Maß- und Integrationstheorie 1 Messbare Mengen und Abbildungen Definition 1.1. Es sei X eine Menge und A ⊂ P(X) mit folgenden Eigenschaften: (S1) X ∈ A . (S2) Ist A ∈ A , so ist X \ A ∈ A . ∞ S (S3) Sind An ∈ A (n ∈ N), so ist An ∈ A . n=1 Dann heißt A eine σ-Algebra in X und das Paar (X, A ) ein messbarer Raum. Jede Menge A ∈ A heißt eine messbare Menge. Ist X ein messbarer Raum, Y ein topologischer Raum und f : X → Y eine Abbildung, so heißt f messbar, wenn für jede offene Menge V in Y das Urbild U := f −1 (V ) messbar in X ist. Bemerkung 1.2. Es sei (X, A ) ein messbarer Raum. Dann gelten folgende Aussagen: (a) ∅ ∈ A . (b) Sind A1 , . . . , An ∈ A , so ist A1 ∪ · · · ∪ An ∈ A . (c) Sind An ∈ A (n ∈ N), so ist ∞ T An ∈ A . n=1 (d) Sind A, B ∈ A , so ist A \ B ∈ A . Beispiel 1.3. (1) Es sei X eine Menge und A := P(X). Dann ist A eine σ-Algebra in X. (2) Es sei X eine Menge und A := { A ⊂ X : A oder X \ A ist höchstens abzählbar } . Dann ist A eine σ-Algebra in X. (3) Es seien X eine Menge, A eine σ-Algebra in X, Y ⊂ X und B := { A ∩ Y : A ∈ A } . Dann ist B eine σ-Algebra in Y . (4) Es seien X, Y Mengen, B eine σ-Algebra in Y , f : X → Y eine Abbildung und A := { f −1 (B) ⊂ X : B ∈ B } . 1 Dann ist A eine σ-Algebra in X. (5) Es seien X, Y Mengen, A eine σ-Algebra in X, f : X → Y eine Abbildung und B := { B ⊂ Y : f −1 (B) ∈ A } . Dann ist B eine σ-Algebra in Y . (6) Es seien X eine Menge, Aα für α ∈ A (A eine Indexmenge) σ-Algebren in X und \ A := Aα . α∈A Dann ist A eine σ-Algebra in X. Definition 1.4. Es sei X eine Menge und E ⊂ P(X). Dann gibt es eine kleinste σAlgebra A = A (E ) in X mit E ⊂ A , nämlich \ A := { B ⊂ P(X) : E ⊂ B und B ist σ-Algebra in X } . A (E ) heißt die von E erzeugte σ-Algebra und E ein Erzeuger von A (E ). Beispiel 1.5. (1) Es sei X eine Menge und E eine σ-Algebra in X. Dann ist A (E ) = E . (2) Es sei X eine Menge, A ⊂ X mit ∅ 6= A 6= X und E := {A}. Dann ist A (E ) = {∅, A, X \ A, X}. (3) Es sei (X, T ) ein topologischer Raum und B := A (T ) die von T erzeugte σAlgebra. Jede Menge B ∈ B heißt eine Borel-Menge. Insbesondere ist also jede offene und jede abgeschlossene Menge eine Borel-Menge. Weiterhin ist jede abzählbare Vereinigung abgeschlossener Mengen (Fσ -Menge) und jeder abzählbare Durchschnitt offener Mengen (Gδ -Menge) eine Borel-Menge. Ist speziell X = Rn mit der üblichen Topologie, so wird die σ-Algebra der Borel-Mengen bereits von der Menge der beschränkten, offenen (oder abgeschlossenen oder halboffenen) n-dimensionalen Intervalle (Quader) erzeugt. Ist Y ein weiterer topologischer Raum und f : X → Y eine messbare Abbildung (bzgl. B), so heißt f eine Borel-Abbildung. Insbesondere ist jede stetige Abbildung eine Borel-Abbildung. Satz 1.6. Es sei X ein messbarer