Gemeindediakonie

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Gemeindediakonie
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DIAKONISCHE SPIRITUALITÄT UND ERNEUERUNG DER GEMEINDE
(Einleitender Vortrag)
Das ökumenische Gespräch hat den Begriff Spiritualität wiedereingeführt. Der Begriff schließt zusammen:
GLAUBE, FRÖMMIGKEITSÜBUNG und LEBENSGESTALTUNG.
> Diakonische Spiritualität äußert sich klassisch dreifach-elementarisiert bei aller Verschiedenheit einzelner
Gruppen, Schwesternschaften, Brüderschaften u.ä.:
- in bestimmten Formen der VERBINDLICHKEIT der diakonischen Aufgabe; diese Verbindlichkeit kann eng
und weit gefaßt sein, reicht vom Wahlamt auf Zeit bis hin zu lebenslänglichen Verpflichtungsformen (hier z.T.
auch Ausprägung ausgesprochen familiarer Strukturen);
- im INEINANDER UND BEIEINANDER VON INTIMITÄT UND "ZEIGEHANDLUNGEN"; diakonische Spiritualität braucht das reflexive Element wie das demonstrative: weil sonst ganze diakonische Arbeitsfelder in
den Bereich privatisierten Sinnes abdriften, ganze Einrichtungen, ganze Träger, die geistlich und überhaupt
nur noch selbst-genügsam sind; große diakonische Einrichtungen sind z.T. so etwas wie evangelische
Wallfahrtsorte: dort geschieht - zusammen mit Besuchern, Patienten und Mitarbeitern - gemeinschaftliche
Vergewisserung der Sinnhaftigkeit ihres Lebens, ihrer Arbeit - auch ihrer Kirche;
- in einem DIENSTVERSTÄNDNIS MIT KOMPLEXER STRUKTUR:
als Dienst am leidenden Mitmenschen,
als Dienst am Herrn (Mt 25), als Gottes-Dienst,
als Dienst an der und in der Dienstgemeinschaft.
In diakoniewissenschaftlicher Sicht gibt es im Christentum "das Soziale" von Anfang an nicht losgelöst vom
Gemeinschaftlichen: Die Verantwortung füreinander kommt maßgeblich aus der Gemeinschaft miteinander.
Die Verortung der frühen Diakonie im Abendmahlsgottesdienst macht den Hintergrund deutlich:
Gemeinschaft, die Gott schenkt, macht gemeinschaftsfähig in den vielfältigen sozialen Bezügen des Alltags.
Und: die Vergebung, von der Christen leben, macht sie fähig, andere zu ertragen und zu tragen.
Gemeinschaftlichkeit bedeutet speziell, daß ein Teil des Dienstes, der Hilfebedürftigen zugute kommt, auch
den Brüdern und Schwestern zugute kommt, die im gleichen oder einem anderen Dienst stehen. Die
Mitglieder der Dienstgemeinschaft verzichten voreinander auf "Gelten-Wollen", auf "Sich-Rühmen"; sie beten
vielmehr füreinander, bauen sich auf, trösten sich gegenseitig, helfen sich wieder zurecht - zum Helfen.
> Diese Elemente diakonischer Spiritualität haben sich weitgehend neben der Gemeinde entwickelt, konnten
sich aus historischen Gründen wohl auch nur so entwickeln und bildeten häufig ein selbständiges
gemeindliches Profil heraus (z.B. "Anstaltsgemeinde" u.ä.).
Der Versuch eines Transfers dieser Elemente diakonischer Spiritualität mit der Zielrichtung auf die
Kirchengemeinde bzw. volkskirchliche Strukturen erfolgt aufgrund der empiriegestützten Annahme, daß
diese Elemente dem volks-kirchenbedrohenden evangelischen SOZIALDILEMMA aufhelfen könnten.
Dieses objektiv eruierte und subjektiv mannigfach nachvollziehbare Sozial- bzw. Diakonie-Dilemma der
gegenwärtigen Kirche äußert sich vor allem in den folgenden Spannungsfeldern:
- Es gibt eine hohe Erwartungshaltung der Kirchenmitglieder gegenüber der Kirche, den Wunsch nach einer
ge-sellschaftlich und sozial kompetenten Kirche; aber die Bereitschaft, dieses Kirchenverständnis zu leben,
ist einerseits gering entwickelt, wird andererseits aber auch nicht abverlangt, nicht abgerufen, weshalb
immer mehr soziale Kompetenz und soziales Engagement aus der Kirche auswandert (in Gestalt jüngerer,
gebildeterer Menschen, vor allem aus dem städtischen Wohnbereich, in Formen des modernen
bürgerschaftlichen Engagements/Ehrenamts); zudem wachsen (empirisch meßbar) die Zweifel an der
sozialen Kompetenz der Kirche und ihrer Mitarbeiterschaft, speziell auch der Pfarrerschaft, an die die
Kirchenmitglieder ihr soziales Gewissen maßgeblich delegiert hatten.
- Es sind vor allem die sog. volkskirchlichen Ränder, die eine diakonische Kirche wollen, die die
Sozialkompetenz der Kirche als Kirchenmitgliedschaftslegitimation einfordern; demgegenüber wäre die sog.
Kerngemeinde auch dann Kerngemeinde, wenn die Kirche keine oder wenige diakonische Strukturen hätte.
Das Dilemma besteht darin, daß Diakonie einerseits eine relativ "säkulare" Begründung für
Kirchenmitgliedschaft darstellt, andererseits ein zentraler Bestandteil biblischer Überlieferung ist, der aber wiederum andererseits - in dieser zentralen Position von einer in idealistischer Tradition stehenden
Theologie wenig realisiert wird.
- Die Kirche erscheint in der Wahrnehmung wenig diakonisch profiliert. Es gibt mehr Diakonie, als
wahrgenommen wird - aber den Pfarrern/-innen fehlt weithin zuviel soziales Grundwissen, um die DiakonieWahrnehmung angemessen zu verstärken (meist lernen sie in ihrer Ausbildung noch nicht einmal die
sachgemäße Vermittlung ihres pastoralen Konzepts mit der vorhandenen Gemeindediakonie, also z.B. mit
dem Kindergarten; zum andern sind viele diakonische Angebote nicht (mehr) als Kirche erkennbar: die
neueren Diakonie-Mitarbeiterschaften haben weithin noch keine diakonische Präsentationsform oder eine
spezifische diakonische Spiritualität entwickelt.
Die Meßlatte neuer Erscheinungsformen sozialer Arbeit ist im Grunde alt und läßt deswegen vieles als wenig
kirchlich profiliert erscheinen: moderne Sozialberufe bieten z.B. meist ein Mehr an Fachkompetenz, aber
zugleich - nach der alten diakonischen Meßlatte - ein Weniger an Verfügbarkeit (vgl. die Wahrnehmung der
Veränderung von der Schwestern- zur Zentralen Diakoniestation), und dieses Weniger dominiert weithin die
gemeindliche Wahrnehmung.
- Mit der Sozialgestalt der Kirche und ihrer Wahrnehmungsproblematik berührt sich eine generelle
Entwicklung: während einerseits die Neigung zur Privatisierung des Religiösen sichtlich wächst, verfestigt
sich andererseits eine Tendenz zur Verflachung auf Civil Religion-Formen hin, in denen sich Elemente
bürgerlichen Selbstverständnisses mit Christlichkeit identifizieren. Es fehlen deutlich gemeindliche
Handlungsformen, in denen persönlich Tragfähiges und "Gesellschaftsfähiges" zusammenkommen.
> ZEITGEMÄSSE GEMEINDEDIAKONIE geschieht in Form
- spontaner, punktueller, Ad-hoc-Hilfen aufgrund aktueller Notstände usw.,
- organisierter Einzelaktionen; es handelt sich dabei um diakonische Projekte (zeitlich befristet oder
kontinuierlich),
- neuartiger Vernetzung vorhandener gemeindlicher Aktivitäten (es gibt z.B. - mit viel
Akzeptanz Erfahrungen mit Gemeinschaftsaktionen von Altenclub und Kindergarten u.ä.);
- diakonisch-thematischer Vernetzung und Synchronisierung gemeindlicher Angebote
(z.B. die
Thematisierung von Ausländer- oder
Aussiedlerproblematik in je angemessenen Vermittlungsformen
zeitparallel in Kindergarten, im Religions- und Konfirmandenunterricht, im Gottesdienst, in gemeindlichen
Veranstaltungen: als "konzertierte Aktion" der Gemeinde u.ä.);
- neuartiger Vernetzung gemeindlicher Aktivitäten mit übergemeindlichen (z.B. Gemeindeseminare u.ä.
zusammen mit Diakonischem Werk oder Ev. Erwachsenenbildung usw.);
- neuartiger Vernetzung gemeindlicher Aktivitäten mit außergemeindlichen, auch nichtkirchlichen (z.B. mit
Volkshochschulen, Bürgerinitiativen usw.).
> Erfahrungsgemäß liegt der SINN solcher Gemeindediakonie - außer in der Erfüllung des diakonischen
Auftrags Jesu und der damit einhergehenden religiösen Erfahrungsebene - vor allem darin,
- daß die für die Gemeindeglieder wichtigen primären Hilfesysteme (Familie, Nachbarschaft,
Gemeindegruppen) ebenso gestärkt werden
- wie die soziale Kompetenz der Gemeinde;
- zugleich werden die sekundären Hilfesysteme - also etwa auch die professionelle Diakonie wieder stärker an ihren sozialen Ursprung zurückgebunden.
> Ohne bestimmte Ausformungen der in diakonischer Tradition bewährten VERBINDLICHKEIT sind
angemessene gemeindliche Hilfemodelle kaum zu realisieren. Angesichts der empirisch eruierten Wünsche
potentieller Ehren-amtlicher (Interesse vor allem an zeitlich begrenzten Projekten; Mit-Verantwortung und
Mit-Bestimmung, nicht nur Unterordnung unter die Hauptamtlichen; Anerkennungsformen) legt sich das
Modell zeitlich befristeter Beauftragung in ein gemeindlich-diakonisches Wahlamt nahe (in etwa in OberlinTradition): in enger Verbindung mit Gruppen und Kreisen, die Mitverantwortung tragen, helfen, stützen, aber
ggf. auch Einspruch erheben u.ä.
Ein den modernen Erfordernissen entsprechendes diakonisches Amt könnte auf gemeindlicher Basis
erwachsen: Gemeinden könnten Menschen, deren wirtschaftliche Grundversorgung gesichert ist, die aber
wegen Arbeitslosigkeit, Frühpensionierung, wegen eines wenig erfüllend erfahrenen Ruhestands usw. von
Sinnkrisen u.ä. bedroht sind, eine sinnvolle Aufgabe anvertrauen, eine neu als "Arbeit" definierte und
anerkannte Tätigkeit: sinnvolle soziale Arbeit; dazu ggf. ein "Titel", eine "Amts-Bezeichnung", ein Status, der
Achtung und kirchlich-diakonische Relevanz einschließt: sozusagen ein EHRENAMTLICHES BERUFSBILD,
also etwas, das verbindet, was begrifflich bislang nicht zusammenzupassen scheint, das aber Elemente
diakonischer Traditionen enthält, die bewährt sind.
Daß diese Verbindlichkeit gegenseitiger Natur ist, ist unzweifelhaft: eine Grundverläßlichkeit zwischen
Gemeinde, ihren verantwortlichen Gruppen und Kreisen und gemeindlich-diakonischen "Amtsträgern" - wie
auch zwischen Helfern und Hilfebedürftigen.
> Hilfe in ihren mannigfach möglichen Formen im gemeindlichen Handlungszusammenhang darf weder
"besinnungslos" noch profillos sein. Die Gemeinde stellt Zeiten und Räume und Menschen zur Verfügung,
um Sinn- und Sinnkrisenerfahrungen, die in diakonischer Zuwendung auftreten, zu reflektieren, zu
meditieren, in Formen von Beichte und Gebet "aufzuarbeiten". Zugleich ist zu bedenken, daß Diakonie von
Anfang an etwas Zeichenhaftes hatte, etwas, das über den "Einzelfall" hinauswies. Dem diakonischspirituellen Zusammenhang von INTIMITÄT UND ZEIGEHANDLUNG ist dadurch zu entsprechen, daß zur
direkten Hilfe (Pflege, Betreuung, materielle Hilfen usw.), die dazu verhilft, daß Menschen ihrer Würde als
Ebenbilder Gottes entsprechend leben (und sterben) können, reflexive Gemeindeangebote hinzutreten, in
denen sich Helfer ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewußter werden, der Zusammenhänge ihres Tuns,
auch des "Sinns" oder Unsinns; vor allem aber muß - darüber hinaus - in Helfen und Selbstreflexion soziales
Lernen inganggesetzt werden: bei Helfern, Hilfebedürftigen und ihrem gemeinsamen Umfeld; das soziale
Klima in der Gemeinde kann sich verändern durch
- Bemühungen um die Veränderung sozialer Wahrnehmung: Menschen sollen "anders" gesehen werden;
- Bemühungen um Veränderung der sozialen Kommunikation: Menschen sollen wieder an Prozessen
sozialer Kommunikation beteiligt sein, von denen sie ausgeschlossen waren;
- daß sich dort, wo soziale Wahrnehmung und soziale Kommunikation eingeübt werden, darüber auch die
religiöse Kommunikation verändert, ist eine oft verifizierte Tatsache: in Intimität und Zeigehandlungen geübte
Diakonie schafft ein neues "Gemeindegefühl".
Seit langem gehören auch Feste und Feiern, Einführungs- und Dankrituale u.ä. zum Grundbestand
diakonischer Spiritualität. Diakonie, die häufig an den Rändern des Lebens wirkt, feiert umso mehr die Feste
des Lebens.
> Die DREIFACHE DIENSTSTRUKTUR (Menschendienst, Gottes-Dienst, Dienst an der und in der
Dienstgemeinschaft) kann folgende gemeindliche Gestaltungsformen finden:
Die Gemeinde kann der gesellschaftlich singulär geeignete Ort sein, um den Dienst am Menschen zu
begründen und zu tun: die Gemeinde kann Begegnungs- und Kennenlernebenen schaffen, die einer
wirklichen Hilfe oft erst vorausgehen müssen, kann die sinnvollen "Vernetzungen" strukturell erleichtern,
kann
auch
die
Informationsmittel
über
soziale,
sozialpolitische,
sozialwissenschaftliche
Problemzusammenhänge - ohne deren Kenntnis häufig nicht angemessen diakonisch gehandelt werden
kann - zur Verfügung stellen (in Zusammenarbeit z.B. mit dem Diakonischen Werk).
