch die Qualität des Gutachtens insgesamt in Frage stellen und die Qualifikation des Gutachters (sachlich und
begründet!) angreifen.“ [pet]
Symptome
Symptome sind Zeichen, die auf eine Erkrankung oder Verletzung hinweisen. Diese können vom Arzt bzw. vom Psychologen festgestellt werden, aber auch vom Betroffenen
selbst. Ist letzteres der Fall, dann spricht man von Beschwerden. Diese Unterscheidung
ist nicht ganz unwichtig, denn einige Methoden der qualitativen Symptomvalidierungsdiagnostik erlauben, aus der Art, wie der Betroffene seine Beschwerden schildert, weitgehende Schlüsse auf die Authentizität seiner Berichte zu ziehen. Bei der Symptomvalidierung werden authentische und nicht-authentische Symptome/Beschwerden erfasst
bzw. differenziert. Wobei man versucht, deren jeweiligen Ausprägungsgrad zu quantifizieren. Das bedeutet auch, Verzerrungsfaktoren (seitens des Betroffenen und/oder des
Gutachters) zu identifizieren und wenn möglich auch quantitativ einzustufen.
Bei versicherungsmedizinischen Begutachtungen ist es notwendig, dass sich die Beschreibung der ärztlicherseits festgestellten Symptome (die klinischen Zeichen bei der
Untersuchung) an international anerkannten diagnostischen Manualen orientiert. Für die
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Versicherungspsychiatrie bedeutet dies: Um die erforderliche intersubjektive Nachvollziehbarkeit und die einheitliche Verwendung der psychopathologischen Terminologie zu
gewährleisten, bietet sich der Rückgriff auf das Manual zur Dokumentation psychischer
Befunde der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie
[AMD06] an, das aber durch weitere Kategorien z.B. auf der Ebene des Krankheits- und
Selbsterlebens, der Beziehungen, der persönlichen Grundüberzeugungen, der Einstellungen und der verfügbaren Ressourcen (u. a. Rigidität vs. Flexibilität) ergänzt werden
sollte. So steht mit den verschiedenen, im Arbeitskreis „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ [OPD09] entwickelten Achsen ein differenziertes Modell zur Erfassung relevanter psychischer Dimensionen zur Verfügung, das auch mit dem ICD-10Diagnosesystem kompatibel ist3 .
Ein zweiter Grund, die Symptombeschreibung an Standards zu orientieren, sind spezifische Erfordernisse der Symptomvalidierung. Bei der Symptomvalidierung werden bestimmte standardisierte Instrumente (Tests etc.) eingesetzt, die an international anerkannten Symtomdefinitionen ansetzen bzw. diese voraussetzen. Die meisten klinischpsychiatrischen Tests basieren auf den Definitionen des ICD-10 oder den Kategorien
des DSM-IV. Symptomvalidierung bedeutet, Antwortverzerrungen zu objektivieren, d.
h. es werden in den Antworten quasi „übermässige Abweichungen“ registriert, die weit
über das hinausgehen, was ein Kranker mit einem valide ausweisbaren Störungsbild zeigen würde. Das setzt eine verbindliche Bezugsbasis einer anerkannten Störungsdefinition
voraus. Analog dazu: Um bei der Dokumentenanalyse Verzerrungseffekte in den ärztlichen Befunden, Diagnosen und Beurteilungen ausweisen zu können, bedarf es ebenfalls
einer allgemeinverbindlichen Begriffsbasis. Ein Beispiel: in einem ärztlichen Bericht ist
von einer mittelschweren depressiven Symptomatik die Rede. Bei der Dokumentenanalyse zeigt sich, dass alle psychopathologischen Befunde des ärztlichen Berichterstatters
auf eine Symptomatik hinweisen, die nach allgemeinem Verständnis allenfalls als „subdepressiv“ zu klassifizieren ist. Würde keine allgemeine Bezugsbasis (wie ICD-10, DSM-IV)
verwendet, so wäre es nicht möglich, ärztliche Befunde und Diagnosen hinsichtlich ihrer
intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zu beurteilen.