Raum. Dann gelten folgende Aussagen: (a) Sind u, v : X → R messbar, so ist f := u + iv : X → C messbar. (b) Ist f : X → C messbar, so sind Re f , Im f , |f | : X → R messbar. (c) Sind f , g : X → C messbar, so sind f + g und f · g messbar. (d) Es sei A ⊂ X messbar und χA : X → R definiert durch ( 1 für x ∈ A χA (x) := 0 für x ∈ / A. Dann ist χA messbar und heißt charakteristische Funktion oder Indikatorfunktion von A. (e) Ist f : X → C messbar, so gibt es eine messbare Funktion α : X → C mit |α(x)| = 1 und f (x) = α(x)|f (x)| für alle x ∈ X. 2 (f) Sind fn : X → [−∞, ∞] (n ∈ N) messbar, so sind g := sup fn und h := lim sup fn n→∞ n∈N messbar. (g) Sind fn : X → C (n ∈ N) messbar und existiert f := lim fn , so ist f messbar. n→∞ (h) Sind f , g : X → [−∞, ∞] messbar, so sind max {f, g} und min {f, g} messbar. Insbesondere sind f + := max {f, 0} und f − := − min {f, 0} messbar. (i) Ist f : X → [−∞, ∞] und f −1 ((α, ∞]) messbar für alle α ∈ R, so ist f messbar. Definition 1.7. Es sei X ein messbarer Raum und s : X → [0, ∞). s heißt eine einfache Funktion, wenn das Bild s(X) nur aus endlich vielen Punkten besteht. Bemerkung 1.8. Ist s eine einfache Funktion und s(X) = {α1 , . . . , αn }, so setzen wir Ak := s−1 (αk ) für k = 1, . . . , n. Dann gilt s= n X αk χAk , k=1 und s ist messbar genau dann, wenn A1 , . . . , An messbar sind. Satz 1.9. Es sei X ein messbarer Raum und f : X → [0, ∞) messbar. Dann gibt es eine Folge einfacher, messbarer Funktionen sn : X → [0, ∞) mit 0 ≤ s1 (x) ≤ s2 (x) ≤ · · · ≤ f (x) und lim sn (x) = f (x) für alle x ∈ X. n→∞ 2 Maße Definition 2.1. Es sei (X, A ) ein messbarer Raum. Eine Funktion µ : A → [0, ∞] heißt ein positives Maß, wenn gilt: (a) Sind An ∈ A (n ∈ N) paarweise disjunkt, so ist ! ∞ ∞ X [ µ(An ) . (σ-Additivität) µ An = n=1 n=1 (b) Es gibt ein A ∈ A mit µ(A) < ∞. Das Tripel (X, A , µ) heißt dann ein Maßraum. Ein positives Maß heißt endlich, wenn µ(X) < ∞. Ist speziell µ(X) = 1, so heißt µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß. µ heißt σ∞ S endlich, wenn es eine Folge (An ) in A gibt mit A1 ⊂ A2 ⊂ A3 ⊂ · · · , An = X und n=1 µ(An ) < ∞ für alle n ∈ N. Eine Funktion µ : A → R bzw. µ : A → C heißt ein reelles (oder signiertes) bzw. komplexes Maß, wenn (a) gilt. Satz 2.2. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum. Dann gelten folgende Aussagen: (a) µ(∅) = 0. (b) Sind A1 , . . . , An ∈ A paarweise disjunkt, so gilt µ(A1 ∪ · · · ∪ An ) = µ(A1 ) + · · · + µ(An ) . (Endliche Additivität) 3 (c) Sind A, B ∈ A und A ⊂ B, so gilt µ(A) ≤ µ(B) . (Monotonie) (d) Sind An ∈ A (n ∈ N), A := ∞ S An und A1 ⊂ A2 ⊂ A3 ⊂ · · · , so gilt n=1 lim µ(An ) = µ(A) . (Stetigkeit von unten) n→∞ (e) Sind An ∈ A (n ∈ N), A := ∞ T An , A1 ⊃ A2 ⊃ A3 ⊃ · · · und µ(A1 ) < ∞, so