Auch die analytische Aufgabe, die im Blick auf Sinn oder Unsinn bestimmter Aktivitäten und Initiativen
erforderlich ist, kann auf der Basis der Überschaubarkeit von Gemeinde gut geleistet werden (Rechenschaft
und Überblick über schon vorhandene Aktivitäten und Einrichtungen, Erkennen von Defiziten usw.).
Der sachgemäße Dienst an Menschen macht oft auch die Gründung von Gremien u.ä. (z.B. GemeindeDiakonieausschüsse) erforderlich - was wiederum aufgrund gemeindlicher Vorgegebenheiten eher
möglich ist als anderswo .
In der Frühzeit der Kirche handelten der Diakon und der Liturg gemeinsam im Gottesdienst, es kam oft
regelrecht zum "Rollentausch". Später verantworteten die Diakone die Lesungen in der gemeindlichen
Versammlung, leiteten z.B. den Gemeindegesang und die Gebete, übten häufig die "stille Wache über der
Ordnung" des Gottesdienstes; oft predigten sie. Diakonie kam zu Wort, nahm das Wort, "hatte" das Wort.
Elementare Grundlage diakonischer Gemeinschaft war und ist das verbindende und verbindliche Wort und diese diakonische Gemeinschaft war wiederum grundlegend für die Entstehung und Ausprägung der
Kirche und der Gemeinde (das bestätigt die frühkirchengeschichtliche Forschung). Die heute oft bestehende
Kluft zwischen gottesdienstlichem und sozialem Sprachsystem muß und kann geheilt werden. Dies
geschieht so, daß häufiger und sachlich kompetenter über Diakonie gepredigt wird, daß häufiger auch
diakonisch Tätige im Gottesdienst zur Sprache kommen - und dadurch, daß wieder gelernt wird, daß der
Gottesdienst selbst Diakonie ist, daß die diakonischen Elemente des Gottesdienstes bewußter werden und
zur Wirkung
gebracht werden (z.B. in der Beachtung "religionspsychologischer" Zusammenhänge:
Wechselwirkungen zwischen gehörtem Wort und seelischen, leiblichen, sozialen Prozessen; oder:
qualifiziertes Aufeinanderbeziehen von Fürbitte, Abkündigung und Kollekte, u.ä.). Nicht nur Menschen
müssen um der Liebe Christi willen "resozialisiert" werden, sondern auch unsere Gottesdienste.
Das planvolle Aufeinander-Zu-Ordnen von gemeindlichen Hilfeangeboten, geistlich meditativer Reflexion
und Stützung dieser Hilfen und Möglichkeiten der gegenseitigen Hilfe unter Helfern gehören zusammen.
Gegenseitige Mitarbeiterpflege bedeutet dann nicht nur Aus- und Fortbildung (ohne die es freilich auch nicht
geht), sondern z.B. das gegenseitige Sich-sprachfähiger-Machen oder das bewußte Aufbauen einer
Gemeinschaftsform, in der Helfende erfahren, daß sie anderen lieb und wert sind, in der spezifisch
diakonische Solidarerfahrungen begründet werden, in der ausgedrückt wird, daß auch Helfern geholfen
wird - wenn nötig. Das, was alle im Tiefsten verbindet - die Helfer und die Hilfebedürftigen - kann so zur
Sprache kommen und zur Kraft werden, die zum Handeln ermutigt und Rückschläge und Mißerfolge
ertragen läßt.
> Gemeindediakonie aufgrund der Elemente diakonischer Spiritualität ist also auch Diakonie am verkopften
Glauben, an sentimentalisierter und gesellschaftlich wirkungsloser Religiosität, an selbstgenügsam
gewordenen Gemeinden, auch: an einer Diakonie, die in einigen Ausprägungen ihrerseits "ausdrucks-los"
geworden ist. Die Beschädigung von Kirche und Diakonie läßt sich am besten gemeinsam heilen.
Überblick Konzeptionen Gemeindeaufbau
Bezeichnung: Kirche für andere
Herkunft: Bonhoeffer: ÖRK-Debatte 1961/62; Kirchenreform (Ernst Lange)
Literarische Repräsentanten: Hoekendijk, Kirche der Zukunft; Ratzmann, Missionarische Gemeinde; Krusche,
Schritte und Markierungen
Motto: Kirche für andere - Sendung in die Welt - Der Laie als Missionar des 20. Jh.
Charakteristika: Gott ist "Missionar". Das Lebensrecht der Kirche begründet sich in Mission. Kirche ist beteiligt,
wo Gott Schalom schafft - oder sie ist nicht Kirche. An Ostern wurden a l l e versöhnt, die Kirche hat nur
(Wissens-)"Vorsprung". Die Struktur der Gemeinde muß ihrer mission.Aufgabe entsprechen. Prophetisch
erkennt Gemeinde, wo Gott am Werk ist (z.B. Befreiungsbewegung) und arbeitet mit.
Arbeitsformen: Hauskreise, Ladenkirche, Kirchentag, Gottesdienstreform u.a.
Kritische Ausrichtung gegen: Gemeinde-Ideologie. Introversion und Weltverlust.
Stärken: Sendungsgehorsam. Beweglichkeit. Liebe.
Anfragen: Eigenwert der Gemeinde? Versöhnungsfrage.
Bezeichnung: Funktionale Theorie
Herkunft: N.Luhmanns systemtheoretische Philosophie; Kirchen-Demoskopie, Kirche f.andere (s.o)
Literarische Repräsentanten: Dahm, Beruf: Pfarrer; Lück, Praxis: Kirchengemeinde
Motto: Kirche als religiöser Aspekt der Gesellschaft
Charakteristika: Im gesellschaftl.Gesamtsystem erfüllt Kirche die rel. Funktion. Ihr Kleinverteilungsapparat
Gemeinde bietet durch Pfarrer rel. Dienstleistung, Wertevermittlung, Begleitung in Krisenzeiten und an den
"Knotenpunkten" des Lebens. Das soll Gemeinde akzeptieren und nicht auftragstheologisch überhöhen. So hat
sie Zukunft und gesellschaftliche Relevanz.
Arbeitsformen: Amtshandlungen; jahres- und lebenszyklische Gottesdienste.
Kritische Ausrichtung gegen: dialektische Theologie. Gemeindeaufbau.
Stärken: Beachtung gesellsch.Relevanz und kirchl. Realismus.
Anfragen: Bibl.-theol. Defizit.
Bezeichnung: Konziliarität
Herkunft: Umfragen "Wie stabil ist die Kirche?", "Was wird aus der Kirche?"; Christentumstheorie
Literarische Repräsentanten: Kugler/Lindner, Trauung und Taufe; Lohff/Mohaupt, Volkskirche - Kirche der
Zukunft?; EKD, Christsein gestalten.
Motto: Offene Kirche für alle.
Charakteristika: In der Volkskirche als Institution der Freiheit gibt es viele verschiedene Formen der Teilnahme:
Kerngem., Kasualgem., krit.-engagierte Gruppen. Jeder bringt sich ein in den Weg der Kirche ohne Anspruch
auf Allgemeingültigkeit. Jedem muß dazu verholfen werden, s e i n Christsein zu gestalten.
Arbeitsformen: Amtshandelungen "strecken". Familiengottesdienst. Feierabendmahl. Brauchtum u. Tradition.
Kritische Ausrichtung gegen: mission. Vereinnahmung, Bewahrungsortierung.
Stärken: Volkskirchlicher Realismus. Chancennutzung.
Anfragen: Geistl. Beurteilung der Volkskirche.
Bezeichnung: Doppelstrategie
Herkunft: Rezeption ökumen. Gemeindekonzepte. "Gottesdienst in einer rationalen Welt".
Literarische Repräsentanten: Lorenz/Reller, Alternative: Glauben; VELKD, Zur Entwicklung von
Kirchenmitgliedschaft - Aspekte einer miss.Doppelstrategie.
Motto: Erosion der Volkskirche. Öffnen u n d Verdichten.
Charakteristika: Erosion d.Volkskirche unabweisbar: Kirchenaustritte und Verlust an Spiritualität in der
Kerngemeinde. Mißlingen rel.Sozialisation. Ziel: Mitgliederschaft stabilisieren. Mittel: Öffnen (niedrige
Eintrittsschwelle, Anknüpfungen) u n d Verdichten (rel.Nachsozialisation, Glauben Wecken, Vertiefen; zur
Mündigkeit führen).
Arbeitsformen: Glaubenskurse. Cursillo. Bibelkurse. "Neu anfangen". City-Kirche.
Kritische Ausrichtung gegen: Mittelposition gegen Aufgabe der Volkskirche und volkskirchl. Selbstzufriedenheit
Stärken: Breitenwirkung und Aufnahme miss. Arbeitsformen.
Anfragen: wo ist der Korridor zw. Öffnung und Verdichtung?
Bezeichnung: Geistliche Gemeindeerneuerung
Herkunft: Neu-charismatischer Aufbruch seit 1960 in ökum. Weite.
Literarische Repräsentanten: Kopfermann, Charismatische Gemeinde-Erneuerung.
Motto: In der Kraft des hl. Geistes erneuerte Kirche.
Charakteristika: Innerhalb der bestehenden Kirchen soll vom hl.Geist belebte u. begabte Gemeinde entstehen.
Wichtig: pers.Umkehr (Tauferneuerung) z.B. nach einem Glaubensseminar. Gaben des Geistes Raum geben
(Prophetie, Heilung im evangelist.Kontext), auch Zungengebet. Neue Gaben treten auf, z.B. Ruhen im Geist.
Arbeitsformen: Segnungsgottesdienst, Seelsorge, Glaubenskurse, Großveranstaltungen.
Kritische Ausrichtung gegen: Geistvergessenheit, Taufe ohne Umkehr u. ohne gestalteten Glauben
Stärken: Ganzheitlichkeit. Bezug zur Taufe.
Anfragen: Theologia gloriae?
Bezeichnung: Überschaubare Gemeinde / Gemeindewachstum
Herkunft: Church Growth (Mc Gavren)
Literarische Repräsentanten: Schwarz/Schwarz, Theologie des Gemeindeaufbaus; Arn/Arn/Schw.,
Gemeindeaufbau - Liebe in Aktion; Maier, Gemeindewachstum.
Motto: Einfaches Evangelium. Persönl. Beziehung zu Jesus u. Geschwistern.
Charakteristika: In der Institution Volkskirche ist überschaubare Gemeinde zu bauen; durch das einfache Evgl.
finden wir zum persönl. Glauben u. zur Gemeinschaft im Hören, Beten, Feiern und Arbeiten. So entsteht
ekklesia. Achten auf meßbares Gemeindewachstum. Liebe in Aktion: der Laie nutzt seine Kontakte, um
Menschen zum Glauben einzuladen.
Arbeitsformen: Besuchsdienst. Offene Abende. Hauskreise. Mitarbeiterkreis.
Kritische Ausrichtung gegen: Volkskirchen-Ideologie.
Stärken: Ernstnehmen der vom NT verheißenen ekklesia.
Anfragen: Wachstumsideologie? Ekklesiologische Frage.
Bezeichnung: Ganzheitlicher Gottesdienst.
Herkunft: Liturgische Erneuerung. Barmer Theol. Erklärung.
Literarische Repräsentanten: Möller (in Weth, Theol.d.Gemeindeaufbaus)
Motto: Aufbau der Gemeinde vom Gottesdienst her.
Charakteristika: Nicht menschl.Gemeinschaft konstituiert Gemeinde, sondern Wort u.Sakrament (CA VII).
Wenn sich die vorhandene Gemeinde im Gottesdienst von Gott erbauen läßt, wird sie auch nach außen
wirken. Gegen Unterscheidung von Christen 1. und 2. Klasse. Ernstnehmen der Taufe: Glaube u. Gemeinde
sind verborgen. Es kennt der Herr die Seinen.
Arbeitsformen: Gottesdienst.
Kritische Ausrichtung gegen: Puristische Gemeinschaftsideologie.
Stärken: Gegen Richtgeist. Betonung des Dienstes Gottes an uns.
Anfragen: Taufe ohne Umkehr? Morphol. Fundamentalismus.
Kurzreferat
WAS ELTERN VOM KIRCHLICHEN KINDERGARTEN HABEN
Reflexionsanstöße
"Jetzt soll ich auch noch erziehen!" rief die junge Frau in die Runde ihrer seitherigen Kolleginnen und
Kollegen. Ihr Betrieb im Thüringischen wurde nach der Wende "abgewickelt" und mit den Arbeitsplätzen die
betrieblichen Ganztagskindergärten. "Jetzt soll ich auch noch erziehen!" rief die junge Frau, und alle nickten
verbittert zustimmend.
Kindererziehen ist längst keine selbstverständliche, "natürliche" Handlung mehr, sondern subjektiv wie
objektiv eine "Leistung". Und: in Industriegesellschaften, in denen Arbeitskraft und -leistung von Frauen viel
wert sind, aber auch das Zu-sich-selbst-finden-Wollen in der Freizeit, ist Kindererziehen eine Art Luxus.
Der Kindergarten ist, so betrachtet, sicher Teil eines "Tauschgeschäfts": Arbeitskraft gegen Entlastung bei
der Kindererziehung.
+++
Oft haben große soziale Errungenschaften vergessene Gründe, und manchmal sind Erinnerungen an
Anfänge unangenehm. Der Kindergarten ist in unseren Breiten eine große soziale Errungenschaft. Das frühe
Nachdenken über eine zeitweilige Isolation der Kinder von den Erwachsenen, diese "Entdeckung der
Kindheit" (Ariès), geschah aus dem Impuls, die Kinder zu beschützen, indem man sie von daheim isolierte;
die Überzeugung drängte sich auf, "daß man ihnen nicht alles zeigen sollte" (ders.): nicht - wie zuvor - alle
Intimitäten der Eltern und auch nicht alle Grausamkeiten. Die Sozialgeschichte der letzten 250 Jahre liefert
gute Gründe für die Annahme: Kinder mußten wenigstens zeitweise vor ihren Eltern geschützt werden, vor
ihrer Gewalt, die seinerzeit nicht als Ausschluß von Liebe empfunden wurde (E.Shorter). Kinder mußten in
der frühindustriellen Zeit auch vor den familiären Arrangements geschützt werden, vor Arrangements, ohne
die viele Familien freilich nicht hätten überleben können: oft waren kleinen Kindern die noch kleineren
Geschwister tagsüber anvertraut, es gab viel Hilflosigkeit und viele schreckliche Unfälle. Keineswegs von
ungefähr firmierten die frühen Kindergärten der InnerenMissions-Vereine und die Kinderschularbeit der Diakonissenschaften unter "Rettungsarbeit"...
