Genf (Kanton) - Historisches Lexikon der Schweiz

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30/05/2017 |
Genf (Kanton)
Kanton der Eidgenossenschaft seit 1815. Amtl. Name: Republik und Kanton G., 1534-1798 Seigneurie
(Herrschaft) und Republik G. (oft auch kurz Seigneurie genannt). Franz. Genève, ital. Ginevra, rätorom.
Genevra. Amtssprache ist Französisch, Hauptort ist die Stadt G.
Das Gebiet des heutigen Kantons (2005 45 Gem.) umfasst einen Teil des ehem. Fürstbistums Genf (die Stadt
und ihre Umgebung, die Mandements Jussy und Peney), die Güter des Priorats Saint-Victor und des
Domkapitels und seit 1815 und 1816 die Communes réunies, die von Frankreich und Piemont-Sardinien dem
neuen Kanton abgetreten wurden. 1798-1813 gehörte G. zum franz. Departement Léman.
Der Kt. G. liegt am südwestl. Ende des Genfersees in dem von der Rhone und der Arve durchflossenen
Becken, das sich zwischen dem Jura im Norden, dem See sowie dem Höhenzug Les Voirons im Osten, dem
Bergrücken des Salève im Süden und dem Mont Vuache sowie der Talenge von Fort-l'Ecluse im Westen
ausdehnt. Der Verlauf der Kantonsgrenze folgt aber nicht den natürl. Gegebenheiten, sondern ist in erster
Linie historisch bedingt. Als Grenzkanton besitzt G. eine 103 km lange gemeinsame Grenze mit Frankreich
(Dep. Ain und Haute-Savoie), während diejenige zum Kt. Waadt bloss 4,5 km misst. Das Kantonsgebiet ist mit
282 km2 sehr klein und zählt überwiegend zur Agglomeration der Grossstadt.
Fläche (1992)
Wald / bestockte Fläche
282,2 km²
38,8 km²
13,8%
117,2 km²
41,5%
Siedlungsfläche
85,3 km²
30,2%
Unproduktive Fläche
40,9 km²
14,5%
Landwirtschaftliche
Nutzfläche
Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur
1850
1880a
1900
1950
1970
2000
64 146
99 712
132 609
202 918
331 599
413 673
2,7%
3,5%
4,0%
4,3%
5,3%
5,7%
Französisch
86 414
109 741
157 372
216 775
313 485
Deutsch
11 500
13 343
27 575
36 226
16 259
2 199
7 345
10 759
36 274
15 191
Jahr
Einwohner
Anteil an Gesamtbevölkerung der
Schweiz
Sprache
Italienisch
Rätoromanisch
Andere
50
89
218
304
229
1 432
2 091
6 994
42 020
68 509
Religion, Konfession
Protestantisch
34 212
48 359
62 400
102 625
125 769
72 138
Katholischb
29 764
51 557
67 162
85 856
177 067
163 197
1 298
876
610
Andere
170
1 679
3 047
13 139
27 887
177 728
davon jüdischen Glaubens
170
662
1 119
2 897
4 321
4 356
Christkatholisch
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davon islamischen
Glaubens
davon ohne Zugehörigkeitc
1 436
17 762
11 370
93 634
Nationalität
Schweizer
49 004
63 688
79 965
167 726
219 780
256 179
Ausländer
15 142
36 024
52 644
35 192
111 819
157 494
1905
1939
1965
1995
2001
d
Jahr
Beschäftigte im Kanton
1. Sektor
8 901
7 477
2 936
3 157
2 968d
2. Sektor
26 444
32 424
59 305
41 010
39 261
3. Sektor
22 314
30 203
83 088
181 503
196 763
Jahr
1965
1975
1985
1995
2001
Anteil am Schweiz.
Volkseinkommen
6,4%
6,7%
7,4%
6,3%
6,2%
a
Einwohner, Nationalität: Wohnbevölkerung; Sprache, Religion: ortsanwesende Bevölkerung
b
1880 und 1900 einschliesslich der Christkatholiken; ab 1950 römisch-katholisch
c
zu keiner Konfession oder religiösen Gruppe gehörig
d
gemäss landwirtschaftl. Betriebszählungen 1996 und 2000
Quellen:HistStat; eidg. Volkszählungen; BFS
Autorin/Autor: Martine Piguet / GL
1 - Von der Ur- und Frühgeschichte bis zum Frühmittelalter
1.1 - Ur- und Frühgeschichte
Wie die ganze Schweiz unterlag das Gebiet des Kt. G. in der Urgeschichte den Einflüssen der Vergletscherung,
die während des grössten Teils des Jungpaläolithikums eine menschl. Siedlungstätigkeit verunmöglichten und
auch so gut wie alle älteren Zeugnisse menschl. Aktivität ausgelöscht haben dürften. Die 1833 gemachten
Funde aus dem Magdalénien in dem heute in franz. Gebiet liegenden Veyrier (Etrembières) stellen die
ältesten Zeugnisse für die Anwesenheit von Jägern in der Region Genf dar. Die Fundorte liegen auf einem
breiten Felsrücken, der inzwischen durch die Steinbrüche am Fuss des Salève weitgehend zerstört worden ist.
Das Gebiet war mit Felsbrocken übersät, die sich bei Bergstürzen gelöst hatten. Diese Blöcke boten günstige
Unterstände für die ersten Temporärsiedlungen von Rentierjägern, die sich hier um 13000 v.Chr.
niederliessen. Die Veyrier-Gruppe aus dem späten Magdalénien ist berühmt wegen ihrer Speerspitzen aus
Rentierknochen, ihrer Tierdarstellungen und ihrer Steinwerkzeuge.
Für die folgenden Jahrtausende fehlen archäolog. Funde im Kanton. Erst mit der Besiedlung von Saint-Gervais
(Gem. G.) um 4000 v.Chr. erscheinen die ersten archäolog. Spuren einer Gemeinschaft von Ackerbauern und
Viehzüchtern, die wohl Kontakte mit ihren südl. Nachbarn im Rhonetal pflegten.
Ab Beginn des 4. Jt. v.Chr. geben die zahlreichen nachgewiesenen Seeuferdörfer eine klare Vorstellung von
der Besiedlung der Uferregion, während bis heute keine Überreste von Siedlungen oder Begräbnisstätten im
Landesinneren gefunden werden konnten. In Corsier förderten archäolog. Untersuchungen in einem dem
mittleren Neolithikum zugeschriebenen Dorf eine gut erhaltene archäolog. Schicht zu Tage, welche
dendrochronologisch auf 3856 v.Chr. datiert ist. Die Auswertung der Funde ergibt das Bild einer Siedlung von
Ackerbauern, die Weizen, Gerste und Hirse anbauten, Rindvieh, Schweine, Schafe und Ziegen züchteten
sowie der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von Pflanzen nachgingen - die Lebensweise der Bewohner
von Corsier dürfte demnach der in der mittleren Cortaillod-Kultur gepflegten weitgehend entsprochen haben.
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Das jüngere Neolithikum lässt sich schwerer erfassen, da diese Periode hauptsächlich durch Funde von aus
Silex oder Grüngestein (Serpentinit) gefertigten Gegenständen bezeugt wird. Solche Werkzeuge wurden in
mehreren Seeufersiedlungen gefunden, so etwa in Anières, wo man u.a. auf mehrere aus dem frühen 3. Jt.
v.Chr. datierende Pfähle stiess. Die kulturellen Einflüsse gingen damals eher vom franz. Jura, dem Isèretal und
dem unteren Rhonetal aus.
Auf Siedlungen oder andere menschl. Aktivitäten während der Frühbronzezeit weisen Funde an versch. Orten
hin, die allerdings bis heute noch nicht genauer datiert sind. Eine nochmalige Blüte erlebt die Seeufersiedlung
während der Spätbronzezeit; dieser Siedlungstypus erreicht zwischen dem 11. und dem 9. Jh. seine weiteste
Verbreitung, wobei viele der damals angelegten Uferdörfer an Stellen entstanden, die schon früher besiedelt
und dann später verlassen worden waren. Von der Bevölkerungsdichte während der Spätbronzezeit zeugt die
Fülle des archäolog. Materials, das im 19. Jh. gefunden wurde und heute in Museen aufbewahrt wird. Ein aus
der gleichen Zeit stammendes, weiter landeinwärts stehendes Gebäude im Parc de La Grange (Gem. G.)
belegt, dass damals neben den unmittelbaren Uferzonen auch Gebiete im Landesinneren besiedelt wurde. Die
Seeufersiedlungen wurden im 9. Jh. endgültig aufgegeben; als jüngste gilt heute jene von Collonge-Bellerive,
deren Bauholz (Pfosten usw.) von um 880 v.Chr. geschlagenen Bäumen stammt.
Ausserhalb des heutigen Stadtgebiets, auf dem sich das Oppidum Genua befand, sind die frühgeschichtl.
Spuren spärlich. Nur die Entdeckung einer auf 800-600 v.Chr. datierten Schanze in Verbindung mit einem
Grabhügel deutet auf die Existenz eines in den Wäldern von Versoix angelegten Refugiums hin. Auch die im
Dorfzentrum von Vandœuvres gefundene Herdstelle, die auf 550-400 v.Chr. datiert wird, zeugt von der
Anwesenheit des Menschen. Ferner sind einige Grabbeigaben aus der frühen und mittleren Latènezeit in
Corsier, Meyrin oder Chêne-Bourg zu erwähnen, welche die kelt. Kultur repräsentieren. Aus dieser gingen die
Stämme der Helvetier und Allobroger hervor, die das Genfer Gebiet bewohnten, als dieses dem Römischen
Reich angegliedert wurde.
Autorin/Autor: Jean Terrier / GL
1.2 - Die gallorömische Epoche
Um 122-121 v.Chr. wurde das linke Rhoneufer der röm. Provinz Gallia Transalpina einverleibt, die unter
Augustus die Bezeichnung Gallia Narbonensis erhielt. Die Rhone markierte von nun an die Grenze zwischen
den unter röm. Herrschaft stehenden Allobrogern und dem sich nördlich des Genferseebogens
herausbildenden Territorium der Helvetier. Der Hügel, auf dem die Kathedrale Saint-Pierre steht, birgt die
frühesten Hinweise auf die Gegenwart des Menschen und entspricht in etwa der Lage des Oppidums Genua.
Die Besiedlung der Genfer Landschaft ist zwar schwer abzuschätzen, doch scheint sie, geht man von den an
versch. Orten beidseits der Rhone gefundenen Keramikgegenständen aus der späten Latènezeit aus, ziemlich
dicht gewesen zu sein. An manchen Orten weisen nur einige Gefässfragmente auf die Anwesenheit des
Menschen hin. Dagegen zeugen in Vandœuvres, Meinier und im Parc de La Grange zahlreiche Hohlstrukturen
(Gruben, Pfostenlöcher, Gräben) von Bauten aus Holz und Erde und einer rudimentären räuml. Organisation.
Gräber aus dieser Zeit sind selten, eine Nekropole wurde nicht gefunden.
58 v.Chr. kam Caesar mit seinen Legionen nach Genf, wo er die Brücke über die Rhone abreissen liess und
das linke Flussufer befestigte. Neue Forschungen konnten allerdings keine Spuren einer solchen
Verteidigungsanlage entlang der Rhone nachweisen. Auch archäolog. Untersuchungen im Stadtzentrum
förderten keine weiteren Hinweise auf diese Episode zu Tage. G. war damals ein Vicus, der immer noch zur
Gallia Transalpina gehörte und ab 31 v.Chr. von der Kolonie von Vienne (Colonia Iulia Vienna) abhängig war.
Das rechte Rhoneufer unterstand der Herrschaft der neuen Kolonie von Nyon, der zwischen 46 und 44 v.Chr.
von Caesar oder einem seiner Befehlshaber gegr. Colonia Iulia Equestris.
Von der Herrschaft des Tiberius (14-37 n.Chr.) an trägt die Architektur der in der Stadt wie auch auf dem
Lande errichteten Gebäude röm. Züge. Die antike Stadt war damals von grossen Gutshöfen umgeben, und
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der Baustil der grossen gemauerten Villenanlagen, etwa im Parc de La Grange oder in Vandœuvres,
orientierte sich an mediterranen Vorbildern und deren architekton. Programm. Diese Gutsbetriebe flankierten
die Wege, die vom städt. Zentrum aus in Richtung Nyon, Thonon, Annecy, Vienne oder sogar Lyon verliefen,
um nur die wichtigsten Verkehrsadern zu nennen. Die Ballung von ländl. Anwesen in der Gegend von G. ist
wohl auf die Anziehungskraft der Stadt und deren Umlands zurückzuführen, die von ihrer privilegierten Lage
an einer Handelsachse zwischen Nordeuropa und dem Mittelmeerraum profitierten. Ein Aquädukt, von dem
ein Abschnitt in der Gem. Thônex gefunden wurde, versorgte die Stadt mit Wasser.
Die ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung stellen eine relativ stabile Epoche dar, was auch im
regelmässigen Unterhalt der früher errichteten Bauwerke seinen Ausdruck fand. Das 3. Jh. war geprägt durch
politische und soziale Wirren und durch die Einfälle der Alemannen ins Schweizer Mittelland; erst in dessen
letzten Jahrzehnten waren die Bedingungen für ein Wiederaufblühen der Region günstig. Der Vicus G. wurde wohl im letzten Drittel des 3. Jh. - in den Rang einer Stadt (civitas Genavensium) erhoben und erlangte
dadurch einen privilegierten Status im von Diokletian umgestalteten röm. Reich (Tetrarchie). In den folgenden
Jahrhunderten erfuhren verschiedene grosse Gutshöfe - z.B. diejenigen im Parc de La Grange und in
Vandœuvres - einschneidende Veränderungen. Landwirtl. Betriebe wurden nun auch in grösserer Entfernung
der Stadt gegründet. Die spätantike Villa in Satigny und die Anlage eines Gutes in vorher nicht genutztem
Gebiet in Sézegnin belegen, dass im 4. Jh. neue Gebiete urbar gemacht wurden.
Vom späten 4. Jh. an drückte das Christentum der Stadt seinen Stempel auf (Christianisierung). Die Stadt
stieg - vielleicht als Folge guter polit. Beziehungen - zum Bischofssitz auf. Sie sei damals, so die Ansicht
einiger Autoren, einer riesigen Diözese vorangestellt worden, die nicht nur das Gebiet der alten Kolonie in
Nyon, sondern auch dasjenige der Helvetier umfasste. Diese Verwaltungseinheit könnte der Sapaudia
entsprechen, in der sich die Burgunder 443 ansiedelten.
Autorin/Autor: Jean Terrier / GL
1.3 - Frühmittelalter
443 wurde G. die erste Hauptstadt des Burgunderreichs. Diese Statusaufwertung hatte beträchtl. Änderungen
am institutionellen und architekton. Gefüge der Stadt zur Folge, die sich u.a. in einem imposanten
Bauprogramm im Zentrum der Bischofsstadt niederschlugen. Die Auswertung der Nekropolen ergab allerdings
keine Hinweise auf einen nennenswerten Bevölkerungszuzug oder eine demograf. Umschichtung. Einzig
einige absichtlich deformierte Schädel - die sog. Turmschädel - könnten als Beleg neuer, vielleicht von den
Burgundern oder anderen Zuwanderern mitgebrachter Bräuche interpretiert werden.
Frühma. Siedlungsspuren in den Gutshöfen aus der frühen Kaiserzeit belegen deren Weiter- oder
Wiedernutzung, wobei im ländl. Siedlungswesen allmählich der in alten heim. Traditionen wurzelnde
Holzpfostenbau die gemauerte Architektur ersetzt. Die archäolog. Spuren, die solche Gebäude hinterlassen
(z.B. Pfostenlöcher, Bodenverfärbungen), sind nur schwer auszumachen und nicht leicht zu interpretieren; da
bis heute nur wenige Befunde gesichert sind, lassen sich die frühma. Sieldungsstrukturen nur sehr ungenau
rekonstruieren. Besser ist infolge der vielen Bauuntersuchungen der Wissensstand über die ländl. Kirchen im
Kantonsgebiet. Obwohl in vielen Kirchen (z.B. Commugny und Satigny) auch Ausgrabungen durchgeführt
wurden, ist nur in Vandœuvres und Saint-Julien-en-Genevois (Grenzgemeinde in Hochsavoyen) eine Bauphase
bzw. ein erster christl. Sakralbau aus dem 5. Jh. nachgewiesen.
Von 534 bis Ende des 9. Jh. unterstand G. fränk. Herrschaft, zunächst derjenigen der Merowinger, dann jener
der Karolinger (Frankenreich). Da schriftl. Quellen aus dieser Zeit äusserst selten sind, beruhen unsere
Kenntnisse vorwiegend auf archäolog. Zeugnissen. Die fränk. Eroberung zog wie die Ansiedlung der
Burgunder keine massenhafte Zuwanderung auf Genfer Gebiet nach sich; in den untersuchten Grabstätten
wurden nur wenige Gegenstände gefunden, die für die fränk. Kultur charakteristisch sind. Einzig der Brauch,
die Toten in Molasse-Plattengräbern zu bestatten, könnte eine fränk. Neuerung darstellen. Die Bevölkerung
blieb, wie die Belegung des Gräberfelds von Sézegnin in der Genfer Landschaft zeigt, jedenfalls bis ins 8. Jh.
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konstant.
Mehrere neu gegr. Friedhofskirchen illustrieren die Fortschritte der Christianisierung ab dem 6. Jh. Obwohl
noch nicht von einer Pfarreiorganisation gesprochen werden kann, zeugen die Kultstätten vom Willen der
Menschen, sich in religiösen Zentren zu versammeln, die eng mit den christl. Bestattungsbräuchen verbunden
waren. Erst mit der zweiten Welle des Kirchenbaus im 9. und 10. Jh. entstand das ma. Pfarreinetz, das weitgehend unverändert - die ländl. Region bis heute prägt. Zerstreut in der Landschaft liegende Gräberfelder
wurden aufgegeben; man begrub seine Toten jetzt auf Friedhöfen bei den Kirchen, um die herum sich auch
die Dorfzentren entwickelten. Aus den Siedlungen entlang der Verkehrsachsen bildeten sich die unzähligen
Weiler, die für das Genfer Gebiet so typisch sind.
888 wurde G. dem Zweiten KönigreichBurgund einverleibt, nachdem das von Karl dem Grossen fast ein
Jahrhundert zuvor gegr. Reich auseinandergefallen war. Der letzte Burgunderkönig starb 1032 und vermachte
seine Besitzungen Konrad II., dem Kaiser des Hl. Römischen Reiches. Da der Kaiser, aus der Ferne regierend
seine Autorität nur ausnahmsweise geltend machte, stritten sich die lokalen Edlen um die Macht: der Bischof
verteidigte seine Herrschaft über die Stadt, weltl. Herren behaupteten sich auf dem Lande. Ab dem 11. Jh.
setzte sich das Geschlecht der Gf. von Genf in diesen Auseinandersetzungen durch, in deren Verlauf die
ersten ma. Festungen in Form von Erdburgen an den strategisch wichtigen Orten errichtet wurden.
Autorin/Autor: Jean Terrier / GL
2 - Politische Geschichte vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
2.1 - Die mittelalterlichen Herrschaften
Aus den im 11. Jh. einsetzenden schriftl. Quellen geht hervor, dass die Dörfer in der Region versch. Herren
gehörten. Die bedeutendsten waren die Gf. von G., die Herren von Gex, die Herren von Faucigny, die Gf. von
Maurienne-Savoyen, der Bf. von G., das Domkapitel von Saint-Pierre sowie einige Klöster, insbesondere das
Cluniazenserpriorat Saint-Victor.
2.1.1 - Die Mandements
Dem Bischof, der Herr der Stadt G. und ihrer Vorstädte war, unterstanden ab dem 12. Jh. auch Güter, die bald
als Mandements bezeichnet wurden und von denen zwei, nämlich Peney und Jussy, im heutigen
Kantonsgebiet, und das dritte, Thiez (oder das Gebiet von Sallaz, östlich von Annemasse), im heutigen franz.
Dep. Haute-Savoie lagen. Einige dieser Güter hatten zuvor versch. Klöstern gehört (Saint-Jean, Priorat von
Satigny, Abtei von Nantua) und wurden ursprünglich von Vizedomini verwaltet. Der Bf. Aymo von Grandson
(1215-60) reorganisierte das bischöfl. Mensalgut und liess die Burgen von Thiez, Peney und Jussy bauen.
Diese wurden Kastlanen anvertraut, die sowohl für deren Verteidigung als auch für die Verwaltung der
Kastlanei verantwortlich waren.
Autorin/Autor: Redaktion / GL
2.1.2 - Die Güter des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels
Dank bedeutender Schenkungen der Kg. von Burgund, der Bischöfe und der Gf. von G. wurde das Priorat
Saint-Victor eine der reichsten Herrschaften des Genfer Beckens. Zwischen 1260 und 1304 erkannten die
Grafen dem Priorat sämtl. Herrschaftsrechte (mit Ausnahme der Durchführung der Hinrichtungen) über 20
Dörfer zwischen Mont-de-Sion, Arve, Rhone und Salève zu. Das Priorat hatte auch das Patronat über 35
Pfarrkirchen der Genfer Diözese inne. Ein weiterer wichtiger Lehnsherr war das Domkapitel. 1295 bekräftigte
ihm der Gf. von G. die Herrschaft über 24 Dörfer im Chablais, Genevois und Pays de Gex (ausgenommen die
Durchführung der Exekutionen). Das Kapitel besass zudem das Patronatsrecht über 34 Pfarrkirchen und das
Personat (Recht auf Abschöpfung des Ertrags) über rund 50 Pfarreien. Im Lauf des 15. Jh. höhlte der Hzg. von
Savoyen als Rechtsnachfolger der Gf. von G. die Rechte dieser beiden Institutionen allmählich aus, indem er
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Steuern erhob und sich das Begnadigungsrecht und die Hochgerichtsbarkeit aneignete.
Autorin/Autor: Redaktion / GL
2.1.3 - Die Stellung der Einwohner in der Landschaft
Als Untertanen des Bischofs, des Domkapitels oder des Priorats Saint-Victor besassen die Bewohner der
Landschaft nicht dieselben Rechte, wie sie den Stadtbewohnern im Freiheitsbrief von 1387 zugestanden
worden waren. Die 1469 von Bf. Johann Ludwig von Savoyen erlassene Polizeiordnung für die Bewohner der
Mandements kann man wohl nicht als Freiheiten (franchises) bezeichnen; deren kommunale Einrichtungen
wurden auf einige Pfarreibruderschaften reduziert. Im Gebiet des Priorats Saint-Victor galt das
Gewohnheitsrecht (coutume) der Gf. von G. Ab Mitte des 14. Jh. bestanden jedoch in einigen Dörfern des
Priorats Saint-Victor Gemeindeorganisationen der Dorfgenossen. Diese definierten sich v.a. über gemeinsame
Frondienste, die sie auf dem Herrschaftshof im Austausch gegen Wald, Weideland oder Eicheln zu leisten
hatten. Der Status der Bauern wurde in Lehnsregistern oder Urbaren festgehalten: Es gab grundzinspflichtige
Leibeigene (hommes-liges), grundzinspflichtige Freie und Freie ohne Grundzinspflicht. In den bischöfl.