Der Einsatz psychoanalytischer Diagnostikinstrumente bei versicherungspsychiatrischen Begutachtungen weist mehrere Vorteile auf. Bei Antwortverzerrungen spielen vorbewusste bzw. unbewusste Anteile „hinter- und untergründig“ eine nicht zu unterschätzende Rolle, die Fälle „reiner“, vor allem bewusstseinsnaher Simulation sind ja eher
selten. Aber auch bei den „reinen Simulierenden“ finden sich oft Besonderheiten in der
Persönlichkeitsstruktur, den Beziehungsmustern und den Abwehrmechanismen, deren
Identifikation hilft, die Psychodynamik des Simulationsgeschehens zu erhellen. Weiters
ist zu bedenken, dass der sich in den letzten Jahren abzeichnende Trend in Richtung
einer rehabilitativ ausgerichteten versicherungspsychiatrischen Begutachtung impliziert,
auch beziehungsstrukturelle und psychodynamische Faktoren zu erfassen. Diese sind bei
der Optimierung von Rehabilitations- und Wiedereingliederungsprozessen unbedingt zu
berücksichtigen. Voluntaristisch antizipierte Veränderungen der Lebensweise können an
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Die Rechtssprechung verlangt nämlich, dass psychiatrische Diagnosen entsprechend entweder nach
dem ICD-10 (F) oder dem DSM-IV erstellt werden
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Beziehungsfallen, wunden Punkten der Persönlichkeit etc. rasch und nachhaltig scheitern, wenn sie nicht im Zuge des Rehaprozesses begleitend aufgearbeitet werden.
Der psychodynamischen Diagnostik eilt jedoch bei Manchen noch der Ruf voraus,
sie verfahre bei ihren Interpretationen oft wenig nachvollziehbar, etwas willkürlich oder
gar „schwammig“. Angesichts der in den neunziger Jahren entwickelten Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD bzw. der aktuellen Version OPD-2) sollten
derartige Abwehrattitüden der Vergangenheit angehören. Diese Methode erlaubt, die individuelle seelische Belastungssituation des Probanden auf fünf unterschiedlichen Achsen
standardisiert, qualitativ valide und reliabel einzuschätzen. Dazu werden Erhebungsbögen für jede Achse zur Verfügung gestellt, auf denen vom Gutachter bzw. Therapeuten
vorgegebene Items beurteilen werden.
Die Achsen im Einzelnen:
• Achse I: erfasst Beschwerdesymptomatik und Therapieerwartung. Fokussiert werden Erlebenselemente, Motivationen und vorhandene Ressourcen
• Achse II: ermöglicht Beziehungsdiagnostik, wobei die Übertragung und Gegenübertragung analysiert wird
• Achse III: fokussiert bewusste und unbewusste innere Konflikte des Patienten
• Achse IV: hier werden Insuffizienzen psychischer Strukturen identifiziert, z.B. die
Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit zur inneren und äusseren Abgrenzung, die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle u.a.
• Achse V: erfasst psychische und psychosomatische Störungen in Bezug auf die
etablierte deskriptiv-phänomenologische Diagnostik (ICD-10, DSM-IV).
Damit verfügen auch versicherungspsychiatrische Gutachter über ein Standardinstrument um diagnostisch „in die Tiefe“ gehen zu können und das zudem (wichtig für Reha)
Verlaufsbeurteilungen erlaubt. Der Einsatz dieser in die Tiefe gehenden Methode erlaubt zudem die Fundierung der gutachterlichen Symptom-Klassifikation nach ICD-10
und DSM-IV4 . Die Verwendung von diagnostischen Kriterienkatalogen verbessert zwar
die Validität, aber sichert sie letztlich nicht (immer): viele Dimensionen/Kategorien des
ICD-10 / DSM-IV beziehen sich auf spezifische, subjektive (bzw. angegebene) psychische
Beschwerden. Die Nachvollziehbarkeit der Beschwerdeschilderung wird verbessert, wenn
im Rahmen der OPD-2-Diagnostik beurteilt werden kann, ob der Beschwerdevortrag im
Einklang mit den Beziehungs-, Konflikt- und strukturdiagnostischen Ergebnissen steht,
also angesichts der erarbeiteten OPD-2-diagnostischen Befunde und Beurteilungen plausibel ist.