Und
keineswegs von ungefähr enthielten alte Kindergarten-Konzeptionen häufig die Zielvorgabe, über die Kinder
die Eltern zu erziehen, ja zu resozialisieren, sie zumindest zum Erziehen zu ermutigen und zu befähigen.
Daß Kleinkindererziehung für einen längeren Zeitraum auf andere Institutionen als die Familie übertragen
wurde, bedeutete: Erziehen durch Entziehen. Ein sozialgeschichtlich überaus bedeutsamer Einschnitt: eine
zeitweilige und räumliche Befreiung des Kindes aus der Familie!
+++
In der vorneuzeitlichen Gesellschaft gehörten Kinder, sobald sie laufen konnten, zu den Erwachsenen, in die
Erwachsenenwelt - es gab keine andere. Im Kleinkind sah man weithin ein "spaßiges Wesen": "Man spielte
mit ihm wie mit einem Tierchen" (Ariès).
Kinder wuchsen in einem "Milieu" (ders.) auf: in Gruppen, die um einiges größer waren als die eigene
Familie (diese aber einschlossen), aus Verwandten, Nachbarn, Menschen aus derselben Straße, demselben
Dorf, Kunden, Dienstherren undsoweiter. Familien und das Milieu (und die anderen Kinder aus dem Milieu)
boten und waren Schutzraum und Kampfplatz kindlichen Lebens.
Für Schutzraum und Versorgung, für Zuwendung im Rahmen des Möglichen und die Vermittlung von
Wissen und Fertigkeiten wurden von Kindern Gegenleistungen erwartet: Liebe und Dankbarkeit, zumindest
eine gewisse affektive Verbundenheit.
Dies erklärt bis zu einem gewissen Grade, warum in den Anfangszeiten der Kindergärten die Eltern häufig
mit einiger Überzeugungskunst dafür gewonnen werden mußten, ihre Kinder in die Kindergärten zu schicken
(zeitweilig wurde eine Kindergartenpflicht für notwendig gehalten!): auch wenn sie selbst wenig Zeit und
Kraft für die Erziehung ihrer kleinen Kinder aufbringen konnten, so empfanden sie doch das Abtreten der
Erziehungsverantwortung in einem wichtigen kindlichen Lebensstadium als eine Art Pflichtverletzung. Und
die Sorge schwang mit, daß ihnen so ihre Kinder weniger, vielleicht fast nichts mehr schuldig seien. In
Zeiten, in denen man weithin kein anderes Altersversorgungssystem als die eigenen Kinder hatte, war es
wichtig, daß diese den Eltern verpflichtet blieben.
Diesen Besorgnissen begegneten die Kindergärten zum einen dadurch, daß sie bewußt an die Stelle
Milieus, die es so nicht mehr gab, traten, Schutzräume durch Isolation anboten und die Kampfplätze
Milieus zu Spielplätzen ritualisierten; zum andern aber vor allem dadurch, daß sie sich
Familienerweiterungen organisierten, geleitet von "Schwestern" und "Tanten", und sich familienstützend
-fördernd definierten.
der
der
wie
und
In einer Gesellschaft, die in Klassen auseinanderbrach, gewann als kindergartenförderliches Argument das
der Erziehungsgerechtigkeit und Chancengleichheit an Gewicht. Es galt zunehmend eher als ein Ausdruck
elterlicher Liebe und Verantwortung, dem Kind einen Kindergartenplatz zukommen zu lassen, als Skrupel zu
haben wegen der gesuchten Entlastung vom Kind und wegen des Abtretens von Zuständigkeit und
Kompetenz an eine Institution.
Auf jeden Fall war da ein längerer Lernprozeß, der bis heute dahin gekommen ist, sich nicht nur guten, ja
besten Gewissens entlasten zu lassen, sondern auch den Kindergartenplatz in den Rang eines
Rechtsanspruchs zu heben.
+++
Kinder erleben im Kindergarten ihre erste eigentliche Institutionalisierung. Sie sind nicht mehr ganz
"Privateigentum"
ihrer
Eltern,
aber
auch
noch
nicht
total "vergesellschaftet", staatlichen
Erziehungsinstitutionen anheim gegeben und den sich anschließenden mannigfachen Verplanungen
(Wehrpflicht etc.). Es ist nicht gleichgültig, wie ein Mensch seine Vergesellschaftung erlebt, wie er in die
Institutionalisierung "eingeführt" wird. Deswegen auch gab es immer dann, wenn die Verstaatlichung der
Kindergärten auf irgendein politisches Programm geriet, heftige Gegenwehr.
Die Kindergartenzeit ist eine übergangsabmildernde Statuspassage, eine Zwischen-Zeit, in der persönliche
Sinngebung, von daheim grundgelegt, verstärkt oder, falls von daheim wenig vermittelt, begründet wird und
mit gesellschaftlichen Erwartungen verbunden wird - mit Erwartungen an soziale Fähigkeiten und funktionale
Fertigkeiten. Der Kindergarten und seine Erziehungsarbeit sind also zeitlich wie sachlich "zwischen"
elterlicher und öffentlicher Erziehung angesiedelt und gewinnen so ihre spezifische Qualität.
Kinder machen in der Phase ihrer "milden Institutionalisierung" im Kindergarten gegenläufige, aber gerade in
ihrem Beieinander lebenswichtige Erfahrungen: das Beieinander von institutioneller Sicherheit und
persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten im freien Spielen, Bewegen u.ä. Kindergartenzeit ist stabilisierend
und emanzipierend (Stoodt): Verläßlichkeit, Erfahrungen von Kontinuitäten, auch in Gestalt von Personen
und Ritualen (Feiern jahreszeitlicher, kirchlicher und persönlicher Feste etc.), von Ordnungen und Regeln,
und daneben Gestaltungs- und Entwicklungsfreiräume, das Entdecken individueller und sozialer
Entfaltungsmöglichkeiten.
Damit nimmt der Kindergarten zum einen auch elterliche Erwartungen auf - und er klärt zum andern das (oft
unbewußt) Diffuse in diesen Erwartungen: auch noch die neueren Umfragen unter Eltern vom Beginn der
1990er Jahre (durchgeführt z.B. vom Deutschen Jugendinstitut), Erziehungsziele betreffend, zeigen das
Ineinander sinnhaft-wertorientierter und funktional-pragmatischer Erwartungen (bei der Möglichkeit von
Mehrfachnennungen rangieren "Selbstvertrauen" und "Selbständigkeit", also individualbezogene Werte,
unter den Einzelwerten an oberster Stelle; aber als wichtige Erziehungsziele werden von 55% der Eltern
"Gehorsam", von 66% "Fleiß" und von 73% "Pflichtbewußtsein" plaziert). Kindergärten balancieren aus,
vermitteln zwischen elterlichen Erwartungen, kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen
Anforderungen, fördern das, was persönlich tragfähig sein kann, und vermitteln es mit Familien- und
"Gesellschaftsfähigkeit".
Stabilisieren und Emanzipieren in einer lebenswichtigen Zwischen-Zeit geschieht im evangelischen
Kindergarten vor allem auch durch alters- und situationsgemäße Religionspädagogik. Kinder erfahren Hilfe
bei der Einübung und Erprobung ethischer Verhaltensnormen (Fragenkreise Nächstenliebe, Vergebung,
Gewalt, Gerechtigkeit usw.), bei der Einübung in und der Kontrolle von Grundaffekten (Vertrauen, Hoffnung,
Liebe, Freude, Selbstwert- und Minderwertigkeitsgefühle, Angst, Trauer, Verlassenheit usw.), bei der
Beantwortung maßgeblicher Sinnfragen ("Wer bin ich eigentlich?", "Woher komme ich?", "Wozu bin ich da?"
usw.). Kinder erfahren hörend, singend, feiernd, spielend von Gott.
+++
Kindererziehen war in unserer Geschichte lange Zeit nicht als Erfordernis gesehen worden, war kein
"besonderer" Akt und oft keiner, der uns bei der Rückschau besonders menschenfreundlich anmutet. Daß
wir heutzutage andere Einstellungen zu Kindern und zum Erziehen haben, ist gewiß auch schon Teil der
Wirkungsgeschichte des Kindergartens - und somit auch Teil der neueren kirchlichen und gemeindlichen
Sozialgeschichte. Das war wohl der größte Dienst, den insbesondere auch der evangelische Kindergarten
geleistet hat: dazu beizutragen, daß die seinerzeit notwendige "Befreiung des Kinders aus der Familie" so
vonstatten ging, daß sie die Familie nicht auflöste und zerstörte, sondern half, sie - verändert - zu erhalten,
sie auch unter industriegesellschaftlichen Bedingungen lebensfähig zu halten.
Heute ist die Familie häufig eine Art Zufluchtsraum: je beanspruchender und totaler die Berufswelt, desto
mehr wird daheim ein "Gegenmilieu" (Beck-Gernsheim) gesucht, ein Maß an Wärme, Verständnis und
Vertrauen, das nun seinerseits die Familie nicht selten überfordert und zum Teil existentiell bedroht. Hier
zeigt sich nun der Nutzen einer selten bedachten Konstanz: der Kindergarten hat im Grunde seine alten
Aufgaben unter neuen Bedingungen. Er kann "Entlastung" sein - nunmehr auch in früher unbekannten
Beziehungslagen, beispielsweise angesichts der Tatsache, daß heute Eltern sehr vi el stärker als einst
emotional abhängig sind von ihren Kindern und deren Ergehen. Er muß auch häufig wieder - angesichts
eines "privatisierenden Geschlechts" - Eltern, mittlere Generation, zusammenbringen, integrieren, und
Kindern soziale Orientierungen geben. Und wenn ein Kindergarten wirklich Teil einer Gemeinde ist, kann er
etwas leisten, das in unserer Zeit ständig gefordert und kaum eingelöst wird: ganzheitliche Erziehung.
DIE EVANGELISCHE GEMEINDEKRANKENPFLEGE
VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR AKADEMISIERUNG UND ÖKONOMISIERUNG
Diakoniewissenschaftliche Vorlesung
Der Befund ist widersprüchlich: die infas-Studie von 1992 wies aus, daß von einem repräsentativen
Bevölkerungsteil die Krankenpflege, die Alten- und Behindertenhilfe "als die wichtigsten Tätigkeitsfelder
innerhalb des Spektrums diakonischer Aufgaben benannt worden" sind (A 1) ; sie weist aber auch aus, daß
ein diakonisches Profil kaum mehr ausgemacht werden kann, daß die Wahrnehmungseinebnung der
diakonischen (Pflege-)"Angebote" weiter fortschreitet. Der zwiespältige Befund wird durch EuropaPrognosen begleitet, die ein Fortschreiten der "Ökonomisierung", "Säkularisierung" und "Technisierung" der
sozialen und pflegerischen Arbeit für sicher halten (A 2).
Am Beispiel des Spezialfalls Gemeindekrankenpflege soll - unvermeidlich subjektiv - die Kurzgeschichte von
den Anfängen bis zu besagter Wahrnehmungseinebnung rekonstruiert werden; letztere fällt mit
Entwicklungen zusammen, die mit vorherigen Traditionen gründlich brechen und die eigenwirtschaftliche,
unternehmerische Krankenpflege eröffnen.
1. Eine kurze Geschichte vom Pflegen
1.1 In vorchristlicher Zeit gab es zwar einen Ärztestand, aber noch keinen allgemeinen Pflegestand;
allenfalls die Existenz von Militärlazaretten ist aus der Antike verbürgt. Die allgemeine Krankenpflege ist
höchstwahrscheinlich eine christliche "Erfindung", entsprang u.a. der Entprivatiserung menschlichen
Leidens, war Ausdruck einer neuen Sichtweise der sozialen Dimension von Krankheit, Alter, Behinderung:
"Wenn ein Glied leidet..." (1Kor 12,26). Urchristliche Pflege war eine Konkretion gemeindlicher Anteilnahme,
Mitbetroffenheit und Liebe - und war zugleich ein Hinweis auf ein Heil-Werden-Können über "das
Pflegemögliche" hinaus.
"Das ganze Urchristentum ist eine exorzistische Bewegung..." (G.Theißen, A 3). "Dadurch, daß man (im
Urchristentum) die Wunder Jesu immer wieder erzählte und sich an ihnen inspirierte, baute man in einer für
uns nicht mehr nachvollziehbaren Weise ein bestimmtes semantisches Universum auf, das einen faktischen
Nachvollzug der Machttaten Jesu überhaupt erst möglich machte. Auch aus heutigen charismatischen
Kreisen wird berichtet, daß etwa Glaubensheilungen bei Krankheiten ein R e d e n über Heilung zur
Voraussetzung haben; bevor sich Erfolge zeigten, mußte über Heilung gepredigt werden, und das oft
monatelang. Gemeinden und Gebetsgruppen mußten eingestimmt werden auf die Möglichkeiten Gottes, und
erst dann realisierten sich diese Möglichkeiten" (W.Rebell, A 4).
Theißen fragt nach dem geschichtl. Augenblick, in dem Wundergeschichten mehr und mehr an die Stelle der
Wunder traten, zu symbolischen Handlungen der Gemeinden wurden (A 5). Für die mich nun
interessierende Frage, wieso aus heilendem Glauben ein kurativer wurde, wieso aus heilender
Gemeinschaft eine pflegende Gemeinde, gibt Theißens These Hinweise: demnach dienen heilende
Handlungen im Urchristentum "der Durchsetzung und Legitimation einer neuen Lebensform" (A 6). Das
könnte heißen: Wunder waren (nötige) Propaganda, Pflege war eher Normalisierung, Festigung, Bestätigung
und Auf-Sicher-Stellen, gemeindlich etablierte Praxis. Machttaten und Heilen waren Zeichen des Reiches
Gottes (z.B. Lk 11,20); es mag sein, daß, wie im frühen Christentum die Reich-Gottes-Naherwartung
offenbar zunehmend von frühkirchlicher Struktur durchsetzt und schließlich weithin ersetzt wurde, der
Heilglaube durch kuratives Handeln zunächst ergänzt, dann ersetzt wurde - freilich nicht soweit ersetzt, daß
dadurch der Glaube an ein mögliches machtvolles Eingreifen Gottes ganz
substituiert wurde: die
Wundergeschichten und die Predigt von den Machttaten Jesu blieben das "semantische Universum"!