Territorien wurden die militär. Pflichten der einen wie der anderen präzise festgeschrieben. So musste im
Mandement Peney jeder Haushalt auf Geheiss des Kastlans einen als client bezeichneten Mann mit militär.
Ausrüstung stellen; die Kosten für Ritte innerhalb der Kastlanei musste er selber tragen, während Ritte
ausserhalb der Kastlanei zu Lasten des Bischofs gingen. Die Bewohner der Dörfer hatten eine Wache zum
Schutz der Burg und des Fleckens zu stellen. In Jussy waren nur diejenigen, welche die Telle zu leisten hatten,
zu Befestigungsarbeiten verpflichtet; diese bestanden v.a. im Errichten von Palisaden vor den Gräben.
In den Dörfern, die dem Domkapitel oder dem Priorat Saint-Victor unterstanden, waren die gerichtsherrl.
Rechte zwischen dem geistl. Grundherrn und dem Gf. von G. aufgeteilt: Während die geistl. Herren die
Gerichtsbarkeit inne hatten einschliesslich des Rechts, Todesurteile oder Körperstrafen zu verhängen, musste
aus kanon. Gründen ein weltl. Machthaber, der Gf. von G., die Todesurteile vollstrecken, was ihm in der Praxis
das Begnadigungsrecht eintrug. Letzteres wandelte sich in der Folge zum Recht auf Ausübung der
Appellationsgerichtsbarkeit. Diese Situation überdauerte die Reformation und die Säkularisation der Güter
dieser Herrschaften zu Gunsten der Stadt G., die in diesen sehr zerstückelten Gebieten nur die
Niedergerichtsbarkeit ausübte, während sich die Stadt Bern bis 1564/67 und dann der Hzg. von Savoyen die
Hoch- und Appellationsgerichtsbarkeit sicherten.
Auch die militär. Lage dieser Dörfer gab Anlass zu Auseinandersetzungen. So wurde 1295 und 1336 in zwei
Verträgen zwischen dem Gf. von G. und dem Kapitel der Begriff der "gemeinsamen Verteidigung des
Vaterlandes" festgeschrieben: Obwohl die Hoch- und Niedergerichtsbarkeit über die Dörfer in der Hand des
Domkapitels lagen, war der Graf berechtigt, hier Männer zur Verteidigung seiner Burgen innerhalb der
Grafschaft auszuheben, wenn diese von einem seiner adligen Gegenspieler belagert wurden. Dagegen hatte
der Prior von Saint-Victor in den Dörfern des Priorats aufgrund eines 1302 zwischen dem Prior und dem
Grafen geschlossenen Vertrages das Recht, Reitertruppen zur Verteidigung seiner Güter auszuheben.
Autorin/Autor: Redaktion / GL
2.1.4 - Das Ende der bischöflichen Herrschaft
Nach Abschluss des Burgrechts mit Bern und Freiburg von 1526, durch das sich die Genfer Stadtbürger
allmählich vom Bischof emanzipierten, besonders aber nach dem Löffelkrieg 1530 (Löffelbund) und der mit
Hilfe bern. Truppen erfolgten Befreiung der durch Anhänger des Bischofs und des Hzg. von Savoyen
belagerten Stadt im Jan. und Febr. 1536 gingen die Dörfer in der Umgebung G.s in den Besitz der Stadt über.
Die Republik (bzw. Seigneurie) von G. trat die Nachfolge des Bf. Pierre de La Baume an, der die Stadt verliess,
noch bevor der Rat die Reformation angenommen hatte. Die Seigneurie schuf in den ehemaligen bischöfl.
Mandements Kastlaneien, ebenso in Gaillard, das bisher im Besitz des Hzg. von Savoyen gewesen war, und in
den zuvor dem Priorat Saint-Victor und dem Domkapitel unterstellten Dörfern. Überall führte sie die
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Reformation ein, nicht ohne auf erheblichen polit. und religiösen Widerstand Berns zu stossen, das sich einen
Teil der Besitzungen Karls III. von Savoyen einverleibt hatte.
Autorin/Autor: Redaktion / GL
2.2 - Die Republik (1536-1798)
2.2.1 - Umstrittene Gebiete (1536-1603)
Im Frühling 1536 war das heutige Kantonsgebiet aufgeteilt zwischen der Seigneurie G. und Bern, welches das
Pays de Gex und einen kleinen Teil des Genevois erobert hatte und vergeblich die Anerkennung seiner
Oberhoheit über die Stadt G. zu erlangen suchte. Dagegen musste G. den Bernern das Mandement Gaillard
und die Herrschaft Bellerive abtreten, indem es am 7.8.1536 ein sog. ewiges Abkommen unterzeichnete und
das Burgrecht von 1526 erneuerte. Die Beziehungen zwischen G. und Bern blieben angespannt, da sich die
beiden Städte um die Rechte auf die Güter des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels stritten. Ein erster
Vertrag, der 1539 geschlossen wurde und für G. sehr ungünstig war, rief eine schwere innere Krise hervor
(Articulans). Die Angelegenheit wurde 1544 im Abschied von Basel geregelt, der G. die Nutzungsrechte und
die niedere Gerichtsbarkeit in diesen Gebieten bestätigte. Schon 1538 hatte Bern Le Petit-Saconnex und
einige Gebiete an G. abgetreten, die diesem ermöglichten, die Vorstadt auf dem rechten Seeufer und auf der
Seite von Cologny und Chêne zu erweitern. Diese Vororte und die Vorstadt Saint-Gervais, die einzige, die
1530 nicht aus Sicherheitserwägungen heraus geschleift worden war, bildeten zusammen die sog. Freigüter
(Franchises). 1539 musste G. zu Gunsten Frankreichs auf das Mandement Thiez verzichten; Frankreich gab
das Gebiet den Nemours, einem jüngeren Zweig der Gf. von Savoyen, zurück. Das Territorium der Seigneurie
umfasste von da an (und bis zu den Verträgen von 1749 und 1754) die Stadt, die Freigüter, die Mandements
sowie Rechte an den ehem. Gütern des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels.
Nachdem Hzg. Karl III. von Savoyen 1536 von den Bernern und Frankreich gleichzeitig angegriffen worden
war, verlor er fast alle seine Besitzungen. Erst 1559 mit dem Vertrag von Cateau-Cambrésis erreichte sein
Sohn Emmanuel Philibert die Restitution eines Teils seines Herzogtums. Im Lausanner Vertrag 1564 gab Bern
dem Herzog das Pays de Gex und die Dörfer des Genevois zurück, ein Vorgang, der 1567 in die Tat umgesetzt
wurde. Zwar sah sich die Seigneurie G. nun erneut vom Herzogtum Savoyen eingekreist, doch konzentrierte
sich Emmanuel Philibert auf die Modernisierung seines Herzogtums und verzichtete darauf, G. anzugreifen.
1570 erleichterte ein als Modus vivendi bezeichnetes Abkommen den Handel zwischen G. und den Gebieten
des Herzogs. Um die Sicherheit G.s zu gewährleisten, schloss Bern 1579 mit dem franz. König Heinrich III. und
mit Solothurn ein Schutzbündnis ab. Dagegen scheiterten mehrere Versuche der Genfer, Mitglied der
Eidgenossenschaft zu werden. Denn Bern behielt sich lange das Recht vor, alleiniger Beschützer seines
Verbündeten zu sein, und die kath. Orte lehnten, nachdem sie sich mit dem Hzg. von Savoyen und der span.
Krone verbündet hatten, eine Aufnahme G.s in den Bund strikt ab.
Der Amtsantritt Karl Emmanuels im Jahr 1580 bedeutete das Ende der Ruhe. Der neue Herzog war aus
politischen wie aus religiösen Gründen entschlossen, G. zurückzuerobern. 1582 schlug eine Belagerung fehl,
und dieser Versuch verschaffte G. 1584 einen neuen Verbündeten, nämlich Zürich. Damit wurde das
Burgrecht mit Bern zu einer Dreierallianz erweitert. Karl Emmanuel entschloss sich daraufhin, zum Mittel der
Blockade zu greifen. In ihrer Existenz bedroht, wagte die Seigneurie G. den Krieg, nachdem ihr die Hilfe der
durch die Daux-Verschwörung alarmierten Berner sowie Frankreichs zugesagt worden war. Nach einigen
Anfangserfolgen der Berner und Genfer im April 1589 vermochte der Herzog die Situation zwar wieder zu
seinen Gunsten zu wenden, wurde dann aber auf andere Kriegsschauplätze gerufen (Kriege der Liga in
Frankreich). G., das bald tatkräftig von Frankreich unterstützt wurde, führte einen Kleinkrieg (z.B. 1590
Einnahme von Versoix), bis 1593 ein Waffenstillstand geschlossen wurde. Der franz.-savoy. Krieg, der im
Kontext des Konflikts zwischen Frankreich und Spanien zu sehen ist, wurde 1601 mit dem Vertrag von Lyon
beendet. G., welches das Pays de Gex 1590-1601 im Namen des franz. Königs besetzt und verwaltet hatte,
gelang es nicht, sich dieses zu sichern. Der Kg. von Spanien und der Papst wussten zu verhindern, dass das
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"Ketzernest" G. ein Gebiet behielt, das sie zum Katholizismus zurückführen wollten. Nur die Dörfer Aire-laVille, Chancy und Avully erhielten 1604 den Status von Gütern des Priorats Saint-Victor (G. hatte dort
beschränkte Souveränitätsrechte inne).
Im Dez. 1602 lancierte Hzg. Karl Emmanuel, der seine Pläne nicht aufgegeben hatte, einen
Überraschungsangriff auf die Stadt, die Escalade. Das Unternehmen des Herzogs scheiterte kläglich, und im
Frühling 1603 zogen die Genfer erneut ins Feld. Um einen neuen europ. Krieg abzuwenden, setzte der Papst
Karl Emmanuel unter Druck. Verhandlungen führten im Juli 1603 zum Vertrag von Saint-Julien (Frieden von
Saint-Julien). Dieser brachte die fakt. Anerkennung der Unabhängigkeit und Souveränität G.s und stellte den
Modus vivendi von 1570 wieder her.
Ungeachtet dieser Abkommen blieben die Lehns- und Steuerrechte verworren und die Genfer Besitzungen
zersplittert, so dass die Genfer Exklaven in den franz. und savoy. Gebieten ständig Gefahr liefen, von der
Stadt, von der sie wirtschaftlich und rechtlich abhängig waren, abgeschnitten zu werden. Im 18. Jh. brachte
der Austausch von Gebieten und Gerichtsbarkeiten mit Frankreich und dem Königreich Sardinien, der
Nachfolgerin des Herzogtums Savoyen, eine Verbesserung der Lage in den Mandements Peney (Pariser
Vertrag vom 15.8.1749) und Jussy sowie in einem Teil der Champagne (Vertrag von Turin vom 30.5.1754).
Aber erst nach dem Ende der franz. Herrschaft (1798-1814) erhielt G. nach langen Verhandlungen zwischen
den Alliierten und Frankreich am Wiener Kongress den territorialen Anschluss an die Eidgenossenschaft und
ein geschlossenes Gebiet mit klar definierten Grenzen, auf dem es uneingeschränkte Souveränität genoss.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
2.2.2 - Politische und administrative Einrichtungen
Mit der Einführung der Reformation 1536 vollzog G. eine sowohl politische als auch religiöse Revolution,
indem es sich von der geistl. und weltl. Macht des Bischofs befreite und eine unabhängige und souveräne ref.
Republik wurde. Wie die anderen Gesetzestexte, die während des ganzen Ancien Régime in Kraft waren,
bestätigten die 1543 eingeführten und 1568 revidierten Verordnungen über die Ämter und Beamten die
bestehenden polit. Institutionen (Generalrat, Syndics, Rat der Sechzig - früher Rat der Fünfzig -, Kl. Rat und
Rat der Zweihundert) und legten die Befugnisse der Beamten und ihren Wahlmodus fest. Diese Verordnungen
waren wesentlich durch die Ideen Calvins bestimmt.
Da jedoch die Edikte von 1543 von vornherein die Kompetenzen des Generalrats zu Gunsten der beiden
engeren Räte (Kl. Rat und Rat der Zweihundert) beschränkten, begünstigten sie oligarch. Tendenzen, die sich
im Verlauf des Ancien Régime zusehends verstärkten: Auch wenn der Generalrat die vier Syndics, den
Stadtrichter und seine Beisitzer sowie den Staatsanwalt wählte und sich zu jedem neuen Gesetz oder
wichtigen Entscheid in letzter Instanz äusserte, so geschah dies doch immer auf Anregung des Kl. Rats und
des Rats der Zweihundert. Ausserdem verlor er ab 1570 jede Befugnis zur Erhöhung oder Einführung von
Steuern als Notmassnahme in Krisensituationen.
Im Gerichtswesen büssten die örtl. Gerichte, die Kastlaneien, immer mehr an Autonomie gegenüber dem Kl.
Rat ein, der schwere Vergehen aburteilte. Ab Mitte des 16. Jh. wurden die Landbewohner durch die
Stadtbürger aus diesen Gerichten verdrängt. Einige wenige Lehnsherrschaften der Republik G. hielten sich bis
zur Revolution, so Châteauvieux und Confignon, Crest in Jussy (bis 1770) und Château des Bois (Turretin-Gut)
in Satigny sowie Bessinge.
Nachdem im 17. Jh. ein relativ ruhiges polit. Klima geherrscht hatte, gab es im 18. Jh. mehrere Phasen polit.
Wirren (Genfer Revolutionen). Sie veranlassten die Verburgrechteten und Verbündeten (Bern, Zürich,
Frankreich und Piemont-Sardinien) zu vermittelnden Eingriffen und wurden durch die Verurteilung oder
Verbannung zahlreicher Gegner der konservativen Regierung beendet. Von der Pierre-Fatio-Affäre (1707)
über die Wirren von 1734-38 und die Rousseau-Affäre mit ihren Folgen (1762-70) bis zur fehlgeschlagenen
Revolution von 1782 bemühten sich v.a. die Vertreter der "Bourgeoisie" bzw. in der zweiten Jahrhunderthälfte
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die Représentants, eine Reform des Wahlsystems durchzusetzen (Geheimwahl, Beschränkung der Zahl von
Mitgliedern aus derselben Fam. in den Räten), die Vorrechte des Generalrats wiederherzustellen und die
Unabsetzbarkeit der Räte aufzuheben. Auch wenn sie in einigen Punkten zum Ziel gelangten, machte das
durch Waffengewalt und unter Vermittlung der franz. Krone sowie der Patrizierregierungen Berns und Zürichs
auferlegte Pazifikationsedikt vom 21.11.1782 die meisten Errungenschaften bezüglich der Befugnisse des
Generalrats und der Erneuerung der engeren Räte und Magistraturen wieder zunichte.
Genfer Syndic-Familien im 18. Jahrhundert
Familie
Anzahl
Erste Wahl in Erste Wahl in
Syndics im 18. Aufnahme ins den Grossen
den Kleinen
Jh.
Bürgerrecht
Rat
Rat
1474
Erste Wahl
eines Syndic
Pictet
6
1559
1575
16. Jh.
Rilliet
6
Lullin
5
1484 vor Reformation
1590
17. Jh.
Du Pan
4
1488 vor Reformation
1541
16. Jh.
Trembley
4
1555
1561
1631
17. Jh.
De Grenus
4
1620
1632
1655
17. Jh.
Fatio
4
1647
1658
1705
18. Jh.
De Chapeaurouge
3
1468 vor Reformation vor Reformation vor Reformation
Gallatin
3
1510 vor Reformation
1562
17. Jh.
Le Fort
3
1565
1603
1642
17. Jh.
Turrettini
3
1627
1628
1696
18. Jh.
Lect
2
1473 vor Reformation vor Reformation
16. Jh.
Naville
2
1506
1773
18. Jh.
Favre
2
1508 vor Reformation vor Reformation
16. Jh.
Rigot
2
1509
1544
1551
16. Jh.
Mestrezat
2
1524
1570
1590
17. Jh.
Sarasin
2
1555
1562
1603
17. Jh.
Sales
2
1581
1658
1734
18. Jh.
Buisson
2
1609
1624
1656
17. Jh.
Sartoris
2
1610
1688
1704
18. Jh.
Bonet
2
1617
1618
1721
18. Jh.
Calandrini
2
1634
1635
1728
18. Jh.
Bonnet
2
1645
1665
1705
18. Jh.
14. Jh. vor Reformation vor Reformation vor Reformation
1709
Quellen:G. Favet, Les syndics de Genève au XVIIIe siècle, 1998, 66-67
Im 18. Jh. scheint auch der Generalrat die Genfer Bevölkerung nicht mehr wirklich vertreten zu haben. Die
religiösen Verfolgungen des 16. (Religionskriege) und 17. Jh. (Widerrufung des Edikts von Nantes) hatten dazu
geführt, dass sich zahlreiche Protestantische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Italien in G.
niederliessen. Mit der Zeit wuchs die Zahl derer an, die das Bürgerrecht nicht mehr erwerben konnten, so
dass immer mehr Flüchtlinge gezwungen waren, den Status einfacher Habitants beizubehalten. Zusammen
mit ihren Nachkommen, den Natifs, bildeten sie schliesslich den Grossteil der Bevölkerung. Wie die von JeanJacques Rousseau inspirierten Représentants für die Anerkennung der mit ihrem Bürgerstatus verbundenen
Rechte kämpften, erhoben bald auch die Natifs ihre Forderungen. Sie versuchten zunächst, ebenfalls in den
Genuss der wirtschaftl. Privilegien zu kommen, die den Bürgern (bourgeois) vorbehalten waren. Später
bestritten sie, von Voltaire unterstützt, die Berechtigung der polit. und sozialen Diskriminierungen, denen sie
unterworfen waren. Zwar brachten die Edikte von 1770 und 1782 diesbezüglich einige Milderungen und
beinhalteten sogar gewisse Fortschritte im Bereich der Strafjustiz und des Feudalrechts. Nichtsdestotrotz
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verhärtete sich die Politik der Verteidiger des Status quo, der sog. Négatifs, welche die Verbannung der Natifs
und Représentants, die Unterdrückung der Zirkel, die Beschränkung der Pressefreiheit sowie
dieVergrösserung der Militärgarnison anstrebten.
Der harte Winter von 1788-89 und die durch einen spektakulären Anstieg des Brotpreises hervorgerufenen
Unruhen liessen die Regierung noch schwerere Wirren befürchten: Das Edikt vom 10.2.1789 erlaubte den
Exilierten von 1782 die Rückkehr und machte verschiedene unpopuläre Massnahmen, die im selben Jahr
ergriffen worden waren, rückgängig. Aber die Versöhnung dauerte nur kurze Zeit. Unter dem Druck neuer
Forderungen der Natifs, denen sich die Untertanen der Landschaft angeschlossen hatten, unternahm die
Regierung grosse, aber letztlich vergebl. Anstrengungen, um Institutionen und Gesetze zu reformieren (1791
Du-Roveray-Edikt und -Code). Ermutigt durch das revolutionäre Frankreich - dessen Truppen Savoyen
eroberten, das im Sept. 1792 zum franz. Departement wurde - gelang den Gegnern der aristokrat. Regierung
die Einigung. Im Dez. 1792 brachten sie die Stadt in ihre Gewalt; ihr erstes Dekret über die polit. Gleichheit
aller Citoyens, Bourgeois, Natifs, Habitants und Untertanen setzte dem Ancien Régime ein Ende. Am
28.12.1792 wurde die Auflösung des Kl. Rats und die Bildung zweier provisor. Ausschüsse proklamiert, die
diesen ersetzten (Egaliseurs). Die Vertreter der gemässigten Richtung wurden sehr bald von einigen Klubs in
den Hintergrund gedrängt, deren Mitglieder selbst vor Gewalt nicht zurückscheuten und extremen
Massnahmen das Wort redeten. So setzten sie 1793 die Leistung eines obligator. Zivileids, im Sommer 1794
die Einrichtung zweier Revolutionsgerichte zur Aburteilung sog. Volksfeinde und später die Erhebung einer
ausserordentl. Vermögenssteuer durch, welche die Aristokraten empfindlich treffen sollte. Unterdessen hatte
die Verfassung vom 5.2.1794 erstmals die Gewaltentrennung, die Volkssouveränität und die direkte
Demokratie eingeführt. Die eigenständige Entwicklung wurde jedoch jäh unterbrochen: G. wurde am
15.4.1798 von franz. Truppen besetzt und gezwungen, um den Anschluss an Frankreich zu ersuchen.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3 - Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bis ins 18. Jahrhundert
3.1 - Wirtschaft
3.1.1 - Landwirtschaft
Die Genfer Landwirtschaft des Ancien Régime war von kleinen und mittleren Gütern geprägt, die in
Eigenwirtschaft und nach dem Grundsatz der Mischkultur betrieben wurden. Getreidefelder, Weideland für
das Vieh und Rebberge nahmen den grössten Teil der verfügbaren Nutzfläche ein. In den Vororten allerdings
herrschten Obst- und Gemüsegärten vor, deren Erträge für die städt. Märkte bestimmt waren. Als Reaktion
auf die Preisentwicklung reduzierten die Landbesitzer im 18. Jh. ihre Rebflächen zu Gunsten des
einträglicheren Ackerbaus und der Viehzucht. Bedingt durch die Kleinheit seines Territoriums gelang es G.
nie, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung durch Eigenproduktion abzudecken; es musste das Getreide aus den
nahe gelegenen Gebieten Savoyens und Frankreichs, mitunter aber auch aus entfernteren Regionen
importieren, eine Aufgabe, mit der ab 1628 die Kornkammer betraut war. Mit Ausnahme des Hanfs und der
Wolle, welche die Bauern für den eigenen Haushalt produzierten und zu Textilien verarbeiteten, eines
bescheidenen Quantums an Seidenfaden - sporadisch wurden Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht
angepflanzt - und der in der Gerberei verwendeten Baumrinde gab es in G. keine Produkte, die den örtl.
Manufakturen (Leinen, Pastellfarben, Krapp) zugute gekommen wären.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.1.2 - Handel und Handwerk
Als Stadt der Messen und als Finanzplatz trieb G. im MA v.a. Handel, während seine bescheidene handwerkl.
Produktion in erster Linie für den lokalen und regionalen Markt bestimmt war. Der Zustrom von Flüchtlingen
ab 1550 veränderte jedoch das Spektrum des Gewerbes stark: Während die Leder-, Metall- und
Holzverarbeitungsbetriebe sowie das Baugewerbe hauptsächlich wegen des Bevölkerungszuwachses eine
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gewisse Bedeutung behielten, wurde das lokale und regionale Gewerbe durch die Textilindustrie (Fäden,
Seidenstoffe und -bänder, Wollstoffe), das Druckereigewerbe und die Fabrique (Goldschmiedekunst und
Uhrmacherei) zurückgedrängt, die v.a. für den Export produzierten. Die neuen Kaufleute teilten ihre Tätigkeit
häufig zwischen Vertrieb und Herstellung von Büchern, Wollwaren und Seidenerzeugnissen auf. In den von
ihnen finanzierten und im Verlagssystem organisierten Fabrikationsprozessen übertrugen diese Unternehmer
die versch. Arbeitsschritte den entsprechenden Handwerkern, die ihrerseits bis 1798 in Zünften organisiert
waren.