Funktions- und Aktivitätseinschränkungen
In der Versicherungsmedizin geht es primär darum heraus zu finden, welche Symptome/Beschwerden im Alltag des Betroffenen für längere Zeit oder auf Dauer zu Ein4
Das OPD-2 verfügt ja über (modern formuliert) explizite Schnittstellen zum ICD-10 (s. Achse V)
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schränkungen führen/geführt haben. In der Sprache der Schweizer Versicherungsmedizin:
„Besteht ein Gesundheitsschaden, der eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bewirkt?
Aufgrund welcher konkreten Befunde ist dieser ausgewiesen? Ab wann genau und in welchem Ausmass besteht eine dauerhafte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in bisheriger
und angepasster Tätigkeit? Besteht eine Restarbeitsfähigkeit für Tätigkeiten im Haushalt? Wenn ja, in welchem Ausmass?“ Die exakte Symptombeschreibung/Diagnose ist
also nur der erste Teil der gutachterlichen Übung. Darauf aufbauend muss genau gezeigt
werden, wie sich der Gesundheitsschaden bei der Arbeitstätigkeit (bzw. Haushaltstätigkeit) konkret auswirkt. Das Ausmass des Schadens ist sogar prozentuell zu beziffern
(bezogen auf die Zeit vor dem Gesundheitsschaden).
Es gibt also eine zweite Ebene „unterhalb der Symptome“, die genau zu beurteilen ist:
hier geht es um die durch die klinischen Symptome bedingten Funktionseinschränkungen
und Aktivitätseinschränkungen im Arbeits-Alltag.
Auch für die Beschreibung der funktionellen Einschränkungen gilt, dass diese auf Standards bezogen werden müssen. Ähnlich wie mit dem ICD-10 wurde auch für den Bereich
der funktionalen Gesundheit eine verbindliche Klassifikation geschaffen, nämlich die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Die ICF stellt
eine disziplinenübergreifende Sprache für die Erscheinungsformen der funktionalen Gesundheit und ihren Beeinträchtigungen zur Verfügung. Sie liefert eine wissenschaftliche
und praktische Hilfe für die Beschreibung, das Verständnis, die Feststellung und Begutachtung von Zuständen der Funktionsfähigkeit und dadurch bedingter/begründeter
Funktionseinschränkungen.
Die ICF erlaubt eine sehr präzise und auch für Nicht-Mediziner verständliche Beschreibung von Funktionsstörungen, strukturellen Schäden, Einschränkungen der Leistung(sfähigkeit) sowie die Identifikation von Barrieren im Rahmen bestehender konkreter
Gesundheitsprobleme. Wertvoll an diesem Instrument ist, dass es nicht nur defizitorientierte Beschreibungen zulässt, sondern auch eine Klassifikation intakter Funktionsaspekte ermöglicht.
Will man die beim Assessment der klinischen Symptomatik/Beschwerden gewonnenen Erkenntnisse für eine ICF-Klassifikation nutzen, müssen diese allerdings durch die
Ergebnisse der Symptomvalidierungsdiagnostik ergänzt werden, da sonst die Gefahr besteht, invalide Beschreibungen von ICF-Funktionsstörungen zu erhalten. Das lässt sich
am Beispiel der EFL [KA] gut zeigen: bei dieser Untersuchung gibt es immer wieder
ProbandInnen, die „nicht richtig mitmachen“, so dass die Leistungsfähigkeit nicht sicher evaluiert werden kann. Symptomvalidierungsdiagnostik kann hier helfen und eine
gering ausprägte Leistungsmotivation objektivieren, so dass die mangelnde Mitwirkung
erklärbar wird. Gerade die präzise und differenzierte Klassifikation durch die ICF setzt
differenzierte und plausible Assessment-Ergebnisse voraus, die auf sicheren Füssen stehen.
Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind die neuropsychologischen
Funktionseinschränkungen. Üblicherweise werden diese untersucht, wenn als Grunderkrankung ZNS-Traumatisierungen diskutiert werden. Aus versicherungspsychiatrischer
Sicht erscheint dies als bedauerliche Einengung, da viele psychiatrische Erkrankungen
mit mental-kognitiven Symptomen/Beschwerden und neuropsychologischen Funktions-
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einschränkungen verbunden sind. Zu den psychiatrischen Erkrankungen, bei denen in
der Regel neuropsychologische Funktionseinschränkungen überwiegend wahrscheinlich
zu erwarten sind, zählen u. a.: Chronischer Stress („klassische“ psychotraumatische Belastungsstörung, komplexe psychotraumatische Belastungsstörung, Burnout), Chronische Depressionen, Zwangsspektrumsstörungen, Schizophrenie, Autismusspektrumsstörungen, ADS bzw. ADHS, Korsakov-Syndrom und Demenz.
Neuropsychologische Funktionseinschränkungen sind besonders schwierig zu erfassen
und beurteilen, da hier motivationale und kognitive Defizite oft vergesellschaftet sind
und die motivationalen Hintergründe nicht immer adäquat erfasst werden, zumal wenn
Aggravations- bzw. Simulationstendenzen eine Rolle spielen. Erfreulicherweise bietet die
neuropsychologische Diagnostik komplexe Instrumentarien, um Funktionseinschränkungen zu validieren. So kann einmal die „Kehrseite der psychiatrischen Medaille“ valide
erfasst und zweitens das Dickicht motivational-kognitiver Verschränkungen aufgehellt
werden. Aus diesem Grund ist wichtig, das sich (Versicherungs-)Psychiater neuropsychologische Kompetenzen aneignen und ihre klinische Erfahrung mit neuropsychologischer
Kompetenz verbinden.
Gesundheit
Seit den 1980er Jahren beobachten wir eine paradigmatische Wende bezüglich des Verständnisses von Gesundheit und Krankheit. An sich stellt die Orientierung an psychischer Gesundheit nichts grundlegend Neues dar, bereits Freud postulierte, die seelische
Gesundheit ruhe auf drei Säulen: Wer lieben, arbeiten und geniessen könne, komme langfristig gesund durchs Leben. Daraus lässt sich als Aufgabe der Psychotherapie ableiten,
an der Überwindung der unbewussten und bewussten Blockaden dieser Fähigkeiten zu
arbeiten. Einer der wichtigen Paten dieser Diskursentwicklung war der Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovski, der das Konzept der Salutogenese [Ant97] begründete.
Auch in der Psychotherapie/Psychiatrie begann sich der Diskurs zu verändern: Beispiele
sind der wachsende Einfluss von Konzepten wie der euthymen Therapie [LM94] („Wie
gesund sind Kranke?“), der Selbstmanagementtherapie von Frederick Kanfer [KRS05],
das Handlungsfähigkeitskonzept von Klaus Holzkamp [Hol85] [Hol95] oder später dann
die ressourcenorientierten Neurowissenschaften. Parallel dazu entwickelten sich Gesundheitswissenschaften und ihr praktischer Outcome, die Gesundheitsförderung. Aufgrund
dieses Diskurswandels begannen PsychiaterInnen die strenge, an der Heidelberger Schule
und ihren Adepten orientierte Störungsfixiertheit bzw. -zentriertheit zu relativieren und
den intakten Ressourcen, Kompetenzen und Potenzialen der PatientInnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Einen wichtigen Impuls zu dieser Entwicklung gaben auch die
Pflegewissenschaften. Aktuell betrachtet man die Äusserungsformen psychischer Störungen als eher „eingebettet“ in gesunde psychische Strukturen, Funktionen und Aktivitäten, die Störungsdominanz manifestiert sich in den (allerdings seltenen) tiefgreifenden
psychischen Krisenmomenten und -phasen. Analog dazu täte die Versicherungspsychiatrie gut daran, sich der Erfassung des individuellen „Eingebettetseins“ von Funktionsund Aktivitätseinschränkungen in beruflichen Kompetenzen, Ressourcen und Potenzia-
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len zu verschreiben, um ihren genuinen Beitrag zur Wende in Richtung beruflicher Wiedereingliederung zu leisten. Insbesondere Sozialversicherungen benötigen klare Aussagen
zu den Ressourcen der Versicherten, gerade wenn – wie im Fall der 5. IVG-Revision –
die Versicherten vermehrt wieder eingegliedert werden sollen.