W.Wolfensberger fragt nach den kulturellen Analoga bzw. "Vorstellungsübertragungen" für den christlichen
Dienst am Menschen (A 7); so betrachtet, gehört Pflegen in der urchristlichen Tradition zur Kultursitte des
Herbergens (Lk 10,35) und des Besuchens (z.B. Mt 25,36). Christliche Krankenpflege ist Menschen-bei-sichHaben und Bei-Menschen-Sein.
1.2 Das Mittelalter hindurch bis an den Rand der Neuzeit war christliche Krankenpflege überwiegend
a) gemeindlich-residentiell bzw. klösterlich-residentiell (Hospize u.ä.),
b) unspezialisiert (Hospize "nahmen Arme, Obdachlose, Kranke, Sterbende, Alte, körperlich und geistig
Behinderte, Blinde, Stumme, Taube, Epileptiker, Reisende und Wallfahrer auf" (A 8),
c) christologisch und solidarisch motiviert (vgl. Hl. Elisabeth: "Wie gut ist es für uns, daß wir unseren Herrn
so baden und kleiden können")und
d) zeitweilig flächendeckend (A 9).
"Hospize waren entweder wie ein kleines Kloster angelegt oder auch wie ein typischer Haushalt oder Hof der
Zeit, die damals eine große Familie, Verwandte und Gesinde umfaßten... Es gab einen großen Raum wie ein
Kirchenschiff, das war auch der Schlafsaal, und der Altar war an einem Ende des Schiffes, so daß
jedermann die tägliche Messe sehen und hören konnte... Das ist auch der Grund dafür, daß solche Hospize
später in England Bethäuser genannt wurden. Vielfach waren diese Hospize Stiftungen, deren Unterhalt
ebenfalls aus Spenden sichergestellt wurde" (W. Wolfensberger, A 10).
Einige der überlieferten Hospitalregeln lassen erkennen, daß und inwiefern die geübte Praxis ein
Ausbalancieren von Patienten- und Pflegerinteressen war (aus der Regula Benedicti: "Die Sorge für die
Kranken soll vor allem und über alles gehen... Jedoch sollen auch die Kranken bedenken, daß man ihnen
um Gottes willen dient, und sie sollen deshalb die Brüder, die sie bedienen, nicht durch unnötige
Anforderungen betrüben").
Daß diese Pflegeform auch dem damaligen Medizinverständnis entsprach, hebt R.Schüßler (A 11) hervor,
der betont, "daß die Medizin des Mittelalters nicht im heutigen Sinne kurativ wirkte. Sie strebte mithin nicht in
erster Linie kausale Behandlung
an, die auf einer verobjektivierten Empirie beruht und sich aus
verallgemeinerungsfähigen Erkenntnissen über Krankheiten als wissenschaftlichen Gegenständen ableitet.
Der Bezugshorizont ihrer 'cura' war die Person des Gesunden ebenso wie die des Kranken, der
pflegebedürftig wurde: also prinzipiell derselbe Horizont, dem auch die Seelsorge, die 'cura animae', galt...
Das Hospiz war demnach alles andere als eine Reparaturanstalt für defekt gewordene Körperteile und funktionen... Ein Hospiz im Mittelalter war meist... mit einer ganzheitlich-sozialen Lebensform verbunden, die
oft mit einer Familie besonderer Art verglichen wurde: Hier wurde unausgesprochen auf allgemeinmenschliches, tiefstgehendes Grundbedürfnis nach Zuwendung geantwortet, das wir erst durch die
Psychoanalyse als eigentlichen Grund vieler Krankheiten wiederentdeckten und sogleich hinter der ebenso
wissenschaftlichen wie häßlichen Formel vom sog. 'sekundären Krankheitsgewinn' wieder verdecken."
1.3 Am Beginn der neuzeitlichen Diakonie hat die Konstituierung des Diakonissen-Standes große
Bedeutung: als Umsetzung der alten christlichen Lebensform der vita angelica im protestantischen Raum (A
12); zugleich wird "unversorgten" Töchtern der Bürgerschaft eine Versorgung mit hohem sozialem Ansehen
und eine Lebenssinn spendende, weil soziale Herausforderungen beantwortende Aufgabe zuteil. Die in
stationären Einrichtungen und Gemeinden krankenpflegende (und kinderpflegende) Diakonisse ist der erste
eigentliche Frauenberuf der Neuzeit; die Organisationsform ist hochmodern (Diakonissen-Mutterhäuser
entstehen als genossenschaftsähnliche Selbst-versorgungssysteme); sie hat einen Anteil an der Geschichte
der Frauenemanzipation wie an der Geschichte der Sozialberufsentwicklung. In der Reaktion auf den
Modernisierungsdruck ist evangelische Krankenpflege gleichwohl "etwas Eigenes". Und: H.A. Oelker sieht
m.E. zurecht, daß mit der "Pflegekultur" (die er mit Amalie Sievekings Aufrufen beginnen läßt) sozusagen
sozialklimatische Veränderungen großen Umfangs eintraten, ein Humanitätsschub statthatte (A 13). Die
spezifische Wahrnehmbarkeit der pflegenden Diakonissen wirkte sich auf das soziale Klima aus: die
evangelische Pflege war maßgeblich beteiligt an der Schaffung eines neuen "semantischen Universums" und dieses Universum erweiterte wiederum das Terrain für das Aufblühen der Pflege.
Die sozial- und kirchengeschichtlichen Begründungen dieses Vorgangs bedürfen m.E. der
wissenschaftsgeschichtlichen
Ergänzung.
Das
zeitliche
Zusammenfallen
medizinischer
Orientierungswechsel und einer ideell ans Urchristentum anknüpfenden Errichtung eines christlichen
Pflegestandes ist gewiß nicht zufällig. Im 17. und 18. Jahrhundert hatte es eine "große KrankenhausNeubauphase" gegeben; in diesen Häusern wurden Kranke medizinisch behandelt, und zugleich ging es
darum, "den Patienten zur inneren Einkehr und zu frommer Besinnung zu verhelfen" (A 14). "Im 19.
Jahrhundert hat sich die Medizin von ihren religiösen und philosophischen, moraltheologischen Ursprüngen
abgelöst und sich ganz der materialistischen Naturwissenschaft angeschlossen" (A 15).
Das bedeutete nicht nur eine "Entmachtung" des kranken Menschen, dessen biographisches Umfeld und
dessen "Mitbestimmung" angesichts objektiver Methoden und Parameter unwichtiger wurden. E.Biser
beschreibt, inwiefern die Verkürzung der Theologie um die Dimension des Therapeutischen eine
Entsprechung fand in der von der Theologie emanzipierten Medizin, die fortan dem Patienten "den
therapeutischen Dienst im dialogisch-personalen Sinn des Wortes" vorenthielt (A 16). An der theologischmedizinischen Bruchstelle "blieb der leidende Mensch mit seiner Krankheit insofern allein, als sich ihrer
niemand in ihrem Charakter als lebensgeschichtliches Widerfahrnis, also als 'Lebensform', annahm und ihm,
dem 'Patienten', dadurch half, sie als solche in sein Lebenskonzept zu integrieren" (A 17). Besonders
anschaulich wird der Zerbruch in der Krankenhaussituation: Sinnfragen stellen sich dem betroffenen
Menschen am unausweichlichsten in der Situation, in der er am erkennbarsten medizinisch
vergegenständlicht wird; im medizintechnisch objektivierten Mensch bricht die Frage nach der NichtObjektivierbarkeit des Menschseins auf.
So gesehen, agiert die Diakonisse an Bruchstellen: zwischen Sinn und Funktion (A 18), zwischen einer
entfunktionalisierten Theologie und einer Sinn-neutralisierten Medizin; beide Systeme bleiben dem
Menschen vieles schuldig (daß die augenblicklichen therapeutischen Randszenen ausgesprochen religiös
aufgeheizt sind, ist symptomatisch). Die pflegende und seelsorgerlich tätige Diakonisse verkörpert den Sinn-
Funktionszusammenhang, der den beiden Bezugssystemen verlorengegangen war; sie pflegt nicht nur
Kranke, sondern betätigte sich in gewisser Weise auch am Heilen des Schadens von Medizin und Kirche.
Sie agiert auch an der Bruchstelle von Person und Institution (u.a. Systemgewalt reduzierend), von Person
und Gemeinschaft.
1.4 Dienstverständnis und "Berufschristentum" der evangelischen Schwestern, die zusammen mit den mit
gleichen Tätigkeiten befaßten katholischen Ordensfrauen bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts ein
flächendeckendes Netz von Gemeindekrankenpflege in Deutschland gezogen hatten, gerieten von "links"
und "rechts" heftig unter Beschuß: Systeme, die die Beherrschung des ganzen Menschen anstreben,
bekämpfen sinnhaft-funktionale Lebensentwürfe als konkurrierend. Vor allem nach dem 1. Weltkrieg mehrte
sich die Kritik an der moralisch
gesellschaftlich angeblich rückständigen weiblichen Diakonie; im Nazi-Deutschland zeichnete der NSVFührer das Gegenbild: "Schwester Erika reitet, spielt Tennis, pflegt und schenkt dem Führer ein Kind".
1.5 Die evangelischen Schwesternschaften überstanden die Nazi-Zeit nur sehr geschädigt: einige, weil sie
sich der Bekennenden Kirche angeschlossen hatten und deswegen in ihrer Entfaltung behindert worden
waren (staatliche Zuschüsse wurden immer stärker gekürzt, Sammlungen durften nicht mehr durchgeführt
werden usw.); andere, weil sie sich dem Führerprizip unterworfen hatten und ihre Identität verlorengaben.
Daß nach dem 2. Weltkrieg die "alte" Gemeindeschwesternstation noch einmal für einige Jahre aktiviert
wurde, war eigentlich schon ein Arbeiten mit einem ungedeckten Scheck.
Ende der sechziger Jahre bewegte sich auch die öffentliche Förderung am alleruntersten Rand: die offizielle
Gesundheitspolitik war an den Gemeindepflegestationen alten Stils vorübergegangen - fahrlässig, wie sich
bald zeigte; auf alle Fälle bedeutete am Ende der sechziger Jahre Krankenpflege = Krankenhauspflege,
Altenpflege = Heimpflege (zu dieser Zeit stand die ev. Gemeindekrankenpflege vor ihrem Kollaps, im
Ganzen gesehen; abschreckende Arbeitsbedingungen taten ein übriges: Überlastungen, ungeregelte
Arbeitszeiten und vergleichsweise geringe Bezahlung - da die Gemeindeschwestern überwiegend nicht im
Öffentlichen Dienst beschäftigt waren). Als sich dann zeigte, daß die gesundheitspolitische Forderung "Hilfe
zur Selbsthilfe" in den hochentwickelten stationären Einrichtungen nicht eingelöst werden konnte
(R.Schüßler, A 19: "Die... Expansion der Apparatemedizin hat den längst fälligen Paradigmenwechsel der
Medizin noch einmal hinausgeschoben"), als sich auch die Kostenlawine zum ersten Mal abzeichnete, wurde
ein modifiziertes Konzept propagiert, in dem die stationären Einrichtungen nur Durchgangsstationen in
Richtung auf ein tragfähiges soziales Auffangnetz vor Ort sein sollten, verzahnt mit ambulanten Diensten,
teilstationären Einrichtungen usw.
Der seinerzeit öffentlich beklagte "Schwesternmangel" war sicher nicht nur Folge der Krise des
Diakonissenmodells mit seinen spez. Lebensgestaltungen (es gab schon früh wirkungsvolle ev.
Alternativen); sicher gab es Nachwirkungen der staatlichen Indienstnahme des Pflegeberufs während der
Nazi-Zeit; auch hoben die aufblühenden Humanwissenschaften die Ich-Anteile im Helfen in neuartiger
Deutlichkeit ins Bewußtsein. Konflikte mit der Gewerkschaft machten die Entgeltproblematik öffentlich. Die
"Entzauberung" des vorherigen Pflege-Berufsbildes war fast total. Dergestalt "säkularisiert", war der
Pflegeberuf weniger attraktiv. Die für die Verluste angebotenen Kompensationen - verbesserte Ausbildung,
Kompetenz, Bezahlung und die Hoffnung auf "Laufbahnen" (die so nicht eintraf) - zogen nicht recht. Und ein
Nachdenken über eine Akademisierung der Pflege regte sich zwar schon gelegentlich (1972 bot der Dt.
Wissenschaftsrat diesbezügliche Modellvorstellungen an), aber ohne Resonanz.
1.6 Das seit 1970 verfolgte Konzept der Sozial- bzw. Diakoniestation war ein neues Glied in der Kette einer
langen Entwicklung, in der immer mehr "staatsfreie" Räume zumindest in die Planungskompetenz des
Staates einbezogen wurden, wenn nicht ganz in öffentliche Trägerschaft übernommen wurden. "Der
Individualismus, der die unteren und mittleren gewachsenen sozialen Einheiten aushöhlt und kraftlos macht
für die unverzichtbaren Aufgaben sozialer Sicherung, zwingt den Staat..., seinerseits diese Aufgabe
wahrzunehmen" (so M.Schick in einem internen Papier des DWHN 1981). Wie sich die Medizin des
Krankenhauses bemächtigt hatte und ihm seine Muster aufdrückte (A 20), so der Staat (und die Kassen) der
Gemeindekrankenpflege: die ehemals "eigene" evangelische Krankenpflege war rundum unter neuen
Herrschaften, ein ganzes Stück enteignet.
Die Gemeindekrankenpflege, nunmehr als Teil der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge, warf und wirft für die
Kirche, die sich mit Recht als Pionierin in dieser Materie versteht, aber nicht von sich aus rechtzeitig
Alternativen entwickeln konnte, viele im Grunde "betriebsphilosophische" Probleme auf:
- Einerseits konnte sie sich keine "Staatsfunktion" anmaßen und von sich aus ein flächendeckendes Netz
vorhalten; andererseits konnte und kann sie sich auch nicht sang- und klanglos aus ihrem genuinen
diakonischen Arbeitsbereich verabschieden.