Im 17. und 18. Jh. wandelte sich die Struktur der Textilwirtschaft. Die Seidenindustrie konzentrierte sich auf
die Herstellung von Fäden, Borten und Spitzen aus Gold (Golddrahtzieherei) sowie auf das maschinelle Wirken
von Strumpfwaren, während sich die Handwerker des Tuchgewerbes auf die Veredelung importierter
Textilwaren spezialisierten, die sie sowohl färbten als auch schoren und kräuselten. Am Ende des Ancien
Régime bildeten der Zeugdruck mit seinen handbedruckten Stoffen, die zwischen 1690 und 1830 in am
Stadtrand gelegenen Fabriken produziert wurden, und die Fabrique, die nunmehr die Uhrmacherei
(Uhrenindustrie), die Goldschmiedekunst (Gold- und Silberschmiedekunst), die Juwelierkunst (Bijouterie) und
zahlreiche verwandte Gewerbe umfasste, die dynamischsten Sparten der Genfer Wirtschaft. Da die
Flüchtlinge techn. Fachkenntnisse, Kapitalien und zahlreiche Arbeitskräfte - insbesondere Frauen und Kinder mitbrachten, spielten sie eine ausserordentlich wichtige Rolle für die Entwicklung dieser Wirtschaftszweige,
auch wenn die lokalen Bürger sich lange Zeit das Recht auf die Ausübung gewisser Handwerke und
prestigeträchtiger Berufe vorbehielten und sich die Zünfte vorgeschlagenen Neuerungen nicht immer
anzupassen verstanden.
Mit ihren Kenntnissen des internat. Handels- und Bankennetzes ermöglichten es die franz. und ital. Kaufleute
den Genfern, eine beneidenswerte Position im Grosshandel (Lagerhandel) und der "hugenottischen
Internationale" zu erringen. Dank Niederlassungen in Frankreich, England und den Niederlanden sowie der
Finanzierung von Firmen in Übersee und weit verzweigter Gesellschaften (z.B. im Indienne- und
Baumwollhandel) erarbeiteten sie sich beträchtl. Vermögen. Für manche Geschäftsleute endeten solche
Finanzspekulationen - insbesondere umfangreiche Investitionen in ausländ. Staatsanleihen (Leibrenten,
Lotterien, Lebensversicherungen, Solidarnoten) stellten ein grosses Risiko dar - in Aufsehen erregenden
Bankrotten. Solche Konkurse zogen regelmässig einen Teil der arbeitenden Stadtbevölkerung in
Mitleidenschaft. Vom Ende der 1780er Jahre an verschlechterten sich die wirtschaftl. Rahmenbedingungen,
wobei neben der allg. Tendenz zum Protektionismus, den Revolutionswirren und -kriegen, dem Debakel der
franz. Assignaten, den hohen Rohstoff- und Warenpreisen v.a. der Zusammenbruch des ganzen
Rentensystems, die Schliessung der europ. Märkte und eine Serie von Konkursen eine Rolle spielten. Das
Bankwesen, der Handel und das Handwerk in G. stürzten in eine Krise, von der sie sich erst nach Jahrzehnten
erholten.
Die Zufälligkeiten der in dieser Epoche heftigen Konjunkturschwankungen vermögen die Strukturschwächen
der glanzvollen Genfer Wirtschaft des 18. Jh. nicht zu verdecken. Einerseits war diese fast ausschliesslich auf
städtische und somit teure Arbeitskräfte angewiesen (auch wenn die Löhne im 18. Jh. stagnierten).
Andererseits hing sie hinsichtlich der Rohstoffe und Absatzmöglichkeiten von fernen Märkten ab und war
damit der Zollpolitik fremder Mächte unterworfen. In der Hoffnung auf hohe Spekulationsgewinne wurden
zudem die Edelmetalle und Kapitalien zusehends ins Ausland abgezogen. Unter dem Einfluss der Zünfte
wurden schliesslich tendenziell v.a. Innovationen gefördert, die auf eine Verbesserung der Produktequalität
und eine Erhöhung der Gewinnmargen abzielten, während Produktivitätssteigerungen in der Regel
unterblieben. Die Erzeugnisse der Genfer Wirtschaft erwiesen sich deshalb oft als zu teuer oder - im Fall einer
entsprechenden ausländ. Konkurrenz - gar als unverkäuflich.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.2 - Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung
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Bevölkerungszahlen für das heutige Gebiet des Kt. G. sind erst ab dem 15. Jh. bekannt; die weiter
zurückgehenden Daten der Pfarreivisitationen der Diözese G. sind nicht überliefert. Das Mandement Jussy
wies 1412-13 60 Feuerstätten, 1481-82 64 und 1516-18 60 auf. Im Mandement Peney (ohne Satigny) wurden
in denselben Perioden 74, 61 und 68 Feuerstätten gezählt, in Céligny 18, 11 und 14. In den Jahren 1516-18 die Daten der früheren Visitationen sind zu lückenhaft, um hier einbezogen zu werden - wurden auf dem
Gebiet der späteren Communes réunies 166 zum Pays de Gex und 585 zu Savoyen gehörende Feuerstätten
gezählt. Der Schätzwert für die ganze Genfer Landschaft Anfang des 16. Jh. liegt somit bei etwas mehr als
1'000 Feuerstätten, was ca. 4'000 bis 5'000 Einwohnern entsprechen dürfte.
Die Bevölkerung der Stadt G. betrug Schätzungen zufolge im Jahr 1300 4'000 Einwohner, 1359 2'000, 1407
4'000 und 1464 9'400; diese Zunahme war weitgehend durch den wirtschaftl. Aufschwung bedingt. Die
Massnahmen, die der franz. König 1462 gegen die Genfer Messen einleitete, trugen zum Ende dieser positiven
Entwicklung bei. Bis zur Ankunft der franz. und ital. Glaubensflüchtlinge um 1550, als G. etwa 13'100
Einwohner zählte, befand sich die Stadt in einer schwierigen Lage. Dank der neuen Produktionsstrukturen,
welche die Exilierten aufbauten, stieg die Bevölkerung in der 2. Hälfte des 16. Jh. zunächst stark an (1580
etwa 17'300 Einwohner); nur wenig später verlor die Stadt aber infolge mehrerer Pestepidemien, Hungersnöte
sowie lokaler und internationaler militär. Konflikten wieder einen Teil ihrer Bevölkerung (1590 14'400
Einwohner). Nach einer besonders günstigen Periode um die Jahrhundertwende war das 17. Jh. nach den
Pestjahren von 1615 und 1616 durch einen markanten Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet; um 1650 lag
die Bevölkerungszahl bei ca. 12'700 Einwohnern und entsprach damit in etwa dem Stand, den die Stadt schon
um die Mitte des 16. Jh., also vor dem Eintreffen des ersten Flüchtlingsstroms, erreicht hatte. Bedingt durch
die einsetzende wirtschaftl. Erholung und die Ankunft zahlreicher hugenott. Einwanderer mit der zweiten
Flüchtlingswelle vor und nach der Widerrufung des Edikts von Nantes (1700 17'500 Einwohner) nahm die
Stadtbevölkerung dann bis zum Vorabend der Revolution von 1792 kontinuierlich zu (1790 27'400
Einwohner). Die Rezession, welche die wirtschaftl. Entwicklung während der Revolutionszeit und den Jahren
unter franz. Herrschaft als Folge der internationalen polit. Konflikte und Unruhen prägte, schlug sich in einer
erneuten Abnahme der Stadtbevölkerung nieder (1800 24'500 Einwohner); danach stagnierten die
Einwohnerzahlen, bis das spektakuläre Bevölkerungswachstum des 19. Jh. einsetzte.
Nach der Zerstörung der Vorstädte aus Sicherheitserwägungen kurz vor der Reformation wohnte der grösste
Teil der Genfer Bevölkerung während fast des ganzen Ancien Régime innerhalb der Befestigungsanlagen. Die
Ansiedlung der Flüchtlinge im 16. und 17. Jh. erfolgte deshalb unter schwierigen Bedingungen. Zahlreiche
Häuser mussten aufgestockt werden, um die zusätzl. Bewohner aufnehmen zu können, während die nicht
bebauten, teilweise als Kulturland oder Weiden für Kleinvieh genutzten Flächen neuen Gebäuden und
namentlich Gewerbebauten (Werkstätten, Mühlen, Trocknungsflächen) weichen mussten. Unter dem
demograf. Druck und parallel zur Wartung und Verstärkung des Befestigungssystems (1717-27) wurden die
Vorstädte in Plainpalais, Les Eaux-Vives, Le Pâquis und später in Richtung Châtelaine und Le Petit-Saconnex
langsam wieder aufgebaut.
Es ist bekannt, dass im 18. Jh. die Landschaft (Mandements) von Bauern und Handwerkern (darunter
zahlreiche Uhrmacher) dicht besiedelt war (nahezu 100 Bewohner/1 km2). Die städt. Gutsbesitzer, von denen
einige sich für die Landwirtschaft begeisterten, hielten sich hier zeitweilig auf, um ihre Güter zu verwalten und
das Einbringen der Ernte zu beaufsichtigen. Über die Landbevölkerung, die sich auf einige Dörfer und Weiler
der Seigneurie G. verteilte, ist vor dem Ende des Ancien Régime allerdings wenig bekannt. 1797/98 zählte sie
4'432 Personen, d.h. 400 weniger als in den Freigütern.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.3 - Gesellschaft
In dem Masse, wie es für die Flüchtlinge des 16. Jh. leichter wurde, das Bürgerrecht zu erwerben, in den
Generalrat und schliesslich sogar in die engeren Räte aufgenommen zu werden, integrierten sie sich in die
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Genfer Gesellschaft und übernahmen zahlreiche Funktionen. Ganz anders präsentierte sich im 17. Jh. die
Situation der Hugenotten, die nach der Widerrufung des Edikts von Nantes aus Frankreich vertrieben worden
waren. Nicht nur wurde der Preis des Bürgerrechts zunehmend unerschwinglich, dieses öffnete auch nicht
mehr ohne weiteres den Zugang zu öffentl. Ämtern. Ausserdem hatte sich auch der Status der Habitants
bedeutend verschlechtert. Die Gewichte zwischen verschiedenen sozialen Klassen verschoben sich bis ins 18.
Jh. erheblich: Gegenüber der nunmehr sehr exklusiven Gruppe der Citoyens und Bourgeois, die alle polit.
Rechte und wirtschaftl. Privilegien genossen, entwickelten sich die zwei rasch wachsenden Klassen der
Habitants und der Natifs; Erstere waren Fremde, die in der Stadt wohnen und arbeiten durften, Letztere deren
in G. geborenen Söhne und Nachkommen. Diese beiden Kategorien, denen hauptsächlich Handwerker aus
den dem Uhrmachergewerbe verwandten und niederen Berufen, aber auch engagierte Intellektuelle, Pfarrer
und Meister der Berufe der Fabrique angehörten, erwiesen sich als besonders rührig und tatkräftig. Denn
einerseits besassen die Habitants und Natifs keine polit. Rechte, andererseits wurden sie aufgrund ihres
"Nichtbürgerstatus" auch in ihren wirtschaftl. Aktivitäten durch zahlreiche Hemmnisse und Steuerabgaben
behindert. Da sie zudem in der Regel weniger begütert und schlechter ausgebildet waren als die Bourgeois
und Citoyens, gelangten sie nur in Ausnahmefällen zu Ämtern, Ehren, angesehenen Berufen und
gewinnbringenden Tätigkeiten. Nach den Wirren von 1782 gewährte die konservative Regierung den
Habitantenstatus nur noch selten, da sie der steigende Einfluss dieser Klasse beunruhigte. Sie schuf
stattdessen für die von den lokalen Manufakturen benötigten Arbeitskräfte die neue Kategorie der
Domizilanten. Diese vorzugsweise unverheirateten und von der Fremdenkammer streng überwachten
Zuwanderer erhielten eine temporäre Aufenthaltsbewilligung, die zwar erneuerbar, aber nicht auf
Nachkommen übertragbar war.
Die Landbewohner, Untertanen der Seigneurie G., hatten ebenfalls keine polit. Rechte. Einigen von ihnen
gelang es, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu verschaffen, indem sie sich den (teilweise auf das MA
zurückgehenden) Dorfgemeinden anschlossen, die der Gerichtsbarkeit und Aufsicht der Kastlane - vom Rat
der Zweihundert ernannten Gerichtsbeamten - unterstanden. Der diesen Gem. vorstehende Prokurator übte
jedoch nur Verwaltungsfunktionen aus. Im Vergleich zu den einfachen Habitants waren die Dorfgenossen
privilegiert, auch wenn für sie die von der Stadt ausgeübte Schutzaufsicht im 18. Jh. sehr drückend wurde. Ab
1790 forderten schliesslich auch die Untertanen, angeführt vom Anwalt Jacques de Grenus, die polit.
Gleichstellung.
Die in den Exklaven lebenden Bauern, die häufig zum Verkauf ihrer Produkte in der Stadt angehalten wurden,
waren insofern benachteiligt, als sie franz. oder savoy. Gebiet durchqueren mussten. Sie benötigten dazu
Transitbewilligungen und Ursprungszertifikate für ihre Waren und setzten sich dem Risiko von Angriffen und
Beschlagnahmungen aus. Ihre Weinverkäufe wurden streng reglementiert, der Salzhandel war ihnen
untersagt.
Die Revolution im Dez. 1792 proklamierte die polit. und rechtl. Gleichstellung aller Bevölkerungskategorien.
Bekräftigt wurde diese in der Verfassung vom 5.2.1794 (Egaliseurs). Fortan teilte sich die männl. Bevölkerung
in der Stadt wie der Landschaft nur noch in Citoyens - ein Begriff, der nach damaliger Auffassung
Nichtreformierte und Frauen ausschloss - und Fremde, wobei Letztere einer sehr restriktiven Aufnahmepolitik
unterzogen wurden.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.4 - Religion
3.4.1 - Das religiöse Leben im Mittelalter
Während die Stadt G. Bischofssitz war, mehrere Pfarrkirchen zählte und zahlreiche Klöster beherbergte, war
die Landschaft weniger reich dotiert (Benediktinerpriorat in Satigny, Zisterzienserinnenabtei in Bellerive). Der
Cluniazenserorden und insbesondere das Priorat Saint-Victor halfen, die Kirche und das Pfarreileben in den
Herrschaften zu stärken und zu strukturieren. Zwischen 1093 und 1099 bestätigte Bf. Guy de Faucigny der
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Abtei Cluny den Besitz einer Reihe von Filialpfarrkirchen von Saint-Victor, von denen einige, u.a. Draillant,
Bonneguête und Vaulx (alle im heutigen Dep. Haute-Savoie gelegen), Priorate wurden. Im Genfer Becken, in
den Landschaften wie in den Alpentälern, erlebte das Klosterwesen im 12. Jh. einen starken Aufschwung:
Kartäuser, Zisterzienser und Augustinerchorherren fanden hier einen Zufluchtsort, der ihrer kontemplativen
Lebensweise entsprach. Keines ihrer Klöster befand sich jedoch auf heutigem Kantonsgebiet.
Autorin/Autor: Redaktion / GL
3.4.2 - Reformation
Die ersten Anzeichen reformator. Ideen in G. zeigten sich 1521 in der Gruppe um den Arzt Heinrich Cornelius,
genannt Agrippa von Nettesheim, Leser der Werke von Erasmus und Lefèvre d'Etaples. Dt. Händler
verbreiteten die Lehren Martin Luthers, die ab 1525 von einigen Genfer Kaufleuten übernommen wurden.
1532 predigte der von Bern protegierte Guillaume Farel in G., und trotz anfängl. Schwierigkeiten entstand
eine ref. Gemeinde in der Stadt. Der erste öffentliche ref. Gottesdienst wurde 1533 abgehalten, und 1534
schritten die Reformierten zur Offensive (Raufereien mit Katholiken, Plünderungen von Klöstern und Kirchen).
Von da an unterstützte ein grosser Teil der Bevölkerung die Reformation. Das Vakuum, das nach der Flucht
des Bf. Pierre de la Baume (Aug. 1533), dem Wegzug zahlreicher Priester, Domherren und Konventualinnen
sowie der Abschaffung der Messe (Aug. 1535) durch den Rat der Zweihundert entstanden war, erlaubte
Reformatoren wie Farel oder Antoine Froment die ungehinderte Verkündigung des neuen Glaubens. Am
21.5.1536 bekräftigte das im Generalrat versammelte Volk feierlich seinen Willen, nach dem evang. Gesetz
und dem "Wort Gottes" zu leben. Dabei genoss es den militär. Schutz der Berner, die soeben die Waadt, das
Pays de Gex und das Chablais erobert hatten.
Als Johannes Calvin einige Monate später auf der Durchreise in G. weilte, wurde er von Farel zurück gehalten;
endgültig liess sich Calvin hier aber erst 1541 nieder, in dem Jahr, in dem er die von seinem 1536
veröffentlichten Werk "Institutio Religionis Christianae" inspirierte Kirchenordnung (Ordonnances
ecclésiastiques) verfasste. Diese am 20.11.1541 vom Generalrat angenommene Ordnung regelte das
Kirchenleben, indem sie vier Ämter schuf, nämlich das der pasteurs (Pfarrer), der docteurs (Lehrer), der
anciens (Ältesten) und der diacres (Diakonen). Die Compagnie des pasteurs, der sämtl. Pfarrer der Stadt und
der Landschaft angehörten, befasste sich mit Fragen der Doktrin wie mit den Beziehungen zu den weltl.
Behörden und den auswärtigen Kirchen. Den Lehrern oblag die Ausbildung zum Priesteramt und zu den zivilen
Ämtern; das Kollegium und die Akademie wurden 1559 im Hinblick auf diese Aufgabe gegründet.
Grundschulen vermittelten von nun an Kindern, insbesondere Knaben, elementaren Unterricht. Die 1736 gegr.
Gesellschaft der Katecheten förderte überaus erfolgreich die Alphabetisierung der versch.
Bevölkerungsschichten. Die Ältesten bildeten das aus Pfarrern und Laien zusammengesetzte Konsistorium
(Sittengerichte), das beauftragt war, das Verhalten der Gläubigen zu überwachen und sie bei Verstössen zur
Rechenschaft zu ziehen. Diese Art von Sittengericht konnte jedoch nur kirchl. Strafmassnahmen wie etwa den
Ausschluss vom Abendmahl verhängen; in Fällen, die strafrechtl. Sanktionen nach sich zogen, wurde der
Schuldige dem Kl. Rat überantwortet. Die Aufgaben der Diakone (Armen- und Krankenpflege) entsprachen
jenen der Prokuratoren des Hôpital général, das im Nov. 1535 durch den Zusammenschluss aller ehemaligen
ma. Spitäler geschaffen wurde. Calvin und die Reformatoren machten G. zum Zentrum des Protestantismus;
bildhaft bringt diese Entwicklung die Bezeichnung "protestantisches Rom" zum Ausdruck, die bereits im 16.
Jh. für G. verwendet wird.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.4.3 - Kirche und Gesellschaft
Man hat Calvin vorgeworfen, er habe die Kirche und die Pfarrer mit zu viel Macht ausgestattet; es sei jedoch
daran erinnert, dass diese keinen Einsitz in den Räten hatten. Als scharfsinniger Jurist verstand es Calvin, ein
Gleichgewicht zwischen der kirchl. Autorität und der weltl. Macht zu bewahren. So kam den Verwarnungen
und Massnahmen des Konsistoriums zwar ein hoher Stellenwert zu, doch in letzter Instanz wurden die
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Entscheidungen über Rechtsfragen wie über Ehefragen im Kl. Rat gefällt. Auch wenn es zu Lebzeiten Calvins
oder seines Nachfolges Théodore de Bèzes Vertretern der Compagnie des pasteurs im Rat manchmal gelang,
mit Protesten die Regierung zu beeinflussen, so verloren solche Interventionen in den folgenden
Jahrhunderten mehr und mehr an Gewicht. Im 18. Jh. neigten die Räte sogar dazu, kirchl. und eherechtl.
Entscheidungen zu treffen, ohne das Konsistorium zu konsultieren. Dessen Autorität wurde mehr und mehr
bestritten, sowohl von den Konservativen als auch von den Anhängern Voltaires und Rousseaus. Dies
veranlasste nach der Revolution von 1792 die neuen Machthaber dazu, dem Konsistorium einen Teil seiner
Befugnisse zu entziehen.
Die 1558 eingeführten Sittenmandate, die übrigens keine Erfindung des Calvinismus waren, sollten den
Konsum unter Wahrung der gesellschaftl. Hierarchien beschränken. Sie spielten eine wichtige Rolle in der
Kontrolle des "Luxus" durch das Konsistorium und später durch die 1646 geschaffene, aus Laien
zusammengesetzte Reformationskammer. Die Mandate enthalten peinlich genaue Vorschriften bezüglich
Kleidung, Tragens von Schmuck, Trauerkleidung, Hochzeits- und Taufessen, aber auch bezüglich Möbel und
dekorativer Wertgegenstände. Sie wurden - verteidigt von Aristokraten wie merkwürdigerweise auch von
Verfechtern einer egalitären Gesellschaft - bis zum Ende des Ancien Régime immer wieder erneuert.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.5 - Kultur
Die Genfer Akademie zog im 16. Jh. Studenten aus ganz Europa an. Zunächst verschafften v.a. die Theologen
und Philosophen (Jean-Alphonse Turrettini, Jean-Robert Chouet) der Calvinstadt einen guten Ruf in der
Geisteswelt. Im 18. Jh. genossen Genfer Rechtstheoretiker (Jean-Jacques Burlamaqui), Mathematiker und
Naturforscher (Jean-Louis Calandrini, Gabriel Cramer, Horace Bénédict de Saussure und Charles Bonnet)
grosses wissenschaftl. Ansehen.
Die Kontrollinstanzen, die in G. Sitten, Konsum und Alltag der Menschen überwachten, begünstigten die
Entwicklung der Schönen Künste nicht. So wandten die Genfer ihre künstler. Talente v.a. als Handwerker,
Graveure, Miniaturisten und Emailmaler in Uhrmacher-, Goldschmiede- und Juwelierwerkstätten an. Ende des
Ancien Régime wurde das Klima der künstler. Ausdruckskraft förderlicher und einige einheim. Künstler, die
sich grossenteils im Ausland hatten ausbilden lassen und von lokalen Mäzenen und Kunstliebhabern
unterstützt wurden, erlangten eine gewisse Berühmtheit. Dazu gehören etwa Jean-Etienne Liotard, Jean-Pierre
Saint-Ours, Marc-Théodore Bourrit, Pierre-Louis De la Rive, Wolfgang-Adam Töpffer, Firmin Massot und
Jacques-Laurent Agasse.
Im Bereich des Schauspiels brach die Reformation ebenfalls radikal mit den Zerstreuungen, die der
Bevölkerung im MA geboten worden waren. Das Theater beschränkte sich im 16. Jh. auf religiöse und polit.