Somit sind auch die Zeichen individueller Gesundheit und Persönlichkeit (mit dem
Fokus auf das Arbeitsleben) zu validieren. Auch hierfür gibt es sehr gute Instrumente.
Abklärungskaskade
Der Abklärungsprozess verläuft „kaskadenförmig“: jede Ebene stellt einen Prozessschritt
dar; im übertragenen Sinne sind die einzelnen Prozessschritte miteinander verkettet, wobei jeder Prozessschritt auf Vorhergehende aufbaut (siehe Abbildung).
Beschwerden/Symptome
Funktionseinschränkung
Aktivitätseinschränkung
Gesundheitspotenziale
B.S.-Validierung
F.E.-Validierung
A.E.-Validierung
G.P.-Validierung
Fehleinschätzungen auf einer Ebene haben also zumindest „verzerrende“ Konsequenzen
für die folgenden Prozessschritte. Und umgekehrt: je valider das Prozessergebnis auf der
vorgängigen Ebene, desto bessere Bedingungen liegen vor, auch auf den nachfolgenden
Ebenen valide Ergebnisse zu erzielen. Damit ist nicht gemeint, dass (regelungstechnisch
gesprochen) die vorgängige Ebene die nachfolgende quasi „übersteuert“; vielmehr stellt
das jeweilige Prozessschrittergebnis einen im Nachfolgeprozess zu verarbeitenden „Input“
dar.
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Erst nach Durchlaufen aller dieser Schritte wird eine valide Bestimmung der Arbeitsunfähigkeit, Restarbeitsfähigkeit und eines brauchbaren Anforderungsprofils bezüglich
der Leistungsfähigkeit für Verweistätigkeiten möglich.
Literatur
[AMD06] AMDP, Arbeitsgemeinschaft (Herausgeber): Das AMDP-System: Manual zur
Dokumentation psychiatrischer Befunde. Hogrefe-Verlag, 2006.
[Ant97]
Antonovski, A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DgvtVerlag, 1997.
[Hol85]
Holzkamp, K.: Grundlegung der Psychologie. Campus Fachbuch, 1985.
[Hol95]
Holzkamp, K.: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Campus Fachbuch, 1995.
[KA]
Kaiser, H. und Andere: Der Stellenwert des EFL-Verfahrens nach Susan Isernhagen in der medizinischen und beruflichen Rehabilitation. http://www.iqpr.
de/iqpr/download/publikationen/stellenwert%20efl.pdf.
[KRS05] Kanfer, F., H. Reinecker und D. Schmelzer: Selbstmanagement-Therapie: Ein
Lehrbuch für die klinische Praxis. Springer Berlin, 2005.
[LM94]
Lutz, R. und N. Mark: Wie gesund sind Kranke? Verlag für Angewandte
Psychologie, 1994.
[May]
Mayer, Karl C.: Simulation. http://www.neuro24.de/show_glossar.php?
id=1568.
[OPD09] OPD, Arbeitskreis (Herausgeber): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. HuberVerlag Bern, 2009.
[pet]
petra, Moderator: Thread: Gutachten, Formulierungen und was sie bedeuten.
http://www.unfallopfer.de.
[see]
seenixe, Moderator: Thread: Gutachten, Formulierungen und was sie bedeuten.
http://www.unfallopfer.de.
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