- Einerseits mußte und muß sie sich in die flächendeckende Planung des Staates (mit Vorbehalten)
einbeziehen lassen, andererseits durfte und darf sie nicht zum bloßen Erfüllungsgehilfen staatlicher
Sozialplanung, zum Lückenbüßer im System staatlicher Daseinsvorsorge werden.
- Besonders problematisch: die Monetarisierung diakonischer Pflegeleistungen; auch die "alte"
Gemeindekrankenpflege wurde bezahlt (Gestellungsgelder an die Mutterhäuser u.ä.), aber es mußte nicht
jede einzelne Leistung in Geldwert bewertet werden. Strittig war, ob die Kirche kostendeckende Vergütung
der Pflegeleistungen erwarten sollte: darf sie sich, so wurde gefragt, ihren Auftrag der Seelsorge, den sie als
Trägerin von Gemeindekrankenpflege neben den anderen Trägern in besonderer Weise einbringen sollte,
"abkaufen" lassen (M.Schick: "Will man nun aber für Leistungen der Gemeindekrankenpflege Entgelte von
Versicherungen fordern oder annehmen, wird es problematisch: man kann schwerlich Leistungen, die
versicherungsrechtlich abrechenbar sind, entgeltlich machen und solche, für die man keinen Kostenträger
findet, unentgeltlich lassen - das ginge gegen den Gleichheitsgrundsatz")?
- Jedenfalls war die Aufgabe gestellt: je mehr Kooperationsnotwendigkeit, desto mehr eigenes Profil ist nötig.
Der allgemeinen Erfahrung, daß sich beliehene Unternehmer des Staates zu konzeptioneller und praktischer
Nivellierung hin entwickeln, dachte man/frau entgegenwirken zu können.
1.7 Die Diakoniestation war angelegt auf ein neues Berufsbild mit neuem beruflichem Selbstverständnis, das
z.B. ein Mehr an speziellem Profil und Professionalität bedeuten sollte, ein Mehr an Teamwork (statt des
früher kommunitär eingebundenen Einzelkämpfertums) und ein Weniger an Hierarchie (verglichen mit der
Situation im Krankenhaus), ein Mehr an Partnerschaft mit Patienten, Ärzten und anderen Stellen und ein
Weniger an "Macht" (verglichen mit der allsorgenden großen Mutter Gemeindeschwester), ein Mehr an
Kompetenz gegenüber Partnern im Pfarramt und im Ärzte- und Gesundheitswesen, ein Weniger an
Verfügbarkeit, ein Mehr an technischen u.a. Hilfen (früher mußten oft Spenden zur Finanzierung von
Pflegemitteln dienen) u.a.m.
Dank ihrer Größe und ihres Apparats sollten Diakoniestationen bessere "Öffentlichkeitsarbeit" leisten können
(insofern einem befürchteten Profilverlust entgegenwirken können), "Tage der offenen Tür" veranstalten,
Pflegeseminare anbieten, Patientenausflüge unternehmen, Gesprächskreise für pflegende Angehörige
einrichten, "Wochen der Gemeindediakonie" o.ä. mitgestalten können usw.
Auch geregelte Arbeitszeit
(Rahmenarbeitszeit) und berufsübliche Bezahlung und Urlaubsregelungen,
Fortbildungs-möglichkeiten sowie fachliche Elemente wie arbeitsteilige Organisation prägten das neue
Selbstverständnis der Mitarbeiterinnen und der Mitarbeiter der Diakoniestationen.
Was die Mitarbeiterschaften als Verbesserungen ansehen konnten, produzierte auch Probleme. Im Kontext
der ersten Diakoniestationsversuche und in vielen begleitenden Kommentaren wurden immer wieder
bestimmte "Gefährdungen" konstatiert: mehr Distanz zu den Patienten, mehr Bürokratie, vor allem aber über Finanzierungsformen und Leistungsabrechnungen usw. - die Befürchtung des neuen Gewichts des
sachfremden Kriteriums Effektivität (wobei "Effektivität" ohnehin weniger patientenbezogen gemeint
gewesen sein muß: in ländlichen Bezirken sind bis heute die kleineren Stationen, die demnächst
weitestgehend verschwinden werden, erheblich effektiver).
Schon die ersten empirischen Untersuchungen (z.B. von Junge/Wendt, Heinemann
Knoch u.a.) monierten den Vorrang der Zeit-Kosten-Ökonomie (die im Wortsinne minutiöse Abrechnung der
minutiös verordneten "Leistungen", in regelmäßigen Abständen von den Patienten bzw. deren
Verwandtschaft auf ihr Erbrachtwordensein hin kontrolliert und bestätigt usw.), die Widersprüchlichkeit
zwischen berufsethischen Ansprüchen und institutionellen Erfordernissen und hoben vor allem auch die
negativen Reaktionen der Patienten auf die arbeitsteiligen Berufsvollzüge hervor. In der
Patientenwahrnehmung konnte das Mehr an Fachlichkeit das Weniger an Verfügbarkeit nicht ausgleichen.
Diakoniestationen waren von Anfang an einem schwierigen Erwartungspluralismus ausgesetzt: z.B.
erwarteten Pfarrer/innen vorwiegend die seelsorgerliche Begleitung von Langzeitkranken und sterbenden
Gemeindegliedern; der Arzt erwartete einen "verlängerten Arm", der die behandlungspflegerischen
Anordnungen ausführt und Beobachtungen über Veränderungen im Patientenbefinden weitergibt; der
Kommunalpolitiker erwartete, daß Diakoniestationen im ambulanten Bereich nahezu alle gesundheitlichen
Notstände "abdecken", und daß er in der Öffentlichkeit unwiderlegbar sagen konnte, daß in "seiner" Stadt, in
"seiner" Gemeinde, z.B. alte Menschen ihren Lebensabend in gewohnter Umgebung verbringen können; für
die potentiellen Patienten hatte die Existenz der Diakoniestation offenbar etwas Beruhigendes - für den (weit
weggedachten) Not- und Ernstfall (A 21). Und die Pflegepatienten? Eigentlich erwarteten sie eine
pflegerische, heilende und seelsorgerliche Kompetenz in einer Person. Wie eh und je.
1.8 Die Diakoniestation und ihre Pflege hatten und haben teil an der allgemeinen kirchlich
diakonischen Problematik (A 22), bildeten in einzelnen Punkten aber auch einen "Spezialfall".
Dies zeigte sich z.B., wenn man bei Fortbildungsveranstaltungen u.ä. die spezifischen Konflikte zwischen
Diakoniestations-Mitarbeiterschaften und Pfarrern/innen zu bearbeiten hatte. Schwer taten und tun sich
Pfarrer/innen insbesondere mit dem meist uneingestandenen Faktum, daß Diakoniestationen einen
erheblich höheren Organisationsgrad als durchschnittliche Pfarrämter haben, daß die Stationen an helfender
Professionalität, an organisatorischer Rationalität, an "Mo
dernität", anderen kirchlichen "Rollenträger-Strukturen" überlegen sind (derlei war oft gemeint, wenn die
wachsende
"Säkularisierung"
der
Diakoniestationen
beklagt
wurde).
Die
DiakoniestationsMitarbeiterschaften mahnen gern die pastorale Präsenz an, wenn es darum gehen müßte, die
therapeutische Dimension des Glaubens zu repräsentieren; hierzu artikulieren sie oft Enttäuschung.
Das Nebeneinander von Pfarramt und Diakoniestation bekam neue Akzente, z.T. wuchs die Abständigkeit bei grundsätzlich gleichgebliebenen Status- bzw. Geltungsproblemen (A 23).
1.9 Das veränderte Berufsbild hielt zum einen an der Einheit des Krankenpflegeberufs fest, zum andern
traten aber auch deutlich besondere Aufgaben- und Funktionsbereiche neuen Stils zutage: sozusagen ein
"Basisberuf", eine im wesentlichen auch vermittelnde Tätigkeit, die im direkten Zugang die Gesamtsituation
von Menschen wahrnehmen, beurteilen und Hilfen durch andere veranlassen können sollte. Biographische
Zusammenhänge und therapeutische Erfordernisse sollten zusammengebracht werden.
Die Organisationsveränderungen in der evangelischen Gemeindekrankenpflege fielen in eine Zeit, in der die
Krankheitsbilder zugenommen hatten, die mit der gewachsenen Lebenserwartung, mit der Umwelt, dem
Lebens- und Arbeitsstil zu tun haben (Herz- und Kreislaufkrankheiten, Diabetes, Unfallfolgen, psychische
Veränderungen, Demenz usw., A 24). So gesehen, stellten die gesundheitspflegerischen und
umfeldbezogenen Begründungen der Diakoniestationen eine positive Perspektive dar: ein ur-christliches
Anliegen sollte - wenn auch in veränderter Weise - neu zur Geltung kommen, nämlich der soziale,
gemeindliche Zusammenhang von Krankheit und Heilung; und die Überzeugung, daß Kirche und
Krankenpflege ein gemeinsames Grundinteresse haben, daß beide "dem verletzten Lebensganzen auf der
Spur" (A 25) sind, daß beide Wege ausfindig machen sollten und könnten, die zu weniger verletztem und
verletzendem Leben führen; daß beide das Netzwerk gesellschaftlicher Beschädigungen bearbeiten
könnten, weil unter uns - in christlicher Sicht - die Beschädigung des einen den andern mitbeschädigt.
1.10 Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des 20. Jh.s zeigte sich, daß die weitgespannten
Erwartungen an die Diakoniestation nicht einzulösen sind, eine Überforderung darstellen. Und so kommen
Anfang der neunziger Jahre auch wohlmeinende Inventuren zu kritisch-realistischen Einschätzungen:
"Die Diakoniestationen werden heute gerne als umfassender Anbieter von ambulanten Dienstleistungen
gesehen, teilweise tragen sie auch selbst zu solchen Fehleinschätzungen bei. Fachkräfte der Krankenpflege
haben in der Regel Schwierigkeiten, ihre Dienste einzugrenzen, wenn sie mit den unterschiedlichen
Notlagen konfrontiert werden.
Da bleibt es nicht aus, daß spezielle Aufgaben wie insbesondere Pflege, Versorgung und Betreuung
psychisch Kranker, geriatrische Fachpflege, gerontopsychiatrische Hilfen,
Schwerstbehindertenbetreuung, Mitarbeit an Modellprogrammen, ambulante Kinderkrankenpflege den
Rahmen der zu bewältigenden Aufgabengebiete zu sprengen drohen" (L.Driver, A 26).
1.11 Die hinsichtlich des diakonischen Profils wahrnehmungseingeebnete Diakoniestation (s.Einl.) ist typologisch - zu einer zeitbemessenen und gedeckelten, spezialisierten Serviceleistung geworden. "Der
Trend geht...dazu, daß eine Diakoniestation durch die Einnahme von Pflegeentgelten kostendeckend
betrieben werden kann" (A 27). Die Kirchen können sich eine immer weniger als Diakonie identifizierbare
soziale Arbeit immer besser leisten.
2. Ein kurzer Blick auf andere Pflegefelder
In anderen Pflegefeldern treten z.T. ähnliche, z.T. spezifische Probleme auf.
2.1 Krankenhaus- und Altenpflege leiden unter Berufsausstiegen vor allem der mittleren
Pflegerinnengeneration (viele wählen einen neuerlichen helfenden Beruf, oft mit Studium und
Diplomabschluß, z.B. in Sozialarbeit: was zeigt, daß es an mangelndem Sozialinteresse nicht liegen kann, A
28); im Altenpflegebereich ist die personelle Gesamtfluktuation in der Regel besonders stark. In beiden
Pflegebereichen bestehen "Laufbahn"-Probleme: die mitgebrachte Pflegeausbildung hat in der Regel keine
Durchlässigkeit zu höherqualifizierenden Ausbildungen, was sich in hierarchischen Arbeitsstrukturen stärker
auswirkt als in der Gemeindekrankenpflege. Dabei sind die Statusprobleme im Krankenhaus oft greifbarer,
weil sich dort die pflegerischen Handlungsziele noch unmittelbarer am ärztlichen Handeln und einem
einseitig medizinisch geprägten Krankheitsbild orientieren und die Pflege daher noch stärker als
"Hilfsaktivität" zur medizinischen Tätigkeit erscheint als andernorts.
2.2 Indem die stationäre Altenpflege mehr und mehr zur Dementenpflege wird, wird dort eine Entwicklung
begünstigt, welche die Versuche stärkt, sich vom Krankenhausleitbild abzukoppeln; Ansätze eines
rehabilitativen Pflegekonzepts, das u.a. Pflegeplanungs- und Gruppenpflege-Elemente kennt, die
institutionellen und persönlichen Tagesrhythmen auszubalancieren bemüht ist und planvolle
Angehörigenarbeit vorsieht, sind mancherort in der Erprobung.
2.3 Den Pflegefeldern gemeinsam ist
"Ausgebranntseins" seitens der Pflegenden.
die
Zunahme
von
Streß-Signalen
und
Symptomen
des
2.4 Auch die sozialpolitische Trendlage hinsichtlich des jeweiligen Pflegefeldes wirkt sich unterschiedlich zu
den Pflegenden hin aus: während die Kirchen für eine Gemeindekrankenpflege wie die oben dargestellte
öffentlich "belohnt" und zur weiteren "Effektuierung" im staatlichen und im Kassensinne angereizt werden,
werden sie für Krankenhausträgerschaften z.Z. eher bestraft: neuere Gesetzgebung läßt die konfessionellen
Krankenhäuser "jetzt wieder in dieselbe Notsituation hineinschlittern..., aus der sie nur durch große
Reformanstrengungen herausgekommen sind" (A 29); die Zwänge zu defizitärer Wirtschaftsführung mehren
sich, bei deren Fortsetzung die Zeichen klar auf pflegerischer Dequalifizierung, auf Minimalqualifizierung
stehen. Für U.Schwarzer ist klar, "daß sich der Gesetzgeber hinsichtlich von Vergütungsregelungen,
Qualifikationsanforderungen und Rekrutierungsvorschlägen an einer Minimalqualifizierung orientiert" (A 30).
Von daher wurde seit Beginn der neunziger Jahre zum einen der Ruf nach Qualitätssicherung in der Pflege
lauter (A 31), zum andern wurde die Angst vor der damit verbundenen Durchsichtigkeit der
Leistungswirklichkeit größer (A 32).