Themen sowie auf ein paar Stücke, die bibl. oder allegor. Gestalten, v.a. fiktive und beim Abschluss von
Burgrechtsverträgen beschworene Figuren, auf die Bühne brachten. Erst in der 2. Hälfte des 18. Jh., nach der
Debatte über die Rolle des Theaters, welche die Enzyklopädisten und Rousseau ausgetragen hatten, wurde vielleicht auch als Folge einer gewissen Verbreitung der Stücke Voltaires, die dessen Anhänger im privaten
Kreis aufführten - das Spektrum der Vorstellungen in G. allmählich breiter. Nach der gescheiterten Revolution
von 1782 wurde das Théâtre de Neuve gebaut, um die ausländ. Truppen zu unterhalten und die mittlerweile
verbotenen Zirkel zu ersetzen. Diesem Theater ging es allerdings mehr darum, die Leidenschaften einer als zu
aufgeregt erachteten Bevölkerung zu dämpfen, als sie mit Kultur und Literatur vertraut zu machen. Das
Genfer Theater entsprach somit demjenigen, das Rousseau propagierte. Dieser plädierte für Bürgerfeste, die
das Volk nicht von seinen Pflichten ablenken, sondern es in seinen Überzeugungen bestärken sollten.
Im Hintergrund spielte der Genfer Buchdruck, der schon Ende des 15. Jh. einen guten Namen besass und nach
der Reformation durch die Zuwanderung exilierter franz. und ital. Buchhändler weiteren Auftrieb erhielt, eine
wichtige Rolle für die - oftmals geheime - Verbreitung reformator. Gedankenguts. Sehr bald wurde die
Produktion diversifiziert zu Gunsten von Ausgaben der griech. und röm. Klassiker sowie von Werken über
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Geschichte, Geografie, Medizin und Recht. Um der Lyoner Konkurrenz standzuhalten, kombinierten die Genfer
Unternehmen Druckerei und Vertrieb und produzierten ausländ. Werke für die wichtigsten Märkte
Westeuropas. Nach der glückl. Periode, in der die "Encyclopédie", niederländ. Gazetten und Werke von
Montesquieu, Rousseau, Voltaire und dem Abbé Raynal veröffentlicht wurden, machte das Genfer
Verlagswesen um 1780 dem Buchhandel Platz. Die wenigen Druckereien, die noch tätig waren, widmeten sich
fortan der Veröffentlichung von Schulbüchern und Zeitschriften, deren berühmteste um die Jahrhundertwende
die Bibliothèque britannique war. Sie profitierten letztlich auch von der Broschürenflut, welche die polit.
Wirren am Ende des Ancien Régime und die Ideendebatten nach sich zogen, in denen sich die Représentants
und die Natifs auf der einen, die konservative Regierung auf der anderen Seite gegenüberstanden.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.6 - Die savoyischen und französischen Gebiete
3.6.1 - Wechselnde Obrigkeit
Die vom Hzg. von Savoyen 1536 verlorenen Gebiete waren bis zu ihrer Rückgabe 1567 Untertanengebiete
Berns. Ein auf sechs Jahre eingesetzter Berner Landvogt sass im Schloss Gex, in der Kommende von
Compesières für die Vogtei von Ternier und in Gaillard. Im Allgemeinen respektierte Bern die alten Rechte und
stützte sich auf sog. Communages (Genossenschaften) und Burgerschaften. Nach 1567 fiel die
Gerichtsbarkeit in vielen Dörfern an die örtl. Grundherren. Berufungsinstanz war der Senat von Savoyen in
Chambéry. 1760 setzte ein Edikt in allen Pfarreien einen Gemeinderat ein, der von einem Syndic präsidiert
wurde. Die Gemeindeautonomie war in diesen dem Königreich Sardinien unterstellten, entweder zum
Chablais oder zum Genevois gehörenden Dörfern stärker ausgeprägt als in den der Seigneurie unterstellten
Landgemeinden. Ende des 18. Jh. gründete die sardin. Monarchie die Stadt Carouge, die G. konkurrenzieren
sollte.
Das Pays de Gex, das 1601 französisch wurde, war von da an eine Vogtei (baillage) Burgunds, seinerseits ein
Pays d'états. Öffentl. Versammlungen der Landvogtei verliehen den Vertretern der ländl. Gemeinden gewisse
Rechte, insbesondere das Stimmrecht in Fragen der Besoldung von Magistraten und Beamten.
1550 zählten die sieben Gem. des Pays de Gex, die 1815 dem Kt. G. zugeschlagen wurden, 357 Feuerstätten,
wovon 68 oder rund 1'500 Einwohner auf die kleine Stadt Versoix entfielen. Bei ihrer Vereinigung mit der
Schweiz betrug ihre Einwohnerzahl 3'350. Die savoy. Gemeinden, die Piemont-Sardinien abtrat, zählten 1816
12'700 Einwohner.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
3.6.2 - Rekatholisierung
1536 führten G. und Bern in den eroberten Gebieten die Reformation ein - beide gemäss ihren eigenen
Vorstellungen über die Rolle der Kirche und der Liturgie. Die Berner Kirche war in Klassen organisiert, im
Genfer Gebiet in die Klasse von Gex (13 Pfarreien, darunter Le Grand-Saconnex und Versoix) und diejenige
von Ternier. Die Kirchgenossen wurden durch ein lokales Konsistorium kontrolliert, das dem Berner
Oberchorgericht unterstellt war. Nach 1544 gewann G. 14 Pfarreien der ehem. Gebiete des Priorats SaintVictor und des Domkapitels zurück.
Mit dem Lausanner Vertrag von 1564 erreichte Bern, dass der Hzg. von Savoyen den ref. Kultus in den ihm
zurückerstatteten Gebieten weiterhin duldete. Karl Emmanuel beschränkte 1589 die Zahl der Gotteshäuser,
so dass eines in Ternier und zwei in Gex übrig blieben. Der Frieden von Vervins (1598) hob schliesslich die
Bedingungen auf, die vorher die Souveränität des Herzogs in den abgetretenen Landvogteien eingeschränkt
hatten. Die Rekatholisierung, die 1590 von Franz von Sales begonnen wurde, schritt im Chablais dank der
Kapuzinermission voran. Im Pays de Gex reorganisierte G. 1590 die ref. Kirchgemeinden, eine Aufgabe, mit
der die Compagnie des pasteurs betraut wurde. Das Edikt von Nantes von 1598 war für diese Landvogtei ab
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1601 in Kraft. Die Protestanten mussten die Katholiken als Nachbarn und Mitbewohner akzeptieren und ihnen
Kirchen, Friedhöfe, Pfarrhäuser und Einkünfte zurückerstatten. Sie behielten jedoch die Mehrheit bis 1662, als
Ludwig XIV. den ref. Kultus verbot und die Gotteshäuser mit Ausnahme derjenigen von Sergy und Ferney
abreissen oder schliessen liess. Den Endpunkt dieser Entwicklung bildet die Widerrufung des Edikts von
Nantes im Jahr 1685, welche die Protestanten vor die Wahl stellte, entweder zu konvertieren oder zu
emigrieren. Schliesslich musste die Seigneurie nolens volens akzeptieren, dass der Resident Frankreichs,
dessen Posten ab 1679 unbefristet war, in seinem Stadthaus in G. die Messe feiern liess.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
4 - Das politische Leben in Genf im 19. und 20. Jahrhundert
4.1 - Unter französischer Herrschaft (1798-1814)
4.1.1 - Politik und Verfassung
Die Annexion G.s durch Frankreich, die von der Mehrheit der Genfer befürchtet und bekämpft, von den
Anhängern des Anschlusses an die Grande Nation aus dem Umkreis des franz. Residenten Félix Desportes
hingegen ersehnt worden war, wurde mit dem Vereinigungsvertrag vom 26.4.1798 besiegelt. Ihr waren mit
der kontinuierl. Einschliessung der Stadt im Zug der Eroberungen des Direktoriums und mit deren militär.
Besetzung eine Reihe diplomat. Zwischenfälle und schikanöser Massnahmen an der Grenze vorausgegangen.
Im Aug. 1798 wurde G. Hauptort des Dep. Léman und blieb dies für fünfzehn Jahre. Die Stadt, die nun in die
polit. Strukturen Frankreichs eingegliedert war, teilte in dieser Zeit dessen Schicksal, namentlich 1799 beim
Übergang vom Direktorium zum Konsulat - mit Bonaparte als Erstem Konsul - und 1804 bei der Proklamation
des Kaiserreichs.
In gewissen Punkten fiel der Vereinigungsvertrag für die Genfer recht günstig aus. Dank der Société
économique und der Société de bienfaisance behielten sie die Oberaufsicht über ihre Gemeindegüter, so über
eine Anzahl Gebäude und Institutionen, darunter die Kirche mit ihren Gotteshäusern, das Collège, die
Akademie, die Kornkammer, die Caisse d'escompte, d'épargne et de dépôts und das Hôpital général. Auch
mussten sie für die franz. Soldaten keine Unterkünfte bei Privaten zur Verfügung stellen und für den
laufenden Krieg keine Soldaten ausheben, so dass Genfer Wehrmänner erst nach dem Frieden von Amiens
von 1802 einberufen wurden. Hingegen hatte die Stadt ihre Zeughäuser, ihre Artillerie und
Munitionsbestände, v.a. aber ihre Befestigungsanlagen, die zu Nationalgütern ernannt wurden, an Frankreich
abzutreten. Schliesslich machte die "Vereinigung" mit der franz. Republik aus den Genfern franz.
Staatsbürger.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / GL
4.1.2 - Verwaltung
Ausser dem alten Genfer Territorium umfasste das Dep. Léman das Pays de Gex und die Jurahöhen bis zum
Tal der Valserine, die Gebiete des Chablais und des Faucigny sowie den Norden des Genevois. Es wurde in
drei Arrondissements unterteilt - in G. mit zehn, Thonon mit vier und Bonneville mit neun Kantonen. Die Stadt
und ihr Territorium bildete für sich allein einen Kanton. Da sie als Gem. angesehen wurde, besass sie während
fünfzehn Jahren eine eigene Verwaltung. Als Hauptort, später als Präfektur des Departements, d.h. als
Residenzort des Präfekten und Standort seiner Ämter, verfügte G. über ein Zivil- und Strafgericht, ein
Handelsgericht, eine Münzstätte sowie ein Bureau du timbre et de l'enregistrement (Stempelamt). Das
Appellationsgericht für Zivil- und Handelsangelegenheiten befand sich in Lyon. Nach der Annexion wurde G.
zunächst auf der Grundlage der franz. Revolutionsgesetze verwaltet. Ab 1804 war es wie das übrige
Kaiserreich dem franz. Zivilgesetzbuch, ab 1808 dem franz. Handelsrecht und ab 1811 dem Strafgesetzbuch
von 1810 unterstellt, was einige Anpassungen in der Gerichtsorganisation nach sich zog.
Bis zur Einsetzung des ersten Präfekten Ange Marie d'Eymar im Jahr 1800 lag die Macht bei der
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Zentralverwaltung des Dep. Léman, in der nur wenige Genfer vertreten waren. Das Gesetz vom 17.2.1800
organisierte dann die Institutionen des Departements neu, die nun auf drei Organen ruhten, nämlich auf dem
Präfekten, der vom Ersten Konsul und später vom Kaiser ernannt wurde, auf dem General- und auf dem
Präfekturrat. Die Departementsverwaltung mit ihren vier Ämtern (Finanzen, Armee, Statistik sowie Erziehung
und öffentl. Arbeiten), die dauernd mit der Abfassung von Berichten und der Erstellung von Statistiken für die
Pariser Ministerien beschäftigt waren, machte sich unbeliebt und galt als schwerfällig und ineffizient.
Hingegen gelang es den Präfekten Eymar (1800-02), Claude Ignace Brugière de Barante (1803-10) und
Guillaume Antoine Benoît Capelle (1810-13) manchmal, die Interessen der Genfer wahrzunehmen, ohne dass
diese jedoch den Verlust ihrer Souveränität vergessen hätten.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / AHB
4.2 - Das politische Leben im 19. Jahrhundert
4.2.1 - Die ersten Jahre des neuen Kantons (1814-1846)
Obwohl die Eingliederung der alten Bischofsstadt in die Eidgenossenschaft anlässlich des hundertjährigen
Jubiläums 1914 als ein Ereignis von zwingender Notwendigkeit gedeutet wurde, entsprang der Akt in
Wirklichkeit einem komplexen Geflecht von oft gegensätzl. Wünschen und Absichten. Der entscheidende
Anstoss kam zudem von den Grossmächten, die nach dem Sieg über Napoleon in Paris und Wien
zusammengetreten waren, um die Karte Europas neu zu zeichnen. Sie wollten die Schweiz stärken und
gliederten ihr deshalb die kleine Zitadelle G. an, um auf diese Weise zu verhindern, dass Frankreich seine
Grenzen wieder ausdehne und die Route über den Simplon für eine erneute Eroberung Italiens benutze. In der
Stadt stiess der Plan nicht sofort auf die Zustimmung der beiden Instanzen, die sich um die Macht stritten. Die
Regierungskommission, die im Dez. 1813 nach dem Abzug der kaiserl. Truppen und der Besetzung der Stadt
durch den österr. General Ferdinand von Bubna von diesem gebildet worden war, neigte eher einem
Anschluss an Frankreich zu. Dagegen erhoffte sich die selbsternannte provisor. Regierung, angeführt von den
Konservativen Ami Lullin und Joseph Des Arts, die Rückkehr zur Unabhängigkeit. Um ihre Gegner
auszustechen und zur Wahrung der Identität der Stadt bzw. der an diese geknüpften eigenen Vorstellungen
akzeptierten Letztere schliesslich die von den verbündeten Monarchen bevorzugte helvet. Lösung.
Bevor die Republik G. ein schweiz. Kanton werden konnte, musste sie aus der Umklammerung durch fremdes
Territorium gelöst und mit der Eidgenossenschaft verbunden werden, an das ihr Gebiet bis dahin nirgends
direkt angrenzte. Zu diesem Zweck wurden ihr im 2. Pariser Frieden von 1815 die franz. Gemeinden Versoix,
Collex-Bossy, Pregny, Vernier, Meyrin und Le Grand-Saconnex zugeschlagen. Mit dem Turiner Vertrag von
1816 erhielt sie zusätzlich die Stadt Carouge sowie rund 40 Weiler und Marktflecken auf der sardin. Seite des
Sees. Durch die Abtretung dieser sog. Communes réunies an G. vergrösserte sich die Bevölkerungszahl des
neuen Kantons um ungefähr 16'000 grösstenteils kath. Landbewohner. Doch das neue Gebilde verfügte über
kein Hinterland und liess sich nicht verteidigen. Man umgab es daher mit einer Zollfreizone und bezog
Nordsavoyen in die schweiz. Neutralität mit ein (Freizonen). Diese nicht gänzlich befriedigende Lösung war
das Resultat schwieriger diplomat. Verhandlungen und eines Kompromisses. Die merkwürdige Grenzziehung
entsprach der Forderung einflussreicher Genfer Ultraprotestanten, die aus Angst vor einer
Gewichtsverschiebung zugunsten der Katholiken nur einen minimalen Zuwachs des Staatsgebiets zuliessen.
Der Beitritt zum Corpus helveticum stellte die Genfer Bevölkerung vor ein Dilemma: Wollte die Stadt ihre
Eigenheiten bewahren, musste sie schweizerisch werden. Um aber schweizerisch werden zu können, musste
sie den Grundsatz, dass nur Protestanten als Bürger in der Calvinstadt aufgenommen werden, aufgeben und
Katholiken als Gleichberechtigte akzeptieren. Die Haltung der Behörden wie der Bevölkerung blieben
diesbezüglich während der ganzen Restaurationszeit zwiespältig.
Die erste eidg. Aufgabe der provisor. Regierung, der eine mit mehr als 6'000 Unterschriften versehene
Petition die nötige Legitimität verschafft hatte, bestand in der Ausarbeitung einer Verfassung, welche
Unruhen, wie sie im 18. Jh. aufgetreten waren, verhinderte und von der eidg. Tagsatzung akzeptiert wurde.
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Um Letztere zufrieden zu stellen, bildete die Regierung die Institutionen des jüngsten Kantons denjenigen der
Mitkantone nach. So verkörperte der Staatsrat die Exekutive, gehörte aber zugleich dem grossen
Repräsentierenden Rat, der Legislative, an. Die Ausrichtung nach schweiz. Modellen rechtfertigte aber auch
Massnahmen - wie die Abschaffung des Generalrats -, die geeignet schienen, die öffentl. Ordnung
aufrechtzuerhalten. Die Genfer, die jetzt zwar alle Bürger waren, besassen kein anderes polit. Recht mehr als
dasjenige, einige ihrer Vertreter zu wählen. Aber selbst dieses Recht wurde durch drei in G. bisher
unbekannte Einrichtungen eingeschränkt, und zwar erstens durch abgestufte Losentscheide, zweitens durch
ein den Kreis der Wahlberechtigten weiter beschneidendes, aus rund 170 Personen (u.a. Pfarrer, Lehrer des
Collèges, Richter) bestehendes Gremium, das aus einer Gruppe von 600 Wahlmännern deren 300 ernannte
und auf diese Weise unerwünschte Auswirkungen der dritten Neuerung, nämlich derjenigen des Zensus,
ausgleichen sollte.
Als die Genfer Verfassung im Aug. 1814 fast einstimmig angenommen wurde, lag der Zensus auf der Höhe
von 69,7 Gulden (20 schweiz. Pfund), was viele Bürger von der Wahl ausschloss. Aber schon 1819 sank er auf
25 Gulden, 1832 auf 15 und 1835 auf sieben, bevor er 1842 ganz abgeschafft wurde. Diese bedeutende
Erweiterung des Elektorats widerspiegelte die Erfolge der Demokratisierung, die während der Restauration
nolens volens von der Regierung zugestanden wurden. Sie gingen auf den Einfluss und die Fähigkeiten einer
kleinen, mit liberalen Ideen sympathisierenden Gruppierung innerhalb der Legislative zurück. Fähige Köpfe
wie Etienne Dumont, Pierre-François Bellot und Pellegrino Rossi gewannen, indem sie sich die Schwerfälligkeit
der grossen Versammlungen zu Nutze machten, rasch an Einfluss und widersetzten sich den ersten
reaktionären Staatsräten des 19. Jh. Letztere zogen sich um 1825 aus der Regierung zurück und überliessen
ihren Platz beträchtlich jüngeren Männern, die wie der Syndic Jean-Jacques Rigaud auf die Mentoren im
Repräsentierenden Rat hörten und eine Politik des sog. graduellen Fortschritts einleiteten. Die zunächst nur
zögerlich einsetzenden Reformen folgten während der 1. Hälfte der 1830er Jahre immer rascher aufeinander
und führten zu einer Modernisierung der Verwaltung, der Kirchen sowie des Erziehungs- und Justizwesens.
Der Reformschub ging nicht nur auf den Generationenwechsel oder die tiefen liberalen Überzeugungen
zurück, sondern entsprang auch dem Bild, das sich die führenden Männer von der Rolle ihrer Vaterstadt
innerhalb der Schweiz machten. Der jüngste Kanton sollte sich seiner schweiz. Zugehörigkeit als würdig
erweisen und ein Beispiel des Fortschritts sein. Bis 1830 bedurfte es dazu nicht viel, denn G. hatte einen Teil
der Gesetze aus der franz. Zeit behalten und besass dadurch - zumindest bis in die Regenerationszeit weniger konservative Rechtsgrundlagen als die übrigen Kantone. So garantierte die Genfer Verfassung als
einzige die Pressefreiheit. In diesem Zusammenhang steht der Reformschub unter Jean-Jacques Rigaud, der
durch die Befürchtung ausgelöst wurde, dem polit. Ruf der Stadt als Modell einer Evolution ohne Revolution
nicht mehr zu genügen. In einer Zeit, in der die Erinnerungen an 1789 noch traumatisierend nachwirkten, war
der Stolz der Genfer Behörden verständlich. Er sollte von kurzer Dauer sein.
Schon bald wurde der Reformeifer durch den Rücktritt der grossen liberalen Denker und den Aufstieg
konservativer Politiker an die Schaltstellen der Regierung gebremst. Dies weckte die Unzufriedenheit einer
mit dem Radikalismus sympathisierenden Gruppe, der es immer schwerer fiel, ihrer Meinung Gehör zu
verschaffen. Zu Beginn der 1840er Jahre organisierte sie sich in der Association du Trois Mars. Um die
blockierte Situation aufzubrechen, geisselte sie die institutionelle Rückständigkeit der Republik und deren
Unfähigkeit, den Mitkantonen in Sachen Demokratisierung ein Beispiel zu geben, und rief die Bevölkerung
dazu auf, zu den Waffen zu greifen. Überzeugt von ihrer Mission, innerhalb der Eidgenossenschaft als
treibende Kraft zu wirken, erhoben sich die Genfer am 22.11.1841 in einer friedl. Revolution - eigentl.
Gewalttaten fanden nicht statt. Das Ergebnis fiel zwiespältig aus. De jure stellte die Revolution zwar die
radikalen Anführer und ihre Sympathisanten vollständig zufrieden, da sie insbesondere das allg. Wahlrecht
(für Männer) brachte. De facto aber löste sie auf breiter Basis einen Reflex des schlechten Gewissens aus. So
vollzogen mehrere polit. Führer eine deutl. Wende nach rechts, während die Bürger ihre neuen Rechte dazu
nutzten, konservative Vertreter zu wählen, welche die Wirkungen des Aufstands zu neutralisieren suchten. Als
die Regierung zu den polit.-religiösen Ereignissen, welche die Eidgenossenschaft Mitte der 1840er Jahre
erschütterten, Stellung beziehen musste, sprach sie sich ängstlich gegen die Freischarenzüge aus und rang
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sich nicht zur Verurteilung des Sonderbunds durch. James Fazy, der Anführer der Radikalen, forderte Anfang
Okt. 1846 die Menge mit den gleichen Argumenten wie im Jahr 1841 zur Ergreifung der Macht auf, damit sich
der Kt. G. dem Sonderbund entgegenstellen und seine Rolle als polit. Vorbild wieder übernehmen könne. Am
7.10.1846 führten der Verlust des Rückhalts in der kath. Bevölkerung, die Fahnenflucht der Miliz und die
Hartnäckigkeit der oft aus anderen Kantonen zugewanderten Aufständischen endgültig zum Fall des
Restaurationsregimes.
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
4.2.2 - Die radikale Vorherrschaft (1847-1914)
James Fazy trat, wie er es versprochen hatte, für die Auflösung des Sonderbunds ein und nahm die
Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Angriff. Diese wurde am 24.5.1847 angenommen und sicherte der
radikalen Vorherrschaft eine gewisse Dauerhaftigkeit, indem sie diejenigen, welche die Revolution unterstützt
hatten, direkt oder indirekt begünstigte. Sie stellte - wenn nicht der Form, so doch dem Namen nach - den
Generalrat wieder her, gewährte den oft stärker politisierten Schweizern aus den übrigen Kantonen das
Wahlrecht, garantierte die Glaubensfreiheit, schuf auf dieser Grundlage die letzten Privilegien ab, die der ref.
Kultus noch genossen hatte, und löste schliesslich auch die Société économique auf, jene Institution, die den
Unterschied zwischen den alten und neuen Genfer Bürgern verkörpert und tradiert hatte. In dieser demokrat.
Aufbruchstimmung liess Fazy den Staatsrat alle zwei Jahre durch die Bevölkerung wählen. Diese Massnahme
bescherte dem Kanton mehr als ein halbes Jahrhundert lang ein intensives polit. Leben voller Einfallsreichtum
und Instabilität. Denn die häufigen Wahlen bewirkten zahlreiche Veränderungen in der Regierung. 1853
gelang es einigen unzufriedenen Radikalen sogar, Fazy abzuwählen und ihn während der Amtszeit der sog.