gilt n=1 lim µ(An ) = µ(A) . (Stetigkeit von oben) n→∞ Beispiel 2.3. (1) Es sei X eine Menge, A := P(X) und µ : A → [0, ∞] definiert durch ( ∞, falls A unendlich, µ(A) := Anzahl der Elemente von A, falls A endlich. Dann ist µ ein positives Maß und heißt das abzählende Maß oder Zählmaß auf X. (2) Es sei X eine Menge, A := P(X), x0 ∈ X und µ : A → [0, ∞) definiert durch ( 1, falls x0 ∈ A, µ(A) := 0, falls x0 ∈ / A. Dann ist µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß und heißt das an x0 konzentrierte Einheitsmaß oder Dirac-Maß und wird mit δx0 bezeichnet. (3) Es sei X = Rn und A die σ-Algebra der Borel-Mengen in Rn . Dann gibt es genau ein positives Maß µ auf A mit µ(I) = vol (I) für alle Intervalle I ⊂ Rn und µ(x + A) = µ(A) für alle x ∈ Rn und alle A ∈ A . µ heißt das Lebesgue-Borelsche Maß auf Rn und wird oft mit λ oder λn bezeichnet. Wir wollen die Konstruktion dieses Maßes im Folgenden näher beschreiben. Definition 2.4. Für k = 1, . . . , n seien xj,k ∈ R (j = 1, . . . , mk + 1) gegeben mit x1,k < x2,k < · · · < xmk +1,k . Es sei Pj,k ⊂ Rn die Hyperebene mit der Gleichung xk = xj,k (dabei sei xk die k-te Komponente von x ∈ Rn ). Es sei Π die Vereinigung dieser Hyperebenen. Dann heißt Π ein Gitter in Rn . Ein Gitter Π unterteilt Rn in endlich viele n-dimensionale Intervalle, die wir Intervalle von Π nennen, und in endlich viele unbeschränkte Mengen. Eine Menge Y ⊂ Rn heißt Figur, wenn Y die Vereinigung von Intervallen I1 , . . . , Ip eines Gitters Π ist. Weiter heißt λ(Y ) := vol (I1 ) + · · · + vol (Ip ) das Maß von Y . Bis hierher ist das Vorgehen genauso wie beim Jordan-Inhalt. Jetzt geht es anders weiter. 4 Definition 2.5. (1) Es sei Ω ⊂ Rn offen. Dann heißt λ(Ω) := sup { λ(Y ) : Y ⊂ Ω, Y ist Figur } das Maß von Ω. Es gilt 0 < λ(Ω) ≤ +∞. (2) Es sei K ⊂ Rn kompakt. Dann heißt ◦ λ(K) := inf { λ(Y ) : K ⊂ Y , Y ist Figur } das Maß von K. Es gilt 0 ≤ λ(K) < +∞. (3) Es sei nun A ⊂ Rn beliebig. Dann heißt λ∗ (A) := inf { λ(Ω) : A ⊂ Ω, Ω ist offen } das äußere Maß von A und λ∗ (A) := sup { λ(K) : K ⊂ A, K ist kompakt } das innere Maß von A. Es gilt 0 ≤ λ∗ (A) ≤ λ∗ (A) ≤ +∞ . Die Menge A heißt messbar, wenn gilt λ(A) := λ∗ (A) = λ∗ (A) , und λ(A) heißt das n-dimensionale Lebesgue-Maß von A. Es gilt 0 ≤ λ(A) ≤ +∞. (4) Die Menge A ⊂ Rn heißt Nullmenge, wenn λ(A) = 0. Dann kann man zeigen, dass λ tatsächlich ein Maß auf einer σ-Algebra, die die BorelMengen enthält, ist. Schränkt man λ auf die Borel-Mengen ein, so erhält man das oben erwähnte Maß. Bemerkung 2.6. (a) Jede Jordan-messbare Menge ist Lebesgue-messbar und die Maße stimmen überein. (b) Eine Menge A ⊂ Rn ist Lebesgue-messbar. ⇐⇒ Zu jedem ε > 0 gibt es eine kompakte Menge K ⊂ Rn und eine offene Menge Ω ⊂ Rn mit K ⊂ A ⊂ Ω und λ(Ω \ K) < ε. (c) Jede abzählbare Menge in Rn ist eine Nullmenge, also z.B. Qn . (d) Es gibt auch überabzählbare Nullmengen, z.B. die Cantor-Menge. (e) Es gibt Mengen, die nicht Lebesgue-messbar sind. Solche Mengen heißen auch Vitalische Mengen, da sie von Vitali erstmals entdeckt wurden. Zur Konstruktion solcher Mengen benötigt man jedoch das Auswahlaxiom. (f) Es gibt Lebesgue-messbare Mengen, die keine Borel-Mengen sind. 5 3 Lebesgue-Integral von positiven Funktionen Im Folgenden sei (X, A , µ) immer ein Maßraum mit einem positiven Maß µ. Definition 3.1. Es sei s : X → [0, ∞) eine einfache, messbare Funktion der Form s= n X αk χ A k , k=1 und A ∈ A . Dann setzen wir n X Z s dµ := A αk µ(Ak ∩ A) k=1 mit der Konvention 0 · ∞ = 0. Es sei nun f : X → [0, ∞] messbar und A ∈ A . Dann setzen wir Z Z f dµ := sup s dµ , A A wobei das Supremum über alle einfachen, messbaren Funktionen s mit 0 ≤ s(x) ≤ f (x) R für alle x ∈ X genommen wird. Dann heißt A f dµ das Lebesgue-Integral von f über A. Der Hauptunterschied zwischen dem Lebesgue-Integral und dem Riemann-Integral besteht darin, dass beim R-Integral Treppenfunktionen zur Definition benutzt werden, beim L-Integral hingegen verallgemeinerte Treppenfunktionen (nämlich die einfachen, messbaren Funktionen). Satz 3.2. Alle im Folgenden auftretenden Mengen und Funktionen seien messbar. Dann gelten folgende Aussagen: Z Z (a) Ist 0 ≤ f ≤ g, so ist f dµ ≤ g dµ. A A Z Z (b) Ist A ⊂ B und f ≥ 0, so ist f dµ ≤ A f dµ. B Z (c) Ist f ≥ 0 und c ∈ [0, ∞) so ist Z cf dµ = c f dµ. A A Z (d) Ist f (x) = 0 für alle x ∈ A, so ist f dµ = 0. A Z (e) Ist µ(A) = 0, so ist f dµ = 0. A Z (f) Ist f ≥ 0, so ist Z f dµ = A χA f dµ. X Satz 3.3 (Satz von der monotonen Konvergenz). Es sei (fn ) eine Folge messbarer Funktionen auf X mit 0 ≤ f1 (x) ≤ f2 (x) ≤ · · · ≤ ∞ und lim fn (x) = f (x) für alle x ∈ X. n→∞ Dann ist f messbar, und es gilt Z Z lim fn dµ = f dµ . n→∞ X X 6 Satz 3.4 (Lemma von Fatou). Es sei (fn ) eine Folge messbarer Funktionen auf X mit fn (x) ≥ 0 für alle x ∈ X. Dann gilt Z Z lim inf fn dµ ≤ lim inf fn dµ . X n→∞ n→∞ X Satz 3.5. Es sei f : X → [0, ∞] messbar und ν : A → [0, ∞] definiert durch Z ν(A ) := f dµ (A ∈ A ). A Dann ist ν ein positives Maß auf A , und es gilt Z Z g dν = gf dµ X X für alle messbaren Funktionen g : X → [0, ∞]. Hierfür schreibt man auch kurz dν = f dµ . 