2.5 In allen Pflegefeldern wirkte sich ferner - z.T. unterschiedlich - aus, daß die Kostenträger fast generell mit
einem anderen Pflegebegriff operierten als die offiziellen Konzepte der freien Verbände (auch der kirchlichdiakonischen Träger), die häufig präventive, rehabilitierende, prophylaktische, aufklärend-beratende
Pflegedimensionen anführten; diese wurden von den Kassen z.T. weder anerkannt noch bezahlt. Daß
vielfach nur die Funktionspflege abrechenbar war und ist, hat die Pflege-Weiterentwicklung nicht nur
"materiell" erschwert, sondern auch handlungspraktisch: die Finanzierungssituation wirkt als Anreiz, sich aller Theorie zum Trotz - weiterhin an altem Berufswissen zu orientieren, das auch alte Sicherheit vermittelt.
Die heutigen Bruchstellen, an denen professionelle Pflege agiert, sind z.T. so banale wie die zwischen
neuem Anspruch und alter Handlungssicherheit.
3. Abhilfen
3.1 Die aktuellen Veränderungsvorschläge entsprechen den Blickwinkeln, aus denen heraus die
Situationsanalyse erfolgte (A 33). Es geht generell um Erweiterung: Erweiterung von Organisation, (Aus)Bildung, Status und Bezugswissenschaften. So sollen die an die Diakoniestationen gerichteten Hoffnungen
mittels der nächstgrößeren Organisationsform, z.B. mithilfe der Einbeziehung der Mobilen Sozialen Dienste,
eingelöst, die Stationen zu Gesundheitszentren o.ä. erweitert werden.
3.2 Nachwuchs- und Imageprobleme der Pflegeberufe
"Erkenntnisse und Entwicklungen in der Therapie und im
Krankenhausgesellschaft von 1992 den Hintergrund der
von pflegewissenschaftlichen bzw. pflegepädagogischen
(A 34).
bildeten - zusammen mit der Erwähnung neuer
Pflegebereich" - im Positionspapier der Deutschen
Forderung nach Akademisierung, nach Errichtung
Hochschul- und/oder Fachhochschulstudiengängen
3.3 Der Hinweis auf eine andere Erweiterung bildet in diesem Zusammenhang ein gewichtiges Argument:
"Europa" ("Die deutsche Ausbildung...kann... nach Aussagen von Fachvertretern dem höheren Niveau in
vielen anderen EG-Ländern nicht folgen"; A 35). Die Pflegeforschung aus dem Zusammenhang des
ansonsten weithin inkompatiblen angelsächsischen Gesundheitssystems wird als adaptions- bzw.
transformationsnotwendig angesehen.
Die Pflegeberufe bilden im Blick auf ihre Akademisierung die Nachhut, gemessen an anderen Sozialberufen,
auch denen ursprünglich kirchlichen Herkommens (die "Sozialarbeit" wurde aus dem Berufsbild des früheren
Fürsorgers bzw. des Wohlfahrtspflegers entwickelt, die "Sozialpädagogik" aus dem des reinen Frauenberufs
der Jugendleiterin mit dem ursprüngl. spez. Arbeitsfeld Kindergarten bzw. Hort, die "Gemeindepädagogik"
aus
dem
der/s
Gemeindehelfers/in).
Die
"Geltungskonflikte"
(K.F.Daiber)
dieser
meist
fachhochschulvermittelten Berufsbilder mit den klassischen Professionen sind nach wie vor erheblich, die
Akzeptanz durch Vertreter/innen von Recht, Medizin und Theologie ist nicht durchgängig gegeben (A 36).
Solange sich am Selbstverständnis der alten Professionen und an den Strukturen in den von ihnen
geprägten Institutionen nichts grundsätzlich ändert, ist die Akademisierung der anderen Mitarbeiterschaften
eine Maßnahme von nur mittlerer Reformwirkung.
Die innere Pflegeberufe-Hierarchisierung wird durch die unterschiedliche Akademisierung befördert werden
(die universitären Studiengänge werden wohl nicht nur während der Ausbildung näher bei der Medizin sein).
Wünschenswert wären m.E. Pflegestudiengänge in Form des berufsbegleitenden Berufsakademienmodells
o.ä. gewesen: um personelle Notstände nicht zu verschärfen und um ggf. diakonische Ausbildungselemente
zu sichern und durchaus auch Trägerinteressen zu integrieren.
3.4 Der erweiterte Pflegerinnen- und Pfleger-Status soll nicht nur durch Organisationsvergrößerung,
Hochschulabschlüsse und Einbeziehung der Pflegeforschung und so bedingte Neuakzentuierungen (z.B.
aktivere Beteiligung der Patienten an Heilung; modifiziertes, von einseitiger Medizinorientiertheit Abstand
nehmendes Krankheitsverständnis; Milderung der strukturellen Gewalt von Krankenhausmustern u.ä.; neue
Pflegetechniken; Qualitätssicherung; Pflegeplanung/dokumentation usw.), sondern auch durch eine
zusätzliche Bezugswissenschaft, die Pädagogik, konstituiert werden: eine Kompetenz, die man/frau anderen
im Gesundheitswesen Tätigen unbestreitbar voraus hat; die auch unbelastet ist von den Schwierigkeiten
anderer fachhochschulvermittelter Kompetenzen im Gesundheitswesen (z.B. Sozialarbeit, A 37).
3.5 Diese Erweiterungen befanden sich zum Teil im Einklang mit, zum Teil im Widerspruch zu staatlichen
Planungen (A 38) und Kodifizierungen (A 39).
4. Kurz nach den Anfängen der Akademisierung: die Ökonomisierung
Seit Mitte 1994 - mit der stufenweisen Einführung der Pflegeversicherung, mit der Aufgabe des Selbstkostendeckungsprinzips im Sozialhilferecht (neue õõ 93 f. BSHG) bei gleichzeitiger Öffnung des
Anbietermarkts - hat eine stürmische Entwicklung eingesetzt; sie hat im stationären Bereich rasch dazu
geführt, diverse Rechtsveränderungen vorzunehmen (Trennung von weiterhin gemeinnützigen und künftig
rein wirtschaftlich geführten Organisationsteilen, vgl. z.B. Elisabethenstift Darmstadt), und im ambulanten zu
einem Boom privater Pflegeanbieter, die, da sie in der Regel nicht unter den Bedingungen des BAT tätig
sind, mit dem Preisdiktat der Kassen wirtschaftlich eher existieren können als die herkömmlichen Anbieter
mit ihren öffentlich-dienstrechtlichen Strukturen (z.B. auch die kirchliche Gemeindekrankenpflege), die
gerade erst als Errungenschaft angesehen worden waren. Pflege in der Art des Service-Betriebs und der
Dienstleistungslogik wird in noch nicht ganz absehbarer Weise Berufsbild und Ausbildung der Pflegeberufe
verändern: aus Pflegerinnen/Pflegern werden Unternehmerinnen/Unternehmer, aus Pflege-Anbietern
werden Marktkonkurrenten - und aus Patienten Kunden.
Damit haben die Pflegerinnen und Pfleger eher als andere Fachhochschulberufe und insofern "pionierhaft"
Anteil an der "Eroberung" des sozialen Gesellschaftssegments - des einzigen und letzten, das bislang nicht
völlig der Marktlogik unterliegen sollte (vgl. Subsidiaritätsprinzip seit 1961 in BSHG und JWG) - durch die
Wirtschaftslogik des industriellen Systems.
ANMERKUNGEN
1. U.Schwarzer, Warum wir in der Diakonie Qualitätsstandards definieren müssen, in: DiakonieKorrespondenz 3/ 1993, 8 + 12
2. Prognos AG, Freie Wohlfahrtspflege in Europa, 1991, 16
3. G.Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, StNT 8, 19875, 248
4. W.Rebell, "Alles ist möglich dem, der glaubt." Glaubensvollmacht im frühen Christentum, 1989, 38
5. Theißen a.a.O., 229 ff.
6. ders. a.a.O., 256
7. W.Wolfensberger, Elemente der Identität und Perversionen des christlichen Wohlfahrtswesens,
DIAKONIE 3/1980, 156 ff.
8. ders. a.a.O, 158
9. vgl. auch meinen Artikel "Krankenhaus/Krankenpflege" im Wörterbuch des Christentums, 1988, 682 f.
10. Wolfensberger a.a.O., 158 f.
11. R.Schüßler in seinem bislang nur hektographiert vorliegenden Referat "Heilen - eine verlorene Tradition
im Christentum"; vgl. aber seinen Beitrag "Der personale Bezug als therapeutisches Medium und die soziale
Realität", Ärzteblatt Baden-Württemberg 7/1976, 504 ff.
12. vgl. zum Ganzen P.Philippi, Die Vorstufen des modernen Diakonissenamtes (1789
1848) als Elemente für dessen Verständnis und Kritik, 1966
13. H.A.Oelker, Die Zukunft der Pflege, DIAKONIE 4/1990, 198 ff.; darin pflegephilosophisch m.E. relevante
Vorschläge zur Mitarbeiterwerbung, tariflicher Verbesserung, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Fortu.Weiterbildung usw.
14. H.E.Richter, Flüchten oder Standhalten, 1976, 136
15. Wolfensberger a.a.O., 166
16. E.Biser, Theologie als Therapie. Zur Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension, 1985, 14
17. ders. a.a.O., 15
18. zur Bedeutung des Sinn-Funktions-Problems für die Diakonie insgesamt vgl. mein Buch "Diakonie Hilfehandeln Jesu und soziale Arbeit des Diakonischen Werkes", 19852, bes. 248 ff.
19. R.Schüßler/P.Anastassiadis, Bilder als therapeutische Impulse und Probleme im Horizont ganzheitlicher
Sicht, Sonderdruck aus Deutsches Ärzteblatt, 31-32/1989, 3
20. vgl. hierzu das sehr empfehlenswerte Buch von R.Neubauer, Haus für Kranke. Eine christliche
Betriebsethik des Krankenhauses, 1981; S. 65: "Die Entmündigung der Pflegenden in den letzten
Jahrzehnten ist offenkundig. Wie... schon gesagt, entstand das moderne Krankenhaus einmal als
pflegerische Initiative und großenteils mit kirchlicher Motivation. Die naturwissenschaftliche Medizin kam erst
hinzu und wurde im Lauf der Zeit immer beherrschender..."
21. zum Ganzen vgl. das Themenheft der Zeitschrift DIAKONIE 6/1983
22. Analogien habe ich kürzlich für das Feld kirchlich verantworteter Vorschulerziehung beschrieben: Vom
Nutzen der Träger-Trägheit. Diakonie und Kirchengemeinde als Träger von Kindergärten im Spiegel von 100
Jahren Fachpublizistik, in: E.Haug-Zapp (Hg.), Historisches zu gegenwärtigen Problemen der
Sozialpädagogik, 1992, 45 ff.; in meinem o.g. Diakonie-Buch habe ich ausführlicher von den allgemeindiakonischen Bruchstellen gehandelt, "wo an die Stelle des Charismas die Kompetenz (in oft nur
technischem Sinn) getreten ist, an die Stelle der missionarischen Intentionen Jesu der Leistungsnachweis,
an die Stelle der Barmherzigkeit die Prioritätensetzung, an die Stelle der Eschatologie die Planung, an die
Stelle der Solidarität die Organisation", a.a.O. 52.
23. s.u. Anm. 36
24. vgl. D.A.Bakal, Psychologie und Medizin, 1987; S. 7: "Manche Wissenschaftler meinen, daß
gesundheitliche Störungen mit einer ausgeprägten psychischen Komponente inzwischen 30% der
Beschwerden ausmachen, die von Ärzten für Allgemeinmedizin festgestellt werden. Andere Schätzungen
reichen von 60% bis 90%... Menschen mit psychosomatischen Beschwerden werden von Praktikern oft als
'Problempatienten' abgestempelt, weil ihre Beschwerden als Folge von psychischen und physischen
Störungen angesehen werden, die von der modernen technologischen Medizin weder diagnostiziert noch
therapiert werden können."
25. K.-D.Ulke, Philosophie und Sozialarbeit, Sozialpädagogik 4/1984, 180
26. L.Driver, Diakoniestation - wohin geht die Fahrt?, DIAKONIE 4/1990,VII
27. Materialsammlung für ambulante Gemeindekrankenpflege in der Ev.Kirche in Hessen und Nassau, März
1993, 1
28. J.-C.Student, Auf den Spuren von Florence Nightingale? Streß, Aggression und hilflose Helfer - die
Pflegeberufe müssen aufgewertet werden, Report 24/1992
29. M.Wander, Staatliche Eingriffe gefährden freie Krankenhäuser, Weltweite Hilfe Sonderteil 3/1992, III/9.
S. III/8: "Die bereits in der Koalitionsvereinbarung vom 2.Juni 1992 vorgesehene ersatzlose Aufhebung des
Selbstkostendeckungsprinzips
im
Krankenhausbereich
wird
im
Referentenentwurf
des
Gesundheitsstrukturgesetzes 1993 durch die ersatzlose Streichung des bisherigen õ 4 KHG verwirklicht.
Das Bestreben des Bundesgesetzgebers, die Krankenhäuser im Rahmen der Pflegesatzvereinbarung, des
Förderungsrechtes der Länder sowie der Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips eine eigenständige,
marktorientierte Preis- und Leistungspolitik mit den Krankenkassen als Vertragspartner betreiben zu lassen,
bedeutet, das gesamte Krankenhausfinanzierungsrecht auf den Kopf zu stellen. Denn wenn sich das
einzelne Krankenhaus den Regeln der freien Marktwirtschaft anpassen soll, aber weiterhin den staatlichen
Vorgaben der Krankenhausplanung und der Preis- und Dienstleistungspolitik der Krankenkassen unterliegt,
wird es als Dienstleistungsunternehmen massiv gefährdet. Damit wird auch die flächendeckende
Versorgung der Bevölkerung mit Krankhausleistungen in Frage gestellt."
30. a.a.O., 7
31. z.B. R.Horch, Qualitätssicherung in der modernen Medizin, in: Krankenversicherung Sept. 1992, 249
32. G.Igl, Qualitätssicherung der Pflege alter und behinderter Menschen gewinnt sozialpolitisch zunehmend
an Bedeutung, in: Selbsthilfe 5-6/1992, 55
33. Das zeigt sich z.B. an den Differenzierungen zwischen dem analytischen Konzept der DKG zur
Personalbedarfsermittlung im Pflegedienst von 1989 und dem einerseits darauf aufbauenden, andererseits
bewußt davon abweichenden, leistungsorientierten Personalbemessungskonzept des Bundesministeriums
für Gesundheit.