Regierung der Wiederherstellung von der Macht fernzuhalten.
Zu den radikalen Dissidenten kamen bald weitere Unzufriedene - Reaktionäre, Gemässigte oder Katholiken hinzu, die sich in der unabhängigen Partei vereinigten und gegenseitig stärkten. 1865-70 dominierte der
Anführer dieser Gruppierung, der ehemalige Revolutionär Philippe Camperio, den Staatsrat, in dem er einen
Mittelweg einschlug und eine konservative, aber nicht rückwärtsgewandte Politik verfocht. Doch seine
Strategie missfiel schliesslich auf der rechten wie auf der linken Seite. Unter dem Einfluss von Antoine
Carteret gelangten die Radikalen 1870 wieder an die Macht und leiteten die Episode des Kulturkampfes ein.
Die breite antiultramontane Bewegung zielte auf eine totale Unterdrückung jegl. Struktur, die sich der staatl.
Kontrolle zu entziehen schien, und auf eine Überhöhung der Genfer Identität ab; sie kann daher
paradoxerweise als das Ergebnis einer missbräuchl. Anwendung der Prinzipien von 1846 gedeutet werden. In
weniger als zehn Jahren veränderte dieser überspannte "Kampf für die Zivilisation" die polit. Landschaft im
Kanton. Das alte Patriziat verband sich mit den Katholiken und der Landschaft in der demokrat. Partei, welche
die Radikalen herausforderte. Als selbsternannte Verteidigerin der individuellen Rechte gab sie den Anstoss
zur Umwandlung des Repräsentativsystems in eine halbdirekte Demokratie.
Die durch die Verfassung von 1846 entstandene Instabilität mündete eher ungewollt in die Vermehrung der
Wahlkreise, in die Einführung des fakultativen Referendums (1879), der Gesetzesinitiative (1891), der
Volkswahl der Ständeräte (1892) und des Proporzes (ebenfalls 1892). Letzterer ermöglichte es neuen Kräften,
die polit. Bühne zu betreten, so der noch nicht sehr einflussreichen unabhängigen-kath. Partei (einer
Vorgängerin der christlichdemokrat. Volkspartei) und der sozialdemokrat. Arbeiterpartei. Nachdem 1866 in G.
ein Kongress der Internat. Arbeiterassoziation stattgefunden hatte, war diese Bewegung nicht mehr zu
vernachlässigen. Gerade weil es die Radikalen verstanden, Anliegen der Sozialisten rechtzeitig in ihr
Programm aufzunehmen und sich mit deren Kandidaten zu verbünden, waren sie ihren Konkurrenten von der
demokrat. Partei im Spiel der wechselnden Regierungen, das die Jahrhundertwende prägte, überlegen. Die
Demokratisierung hatte nicht nur theoret. und ideolog., sondern auch ganz prakt. Vorteile. Sie trug wesentlich
zur Besänftigung der Gemüter bei, indem sie den Minderheiten Einflussmöglichkeiten zugestand und die
Ausübung des Wahlrechts versachlichte. Denn bis anhin hatte die reine Majorzwahl der im Generalrat
vereinigten Wahlberechtigten den Ausbruch von Tumulten begünstigt. Am 22.8.1864 war nach blutigen
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Unruhen mit Toten und Verletzten sogar eine Bundesintervention nötig geworden.
Am selben Tag, als die blutigen Unruhen ausbrachen, wurde an einer diplomat. Konferenz, an der Gustave
Moynier, Guillaume-Henri Dufour und Samuel Lehmann die Schweiz vertraten, die Genfer Konvention
unterzeichnet (Rotes Kreuz). Dieses Dokument legte den Grundstein für das spätere IKRK und markiert den
Beginn der internat. Rolle G.s. Angeregt vom Geist der Reformation, den die Bewegung des Réveil wieder zum
Leben erweckt hatte (Erweckungsbewegungen), und beeinflusst von einer Tradition der Gastfreundschaft, auf
die sich alle Parteien beriefen, behauptete die Republik ihre internat. Bedeutung nicht nur auf dem Gebiet der
Wohltätigkeit. Schon Ende der 1860er Jahre machte G. auch als Ort wichtiger polit. Verhandlungen weltweit
von sich reden. Einerseits wurde die Stadt zum Zentrum für Konfliktregelung - 1867 beherbergte sie einen
Friedenskongress und 1871-72 das Alabama-Schiedsgericht -, andererseits dauerte es nicht lange, bis die
internat. Ausstrahlung G.s als Hauptbeitrag des jüngsten Kantons an das neue helvet. Vaterland betrachtet
wurde. Dies ermöglichte es G., weiterhin an die eigene Unabhängigkeit zu glauben, ohne sich an deren
Unannehmlichkeiten zu stören.
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
4.2.3 - Genf und die Eidgenossenschaft
Als die Vertreter der eidg. Stände am 12.9.1814 in Zürich dem Eintritt G.s in die Eidgenossenschaft
zustimmten, bedeutete dieser Entscheid für das neue Mitglied auch die Verpflichtung, einen Beitrag zur
Landesverteidigung in Form von Geld und Truppen zu leisten sowie die gemeinsame Politik mitzugestalten.
Bis 1848 schickte G. rund 30 Gesandte an die eidg. Tagsatzung, darunter einige von grossem Format.
Pellegrino Rossi etwa erhielt den Auftrag, eine neue Bundesverfassung auszuarbeiten. 1832 wurde sein
Projekt zwar von den konservativsten Abordnungen zurückgewiesen, aber einige der von ihm
vorgeschlagenen institutionellen Neuerungen wie z.B. die Einrichtung eines Bundesrats gingen nicht
vergessen. Zur selben Zeit befasste sich Jean-Jacques Rigaud mit der Beilegung der Konflikte in Schwyz und
Basel. 1838 ermahnte er die Schweiz, unterstützt von seinem Waadtländer Kollegen Charles Monnard, dem
Ultimatum Frankreichs zu widerstehen, das die Ausweisung des rührigen Louis Napoleon und späteren Ks.
Napoleon III. aus seiner thurg. Exilheimat forderte.
Nach der Revolution von 1846 stimmten die radikalen Vertreter G.s an der Tagsatzung für die Auflösung des
Sonderbunds und trugen auf diese Weise zur Entscheidung bei, die von ihrem Landsmann Guillaume-Henri
Dufour in einem kurzen und fast unblutigen Konflikt durchgesetzt wurde. Der Bürgerkrieg bildete das
unvermeidl. Vorspiel zur Gründung des modernen Bundesstaates, für den James Fazy nach eigenen Angaben
die Idee des Zweikammersystems beigesteuert haben soll. Diese Beteuerung illustriert, wie sehr sich Genfer
in die nationale Politik einbrachten. G. brachte auch eine Reihe bedeutender Bundespolitiker hervor; die
Radikalen Jean-Jacques Challet-Venel (1864-72) und Adrien Lachenal (1893-99) wurden in den Bundesrat
gewählt. Letzterer war 1896 Bundespräsident.
Die begeisterte Mitarbeit verursachte aber auch Spannungen, die von unterschiedl. Konzeptionen des
Radikalismus herrührten. Schon in den 1850er Jahren exponierte sich die Genfer Regierung, als sie die
Ausweisung der polit. Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer verweigerte, zu der sich Bern verpflichtet hatte.
Nachdem der Bundesrat gezögert hatte, die Neutralität Nordsavoyens vor dem Zugriff Napoleons III. zu
schützen, organisierten 1860 einige Genfer Aktivisten einen Eroberungszug (Savoyerhandel). Dieses
Unternehmen, das kläglich scheiterte, verärgerte die Bundesbehörden und brachte die Option Schweiz in
Misskredit bei den Savoyern, die schliesslich der Vereinigung mit Frankreich zustimmten. 1872 sprach sich
Challet-Venel gegen die Revision der Bundesverfassung seiner radikalen Kollegen aus, weil sie zu einer
Zentralisierung des Staatsapparates geführt hätte; er wurde deswegen als Bundesrat nicht wiedergewählt.
Obschon der Affront einen Genfer traf, fühlte sich die gesamte französischsprachige Schweiz angegriffen.
Umgekehrt trug Genf seinerseits die Empfindlichkeiten der Westschweiz von nun an mit. Am Vorabend des 1.
Weltkrieges empörte sich der Kanton wie die anderen welschen Kantone über den Gotthardvertrag von 1909.
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Trotz der Übereinstimmung fusste der Unmut der Genfer auf einem speziellen Grund: Der jüngste Kanton
fühlte sich für seine der Eidgenossenschaft grosszügig erwiesenen Dienste schlecht belohnt und reagierte mit
Verstimmung, ja mit einem Rückzug auf sich selbst.
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
4.2.4 - Das politische System
Im polit. System G.s, das durch die versch. Verfassungen der Republik geprägt wurde und auf die
Eidgenossenschaft zugeschnitten war, widerspiegelt sich auch die eigene Geschichte. Der Nachhall der
Vergangenheit erklärt, warum die Assimilation der Stadt in den Kanton bis 1842 dauerte. Dieser wurde durch
den Staatsrat gelenkt, dessen 28 Mitglieder auf Lebenszeit gewählt waren und in sämtlichen das öffentl.
Leben regelnden Kommissionen Einsitz nahmen. Zu Beginn der 1830er Jahre hob eine Reihe von Reformen
die Unabsetzbarkeit der Staatsräte auf, ohne jedoch deren gesetzgeber. Vorrechte anzutasten; nach wie vor
gehörten diese dem Repräsentierenden Rat an, der insgesamt 250 Abgeordnete zählte. Trotz einer gewissen
Autonomie, die ihm das von Etienne Dumont nach dem Vorbild des engl. Parlaments verfasste Reglement
zusicherte, fühlte sich der Repräsentative Rat immer stärker zurückgebunden. Ab 1841 versuchte er, sich auf
zwei versch. Wegen zu emanzipieren. Auf der einen Seite leitete die Revolution vom 22.11.1841 eine
Demokratisierung der Institutionen ein, die 1847 zu den heute noch aktuellen Verfassungs- und
Verwaltungsnormen führte. Die 1842 in Angriff genommene Gewaltentrennung war fünf Jahre später
vollendet, ebenso die Verkleinerung der Regierung. 1842-47 sank die Zahl der Mitglieder im
Repräsentierenden Rat - er hiess jetzt wieder Gr. Rat - auf 170, dann auf 100, während in derselben
Zeitspanne die Zahl der Staatsräte auf sieben reduziert wurde. Auf der anderen Seite brachte die Revolution
von 1841 für G. eine durch Wahl zu bestellende Gemeindeverwaltung. Diese Lösung wurde durch die jüngere
Geschichte vorbereitet. Unter franz. Herrschaft hatte das Stadtgebiet wie die umliegenden Gem. eine Mairie
bekommen. Im Gegensatz zum Hauptort behielten Letztere diese Errungenschaft aus der Kaiserzeit während
der Restauration bei. Jede Gem. besass ihren Maire, der von mehreren vom Staatsrat gewählten Adjunkten
unterstützt wurde. Am 17.1.1834 proklamierte ein Gesetz die Wahl der Gemeinderäte, die das an
Streitigkeiten reiche Gemeindeleben kanalisierten und den kant. Instanzen davon Bericht zu erstatten hatten.
In den Communes réunies bewirkten die Konflikte eine neue Festlegung der Gemeindegrenzen, die zu Beginn
der Restauration oft willkürlich festgesetzt worden waren. Während des ganzen 19. Jh. wurden knapp zehn
Gem. aufgeteilt (z.B. Compesières 1851), obwohl die Lebensbedingungen sicherlich sehr ähnlich gewesen
sein dürften.
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
4.3 - Das politische Leben im 20. Jahrhundert
4.3.1 - Vor und während des 1. Weltkrieges
Das erste Jahrzehnt des 20. Jh. zeichnete sich durch eine recht günstige Konjunkturlage und durch wirtschaftl.
Wachstum, aber auch durch den Aufstieg der Arbeiterbewegung aus. Die von den Sozialdemokraten mehr
oder weniger unterstützte radikale Regierung wurde von den Konservativen und in geringerem Mass von den
revolutionären Gewerkschaftern bekämpft. Der hohe Bevölkerungsanteil ausländ. Arbeiter aus den
Grenzregionen und politisch aktiver Flüchtlinge übte ebenfalls einen gewissen Einfluss auf das polit. Leben in
G. aus, obwohl Letztere in kant. Angelegenheiten wenig in Erscheinung traten.
Als der 1. Weltkrieg ausbrach, war G. gerade mit den Feiern zum hundertjährigen Jubiläum seines Eintritts in
die Eidgenossenschaft beschäftigt. Unmittelbar nach dem Beginn der Feindseligkeiten machte sich hier wie
auch andernorts in der Westschweiz eine frankophile Stimmung bemerkbar, die insbesondere in der Presse
artikuliert wurde. Einige Intellektuelle aus dem Umkreis der Neuen Helvet. Gesellschaft äusserten deshalb
bezüglich der Einheit der Schweiz ihre Bedenken, welche auch die Wahl des Genfers Gustave Ador 1917 in
den Bundesrat als Nachfolger von Arthur Hoffmann nicht zerstreuen konnte.
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Die Kriegsjahre waren infolge des Wegzugs zahlreicher ausländ. Arbeiter und der Schliessung der
Auslandmärkte von wirtschaftl. Schwierigkeiten geprägt. Einem Teil der Genfer Industrie, v.a. der
Maschinenindustrie und der chem. Industrie, gelang es, sich zu behaupten, ja manchmal hohe Gewinne zu
erzielen, indem sie sich auf die Fabrikation von Munition verlegte. Für die Arbeiterschaft hingegen kamen zum
Rückgang der Reallöhne noch Rationierungen hinzu, so dass eine - wenig wirkungsvolle Versorgungskommission eingesetzt wurde, um die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen. Die
Grippeepidemie (über 1'100 Todesfälle im Kanton), die im Sommer und dann wieder im Okt. und Nov. 1918
auftrat, verschlimmerte die Situation. Dass sich mehrere Tausend Genfer Arbeiter am Generalstreik vom Nov.
1918 beteiligten, überraschte dennoch, weil der Krieg die sozialist. Linke gespalten hatte. Der frankophile
Nationalrat Jean Sigg, der der Landesverteidigung zugestimmt hatte, war 1917 aus der Partei ausgeschlossen
worden. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten, die von den Behörden schlecht aufgefangenen Auswirkungen
der langen Kriegssituation und die durch die Ereignisse in Russland geschürten Hoffnungen begünstigten
jedoch eine gewisse Mobilisierung der Gesellschaft. Obwohl es wegen der Teuerung zu harten
Auseinandersetzungen kam, liessen sich die Genfer Arbeiter kurz vor dem Streik im Nov. 1918 kaum dazu
bewegen, die Zürcher Bankangestellten zu unterstützen.
Mit dem Ausbruch des Streiks stellte die bürgerl. Seite sofort Bürgerwehren auf, welche die Streikbewegung
zerschlagen und ihre Entschlossenheit, den Bolschewismus zu bekämpfen, unterstreichen sollten. Am
11.11.1918, am Tag nach dem Waffenstillstand und - aufschlussreiches Zusammentreffen - des konservativen
Triumphs bei der Wahl der Kantonsregierung, hielten sich die Ausschreitungen (Schlägereien, Verhaftungen,
Verprügeln von Arbeiterführern) zwar in Grenzen und waren nur von kurzer Dauer, aber sie blieben, wie in der
übrigen Schweiz, für lange Zeit im Gedächtnis haften. Unter einer neuen Generation von militanten Führern
bildete sich eine radikalisierte Arbeiterbewegung heraus. Der Streik löste aber in der Genfer Gesellschaft v.a.
einen kräftigen konservativen Ruck aus.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
4.3.2 - Die Zwischenkriegszeit
Nach dem Krieg konnte G. seinen Ruf als Schiedsgerichtsort festigen, als es 1920 Sitz des Völkerbunds wurde.
Dennoch blieb die Zahl der internat. Organisationen auf dem Genfer Territorium begrenzt, und sogar die
Verfechter des "Esprit de Genève" gaben zu, dass die Öffnung zur Welt mit einer gewissen Tendenz zur
Abschottung einherging, die der Integration des kosmopolit. Elements entgegenstand.
Die Ausländer, die G. bei Kriegsausbruch verlassen hatten, kehrten nicht alle zurück. Sie wurden
hauptsächlich durch einen Zustrom von Schweizern ersetzt, unter denen sich viele Arbeiter befanden, die das
Stimmrecht besassen. Nach einer kurzen wirtschaftl. und finanziellen Krise zeichneten sich die 1920er Jahre
durch ein relatives Wachstum aus. In dieser Lage wurden 1924 zwei Sozialdemokraten in den Staatsrat
gewählt, 1927 dann nur noch ein einziger. Allerdings wurden die 1920er Jahre v.a. durch das Auftreten der
Union de défense économique (1923) geprägt, die als heftige Reaktion des Mittelstands und der
Arbeitgeberkreise gegen Etatismus, Sozialismus und Modernismus gewissermassen eine Verlängerung des
konservativen und antibolschewist. Rucks von 1918 darstellte.
Die Zwischenkriegszeit war von einer sehr starken Polarisierung des polit. Lebens gekennzeichnet. Der Streit
um die Freizonen - Frankreich hatte einseitig die grosse Zone aufgehoben und damit einen langen
Rechtsstreit ausgelöst, musste aber schliesslich die kleinen Zonen wieder herstellen - verhinderte G.s natürl.
Eingliederung in den regionalen Wirtschaftsraum. Die Auseinandersetzung konfrontierte die Genfer mit der
Realität ihres kleinen Territoriums, die im Gegensatz zu ihrer internat. Bestimmung stand.
Angesichts der Krise der 1930er Jahre, als Arbeitslosigkeit und Elend explosionsartig zunahmen und die
Behörden die Politik der Lohnsenkungen mittrugen, legten die Arbeitskämpfe an Heftigkeit zu, und die Allianz
zwischen Radikalen und Sozialdemokraten zerbrach. Unter dem Einfluss des Grossrats und Volkstribunen
Léon Nicole wurde die Genfer Sozialdemokratie unnachgiebiger, zumindest verbal. Die Gewerkschaften
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erfuhren eine Radikalisierung durch hitzige Militante wie Lucien Tronchet, Gewerkschafter im Bausektor, der
einem revolutionären Syndikalismus anhing. Charles Rosselet, Präs. des Gewerkschaftsbunds, nahm zwar eine
weniger kämpfer. Haltung ein, verteidigte aber in Anbetracht der Krise die Notwendigkeit einer alternativen
Wirtschaftspolitik. Die christl. Gewerkschaftsbewegung ihrerseits trat für den Korporativismus ein, für die
Überwindung des Klassenkampfs und die gemeinschaftl. Zusammenarbeit, d.h. für gemeinsame
Organisationen von Arbeitern und Arbeitgebern: den Korporativismus. Diese Sichtweise der sozialen Frage,
die den Klassenkampf negieren wollte, teilte die extreme Rechte, allerdings in einer autoritäreren Form.
1932 drang die Union nationale, eine von Mussolini inspirierte und von Georges Oltramare geleitete
profaschist. Partei, spektakulär in die polit. Landschaft G.s ein und nahm im Grossrat Einsitz, in dem sie die
Nachfolge der im Niedergang begriffenen Union de défense économique antrat. Die Mitglieder dieser
antidemokrat. Bewegung paradierten ganz nach dem Vorbild der faschist. Aufmärsche durch die Strassen.
Ihre Zeitung "Le Pilori" fuhr einen durch und durch antisemit. Kurs und ihre Parolen zeugten von einer
aussergewöhnl. Gewaltbereitschaft. Die traditionelle Rechte und die Arbeitgeber fanden sich mit ihr
weitgehend ab - im Namen des gemeinsamen Kampfes gegen den Sozialismus und dessen Heimat, die
Sowjetunion.
Die bürgerl. Kräfte verwickelten sich in Bankenskandale, v.a. im Zusammenhang mit den Geldern, welche die
öffentl. Hand gesprochen hatte, um die Banque de Genève zu retten (1931), nota bene zu einem Zeitpunkt,
als die finanzielle Lage des Kantons katastrophal war. Mit Erfolg bekämpften sie eine sozialdemokrat.
Steuerinitiative, welche die Vermögenden stärker belasten wollte. Im Gefolge der Genfer Unruhen, als am
9.11.1932 ein Aufgebot von Rekruten gewaltsam gegen eine antifaschist. Demonstration vorging und die
Schiesserei 13 Tote und 65 Verletzte forderte, errangen die Sozialdemokraten in der Regierungswahl von
1933 die Mehrheit, blieben jedoch im Gr. Rat in der Minderheit. Nachdem der Regierung die finanziellen Mittel
beschnitten worden waren, ging das Experiment 1936 zu Ende. Doch die Erinnerung an diese unruhige Zeit
blieb lange wach.
Ab 1936 hielt die Entente nationale (Radikale, Demokraten, d.h. die späteren Liberalen, und Christlichsoziale,
d.h. die späteren Christdemokraten) die Macht fest in ihren Händen. Sie versuchte, ein Gesetz einzuführen,
das Arbeitgeber und Lohnabhängige dazu verpflichten wollte, sich an verbindl. Gesamtarbeitsverträge zu
halten. Doch der Linken gelang es, das Gesetz unter Berufung auf die Handelsfreiheit zu Fall zu bringen.
Rasch liess die Entente nationale auch die Kommunist. Partei verbieten, deren Mitglieder sich daraufhin der
Sozialdemokrat. Partei anschlossen. Diese konnte aber nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in
der Metallindustrie vom Juli 1937 und dessen Ratifizierung auf der Ebene G.s 1938 keine glaubwürdige
Alternative vorschlagen. Léon Nicoles Anhänger wurden 1939 sogar aus der Sozialdemokrat. Partei der
Schweiz ausgeschlossen, weil sie den Hitler-Stalin-Pakt nicht verurteilt hatten. Sie gründeten deshalb die
Fédération socialiste, der sich eine grosse Mehrheit ihrer alten Wähler anschloss. Nachdem diese wie die
Kommunist. Partei verboten worden war, tauchten ihre Mitglieder nach dem Kriegsende in der Partei der
Arbeit wieder auf.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
4.3.3 - Während und nach dem 2. Weltkrieg
Die Union nationale unterhielt Beziehungen zu den bürgerl. Parteien und hätte, vereint in der gemeinsamen
Abneigung gegen den Bolschewismus, beinahe mit den Liberalen fusioniert. Als sie 1942 im
Kantonsparlament nicht mehr vertreten war, wurde das polit. Leben G.s vorübergehend auch vom Durchbruch
des Landesrings der Unabhängigen geprägt. Diese Tatsache zeigt, dass die traditionellen bürgerl. Parteien
nicht alle potentiellen Wähler überzeugen und für sich gewinnen konnten. Der Zeitgeist richtete sich jedoch
wie in der übrigen Schweiz im Sinne der Geistigen Landesverteidigung auf Werte wie die Einheit des Landes,
das polit. Zusammenstehen, den Patriotismus und die christl. Moral und manifestierte sich im Rückzug auf das
Alpenréduit, das den kollektiven Willen zum Widerstand zu symbolisieren hatte. Er begünstigte aber auch
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autoritäre Vorstellungen.
Die Auswirkungen des Krieges und die Nähe der Truppen der Achsenmächte begünstigten im Kanton ein
Klima der Vorsicht. René Payot beispielsweise gehörte zu den zahlreichen Personen in G., die anfänglich der
Idee einer nationalen Erneuerung nach dem Vorbild des Vichy-Regimes zugeneigt waren, bevor sie die
Résistance und die Alliierten unterstützten. G. stellte für all jene, die in die Schweiz wollten, um ihr Leben zu
retten, ein Grenzgebiet von erstrangiger Bedeutung dar. In der Region wurden, u.a. in Verbindung mit der
Résistance, heiml. Grenzübertritte von Flüchtlingen organisiert. Die lokalen Behörden und einige Beamte
zeigten sich aber unerbittlich und wiesen Juden zurück (ihre Anzahl ist ungewiss). Auf diese Weise nahmen sie
in Kauf, dass die abgewiesenen Juden in die Hände der Deutschen fielen, was den Staatsrat 2000 dazu bewog,
sein Bedauern über das Geschehene auszudrücken.
Die dt. Kapitulation wurde in G. mit grosser Freude begrüsst. Nach dem Krieg erholte sich die Wirtschaft sehr
schnell. Neue Arbeiterproteste brachen aus, v.a. ein Streik für die Bezahlung von Feiertagen im Baugewerbe:
Alle wollten vom sich abzeichnenden Wohlstand profitieren. Die Partei der Arbeit stieg mit 36 Vertretern zur
stärksten Kraft im Kantonsparlament auf. Offenbar hatten die unteren Volksschichten das Verbot der
Kommunist. Partei und der Fédération socialiste nicht geschätzt. Zudem verlieh der grosse Beitrag der
sowjetruss. Bevölkerung zur Befreiung Europas der Partei der Arbeit ein Prestige, das den Hitler-Stalin-Pakt
von 1939 vergessen liess. Die Sozialdemokrat. Partei, die sich aus jenen neu zusammengesetzt hatte, die
Léon Nicole nicht hatten folgen wollen, erreichte nach dem Krieg nur neun Sitze und musste bis 1961 warten,
bis sie mehr Abgeordnete als die Partei der Arbeit stellte. Letztere hielt sich trotz einer Krise in den 1950er
Jahren nach dem Rücktritt Nicoles und einem gewissen Niedergang in den 80er Jahren in der polit. Landschaft
G.s.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
4.3.4 - Die Jahre des Konjunkturaufschwungs (1945-1975)
Nach 1945 verfügten die bürgerl. Parteien im Gross- wie auch im Staatsrat durchgehend über eine breite
Mehrheit, obschon ein, später zwei Sozialdemokraten regelmässig in der Regierung sassen. Auch wenn G.
nicht zum Hauptsitz der UNO ernannt wurde, erhielt die Stadt doch deren europ. Sitz und hiess in der Folge
auf ihrem Territorium eine grosse Zahl internat. Organisationen willkommen. Die günstige Konjunkturlage und
der sich daraus ergebende Wandel führten auch bei den Bürgerlichen zu einer Neuausrichtung der polit.
Debatte. Es ging nun darum, das Wachstum zu lenken, indem die für die Ansiedlung neuer Industrien und
Dienstleistungen notwendigen Infrastrukturen bereitgestellt wurden.
Die 1950er und 60er Jahre bildeten die Bühne für einen immensen Wirtschaftsaufschwung, der einen neuen
Zustrom von Einwanderern, aber auch eine soziale Öffnung brachte. Das demograf. Wachstum verursachte
mit einem gewaltigen Bauboom und dem Entstehen von Satellitenorten in Meyrin, Onex oder Le Lignon (Gem.
Vernier) im Stadtbild und auf dem kant. Gebiet tief greifende Veränderungen. An versch. Orten der Genfer
Peripherie entstanden Industriezonen: zuerst in La Praille und Les Acacias (beide Gem. G.), dann in Meyrin,
Satigny, Vernier und Plan-les-Ouates. Die bürgerl. Regierungsmehrheit erwiesen sich als sehr ideenreich,
wenn es darum ging, Antworten auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und Gesellschaft zu finden, so etwa beim
sozialen Wohnungsbau. Sie vertrat damit die Interessen des stark expandierenden Mittelstands.
Nachdem die Frauen 1960 nach langem Kampf die polit. Rechte auf kant. Ebene errungen hatten, erlitten die
Radikalen in den Wahlen von 1961 eine harte Niederlage. 1965 erlebte G. aber noch eine ganz andere polit.
Erschütterung: Die fremdenfeindl. und traditionalist. Bewegung der rechtsextremen Vigilance nahm Einsitz im
Grossrat (sie errang noch 1989 neun Sitze, verschwand jedoch 1993). Im Gefolge des Mai 1968 entstanden
innerhalb der Jugend neue polit. Formen, v.a. im kulturellen und genossenschaftl. Bereich, und neue Themen
wie Feminismus, Antimilitarismus und Ökologie wurden lanciert. Links der Partei der Arbeit wurden
verschiedene kleine Gruppierungen politisch aktiv. Diese Entwicklung verlief parallel zu einer Liberalisierung
der Sitten und im Einklang mit einer progressiveren Geisteshaltung. Allerdings verschoben sich im Genfer
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Kantonsparlament die Gewichte bis zur Entstehung der Grünen Partei 1985 (acht von 100 Sitzen) nur
unwesentlich. Dafür wählte G. nach der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene mit Lise Girardin
1971 die erste Ständerätin der Schweiz.
Wahlen in die Bundesversammlung 1919-2015 (ausgewählte Jahre)
1919 1939 1959 1967 1971 1979 1983 1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015
Ständerat
FDP
1
1
1
1
1
LP
1
1
1
1
1
1
SP
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
Grüne
1
1
1
1
1
1
Nationalrat
FDP
3
3
3
2
2
2
2
1
2
2
1
1
2
3
CVP
1
1
1
1
2
1
1
2
1
2
1
1
1
1
LP
2
1
1
2
2
2
3
3
2
2
2
2
SP
2
1
1
2
2
3
2
3
4
2
3
3
3
3
2
2
2
3
2
1
1
2
1
PdA / Alliance de
gauche
Solidarités / Alliance
de gauche
PEG / Grüne
1
Vigilance
1
1
1
1
1
1
2
2
1
2
2
2
2
1
1
11
11
1
SVP
MCG
1a
Andere
Total
a
8
8
8
10
11
11
11
11
11
11
11
11
Landesring der Unabhängigen
Quellen:HistStat; BFS
Zusammensetzung des Regierungsrats 1981-2013 (ausgewählte Jahre)
1981 1985 1989 1993 1997 2001 2005 2009 2013
FDP
2
1
1
2
2
1
1
2
CVP
1
2
2
2
1
2
1
1
2
LP
2
2
2
3
1
2
1
2
SP
2
2
2
2
2
2
1
1
1
1
2
2
1
Grüne
MCG
Total
1
7
7
7
7
7
7
7
7
7
Quellen:BFS
Grossratswahlen 1919-2013 (ausgewählte Jahre)
1919 1924 1933 1939 1954 1965 1977 1985 1993 2001 2005 2009 2013
FDP
22
23
19
34
32
22
17
15
15
12
12
11
24
12
10
13
14
17
17
15
13
14
12
12
11
11
LP
32
14
14
17
16
15
20
19
27
23
23
20
SP
27
29
45
7
12
20
24
18
15
19
17
15
28
16
16
16
8
21
13
8
8
11
a
CVP
b
15
c
PdA / Alliance de
gauche
PEGd / Grüne
1
16
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10
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1919 1924 1933 1939 1954 1965 1977 1985 1993 2001 2005 2009 2013
UDE
24
Union nationale
9
Vigilance
10
8
19
SVP
10
MCG
e
Andere
7
Total
100
7
100
100
100
11
9
11
9
17
20
100
100
100
f
100
8
100
100
100
a
1892-1926: Parti indépendant; 1926-71: Parti indépendant chrétien-social
b
1873-1957: Parti démocratique
c
1939-45: Fédération socialiste
d
Parti écologiste genevois
e
Jung-Radikale
f
Parti progressiste
100
100
Quellen:HistStat; BFS; Chancellerie d'Etat de Genève
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
4.3.5 - Die Infragestellung der Wohlstandsgesellschaft (seit 1975)
Während die Generation der dreissig Jahre anhaltenden Hochkonjunktur hemmungslos gebaut und an die
Perspektive eines Kantons von 800'000 Einwohnern geglaubt hatte, sah sich diejenige der letzten Jahrzehnte
des 20. Jh. dazu gezwungen, diesen Enthusiasmus zu überdenken und die gesellschaftl. Gleichgewichte
wiederherzustellen. Gelang es G. noch in den 1970er Jahren, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in
Grenzen zu halten, schlug die Rezession zu Beginn der 90er Jahre schlimmer durch als in der übrigen Schweiz.
Eine im schweiz. Vergleich sehr hohe Arbeitslosigkeit (1992 4,7%, 1994 7,6%, 1999 5,1%, 2004 7,3%) und
eine schwere Finanzkrise des Kantons führten zu einer neuen Polarisierung des polit. Lebens. 1993
beanspruchten und eroberten die bürgerl. Parteien zum ersten Mal in der Nachkriegszeit alle Sitze im
Staatsrat. Das Experiment scheiterte und mündete vier Jahre später in die Wahl einer Regierung, die nur noch
vier Bürgerliche aufwies (darunter mit der Liberalen Martine Brunschwig Graf die erste Frau). Linke und Grüne
besassen 1997-2001 zum ersten Mal eine hauchdünne Mehrheit (51 der 100 Sitze) im Gr. Rat. Einen starken
Faktor innerhalb der Genfer Linken bildete die Alliance de Gauche aus PdA, SolidaritéS und Unabhängigen.
Allerdings verlor sie aufgrund der Sperrklausel 2005 alle Sitze im Gr. Rat. Die Grünen nahmen 1997 erstmals
Einsitz in der Exekutive, wo seit 2013 auch das Mouvement citoyens genevois (MCG) vertreten ist. Der Kanton
bildet heute einen einzigen Wahlkreis, und für die Proporzwahl gilt eine Sperrklausel von 7%.
Unter der Vorherrschaft der Liberalen Partei näherten sich die Standpunkte der bürgerl. Kräfte einander an.
Die Genfer Politik wird jedoch immer wieder von einem konstanten Druck seitens rechtsextremer
Gruppierungen geprägt, die manchmal aus Wirtschaftskreisen Unterstützung erhalten, um die Steuern zu
senken oder die Rolle des Staates zurückzubinden. 2001 gewann die Schweiz. Volkspartei, die auf Grund ihres
traditionell agrar. Charakters bis anhin in G. nicht vertreten war, zehn Sitze im Gr. Rat. Im rechtspopulist.
Lager siedelt sich auch das 2005 gegr. MCG an, das 2013 zur zweitstärksten Fraktion im Kantonsrat
avancierte. Wurden 1919 zwei der insgesamt acht Sitze G.s im Nationalrat durch Sozialdemokraten besetzt,
vertraten nach den Wahlen von 2003 drei Mitglieder der Sozialdemokraten, je zwei der Liberalen und der
Schweiz. Volkspartei (ein Novum) sowie je eines der Radikalen, der Christdemokraten, der Grünen und der
Alliance de Gauche (bis 2007) den Kanton in Bern. Nach einem langen Unterbruch ohne Bundesrat wurden die
Genferinnen Ruth Dreifuss (1993-2002, Präs. 1999) und Micheline Calmy-Rey (2002-11, Präs. 2011) in die
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Bundesregierung gewählt.
Zu Beginn des 21. Jh. ist das polit. Leben in G. von einer gewissen Ernüchterung gekennzeichnet, gleichzeitig
stellen sich neue Fragen zu den Beziehungen G.s zur Eidgenossenschaft sowie zur Einbettung des Kantons in
die Region. Das Abstimmungsergebnis zur Armeeabschaffungsinitiative vom Nov. 1989 - G. nahm sie mit
einer knappen Mehrheit an -, das einmal mehr gewisse Bedenken in Bezug auf diese Institution zum Ausdruck
brachte, wurde später nicht bekräftigt. Aussagekräftiger in Hinsicht auf das Verhältnis zur Schweiz war die
Abstimmung über den Europ. Wirtschaftsraum vom Dez. 1992: Die hohe Zustimmung der Genfer von 78% JaStimmen kontrastierte stark mit dem ablehnenden Landesdurchschnitt von 50,3% Nein-Stimmen. Erneut
befand sich G. in einer Situation, in welcher der typ. Genfer Dualismus, nämlich die Öffnung zur Welt im
Gegensatz zur realen Eingliederung in einem auf sich selbst zurückziehenden nationalen Raum, zum Ausdruck
kam. Dieses Bild wurde jedoch im März 2001 nuanciert, als eine Initiative, die den Beitritt der Schweiz zur
Europ. Union forderte, in G. mit einem Nein-Anteil von 58% verworfen wurde.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
4.3.6 - Verwaltung und öffentliche Finanzen
Seit 1925 gliedert sich der Kt. G. und seine Verwaltung in acht Departemente (Finanzen, Erziehung, Justiz und
Polizei, öffentl. Bauten, Inneres, Volkswirtschaft, Sozial- und Gesundheitswesen, Militär), deren offizielle
Bezeichnungen und Zuständigkeitsbereiche sich immer wieder verändert haben. Die Genfer Verwaltung tritt
relativ zentralisiert auf, weil die Bezirke (Rechtes Ufer, Linkes Ufer und Stadt G.) 1920 abgeschafft worden
sind.
Im Vergleich zu den anderen Kantonen weisen die öffentl. Ausgaben G.s seit jeher ein hohes Niveau aus. Dies
lässt sich darauf zurückführen, dass die Bedürfnisse eines kosmopolit. Stadt- und Grenzkantons besonders
vielfältig sind und die Bevölkerung entsprechende Erwartungen hegt. Die Staatsausgaben für das Personal
stiegen ab Ende der 1950er Jahre stark an, v.a. in den Bereichen Gesundheit und Erziehung.
Die Frage der Stellung und Besoldung der Beamten steht regelmässig im Zentrum der polit. Debatten in G.,
genau wie diejenige der steuerl. Belastung, mit der sie eng verknüpft ist. In der Zwischenkriegszeit mussten
die Beamten auf Grund der Finanzkrisen zwei Lohnsenkungen in Kauf nehmen. Im letzten Viertel des 20. Jh.
beherrschten mehrere Streiks des öffentl. Dienstes für bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Qualität
der Dienstleistungen die Politik und lösten eine breite Debatte über die Rolle des Staates und sein Image aus.
Die starke Zunahme der Budgetdefizite und die Verschuldung der öffentl. Hand während der Krise zu Beginn
der 1990er Jahre verursachten ebenfalls heftige Kontroversen und mündeten nach der Annahme einer
Volksinitiative der Liberalen Partei 1999 in Steuersenkungen zur Ankurbelung der Wirtschaft. Die letzten Jahre
brachten wieder beträchtl. Defizite, und die Auseinandersetzungen sind von neuem ausgebrochen.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
5 - Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben in Genf im 19. und 20. Jahrhundert
5.1 - Unter französischer Herrschaft (1798-1814)
5.1.1 - Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung
Mit der Eingliederung ins Dep. Léman bekam die Stadt G. zum ersten Mal ein weites Hinterland, von dem es
nicht mehr durch eine Grenze abgetrennt war. Das Stadtgebiet umfasste weniger als 2% der
Departementsfläche, und mit 24'000-25'000 Einwohnern betrug der Anteil der Stadt an der
Gesamtbevölkerung nur etwas mehr als einen Zehntel. Begünstigte die neue Konstellation die Verbreitung
der Ideen der lokalen Agronomen sowie ihrer Experimente auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der
Ansiedlung von Merinoschafen, hielt sie doch zu wenig lang an, um echte Beziehungen zwischen den Genfern
und den kath., mehrheitlich ländl. Bewohnern des übrigen Departements entstehen zu lassen.
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Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / AHB
5.1.2 - Wirtschaft
Wie schon in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten wurde die Genfer Wirtschaft auch unter der franz.
Herrschaft empfindlich beeinträchtigt. Die vom Direktorium, dann von Napoleon ergriffenen Massnahmen
schränkten den Import von Rohstoffen ein und behinderten die Exporte schwer. Einfuhrzölle und -verbote, die
darauf abzielten, England zu schaden, die franz. Manufakturen zu bevorzugen und aus dem Güterverkehr
Geld abzuschöpfen, kümmerten sich wenig um die Bestimmungen des Vereinigungsvertrags von 1798, der
die Genfer von Steuern befreit und ihnen den freien Verkehr ihrer Produkte in Frankreich zugesichert hatte. Es
ging ganz einfach darum, die Genfer um ihre Vorteile im Kommissions- und Lagerhandel zu bringen: Faktisch
wurde G. weiterhin als Konkurrent der franz. Städte aufgefasst.
Die Periode ist u.a. charakterisiert durch die Konzentration der Wirtschaftstätigkeit auf die Uhrenindustrie und
Bijouterie - Fabrique genannt - einerseits und die baumwollverarbeitende Industrie (weisser Stoff und
Indienne) andererseits. Trotz mehrerer spektakulärer Erfindungen in der Uhrenindustrie, die durch die Société
des Arts und die Ausstellungen in Paris verbreitet wurden, und des Entstehens einiger dynam. Bijouterie- und
Uhrenrohwerkunternehmen blieb die Fabrique schlechten Marktbedingungen unterworfen. Ihre Produktion
verursachte zu hohe Kosten. Obschon sie vom Zunftsystem, das ihr verboten hatte, auf der Landschaft
arbeiten zu lassen, befreit war, produzierte sie in städt. Kleinbetrieben mit beschränkten Mitteln. Aus der
Abschaffung der Grenzen, die sie vorher von den Zentren der Uhrenrohwerkherstellung im Arvetal und im
Pays de Gex abgeschnitten hatten, zog sie keinen Vorteil. Nur die Baumwollindustrie profitierte von der
Ausweitung des Genfer Wirtschaftsraums. Zusammengefasst in grossen internat. Kommanditgesellschaften,
griffen ihre Patrons manchmal auf die leicht auszubeutenden ländl. Arbeitskräfte des ehem. Savoyens und auf
Gebäude aus dem Besitz religiöser Orden zurück, die während der Franz. Revolution konfisziert worden
waren. Auf Grund der napoleon. Kriege, der Kontinentalsperre und der hohen Rohstoffpreise sah die ökonom.
Bilanz dieser Jahre jedoch düster aus: Konjunkturschwäche in allen Sektoren, Arbeitslosigkeit und Elend in
weiten Teilen der Bevölkerung.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / AHB
5.1.3 - Gesellschaft
Die verschiedenen sozialen Gruppen, aus denen sich zu Beginn des 19. Jh. die Genfer Gesellschaft
zusammensetzte, erlebten die Annexion sehr unterschiedlich. Während eine begüterte Minderheit ihren
mondänen Lebensstil beibehielt und vom neuen Regime profitierte, litt die Mehrheit der Bevölkerung unter
der Wirtschaftskrise, der Steuerlast und der militär. Einberufung, der man sich nur durch die Bezahlung eines
Ersatzmannes entziehen konnte. Auch wenn offener Widerstand die Ausnahme bildete, so drückten die Genfer
doch in den Salons und Vereinen hinter vorgehaltener Hand ihren Unmut aus über das Tragen der
Trikolorenkokarde, die Abschaffung der Wappen und bestimmter lokaler Bräuche, die zahllosen Militärparaden
und Ruhmesfeiern zu Ehren der franz. Republik und des Empire, die Allgegenwart einer wuchernden
Verwaltung durch Fremde sowie das Schielen der imperialen Macht auf ihr Hab und Gut.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / AHB
5.1.4 - Kirche und Kultur
Unter dem Konsulat (1799-1804) verlor G. offiziell seine kirchl. Einheit. Nachdem sich die ref. Kirche während
des Direktoriums in einer Rückzugsposition befunden hatte, fand sie dank des Gesetzes über die Organisation
der Kulte von 1802 zu ihrer traditionellen Rolle zurück. Das Gesetz von 1802 verkündete Napoleon zur
gleichen Zeit wie das Konkordat, das in Frankreich die kath. Religion wieder zuliess. Die Katholiken - unter der
geistigen Führung ihres Pfarrers Jean-François Vuarin - hatten also das Recht, ihre Religion in G. wieder zu
praktizieren. 1801 wurde die Diözese G.-Annecy abgeschafft und diejenige von Chambéry und G. neu
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gegründet. Die ab 1490 aus der Stadt verbannten Juden erhielten 1806 und 1808 ebenfalls eine Regelung für
ihren Kultus.
Im Ausland war G. bekannt für seine Gelehrten (Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi), seine Künstler
(Jean-Pierre Saint-Ours), seine Société des Arts und die wissenschaftl. Artikel in der "Bibliothèque
britannique". Als Napoleon die kaiserl. Universität gründete, gewährte er der Stadt die besondere Gunst, ihre
Akademie als unabhängige Institution mit mehreren Fakultäten und zwei vorbereitenden Schulen (Recht und
Medizin) zu behalten.
Autorin/Autor: Liliane Mottu-Weber / AHB
5.2 - Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben im 19. Jahrhundert
(1814-1914)
5.2.1 - Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung
Die Bevölkerung des Kt. G. entwickelte sich im 19. Jh. nach einem beträchtl. Rückgang unter der franz.
Herrschaft in einem bis dahin unerreichten Ausmass. Zwischen 1814 und 1914 stieg sie von 31'000 auf
172'000 Einwohner an, von denen drei Viertel in der Stadt wohnten (1910 waren es 154'906 Einwohner,
davon 115'243 in der Stadt G.). Dieser Zuwachs vollzog sich in mehreren Wellen, die der polit. und ökonom.
Konjunktur folgten. Der erste "Sprung" fand unmittelbar nach den Verträgen von 1815 und 1816 statt. Er ging
zum grössten Teil auf die Communes réunies zurück, die der Republik G. ungefähr 16'000 neue Bürger
brachten. Die Eingliederung in die Eidgenossenschaft löste einen anhaltenden Zustrom von Schweizern aus
den übrigen Kantonen aus. Sie alle wurden von der Aussicht auf Arbeit angezogen, welche die grösste Stadt
des Landes zu bieten versprach. Während der Restauration verdreifachte sich dieser Zulauf, und um 1846
zählte man fast 10'000 Schweizer, die sich in G. niedergelassen hatten. Diese Zahl entsprach damals zwei
Dritteln aller Einwanderer. Daneben zogen v.a. Franzosen und Immigranten aus dem Königreich Sardinien
nach G.