34. zit. nach: Die Schwester/Der Pfleger 1/1993, 69: "Die berufliche Motivation des Nachwuchses und das
Ansehen der Pflegeberufe in der Öffentlichkeit werden durch die Qualität der Ausbildung maßgeblich
geprägt."
35. Student a.a.O.
36. zum Ganzen am Bsp. der Beziehung Theologie/Sozialarbeit vgl. K.-F.Daiber, Die Beteiligung
fachkompetenter Nichttheologen an der theologischen Funktion der Diakonie, in: Diakonie in der säkularen
Welt, Themen der Diakonie 10/1985, 21 ff.; literarisch belegt ist die Empfehlung des theol.
Ausbildungsreferenten einer ev. Landeskirche an die Erstsemester eines gemeindepädagogischen
Fachbereichs an einer Ev.Fachhochschule, "sich nach einem anderen Studienplatz umzusehen", vgl.
W.Pempe, Rückblick, in: ders. (Hg.), Neue Furchen ziehen. Gemeindepädagoginnen und
Gemeindepädagogen in der Kirche, 1986, 115. Oder vgl. z.B. die kritische, fast schon polemische
Verhältnisbestimmung Rechtswesen/Sozialarbeit in der Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch, wo
E.Quambusch und H.Th. Schmidt kürzlich formulierten: "Die Sozialarbeiter-Ausbildung, wie sie bisher in den
westdeutschen Ländern durchgeführt worden ist, muß im allgemeinen als gescheitert angesehen werden.
Denn sie entspricht bei weitem nicht den Erwartungen der Berufspraxis. Die Kritik, die seit mehr als 2
Jahrzehnten in der Fachpraxis und der Fachliteratur geübt wird, ist vernichtend", ZfSH/SGB 8/1991, 397. Die
Akzeptanzproblematik wird gern durch die große Zahl der fachhochschulvermittelten Sozialtätigen
überdeckt. Z.T. wird die Definitionsmacht o.ä. der klassischen Professionen nicht nur nicht zurückgedrängt,
sondern muß neu zugelassen werden: so hat z.B. die medizinische Profession in Gestalt der sog.
Empfehlungsvereinbarung von 1991 Kontrolle und "Letztverantwortung" über bislang sozialarbeiterisch bzw.
sozialpädagogisch kontrollierte und verantwortete Aufgaben in der ambulanten Rehabilitation
Suchtabhängiger gewonnen bzw. wiedergewonnen.
37. DKG-Positionspapier, a.a.O., 70. Alternativsignale kommen interessanterweise zuletzt vermehrt von
Fachhochschulabsolventen/innen mit pädagogischer Schwerpunktsetzung; so heißt es in der
empiriegestützten Studie von D. Aschenbrenner, Religionspädagogisches Studium und kirchliches
Berufsfeld, 1993: "Mittlerweile wird aber auch der Wert der Erziehungswissenschaften und einer an ihr
orientierten Ausbildung angezweifelt", a.a.O., 20.
38. Schwarzer, a.a.O., 8: "Resümee: Die hier aufgeführten Aspekte lassen summa summarum nicht
erkennen, daß der Qualität der Pflege ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. Darüber hinaus ist im
übrigen auch nicht das in der Koalitionsvereinbarung gegebene Versprechen eingelöst, die Pflegeberufe
ideell aufzuwerten."
39. Die §§ 112 f., 135-137, 139 SGB V beziehen Qualitätssicherung auf ärztliche Tätigkeiten.
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REPORTAGEN AUS DER DIAKONISCHEN JUGENDSZENE
Reflexionen und Berichte von H.Seibert, publiziert in: DWEKD [Hg.], Junge Generation und diakonisches
Handeln, Reihe „danken & dienen“ 1997, Stuttgart 1997, 21 ff.
Jugend berät Jugend
„Seit Verena zum Teestubenteam gehört, hält sie ihrem Vater, einem Pastor, gelegentlich Vorträge über
Allgemeines Priestertum. Was sie zusammen mit den andern vom Leitungsteam so mache, sei mindestens
ebensoviel Seelsorge wie seine Tätigkeit. Der Unterschied sei bloß, daß zu ihnen in die alkohol- und
nikotinfreie Begegnungsstätte Jugendliche kämen, die ins Pfarramt nie gegangen wären.
Verena übertreibt nicht. Sie hat - wie die anderen im Team - durch Mitarbeiter der diakonischen Bezirksstelle
Einführungen in die Techniken des aktiven Zuhörens bekommen, hat Theorie- und Anwendungswissen in
einschlägigen Führungsstil-, Gruppen-Phasen- und Konfliktlösungsmodellen erworben, in induktiven
Gesprächsmethoden, in TZI
nahen Handlungsformen (= Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn). Das war harte Arbeit und hatte
monatelang gedauert, und ein bißchen mulmig war anfangs allen Beteiligten dabei: Können Jugendliche mit
Jugendlichen, gar mit "gefährdeten", tatsächlich seelsorgerlich-beraterisch umgehen?
Offenbar ja.
Ähnliches Alter und die sozialräumliche Nähe fördern das Verstehen und das Sich-Verstandenfühlen.
Manche der kritischen und objektiv problematischen jungen Leute kamen immer wieder und suchen nun
nach verbindlicheren Lebensformen. Sogar ein ehemals ortsbekannter Schläger.
Das ist die kritische Anfrage Verenas an ihren Vater: Eigentlich müßten nun einige der Teestuben
Gäste einer Gemeinde oder etwas ähnlichem "zugeführt" werden können - und wo gibt es das? Über einen
Hauskreis, generativ gut durchmischt, soll es nun versucht werden. Hauskreise gehörten ursprünglich nicht
zum pastoralen Konzept von Verenas altem Herrn, aber seine diakonisch aktive Tochter bekehrte ihn.“
Das ursprünglich drogentherapeutische Modell der Teestube gibt es mittlerweile in vielen Varianten,
unterhalb eines ausdrücklich therapeutischen Anspruchs, aber als soziale Prophylaxe und oft mehr
jedenfalls sinnvoll. Hilfe, die jungen Menschen Spaß macht und viel gibt.
Jede Gemeinde, die über "niedrigschwellige" Räumlichkeiten verfügt, könnte mithilfe fachlicher Anleitung ein
Jugendteam für solche Diakonie an anderen jungen Menschen ausbilden lassen.
Spielen und Malen an den Grenzen des Lebens
„Friedhelm war nach eigenem Bekunden bis 17 ausschließlich auf dem Ego-Trip. Damals erkrankte sein
kleiner Bruder an einem Lymphdrüsenkrebs und starb nach wenigen Monaten. Friedhelm war in dieser Zeit
fast jeden Tag auf der Kinderstation, spielte und malte mit dem Bruder. Aber dabei blieb es nicht. Bald
machten andere Kinder mit, es entstand eine Spiel- und Malgruppe kranker Kinder, und die besteht noch,
über den Tod des Bruders hinaus: Friedhelms Freundin Judith macht auch mit. Und die Freundin der
Freundin. Eine von allen wohlgelittene "Institution" wurde aus der einstigen Familienangelegenheit. In einem
Wintergarten-artigen Anbau haben sie einen Spiel- und Malraum bekommen. Auf vielen Kinderstationen fehlt
es an allen Ecken und Enden an Personal, das Zeit für die Kinder hat.
Judiths Religionslehrerin schenkte ihr, als sie von den regelmäßigen Stationsaktivitäten hörte, ein Buch von
Elisabeth Kübler-Ross. Seitdem geschieht in der Spiel- und Malgruppe auf der Kinderstation mehr als
Zeitvertreib. Die drei Jugendlichen haben angefangen, die Symbolsprache kranker und moribunder Kinder
zu lesen und zu deuten, und manchmal übersetzen sie die Bilder für die Eltern, die vor Kummer und Schock
die Signale ihrer Kinder nicht oder noch nicht lesen können. Nicht wenige dieser Signale sind eigentlich
religiöser Art.“
Daß etwa Aussiedlerkinder, die ausgegrenzt wurden, spielend unter uns Fuß fassen konnten, berichtet das
Werkheft '97 der Zeitschrift "Sozialcourage" (in dem es übrigens eine Fülle von Sozialmodellen "zum
Selbermachen" gibt): drei Gymnasiastinnen aus Bad Neustadt „betreuen allein, freiwillig, selbstbestimmt“.
Oder: Jugendliche aus gemeindlichen Jugendgruppen, versiert im Spielen im Freien, im Gelände, freizeitund abenteuerpädagogisch erfahren, machen mit bei dem neuen - zum Teil sogar schon von Kommunen
geförderten - Modell der sog. Waldkindergärten (zu Beginn des Jahres 1997 gibt es in Deutschland 30
derartige Initiativen).
"Spiel-Diakonie" kann für junge Menschen attraktiv sein: sie fördert Sozialverhalten, Kreativität und
Integration, und manchmal, in extremen Lagen, kann sie, wie berichtet wird, Trost spenden.
Sozialreporter
„Bevor in einer süddeutschen Großstadtgemeinde ein Hilfemodell nach der Konzeption der "privaten
Solidarnetze" (nach W.Noack; vgl. H.Seibert/W.Noack, Die Krise der Sozialarbeit und ihre autopoietische
Chance, Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen Berlin 1996) speziell im Blick auf die Belange älterer
Menschen aufgebaut wurde, also eine in Anbetracht sozialpolitischer Veränderungen zeitgemäße Form
gemeindlicher Diakonie, mußte - in der Sprache der Trendforschung gesagt - ein "Scanning der sozialen
Landschaft" erfolgen. Alles das, was Zählen und schlichte Statistik nicht hergeben, interessierte: Welche
sozialen Netzwerke es in der Gemeinde schon gibt, welche davon funktionieren und förderlich sind und
welche nicht; was fehlt; was weiterzuentwickeln und neu zu entwickeln wäre; wo es nicht ohne weiteres
sichtbare sozial-räumliche Brennpunkte gibt; ob und wie die Kirchengemeinde in Netzwerken vorkommt bzw.
vorkommen könnte usw.“
Zur Erläuterung: Trendforschung ist eine relativ neue erkenntnistheoretische Form, eine besondere Weise
der Wahrnehmung. Für die Trendforschung präsentiert sich Wirklichkeit als Netzwerk ihrer Phänomene;
diese sind, einander wechselseitig bedingend, miteinander verknüpft, bilden ein autopoietisches (= sich
selbst erschaffendes und erhaltendes), interaktionelles System. Trendforschung ist eine Weise des InBeziehung-Setzens in Form möglichst breiter Wahrnehmung. Das in Beziehung gesetzte Wahrgenommene
ist häufig in sich spannungsreich, gegenläufig, aber gerade auch so komplementär.
Horx definiert Trendforschung als "Lehre von den Veränderungen in der Kultur, besonders in der
Alltagskultur", als "Ethnologie der Gegenwart", als Alltagsbeobachtung als "Scanning der kulturellen
Oberflächen";
scheinbar
chaotischen
"Oberflächenphänomenen"
wird
ein
"handhabbares
Interpretationsraster hinzugefügt" (M. Horx, Trendbüro 1, Düsseldorf 1993; Trendbuch 2, Düsseldorf 1995).
Horx leitet sein Trendbuch 2 u.a. so ein: es, das Buch, wünsche sich Leser, "die sich nicht wundern, wenn
der Text plötzlich von Marketing-Problemen zum philosophischen Diskurs wechselt (und wieder zurück)".
Trendforschung beansprucht also, auch die sinnhafte Substanz in den o.g. Prozessen benennen zu können.
„Eine Gruppe junger Leute, zu Beobachtungsübungen angeleitet und "mentoriert" von einer Gemeindepädagogin/Diplom-Religionspädagogin (FH), trug mit Feuereifer ein ganzes "semantisches Universum"
zusammen, zeichnete ein komplexes Bild der Lebenswirklichkeit in jenem Stadtviertel. Da das Solidarnetz
vor allem im Blick auf ältere Menschen konzipiert werden sollte, interessierte buchstäblich alles, was ältere
Menschen betrifft; es zeigte sich, daß die ältere Wohnbevölkerung auf bestimmte Teile des
Gemeindegebiets konzentriert ist, daß dort die Wohnsubstanz ebenfalls alt ist, die "Infrastruktur" aber so, als
ob es dort keine Alten gäbe (kaum Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel, gefährliche Straßenübergänge,
hohe Bürgersteige, kaum Briefkästen, keine Geschäfte, keine Arztpraxen, keine Grünlanlagen o.ä. mit
Bänken, keine Aufzüge in den Häusern, keine kommunalen oder kirchengemeindlichen Dependancen), und
daß das Lebensgefühl paradox ist (bei hoher Unzufriedenheit und großen Angst- und Unsicherheitsgefühlen
- die Häuserbeschreibung durch die jungen "Sozialreporter" machte z.B. darauf aufmerksam, daß kaum
jemand seinen Namen auf die Türschilder oder Klingelleisten gesetzt hatte: eine bemerkenswerte
Selbstanonymisierung älterer Menschen - möchte kaum jemand von dort weg).
Angeleitet von der Gemeindepädagogin, vom Gemeindepfarrer, zwei Sozialarbeiterinnen eines in der
Gemeinde befindlichen Altenheims und von einem Fachhochschulprofessor vor Ort werteten die jungen
Leute die zahllosen Details ihrer Sozialreportage, ihrer diakonieorientierten Gemeindebeobachtung aus: mit
dem Ziel, die theoretischen Voraussetzzungen für diakonische Netzwerk-Installationen (Börsen, Agenturen
o.ä.) zu schaffen.
Das Netzwerk, das in besagter Gemeinde aufgrund der Sozialrecherchen junger Leute gerade entsteht,
arbeitet auf der Basis der Reversibilität, der Umkehrmöglichkeit von Hilfeleistungen. Es soll keine
hierarchische Struktur geben, kein Gefälle von Gebenden zu Empfangenden. Auch die Gebenden sind
Empfangende, Empfangende auch Gebende. Und auch bei diesem Austauschprozeß, der durch ein
kirchengemeindliches "Vermittlungsbüro" und eine "Sozialbörse" organisiert wird, sind junge Menschen aktiv
beteiligt und bringen auf der Basis verbindlicher Reversibilität ... ein, was schon länger zum DiakonieRepertoire junger Menschen gehört (Einkaufs-, Vorlese-, Ausgehhilfen, Mitarbeit bei den Johannitern, in
Hausaufgabenhilfe-Initiativen usw.).