Nach der Revolution der Radikalen von 1846 verstärkte sich der Zuzug. Die Regierung begünstigte die
Niederlassung jener, die vor den Repressionen von 1848 flohen. Obwohl es sich dabei um eine kleine Gruppe
handelte, übte sie einen grossen Einfluss aus. Dank der Ausstrahlung einiger ihrer Mitglieder und der Klugheit
der Regierung, die deren Fähigkeiten zu nutzen verstand, festigte G. seinen Ruf als gastfreundl. Stadt. Dieses
Image bestand nicht zu Unrecht, denn zwischen 1850 (15'142 Ausländer auf 64'146 Einwohner, d.h. 23,6%)
und 1914 (1910: 62'611 auf 154'906, d.h. 40,4%) nahm der Ausländeranteil beträchtlich zu und erreichte am
Vorabend des 1. Weltkriegs einen Wert von 42% der Kantonsbevölkerung. Diese demograf. Veränderungen
wären ohne die tief greifenden urbanist. Massnahmen, die mit der Öffnung der bis dahin in ihren
Festungswerken eingezwängten Stadt einhergingen, nicht möglich gewesen. Das Abtragen der Befestigungen
verwandelte G. von einer ma. Zitadelle in eine moderne Stadt, die sich dank der Eisenbahn, des Baus eines
weitläufigen Tramnetzes (1894 126 km) und einer entsprechenden Wirtschaftsentwicklung weiter ausdehnte.
Bevölkerungsentwicklung 1836-2000
Anteil
Anteil
Jahr Einwohner Ausländer-anteil Protestanten Katholiken
1836
58 666
1850
64 146
23,6%
53,3%
1860
82 876
34,6%
1870
88 791b
35,0%
1880
99 712b
1888
Anteil Französischsprachige
Anteil Deutsch- Altersstruktur
sprachige (Anteil > 59)
Zeitraum Gesamt-zunahmea Geburten-überschussa Wanderungs-saldoa
1836-1850
6,5‰
0,3‰
6,2‰
46,4%
1850-1860
23,6‰
-1,5‰
25,1‰
48,3%
50,8%
7,5% 1860-1870
6,9‰
-1,7‰
8,6‰
46,8%
51,3%
8,3% 1870-1880
8,6‰
0,7‰
7,9‰
36,1%
47,6%
50,7%
85,1%
11,3%
8,4% 1880-1888
7,1‰
-0,2‰
7,3‰
105 509
37,8%
48,3%
49,6%
84,5%
11,7%
9,1% 1888-1900
19,2‰
0,9‰
18,3‰
1900
132 609
39,7%
47,1%
50,6%
82,7%
10,1%
9,8% 1900-1910
15,7‰
1,1‰
14,6‰
1910
154 906
40,4%
45,5%
49,6%
78,0%
11,0%
9,1% 1910-1920
9,9‰
-2,0‰
11,9‰
1920
171 000
30,2%
49,7%
44,1%
78,0%
12,1%
10,1% 1920-1930
0,2‰
-2,3‰
2,5‰
1930
171 366
23,9%
51,9%
38,9%
76,9%
14,1%
12,3% 1930-1941
1,8‰
-3,2‰
5,0‰
1941
174 855
15,6%
54,6%
40,5%
80,6%
13,6%
16,1% 1941-1950
16,7‰
0,2‰
16,5‰
1950
202 918
17,3%
50,6%
42,3%
77,6%
13,6%
17,1% 1950-1960
24,8‰
1,1‰
23,7‰
1960
259 234
23,7%
45,7%
47,8%
70,0%
13,3%
17,1% 1960-1970
24,9‰
5,8‰
19,1‰
1970
331 599
33,7%
38,1%
53,4%
65,4%
10,9%
16,7% 1970-1980
5,1‰
2,7‰
2,4‰
1980
349 040
32,3%
30,6%
51,1%
64,7%
9,5%
17,4% 1980-1990
8,3‰
2,5‰
5,8‰
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Anteil
Anteil
Jahr Einwohner Ausländer-anteil Protestanten Katholiken
Anteil Französischsprachige
Anteil Deutsch- Altersstruktur
sprachige (Anteil > 59)
Zeitraum Gesamt-zunahmea Geburten-überschussa Wanderungs-saldoa
1990
379 190
36,6%
22,6%
47,8%
70,4%
5,5%
18,3% 1990-2000
2000
413 673
38,1%
17,4%
39,4%
75,8%
3,9%
20,1%
a
mittlere jährliche Zuwachsrate
b
ortsanwesende Bevölkerung
7,9‰
3,5‰
4,4‰
Quellen:HistStat; eidg. Volkszählungen; BFS
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
5.2.2 - Wirtschaft
Nach der napoleon. Ära überwand G. die Wirtschaftsflaute und erreichte wieder einen solchen Wohlstand,
dass man die der 1841er Revolution vorangehenden Jahre gerne als die "27 Jahre des Glücks" bezeichnete.
Diese positive Einschätzung rührte ohne Zweifel von einer Hebung des Lebensstandards her, die in erster
Linie auf der wieder gewonnenen Stärke der Fabrique gründete. Das Urteil verschweigt hingegen die letzte
Versorgungskrise G.s in den Jahren 1816 und 1817, als ein Teil der Bevölkerung in schwere Not geriet und die
Regierung gezwungen war, Getreide sogar aus Russland einzuführen. Es unterschlägt auch das Schicksal der
Indienneunternehmen, die zwischen 1825 und 1835 verschwanden. Und schliesslich vergisst es die
Depression im Baugewerbe und in einigen Handwerkszweigen zu Beginn der 1830er Jahre. Ein Jahrzehnt
später war selbst die Uhrenindustrie zweimal von einer Krise betroffen, und zwar zuerst um 1840, dann
während der schweren Rezession, die 1846-49 den ganzen Kanton erfasste. James Fazy gelang es, letztere
Krise zu meistern, indem er die Opfer der Wirtschaftsdepression für das staatl. Projekt des Abtragens der
Befestigungen einsetzte. Er nutzte die durch den Abbruch angestrebte Öffnung, um den Rückstand G.s im
Eisenbahnbau aufzuholen. So wurde die Stadt 1858 mit Lyon und Yverdon verbunden. Die Strecke G.Annemasse wurde 1888 eingeweiht, doch vermochte sich G. nicht harmonisch ins grosse europ.
Eisenbahnnetz einzugliedern, da etwa das Projekt des Col de la Faucille scheiterte. Darüber hinaus förderte
Fazy die Gründung von Kreditbanken.
Vor dem Hintergrund einer allg. Konjunkturerholung führten all diese Massnahmen zu einem neuerl.
Wachstum der lokalen Wirtschaft. Während rund zwanzig Jahren erlebte der Kanton einen Aufschwung, der
sich in der glanzvollen Entwicklung der Fabrique und einer aussergewöhnl. Innovationsfreudigkeit der
Industrie widerspiegelte. Nachdem der Aufwärtstrend in den 1870er Jahren von der schweren Rezession
gebremst worden war, setzte er erst wieder an der Wende zum 20. Jh. ein. In der Uhrenindustrie fiel der
Konjunktureinbruch der 1870er Jahre mit strukturellen Problemen zusammen. Da sie sich auf die Herstellung
von Qualitätserzeugnissen ausgerichtet hatte, behauptete sie sich auf dem Gebiet der Massenproduktion nur
schlecht, sodass angesichts der amerikan. Konkurrenz der langsame Niedergang nicht mehr aufzuhalten war.
Die Indienneherstellung und die Fabrique wurden durch neue Wirtschaftszweige ersetzt. In der Restauration
lebte der Tourismus auf. In der 2. Hälfte des 19. Jh. erlebte das Bankenwesen einen mächtigen Aufstieg. Es
entstanden aber auch zahlreiche Fabriken, die etwa im Maschinen- und Präzisionsinstrumentensektor aus den
Erfindungen einfallsreicher Köpfe wie Théodore Turrettini und Auguste De la Rive Profit schlugen; so die 1862
gegr. Société genevoise d' instruments de physique (ab 1879 Sécheron). Am Vorabend des 1. Weltkrieges
kamen weitere Firmen hinzu, u.a. Firmenich und Givaudan, die von den Fortschritten in der Chemie (Parfums,
Farbstoffe, Aromen) zeugten. Trotz dieser Dynamik verlor der 2. Sektor in G. an Bedeutung. Um 1910
arbeiteten fast 50% der erwerbstätigen Kantonsbevölkerung im 3. Sektor - nach stetem Rückzug aus der
Landwirtschaft, was der klassischen sektoriellen Verschiebung in den grossen Städten entspricht.
Erwerbsstruktura
Jahr
1860
1. Sektor
3 878
2. Sektor
9,1%
20 613
48,1%
3. Sektorb
18 352
42,8%
Total
42 843
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© 1998-2017 HLS: Alle Urheberrechte dieser elektronischen Publikation sind beim Historischen Lexikon der Schweiz, Bern. Für alle
elektronisch publizierten Texte gelten dieselben Regeln wie für eine gedruckte Veröffentlichung. Nutzungsrechte und Zitierrichtlinien (PDF)
32/40
Jahr
1. Sektor
2. Sektor
3. Sektorb
Total
c
8 411
22,0%
17 457
45,7%
12 344
32,3%
38 212
1880c
7 927
17,3%
22 819
49,7%
15 205
33,1%
45 951
1888
7 312
14,0%
20 753
39,8%
24 063
46,2%
52 128
1900
7 198
9,9%
33 025
45,3%
32 608
44,8%
72 831
1910
6 230
7,6%
35 910
43,7%
39 944
48,7%
82 084
1920
6 014
6,3%
42 335
44,3%
47 217
49,4%
95 566
1930
5 444
5,8%
39 301
42,1%
48 504
52,0%
93 249
1941
5 661
6,2%
38 029
41,8%
47 397
52,0%
91 087
1950
4 588
4,4%
43 518
41,5%
56 656
54,1%
104 762
1960
3 966
2,9%
56 710
41,4%
76 314
55,7%
136 990
1970
2 707
1,6%
54 694
32,2%
112 577
66,2%
169 978
1980
2 398
1,4%
40 939
23,3%
132 159
75,3%
175 496
1 734
0,9%
32 561
16,5%
162 742
82,6%
197 037
2 218
1,1%
22 297
10,8%
182 013
88,1%
206 528
1870
1990
2000
d
a
bis 1960 ohne Teilzeitangestellte
b
Residualgrösse einschliesslich "unbekannt"
c
ortsanwesende Bevölkerung
d
Die Beschäftigtenzahlen der Volkszählung 2000 sind wegen der grossen Zahl "ohne Angabe" (40 917) nur
begrenzt mit den vorhergehenden Daten vergleichbar.
Quellen:HistStat; eidg. Volkszählungen
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
5.2.3 - Gesellschaft
Obschon der soziale Wandel in Genf mit demjenigen in den anderen Kantonen durchaus vergleichbar ist, darf
nicht vergessen werden, dass es auch spezif. Genfer Entwicklungen gab. Zu Beginn des 19. Jh. veränderte die
Aufnahme der Communes réunies das an sich schon kontrastreiche Bild G.s und machte es noch komplexer.
In zugespitzter Weise liesse sich sagen, dass sich die Bevölkerung in mehrere Kategorien gliederte, die sich
das kant. Gebiet teilten. An der Spitze der Gesellschaftspyramide befanden sich die Notabeln, die sich an den
breiten Strassen rund um die Kathedrale und entlang der Rhone niedergelassen hatten. Als Nachkommen
aristokrat. Familien oder als gut verheiratete Erben von Unternehmern, die in den napoleon. Abenteuern zu
Reichtum gekommen waren, beherrschten sie bis in die 1840er Jahre die Schaltstellen des Staates. Mit den
übrigen Mitbürgern hatten sie kaum Kontakt, ausser vielleicht mit den Bauern, welche die Güter ihrer
Sommerlandsitze bewirtschafteten, und den Kaufleuten und Vertretern der freien Berufe, mit denen sie im
Repräsentierenden Rat, später im Gr. Rat verkehrten, wo Letztere immer zahlreicher wurden.
Dieser obere Mittelstand, der in der Unterstadt wohnte, übernahm 1846 die Macht und behielt sie bis zu
Beginn des 20. Jh. Auch wenn zwei ihrer Führer, James Fazy und Louis Rilliet-de Constant, aus der Aristokratie
stammten, so bestand ihre Wählerschaft v.a. aus Arbeitern der Fabrique aus dem Quartier Saint-Gervais. Auf
den gegenüberliegenden Uferhängen wohnte eine heterogene Bevölkerung von Kleinhandwerkern,
Ausländern und Prostituierten. Ein ähnl. Bild zeigte sich in den Vorstädten. Noch weiter vom Stadtgebiet
entfernt lebten die Bauern. In den ehem. Mandements waren sie recht begütert und reformiert, in den
Communes réunies eher arm und katholisch.
Trotz der sozialen, konfessionellen und hist. Unterschiede wies die Gesellschaft als Ganzes eine innere
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Bindung auf. Gleich welcher Herkunft fanden die Genfer in einem äusserst starken Bewusstsein ihrer Würde
als Menschen zusammen. Zu Beginn der Restauration manfestierte sich dieser - noch von keiner polit. Gruppe
für sich vereinnahmte - Stolz nur in einigen unbedeutenden Unruhen. Geschickt instrumentalisiert von den
Radikalen, ermöglichte er die Revolutionen von 1841 und 1846. Schliesslich wandelte er sich, angereichert
mit franz. Fourierismus und Idealen der dt. Sozialdemokratie sowie verstärkt durch den Zustrom von
Arbeitern, die von der Öffnung der Stadt angezogen worden waren, zu einer sozialkämpfer. Haltung. In
diesem für neue Ideen und für die 1864 gegr. Internat. Arbeiter-Assoziation aufgeschlossenen Klima brach
1868 ein Generalstreik im Baugewerbe aus, dem bald viele weitere folgten. Die Kampfbereitschaft fand 1902
ihren Höhepunkt, als im ganzen Kanton - zum ersten Mal in der Schweiz - die Arbeit niedergelegt wurde. Im
Prinzip jedoch suchte die Regierung jeweils nach einvernehml. Lösungen. Sie bevorzugte Verhandlungen und
knüpfte Wahlallianzen, was Fritz Thiébaud 1897 ermöglichte, erster sozialdemokrat. Staatsrat der Schweiz zu
werden. Überdies passten die Behörden die Gesetzgebung an, indem sie ab 1882 Arbeitsgerichte schufen und
vor dem übrigen Europa den Gesamtarbeitsverträgen Gesetzeskraft verliehen. In Bezug auf die sozialen
Ansprüche und Massnahmen war der Kanton seiner Zeit klar voraus. Mit diesem Vorsprung gingen ein
beachtl. Stand des Schulwesens und vielfältige konfessionelle Spannungen einher.
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
5.2.4 - Schule und religiöses Leben
Im 19. Jh. begann der allmähl. Zerfall des konfessionell-kulturellen und somit identitätsstiftenden Fundaments
von G.: des Protestantismus. Wurden die Pastoren von der 1814er Verfassung noch privilegiert, verloren sie
um 1835 einen Teil ihrer Vorrechte im Schulwesen und behielten nur noch ihre Befugnisse auf dem Gebiet der
Theologie und Seelsorge. 1847 wurde die Wahl des Pfarrers den Pfarrgemeinden überlassen, die auch die
Mitglieder des für die Kirchenverwaltung zuständigen Konsistoriums bestimmten. Einer der Gründe für den
Bedeutungsverlust lag im Aufkommen der Erweckungsbewegungen. Der sog. Réveil führte zu Beginn des 19.
Jh. zu einer Spaltung innerhalb der ref. Kirche. Nach der Restauration fand diese von der Romantik
durchdrungene Bewegung, die für einen weniger rationalistischen, dafür mehr verinnerlichten Glauben
eintrat, ihre Anhänger zuerst in den Unterschichten, bevor sie auch zahlreiche Notabeln gewann. Die fehlende
Einheit der Lehre innerhalb der ref. Institutionen erklärt, weshalb diese einer ernsthafteren "Bedrohung",
nämlich dem Katholizismus, so schlecht standhielten.
Die Wiedereinführung des Katholizismus in G., die unter der napoleon. Herrschaft erfolgt war, wurde de jure
durch den Eintritt der Republik G. in die Eidgenossenschaft, de facto durch die anschliessende Eingliederung
der Communes réunies in den neuen Kanton bestätigt. In Regierungskreisen löste der Vorgang eine immense
Furcht aus. Sie fand ihren Niederschlag in der minimalen territorialen Vergrösserung des Kantons, in der 1819
erfolgten Einverleibung der neu erworbenen Pfarrgemeinden in eine schweiz. Diözese, jener von Lausanne
(1821 Diözese von Lausanne und G.), sowie in der Ausarbeitung von gesetzl. Regelungen, die darauf
abzielten, die polit. Rechte der Katholiken einzuschränken und Mischehen zu fördern. Die Persönlichkeit des
kath. Stadtpfarrers, Jean-François Vuarin, der heftig gegen die Regierung opponierte, verstärkte die Ängste.
Sein Tod 1843 und die Bemühungen des Agnostikers James Fazy um die kath. Wählerschaft trugen in den
1840er Jahren zur Beruhigung des religiösen Klimas bei und 1847 wurden die beiden Konfessionen rechtlich
gleichgestellt. Die jüd. Gemeinschaft durfte ab 1843 einen "privaten Kultus" feiern, 1852 eine israelit.
Gemeinde gründen und 1859 eine Synagoge errichten.
Nachdem die Reformierten in die Minderheit geraten waren (1860: 40'069 ref. Einwohner, 42'099 kath.),
brach der religiöse Streit 1864 wieder auf mit der Ankunft von Gaspard Mermillod, eines weiteren kath.
Pfarrers von aussergewöhnl. Zuschnitt. Er verantwortete mit seinem Bestreben, die alte Diözese von G.
wiederherzustellen, den Ausbruch des Kulturkampfs in G. mit. Ab 1870 erliessen die von Antoine Carteret
geführten Radikalen versch. Gesetze mit dem Ziel, die röm.-kath. Kirche durch einen unter der Aufsicht des
Staates stehenden Kultus zu ersetzen. Zu diesem Zweck gründeten sie 1873 die Eglise catholique nationale
(Christkatholische Kirche). Auf Bundesebene führte die Auseinandersetzung schliesslich zur Ausweisung von
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Mermillod und zum Abbruch der diplomat. Beziehungen mit dem Hl. Stuhl, auf lokaler Ebene rief sie bei den
romtreuen Katholiken heftigen Widerstand hervor. Allerdings bewirkte Letzterer nur die Beschneidung des
Einflusses der Katholiken, denn 1907 kam es in G. zur Trennung von Kirche und Staat. Wie der Abschluss des
Konflikts zeigt, standen sich im Kampf, der G. im 19. Jh. spaltete, weniger die Katholiken und Protestanten als
vielmehr die Religion und der Laizismus einander gegenüber. Dies lässt sich auch an der Entwicklung des
Bildungswesens ablesen. Die recht leistungsfähige Schule - sie brachte in der Stadt den Analphabetismus zum
Verschwinden und reduzierte ihn in den Communes réunies beträchtlich - bewegte sich ab den 1830er Jahren
in Richtung Verstaatlichung und Laizisierung. Auch die höheren Schulen wandelten sich dank des Renommees
von Gelehrten wie Augustin-Pyramus de Candolle, Auguste De la Rive oder Antoine-Elisée Cherbuliez. Die
Revolution der Radikalen beschleunigte die konfessionelle Neutralisierung. Bezeichnenderweise wurde 1872,
mitten im Kulturkampf, das Obligatorium für den Primarschulunterricht (ab dem 6. bis zum 13. Lebensjahr)
erlassen und die Akademie in die Univ. Genf umgewandelt, die zusätzlich zur theol., jurist. sowie geistes- und
naturwissenschaftl. Fakultät eine medizinische erhielt.
Die Schule steht nicht nur für die Laizisierung der Gesellschaft, sondern auch für deren "Nationalisierung".
Vom Einfluss der Pfarrer befreit, vermittelte der Unterricht immer mehr Wissen über die Eidgenossenschaft.
Aber auch die Kunst beteiligte sich an der "Helvetisierung", da die Schweiz der Alpen und alten Helden zu
einem beliebten Thema in der Malerei wurde (Jean-Léonard Lugardon, Alexandre Calame, François Diday). Der
eidg. Patriotismus durchdrang auch die zahlreichen Genfer Vereine, deren Zahl sich während des ganzen 19.
Jh. laufend vervielfachte, und prägte die Landesausstellung von 1896 in G., an der lokalschweiz.
Architekturstile im sog. Village suisse eindrücklich präsentiert wurden. V.a. aber die Feste stärkten das
Nationalgefühl, so die Feierlichkeiten anlässlich der Ankunft der Solothurner und Freiburger Kontingente im
Port Noir im Juni 1814 oder, stärker noch, diejenigen zum hundertjährigen Jubiläum des Genfer Beitritts zur
Eidgenossenschaft am Vorabend des 1. Weltkrieges. Letztere zelebrierte den Beitritt als ein Ereignis, das sich
nahtlos - wenn nicht gar zwingend - an die eigene Geschichte anschloss.
Autorin/Autor: Irène Herrmann / AHB
5.3 - Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben im 20. Jahrhundert
5.3.1 - Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung
Die Wohnbevölkerung des Kantons wuchs unaufhörlich. Von 132'609 Einwohnern im Jahr 1900 stieg sie auf
202'918 im Jahr 1950 und umfasste 2000 413'673 Personen. Der Ausländeranteil in G. bewegte sich schon am
Vorabend des 1. Weltkrieges mit rund 40% auf dem gleichen Niveau wie am Ende des 20. Jh. Im Grossen und
Ganzen bestand die Genfer Bevölkerung vor 1914 aus einem Drittel Genfer, einem Drittel Schweizer und
einem guten Drittel Ausländer, die mehrheitlich aus den grenznahen Regionen wie dem Chablais und dem
Piemont stammten. Die Zwischenkriegszeit zeichnete sich durch einen Zustrom von Schweizern aus den
übrigen Kantonen aus, während sich die Zahl der ausländ. Bevölkerung halbierte und während des 2.
Weltkrieges den tiefsten Stand (1941: 27'272 Ausländer auf 174'855 Einwohner, d.h. 15,5%) erreichte.
Nach dem 2. Weltkrieg löste der Wirtschaftsboom die Einwanderung zahlreicher Arbeiter aus Ländern wie
Italien, Spanien, Portugal und Jugoslawien aus. Die Entwicklung G.s zum internat. Zentrum veranlasste
ebenfalls viele Leute aus der ganzen Welt, im Kanton ihr Quartier aufzuschlagen. Im letzten Viertel des 20. Jh.
betrug ihre Zahl mehr als 20'000 Personen, wenn man sämtl. Kategorien (Diplomaten und ihr Hauspersonal
sowie Angestellte internat. und multinationaler Organisationen) berücksichtigt. Ab den 1950er Jahren nahm G.
Flüchtlinge auf, von denen sich einige dauerhaft niederliessen. In den 1980er und 90er Jahren kamen
Asylsuchende hinzu, die vor Krieg oder materieller Not aus ihrem Herkunftsland geflohen waren. Auf Grund
der Gesetzgebung des Bundes konnten aber nur wenige bleiben - selbst dann nicht, wenn sie gut integriert
waren. Schliesslich beherbergt G. eine unbestimmte Zahl von Sans-Papiers, die definitionsgemäss nicht in den
Statistiken auftauchen.
Die Migrationsbewegungen liessen mehr und mehr eine mosaikartig zusammengesetzte Genfer Bevölkerung
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entstehen, deren multiethn. Charakter heute das kulturelle Leben stark bestimmt und das soziale Gepräge
der Stadt und der benachbarten Gem. beträchtlich bereichert. Sie verursachen aber angesichts des
begrenzten Raums und des Widerstands gewisser Kreise gegen das verdichtete Bauen auch häufig
wiederkehrende Spannungen auf dem Wohnungsmarkt.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
5.3.2 - Wirtschaft
Auch wenn G. sich v.a. als Stadtkanton präsentiert, dürfen seine ländl. Gebiete und die Agrarproduktion nicht
vernachlässigt werden. Die Genfer Landschaft spezialisierte sich auf Reb-, Getreide- und Gemüsebau. Der
Anteil des Agrarsektors an der gesamten Wirtschaft ging jedoch kontinuierlich zurück und ist heute
verschwindend klein geworden, nachdem er noch zu Beginn des 20. Jh. bei ungefähr 10% gelegen hatte.
Bewegte sich in G. noch vor 100 Jahren der Prozentsatz der im 2. Sektor Beschäftigten über dem schweiz.
Durchschnitt, so steht der Kanton heute an letzter Stelle und weist als einziger weniger als 20% aus. Dieser
postindustrielle Zustand mit dem Gros der verbleibenden Produktionsstätten in der Maschinenindustrie
(Charmilles Technologies), der Uhrenbranche (Patek Philippe) und der Chemie rührt sicherlich von den
Auswirkungen der jüngsten Rezessionen her, erinnert aber auch daran, dass seit dem 18. Jh. der Hauptanteil
der wirtschaftl. Aktivitäten in G. auf den 3. Sektor entfällt. Dessen Entwicklung gründete neben den öffentl.
Diensten und internat. Organisationen auf dem Handel, den Banken (darunter zahlreichen Privatbanken wie
Darier, Hentsch, Lombard, Lullin, Odier, Pictet), den Versicherungen sowie auf der Immobilienbranche. In den
letzten Jahrzehnten des 20. Jh. akzentuierte sich die Konzentration auf den 3. Sektor. Im Zug der allg.
Wirtschaftsentwicklung wurde in G. eine beachtl. Zahl von franz. Grenzgängern eingestellt. 1999 waren es
27'500 Personen, Ende 2004 mehr als 43'000 (nach dem Inkrafttreten des Abkommens über den freien
Personenverkehr im Rahmen der bilateralen Verträge I mit der Europ. Union). 2002 belief sich das Pro-KopfEinkommen des Kantons auf 52'074 Fr. gegenüber dem Landesdurchschnitt von 48'604 Fr.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
5.3.3 - Verkehr
1920 wurde in Cointrin ein Flughafen gebaut, der interkontinentale Flüge anbot und für die Entwicklung des
internat. G. eine wesentl. Rolle spielte. Im Verlauf des 2. Weltkrieges, als die ersten Industriezonen
entstanden, wurden der Güterbahnhof La Praille (Gem. Carouge) und seine Verbindung zum Bahnhof Cornavin
erstellt. 1987 wurde der Streckenabschnitt Cornavin-Cointrin eröffnet. Hingegen gibt es bis heute keinen
Anschluss an das regionale Eisenbahnnetz in Savoyen, da das Verbindungsstück zwischen La Praille und dem
Bahnhof Les Eaux-Vives nach wie vor fehlt. 1990-2000 stritten sich die Anhänger der Eisenbahn, die für die
Strecke Cornavin-Eaux-Vives-Annemasse (Ceva) warben, mit den Befürwortern einer Leichtmetro, die sich
allerdings nicht durchsetzen konnten.
Die Verbindung zwischen G. und Lausanne, die 1964 im Hinblick auf die Landesausstellung in Lausanne
realisiert worden war, bildete den ersten Abschnitt des Autobahnnetzes. 1965 kompensierte die Strasse mit
der Einweihung des Mont-Blanc-Tunnels - 1976 vervollständigt durch die sog. Autoroute Blanche -, was die
Eisenbahn nicht geschafft hatte: eine Verbindung durch die Alpen mit Anschluss an G. Im Verlauf der 1980er
Jahre erlaubte der Bau einer Umfahrungsautobahn in der Genfer Peripherie, mehrere europ.
Autobahnstrecken miteinander zu verbinden und gleichzeitig den Verkehrsdruck auf die Genfer Innenstadt zu
mildern. Ein Projekt zur Überquerung des Hafenbeckens (Brücke oder Tunnel) scheiterte 1996 vor dem Volk,
womit eine lange Reihe von Volksentscheiden zugunsten des Automobils ein Ende nahm. Die Wahl des
Umweltschützers Robert Cramer in den Staatsrat 1997 sowie der Druck von Seiten der Alternative de gauche
(SP, Grüne und Alliance de gauche) signalisieren eine Wende hin zum öffentl. Verkehr.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
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5.3.4 - Erziehung und Bildung
1911 wurde die obligator. Schulpflicht verlängert, die nun die Zeitspanne vom 6. bis zum 14. Altersjahr
umfasste und ab 1933 schliesslich bis zum 15. Altersjahr dauerte. Aber schon 1927 stand v.a. die Frage der
Sekundarstufe und der Selektionsmodalitäten im Zentrum (Projekt des Sozialdemokraten André Oltramare).
Das Problem des gleichzeitigen Nebeneinanders von kostenlosem letzten Primarschuljahr und
kostenpflichtigem ersten Jahr am Collège musste gelöst werden, etwa mit der Schaffung gemeinsamer
Orientierungsklassen. Diese Idee, die unmittelbar nach dem Krieg wieder auf die Traktandenliste kam, wurde
1962 unter der Leitung des Sozialdemokraten André Chavanne mit der Einführung einer dreijährigen
Orientierungsstufe umgesetzt (Schüler zwischen dem 12. und 15. Altersjahr, in Sektionen gegliedert). Das
Projekt von 1927 wollte allen fähigen Schülern die Chance geben, einer schmalen Elite anzugehören.
Hingegen antwortete die Realisierung von 1962 auf die Bedürfnisse der wirtschaftl. Entwicklung, indem sie
diese Elite und die soziale Basis, aus der sie rekrutiert werden sollte, erweiterte.
Ab den 1960er Jahren führten die Demokratisierung der Bildung und die Förderung der sozial Schwächsten
durch automat. Unterstützungsbeiträge zu einer beträchtl. Entwicklung von Schule und Ausbildung, von der
nun auch die Mädchen profitierten. De facto ergab sich daraus eine allg. Verlängerung der Ausbildungszeit,
ohne dass sich jedoch die soziale Hierarchie wesentlich verändert hätte. Nach der obligator. Schulzeit (16.
Lebensjahr) fächert sich das Schulsystem in drei Ausbildungsgänge auf: das Collège (in der übrigen Schweiz
meist Gymnasium genannt), die Schulen mit Diplomabschluss sowie die Berufsschule. Dieses System zog die
Schaffung neuer Strukturen wie etwa die der allgemein bildenden Schulen nach sich. 1990 wurde das Recht
auf Bildung endlich mit dem Grundsatz vervollständigt, alle Kinder unabhängig vom gesetzl. Status ihrer
Eltern (z.B. Kinder von Sans-Papiers) an die öffentl. Schulen zuzulassen.
Die Genfer Maturitätsquote (1998: 37,6% eines Jahrgangs, d.h. mehr als doppelt so viel wie der
Landesdurchschnitt) und die Zahl der Studienanfänger fallen im Kanton seit Jahrzehnten höher als in der
übrigen Schweiz aus. 1977 wurden die allg. Ziele des Genfer Unterrichtswesens, die 1940 nach patriot.
Kriterien festgelegt worden waren, unter dem Schlagwort der Erziehung zu Gemeinsinn und Engagement neu
formuliert. Die Chancenungleichheit des Schulerfolgs sollte endlich überwunden werden. An der Universität G.
entstanden im 20. Jh. zwei neue Fakultäten: 1915 diejenige der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und
1975 jene der Psychologie und Erziehungswissenschaften. Bereits 1912 hatte Edouard Claparède das Institut
Jean-Jacques Rousseau gegründet. Ihm war 1927 das Institut universitaire de hautes études internationales
gefolgt. In der 2. Hälfte des Jahrhunderts nahm die Zahl der Studierenden beträchtlich zu und überstieg
schliesslich die Marke von 10'000 Immatrikulierten, was unweigerlich betriebl. und finanzielle Probleme nach
sich zog. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jh. war dann von Budgetkürzungen und Restrukturierungen
gekennzeichnet. Dies machte eine engere Zusammenarbeit zwischen den Univ. G. und Lausanne nötig.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
5.3.5 - Gesundheit und Sozialpolitik
Nachdem 1925 das Gesundheitsdepartement als letztes Departement errichtet worden war, erfuhr dieses in
der 2. Hälfte des 20. Jh. eine rasante Entwicklung. Neben dem fortlaufenden Ausbau des Kantonsspitals
wurden universitäre Institutionen auf den Gebieten der Psychiatrie (1900 Klinik Bel-Air, 1929 psychiatr.
Poliklinik, 1961 psycho-soziales Zentrum, 1982 psychiatr. Hochschulinstitutionen) und der Geriatrie (u.a. 1972
Spital, 1979 Pflegezentrum) gegründet.
Die hohen Gesundheitskosten G.s gehen z.T. auf den universitären Charakter seiner Institutionen, z.T. auf den
relativen Reichtum des Kantons und die Nachfrage der Bevölkerung zurück (städt. Ballungszentrum, allg.
Alterung, gesundheitl. Störungen als Folge der Migration). So gehörte z.B. die Selbstmordrate in G. immer zu
den höchsten der Schweiz, auch wenn sie längerfristig leicht gesunken ist. Anders ausgedrückt: Wenn die
kant. Gesundheitskosten auch in einer gemessen am Landesmittel bedeutend höheren Angebotsdichte
gründen, so entsprechen sie doch weitgehend der tatsächl. Nachfrage.
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Am Ende des 20. Jh. wuchs aus der Notwendigkeit, die Kosten besser in den Griff zu bekommen, die Einsicht
in die Bedeutung der Prävention und der Pflege zu Hause. Hingegen lehnte das Stimmvolk aus Furcht vor
einem verminderten Zugang zur medizin. Versorgung sowohl Privatisierungsprojekte als auch Pläne zur
interkant. Zusammenarbeit ab.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
5.3.6 - Gesellschaft und Kultur
Die Zwischenkriegszeit wurde von der starken Präsenz der Arbeiterschaft und beträchtl. Spannungen geprägt.
Die 1950er Jahre dagegen zeichneten sich durch die Zunahme der Freizeitaktivitäten und das massenhafte
Aufkommen des Automobils aus. Im Gefolge des Mai 1968 traten parallel zum Ausbau der offiziellen
Kulturinstitutionen, aber in Opposition zum vorherrschenden Wertesystem alternative Lebensformen auf
(Jugendbewegung, Hausbesetzungen, Verteidigung eines lebensnahen Stadtzentrums, autonomes
Kulturzentrum in einer ehem. Goldverarbeitungsfabrik), die sich einer Urbanisierung ausschliesslich nach
Kriterien des Wirtschaftswachstums widersetzten. Die Multikulturalität G.s festigte sich auch durch
Vereinsnetze und Volksfeste. Andererseits behauptete sich die traditionelle Geselligkeit z.B. im Rahmen der
Escalade-Feier.
Zu Beginn des 20. Jh. verfügte G. über mehrere Meinungsblätter. Die Populärsten waren die La Suisse und die
Tribune de Genève. Innerhalb der Linken wurde "Le peuple de Genève" in den 1920er Jahren durch die
Zeitung Le Travail ersetzt, die im 2. Weltkrieg verboten wurde. Die Arbeiterpartei gründete zusätzlich die Voix
ouvrière, musste sich aber 1980 dazu entschliessen, sie in eine Wochenzeitung umzuwandeln ("VO Réalités",
später "Gauchebdo"). Zwei Tageszeitungen verschwanden: 1994 die "La Suisse" und 1998 das Journal de
Genève. Letzteres hatte schon früher mit der Gazette de Lausanne fusioniert und war dann zusammen mit Le
Nouveau Quotidien von Le Temps, der neuen, vom Unternehmen Edipresse in G. herausgegebenen
Tageszeitung, geschluckt worden.
Die Abschaffung der staatl. Unterstützung für die Kirchen und die Laizisierung der Genfer Gesellschaft
provozierten keinen Widerspruch. Weiterhin charakterisiert die religiöse Vielfalt der Bevölkerung das Leben in
G., das den Sitz des Ökumenischen Rats der Kirchen beherbergt. Die Katholiken, die sich 1860-1910 in der
Mehrheit, in der Zwischenkriegszeit und bis in die 1950er Jahre aber in der Minderheit befanden, sind von
neuem zahlreicher als die Reformierten. 2000 erklärten sich 22,6% der Genfer als konfessionslos.
In der Genfer Gesellschaft geht die vorherrschende bürgerl. Kultur mit einem bunten Geflecht an Vereinen
sowie einer lebendigen Alternativszene einher. Ihre multikulturelle Realität lässt das Schwanken zwischen der
Öffnung zur Welt und dem Rückzug auf den nationalen Raum wieder aufleben.
Autorin/Autor: Charles Heimberg / AHB
Quellen und Literatur
Archive
– AEG, BPUG
Quellen
– Bibliothèque britannique, 1796-1815
– SSRQ GE, 4 Bde., 1927-35
– J.-C.L. Simonde de Sismondi Statistique du Département du Léman, hg. von H.O. Pappe, 1971
– Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin, hg. von R.M. Kingdon, 1996– Registres du Conseil de Genève à l'époque de Calvin, 2 Bde., 2004
Literatur
– Historiografie
– Abgesehen vom "Fasciculus temporis", einer schmalen, wohl im 14. Jh. im Priorat Saint-Victor verfassten
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Chronik, tendierte die Genfer Historiografie mit Jean Bagnyon ("Traité des pouvoirs des seigneurs et des
libertés de leurs sujets" 1487) vom späten 15. Jh. an dazu, die Freiheiten der Stadt gegen die Ansprüche der
Hzg. von Savoyen zu verteidigen. Dieser Konflikt, der sich in Polemik und Rechtsansprüchen ausdrückte, lässt
sich bis zum Vertrag von Turin von 1754 in den Arbeiten der offiziellen Chronisten oder Historiker verfolgen,
so etwa bei François Bonivard, dem ehem. Prior von Saint-Victor, der mit zögerl. Zustimmung des Rates die
"Chroniques de Genève" (ab 1542, zwei Versionen) verfasste, aber auch bei Michel Roset, einem der
tonangebenden Männer der Genfer Politik im 16. Jh., der in seinem 1562 dem Rat vorgelegten Werk
"Chroniques de Genève" Calvins Reformation beweihräucherte. Die Polemik wurde nach der Escalade von
1602 fortgesetzt, als Claude-Louis de Buttet im Pamphlet "Le Cavalier de Savoie" G.s Zugehörigkeit zu
Savoyen verfocht. Jacques Lect und Jean Sarasin verfassten darauf die quellengestützte Replik "Le Citadin de
Genève ou Response au Cavalier de Savoie" (1606), de Buttet wiederum entgegnete mit der Schrift "Le fléau
de l'aristocratie genevoise". Im 17. Jh. schrieb der Lyoner Arzt Jacob Spon eine "Histoire de Genève", die 1680
in Lyon erschien. Da er für die Stadt G. eintrat, irritierte das Werk den Hzg. von Savoyen und beunruhigte die
Genfer Behörden. Dennoch veröffentlichten diese 1730 eine Neuausgabe mit beigefügten Erklärungen und
sog. Beweisen; so wollten sie vermeiden, dass andere Autoren unpassende Auffassungen vertraten. 1713
präsentierte Jean-Antoine Gautier dem Rat seine "Histoire de Genève" in elf Bänden; da dieses Werk nur für
die Behörden bestimmt war - Geschichte war damals kein Allgemeingut -, wurde es im Archiv eingeschlossen
und erst 1896-1911 veröffentlicht. Die Polemik ging im 18. Jh. weiter, nun aber zwischen Verfechtern
gegensätzl. Regierungsformen: Der Natif Jean-Pierre Bérenger veröffentlichte 1772-73 eine "Histoire de
Genève depuis son origine jusqu'à nos jours", welche die Demokratie in hohen Tönen lobte. Das Werk wurde
vom Scharfrichter zerrissen und verbrannt. Als Antwort darauf veröffentlichte Jean Picot 1811 seine "Histoire
de Genève depuis les temps anciens jusqu'à nos jours".
– Die von Jean-Antoine Gautier begonnene wissenschaftl. Auswertung archivierter Dokumente fand im 19. Jh.
mit der Öffnung der Archive, den Arbeiten der Galiffe, Edouard Mallets und seiner Freunde, mit der Gründung
der damals politisch konservativen Société d'histoire et d'archéologie de Genève 1838 und dem
radikaldemokratisch inspirierten Institut national genevois 1853 ihre Fortsetzung. Gleichzeitig interessierten
sich Wissenschaftler wie Jean-Daniel Blavignac, Louis Blondel oder Charles Bonnet für die Archäologie und
entwickelten neue Forschungsmethoden. Die durch die Schaffung eines Lehrstuhls 1902 und die Eröffnung
der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (SES) 1914-15 stimulierte Schule der
Wirtschaftsgeschichte glänzt mit Persönlichkeiten wie Frédéric Borel ("Les foires de Genève" 1892), Antony
Babel und seinen Nachfolgern ("Histoire économique de Genève" 1963), insbesondere Anne-Marie Piuz und
Jean-François Bergier. In der 2. Hälfte des 20. Jh. wurden fünf Geschichtsdarstellungen von G. veröffentlicht,
darunter die Bände der "Encyclopédie de Genève", die in schweiz. und ausländ. Reihen erschienen.
Allgemeines
– Histoire de Genève, 2 Bde., 1951-56
– Histoire de Genève, hg. von P. Guichonnet, 1974 (31986)
– L. Binz, Brève histoire de Genève, 1981 (32000)
– Encycl.GE
– Histoire de la Savoie, hg. von J.-P. Leguay, 4 Bde., 1983-86
– Histoire du Pays de Gex, 2 Bde., 1986-89
– Des Archives à la mémoire, hg. von B. Roth-Lochner et al., 1995
– A. Dufour, Histoire de Genève, 1997
– A.V. Hartmann, Reflexive Politik im sozialen Raum. Polit. Eliten in G. zwischen 1760 und 1841, 2003
Von der Ur- und Frühgeschichte bis ins Frühmittelalter
– D. Paunier, La céramique gallo-romaine de Genève, 1981
– B. Privati, La nécropole de Sézegnin (IVe-VIIIe siècle), 1983
– A. Gallay, «Les chasseurs de rennes pouvaient-ils contempler le glacier du Rhône?», in Le grand livre
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– W. Drack, R. Fellmann, Die Römer in der Schweiz, 1988
– C. Bonnet, «Les églises rurales de la région de Genève», in L'environnement des églises et la
topographie religieuse des campagnes médiévales, 1994, 22-26
– P. Corboud, Les sites préhistoriques littoraux du Léman, 1996
– J. Favrod, Histoire politique du royaume burgonde (443-534), 1997
– M. David-Elbiali, La Suisse occidentale au IIe millénaire avant J.-C., 2000
Mittelalter und Ancien Régime: Politik
– L. Binz, «Le diocèse de Genève des origines à la Réforme (IVe siècle-1536)», in HS I/3, 19-239
– L. Mottu-Weber, «Le statut des étrangers et de leurs descendants à Genève (XVIe-XVIIIe siècles)», in
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– A.-M. Piuz, A Genève et autour de Genève aux XVIIe et XVIIIe siècles, 1985
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– Mélanges d'histoire économique offerts au professeur Anne-Marie Piuz, hg. von L. Mottu-Weber, D.
Zumkeller, 1989
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– A.-M. Piuz, L. Mottu-Weber L'économie genevoise, de la Réforme à la fin de l'Ancien Régime, 1990
– B. Roth-Lochner, Messieurs de la Justice et leur greffe, 1992
– D. Zumkeller, Le paysan et la terre, 1992
– L. Wiedmer, Pain quotidien et pain de disette, 1993
– M. Porret, Le crime et ses circonstances, 1995
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– G. Bonnant, Le livre genevois sous l'Ancien Régime, 1999
– R. Sigrist, L'essor de la science moderne à Genève, 2004
Revolution und französische Herrschaft
– M. Peter, Genève et la Révolution, 2 Bde., 1921-50
– M. Peter, La Société économique et la gestion des biens de l'ancienne République de Genève de
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– Révolutions genevoises: 1782-1798, Ausstellungskat. Genf, 1989
– R. Sigrist, Les origines de la Société de physique et d'histoire naturelle, 1990
– P. Guichonnet, P. Waeber, Genève et les Communes réunies, 1991
– L. Binz et al., Regards sur la Révolution genevoise, 1792-1798, 1992
– A. Palluel-Guillard, L'aigle et la croix: Genève et la Savoie 1798-1815, 1999
– L. Mottu-Weber, J. Droux, Genève française 1798-1813, 2004
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19. und 20. Jahrhundert: Politik
– M.-M. Grounauer, La Genève rouge de Léon Nicole: 1933-1936, 1975
– R. Joseph, L'union nationale: 1932-1939: un fascisme en Suisse romande, 1975
– Y. Cassis, L'Union de défense économique: la bourgeoisie genevoise face à la crise, 1923-1932, 1976
– C. Torracinta, Genève 1930-1939, 1978
– A. Spielmann, L'aventure socialiste genevoise: 1930-1936, 1981
– M. Vuilleumier, «La naissance du Parti socialiste à Genève», in Les origines du socialisme en Suisse
romande, 1989, 149-170
– D. Hiler et al., Le Parti démocrate-chrétien à Genève, 1992
– B. Studer, «Les communistes genevois, Léon Nicole et le Komintern dans les années trente», in BHG
22, 1992, 65-85
– R. Rieder, Liberté humaine, justice sociale: le parti radical genevois, 1993
– L. Necker, La mosaïque genevoise. Modèle de pluriculturalisme?, 1995
– L. Van Dongen, «Léon Nicole (1887-1965)», in Cahiers HMO 11-12, 1995-1996, 35-72
– M. Caillat, René Payot: un regard ambigu sur la guerre, 1998
– Un journal témoin de son temps: histoire illustrée du "Journal de Genève": 1826-1998, hg. von J. de
Senarclens, 1999
– P. Flückiger, G. Bagnoud, Les réfugiés civils et la frontière genevoise durant la Deuxième Guerre
mondiale, 2000
– I. Herrmann, Genève entre République et Canton, 2003
19. und 20. Jahrhundert: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur
– G. Mützenberg, Education et instruction à Genève autour de 1830, 1974
– P. Gilardi, De la "Genève rouge" à la Paix du travail: mouvement ouvrier et patronat genevois face à
la question de la paix sociale, 1935-1938, 1987
– M. Marcacci, Histoire de l'Université de Genève, 1987
– C. Heimberg, L'éducation publique à Genève, 1993
– Santé, modes de vie et causes de décès à Genève au 20e siècle, hg. von J. Batou, A. Morabia, 1994
– C. Heimberg, L'œuvre des travailleurs eux-mêmes? Valeurs et espoirs dans le mouvement ouvrier
genevois au tournant du siècle (1885-1914), 1996
– C. Heimberg, «La garde civique genevoise et la grève générale de 1918, un sursaut disciplinaire et
conservateur», in Revue d'histoire moderne et contemporaine 44, 1997, 424-435
– R. Hofstetter, Les lumières de la démocratie: histoire de l'école primaire publique à Genève au
XIXe s., 1998
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