Die Kennzeichen dieser Netzwerkkonzeption:
> Gleichheit aller am Netz Beteiligten, keine Hierarchie., auch intergenerative Gleichberechtigung.
> Reversibilität der Hilfeleistungen durch Austausch.
> Vielfältige Leistungsbeziehungen: Es gibt vier Arten von Leistungsaustausch:
direkter Austausch von gleichartigen Leistungen: Frau A. und Herr B. übernehmen gegenseitig Kinderbzw. Enkelbetreuung.
direkter Austausch von ungleichartigen Leistungen: Frau A. kauft für Herrn B. ein, Herr B. wiederum betreut
die Kinder von Frau A.
indirekter Austausch: Frau A. kauft für Herrn B. ein, Herr B. seinerseits betreut die Kinder von Herrn C., Herr
C. hilft Frau A. bei der Steuern.
Es gibt auch - freilich nicht als Regelfall - einseitige Unterstützung in Notfällen: Frau A. kauft für Herrn B. ein,
der seinerseits kein Hilfeangebot machen kann (oder will).
> Ein Vermittlungsbüro wird errichtet (sog. Skillbank, Dienstpool) mit der Aufgabe, ein Geflecht von
Beziehungen und Unterstützungshilfen aufzubauen und zu erhalten und Verbindlichkeit zu gewährleisten. In
dieser Zentrale (aber innerhalb des Netzwerks nur dort) kann eine berufliche Kraft (GemeindepädagogIn,
SozialarbeiterIn, DiakonIn o.ä.) arbeiten. Wo das Netzwerk nicht mehr helfen kann, stellt das
Vermittlungsbüro die Verbindung zu anderen Hilfestellen her und beteiligt sich überhaupt am sog.
Wohlfahrtsmix. Das Vermittlungsbüro ist auch Beschwerdestelle, vermittelt bei Konflikten, regt z.B. auch ggf.
Veränderungen der Vereinbarungen an, vermittelt ggf. Fort- und Weiterbildung an die Ehrenamtlichen.
> Integration der Vermittlungsbüros in die soziale Infrastruktur. Menschen, die am Netzwerk teilnehmen,
öffnen z.B. ihre Wohnungen für zunächst Fremde; hierbei ist das Vertrauenspotential, das die
Kirchengemeinde genießt, wichtig. Die Kirchengemeinde steht für die Seriosität und Ernsthaftigkeit des
ansonsten selbständig laufenden gemeindediakonischen Projekts.
Die entscheidende Aktivität bei der Entstehung des Netzwerks und das gleichberechtigte Mitarbeiten im
Netzwerk hat bereits im frühen Stadium des Projekts die generative Wahrnehmung und die Sensibilität der
Generationen füreinander, auch die innergemeindliche soziale Kommunikation deutlich verbessert: das
heißt, schon das gemeindliche Kommunizieren über das Projekt und die Vorarbeiten für das
gemeindediakonische Projekt sind ein Teil des erlebbar Diakonischen.“
Sozialsponsoring der Jugend
Diakonische Vorarbeiten wie diese, aber auch "ausgewachsene" diakonische Initiativen werden häufig von
Jugendlichem mit großem Einfallsreichtum gesponsort. „In einer Realschule erlebte ich einen Sozial-TalentSchuppen, bei dem - inmitten der heute üblichen Fetenrituale - die ausgefallensten Ideen für "gute Taten"
prämiert werden. Schulen oder Schulklassen, Konfirmanden- oder Jugendgruppen veranstalten Diskos,
Flohmärkte oder Tauschbörsen zur Unterstützung diakonischer Projekte.“
Junge Menschen lassen sich zur Diakonie anregen durch "Sinnlichkeit", Betroffenheit und Glaubwürdigkeit.
Und manchmal sogar durch "Kirchlichkeit".
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Arbeitspapier Netzwerke
„...die Bezirke und Quartiere, in denen die Menschen leben, die Wohnumgebung, die
Einkaufsmöglichkeiten, der öffentliche Personennahverkehr, Schulen, Jugendheime, Kneipen, Kirchen und
Sportplätze, alle diese Orte und Institutionen, aber auch das Leben in Vereinen und Klubs, die informellen
Kanäle der Nachbarschäften, Wohnblocks und Straßen, Kultur und Klima eines Viertels, müssen zu
Bezugspunkten werden für das Verstehen der Belastungen, Krisen und Notlagen der Menschen, die hier
leben. Die traditionell beziehungsgeschichtlich - biographisch orientierte Dimension des Verstehens muß
durch eine sozialräumliche gleichberechtigt ergänzt, nicht ersetzt werden. Erst wenn wir auch lernen, die
Menschen in ihren Verhältnissen zu sehen und verstehen, können wir auch den Einfluß der Verhältnisse auf
das Verhalten begreifen und mit ihnen ausloten, wie Verhältnisse und Verhalten ausgehalten oder verändert
werden können.“
(Christian Schrapper, 1995, S.109. In: QS 10, S.21)
„... Netzwerkarbeit und Vernetzung haben sich ... zunehmend im Bereich sozialer und präventiver
Gemeinwesenarbeit etabliert. Sie gehen vom Leitgedanken der Anbindung, Öffnung und Gestaltung von
Lebensräumen aus, die personale Verknüpfung in gleicher Weise beinhaltet wie strukturelle. Netzwerkarbeit
meint die Aktivierung und Vernetzung sozialer Unterstützungssysteme, meint die Stärkung individueller
Ressourcen, meint die Erziehungsarbeit in der Familie und deren sozialem Umfeld, meint Kooperation und
Koordination kommunaler Institutionen, ihre Verbindungsfähigkeit mit Bürgerinitiativen und -interessen und
schließlich die politische Fähigkeit von Gemeinden und Regionen zur zukunftsorientierten Gestaltung von
Lebensräumen. Netzwerkarbeit will ein integriertes Präventionskonzept entwickeln, das Lebensräume
aktiviert und verbindet, das Aktionen, Reflexion und Partizipation zuläßt und fördert, um so Individual- und
Allgemeinwohl zu verbinden und zu gestalten.“
(Werner Ludwig, in: QS 10, S.50)
Hans Langnickel unterscheidet Netzwerke:
„1. Nach dem Zeitraum der Vernetzung: kurzfristige oder auf längere Dauer angelegte Kooperation.
2. Nach ihrem Formalisierungsgrad: Das Spektrum reicht von zufälligen losen Netzwerken (mit offenen
Mitgliedschaften) bis hin zu streng formalisierten bzw. institutionalisierten Strukturen.
3. Nach dem Umfang der Kooperation: Die Kooperation kann ausdrücklich auf ein Thema oder Projekt
begrenzt oder von grundsätzlicher Art sein.
4. Nach dem Raum der Vernetzung: lokal, regional. bundesweit, auch als mobile Ebene der Vernetzung
(etwa im Bereich der Drogenpräventation) und heute sogar virtuell, z. B. zwischen Jugendhilfeträgern per
Internet mit einer ganz neuen Vernetzungskultur.
5. Unterscheiden kann man schließlich eine horizontale, vertikale und sogar diagonale Vernetzung:
Horizontal etwa zwischen verschiedenen Kindertagesstätten in einem Stadtteil, vertikal z.B. zwischen
stationären und ambulanten Einrichtungen, diagonal über ,,Branchengrenzen" hinweg etwa zwischen
sozialen und kulturellen Organisationen.
6. Schließlich können noch zwei Vernetzungstypen in Hinblick auf Art und Größe der Partner voneinander
unterschieden werden: Netzwerke, in denen eine größere Anzahl gleichberechtigter Organisationen
zusammen-geschlossen sind. ... Netzwerke, die unter der Führung einer zumeist großen Organisation (etwa
der Kommune als öffentlich-rechtlicher Träger) stehen, und diese Organisation hat dann oft auch die
strategische Führung in dem Sinne, daß sie die zentralen Aufgaben und Themen der Arbeit definiert, die
Strategie sowie die Art und Form der Beziehung untereinander festlegt.“
„Von Vernetzung kann man jedenfalls immer dann sprechen, wenn irgendeine Art interorganisatorischer
Beziehung besteht, die ein Mindestmaß an eigener Organisiertheit oder Dauer aufweist. Diese Beziehung
muß im Prinzip nicht immer aktiviert sein. Auch als latente Beziehung sollte sie aber immer eine kurzfristige
Aktivierung, beispielsweise zur Realisierung einer organisationsübergreifenden Aktion ... oder eines Projekts
ermöglichen.“
(ders., in: QS 10, 7-20)
[Langnickel untersucht, warum Vernetzungen oder Kooperationsbeziehungen scheitern. Er weist darauf hin,
daß
Berührungsängste,
Abgrenzung,
Mißtrauen,
Aneinandervorbeiarbeiten
oder
sogar
Gegeneinanderarbeiten
auf der zwischenmenschlichen Ebene sowie fehlendes ,,diplomatisches
Verhandlungs- und Kooperationsgeschick“ die oft nicht zu uberwindenden Schwierigkeiten in der Netz- bzw.
Kooperationsarbeit darstellen. Eine besondere Schwierigkeit sieht er beim Aufbau interorganisatorischer
Beziehungen: in der ,,Entgrenzung“ der beteiligten Organisationen in einem Netzwerk oder
Kooperationsverband.]
Erfolgsmanagement und interorganisatorische Beziehungen, werden durch die folgenden Erfolgsfaktoren
gesteuert (vgl. auch Badorocca, 1991; Bronder, 1993: Nölke, 1992):
1. Die Festlegung der Kooperationsziele; klare strategische Vorstellungen der Führungskräfte der beteiligten
Organisationen.
2. Die Festlegung der Kooperationspartner bzw. die gezielte Partnersuche, denn nicht alle theoretisch
möglichen Partner sind für Kooperation gleich geeignet: Die Partner müssen passen...
3. Die Festlegung der jeweiligen Kooperationsbereiche oder -felder.
4. Die eindeutige Festlegung der Kooperationsform und -struktur. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten,
Kooperationen zu strukturieren. Immer aber muß die jeweilige Organisationsform verbindlich geregelt
werden - mit z.B. dem gleichen Anspruch an Strukturqualität wie für die Strukturqualität jeder einzelnen
Organisation.
Interorganisatorische Netzwerke müssen geführt werden wie eine eigenständige Organisation, d.h. mit
klarem Aufgabenbereich,
spezifischen Zielen,
eigenen Ressourcen,
einem Zeitplan,
Offenheit und Ehrlichkeit.
Weitere Bedingungen erfolgreicher Netzwerkarbeit:
- Die Bereitschaft, die eigenen interorganisatorischen Informationssysteme zur Verfügung zu stellen.
- Die Bereitschaft, sich damit abzufinden, daß Erfolge nicht mehr nur der eigenen Organisation
zugeschrieben werden, sondern allen am Kooperationsverbund Beteiligten.
- Von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche Vernetzung sind schließlich die sogenannten
grenzüberschreitenden Rollen, auf die auch Wendt (1991) im Zusammenhang mit den Bedingungsfaktoren
eines erfolgreichen case management verweist, das ja viele Überschneidungsbereiche mit dem
Management von Netzwerken aufweist.
Im Rahmen der Vernetzung und Kooperation wird das Konzept des Synergieeffektes genutzt von Menschen,
die ein gemeinsames Ziel haben, sich dabei punktuell durch eine Aktion oder auch langfristig durch
Kooperation und Vernetzung Nutzen und Arbeitserleichterung erhoffen. Dadurch sind viele Möglichkeiten in
gut strukturierten Netzwerken zu nutzen:
1. An erster Stelle steht der fachliche Kompetenzgewinn jeder organisationsübergreifenden Kooperation.
2. Durch Kooperation und Vernetzung können vielfältige wirtschaftliche Nutzenpotentiale entdeckt, entwickelt
und multipliziert werden, die Einzelträgern (insbesonders kleinen Trägern) verschlossen bleiben: Die
gemeinsame und neuartige Nutzung von Ressourcen - und damit im wirtschaftlichen Sinne die Nutzung von
Kostenvorteilen.
3. Schließlich bieten Netzwerke den Rahmen, Hilfeangebote aufeinander abzustimmen und so miteinander
zu verzahnen, daß für Hilfesuchende/Betroffene ein optimales Gesamthilfesystem zur Verfügung steht. Dies
gehört auch zum Kern des traditionellen Kooperationsverständnisses.
(QS 10, 5.7 - 20)
Die ISO-fizierung (J.-P.Braun) nimmt immer stärker zu. Sie wird mit ihren Ansprüchen Bestandteil des
menschlichen Zusammenlehens in einer Gesellschaft, welche ihre Problemlösungen durch
technokratisiertes Denken, die Wahl der richtigen Kommunikationsform, entsprechende Koordination bzw.
Kooperative in modernen vernetzten Strukturen zu denken und zu arbeiten anstrebt. Es ist inzwischen zur
(modischen) Erscheinung geworden, den Mangel in einer Überflußgesellschaft so optimal wie möglich zu
steuern und zu verwalten. In diesem Zusammenhang weisen Oelschlägel u.a. auf die Gefahren in einer
Netzwerkarbeit hin (Oelschlägel, Dieter: Vernetzung im Gemeinwesen, in: QS 10, 21 - 27):
„Sie wird schnell zur verfeinerten Sozialtechnologie und trägt so bei zur Kolonisierung von Lebenswelten.
Der Gemeinwesenarbeiter würde zum Netzwerktechniker, ... zum ‚Beziehungsmechaniker‘, der
Beziehungspunkte und -relais installiert, unterbricht und repariert.
Netzwerkarbeit kann ... zum Selbstzweck werden, ... und sie kann aufgrund ihres Tauschcharakters auch
dem ’Privilegiertenschutz’ dienen (Seilschaften als Sonderform des Netzwerkes). Wer nichts zu tauschen
hat, bleibt draußen. Ein Netz, das sollten wir nicht vergessen, hat auch ausschließenden und
ausgrenzenden Charakter.“
(Keupp in Oelschlägel, 1989, S.31)
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