4 Lebesgue-Integral von komplexen Funktionen Definition 4.1. Es sei L 1 (µ) die Menge aller messbaren Funktionen f : X → C mit Z kf k1 := |f | dµ < ∞ . X Jedes f ∈ L 1 (µ) heißt eine Lebesgue-integrierbare Funktion (bzgl. µ). Ist f ∈ L 1 (µ) und f = u + iv, so setzen wir für A ∈ A Z Z Z Z Z + − + u dµ + i v dµ − i v − dµ . u dµ − f dµ := A A A A A Satz 4.2. Es seien f , g ∈ L 1 (µ) und α, β ∈ C. Dann ist αf + βg ∈ L 1 (µ), und es gilt Z Z Z (αf + βg) dµ = α f dµ + β g dµ . X X X Satz 4.3. Es sei f ∈ L 1 (µ). Dann gilt Z Z f dµ ≤ |f | dµ . X X Satz 4.4 (Satz von der dominierenden Konvergenz). Es seien fn : X → C messbar (n ∈ N), es existiere f (x) := lim fn (x), und es gebe ein g ∈ L 1 (µ) mit |fn (x)| ≤ g(x) für alle n→∞ x ∈ X und alle n ∈ N. Dann ist f ∈ L 1 (µ), und es gilt Z lim |fn − f | dµ = 0 n→∞ und X Z lim n→∞ Z fn dµ = X f dµ . X 7 Definition 4.5. Eine Menge A ∈ A heißt Nullmenge, wenn µ(A) = 0 ist. Ist A ∈ A und E eine Eigenschaft über die Elemente von A, so sagt man: E gilt fast überall (f.ü) auf A (oder E gilt für fast alle x ∈ A), wenn { x ∈ A : E gilt für x nicht } eine Nullmenge ist. Bemerkung 4.6. Sind f , g ∈ L 1 (µ) und f = g f.ü. auf X, so ist Z Z f dµ = g dµ . X X Grob gesagt: Nullmengen spielen bei der Integration keine Rolle. Satz 4.7. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und A ∗ das System aller Mengen M ⊂ X mit der Eigenschaft: Es gibt Mengen A, B ∈ A mit A ⊂ M ⊂ B und µ(B \ A) = 0. Für jedes M ∈ A ∗ setzen wir µ∗ (M ) := µ(A). Dann ist A ∗ eine σ-Algebra in X und µ∗ ein positives Maß auf A ∗ . Das Maß µ∗ heißt vollständig und A ∗ die µ-Vervollständigung von A . Es ist also jede Teilmenge einer µ-Nullmenge A ∗ -messbar mit Maß 0. Das Lebesgue-Maß auf Rn ist gerade die Vervollständigung des Lebesgue-Borelschen Maßes. Satz 4.8. Es seien fn : X → C messbar (n ∈ N) und ∞ Z X n=1 |fn | dµ < ∞ . X Dann konvergiert die Reihe f (x) := ∞ X fn (x) n=1 für fast alle x ∈ X, es ist f ∈ L (µ), und es gilt 1 Z f dµ = X Satz 4.9. ∞ Z X n=1 fn dµ . X (a) Ist f : X → [0, ∞] messbar, A ∈ A und Z f dµ = 0, so ist f = 0 f.ü. A auf A. (b) Ist f ∈ L (µ) und 1 Z f dµ = 0 für alle A ∈ A , so ist f = 0 f.ü. auf X. A (c) Ist f ∈ L 1 (µ) und Z Z f dµ = |f | dµ , X X so gibt es ein α ∈ C mit |α| = 1 und αf = |f | f.ü. auf X. 5 Komplexe Maße Definition 5.1. Es sei X eine Menge und A eine σ-Algebra in X. Ist A ∈ A und Z = { An ∈ A : n ∈ N } ein abzählbares System paarweise disjunkter Mengen mit 8 A= ∞ S An , so heißt Z eine Zerlegung von A. Nun sei µ ein komplexes Maß auf A . Für n=1 A ∈ A definieren wir |µ|(A) := sup ∞ X |µ(An )| , n=1 wobei das Supremum über alle Zerlegungen Z von A genommen wird. Diese Funktion |µ| : A → [0, ∞] heißt die totale Variation von µ. Satz 5.2. Es sei X eine Menge, A eine σ-Algebra in X und µ ein komplexes Maß auf A . Dann ist die totale Variation |µ| von µ ein positives endliches Maß auf A . Insbesondere gilt |µ(A)| ≤ |µ|(A) ≤ |µ|(X) < ∞ für alle A ∈ A . Man sagt auch: µ ist von beschränkter Variation. Bemerkung 5.3. Es sei X eine Menge und A eine σ-Algebra in X. Sind µ, ν komplexe Maße auf A und c ∈ C, so definieren wir komplexe Maße µ + ν und cµ durch (µ + ν)(A) := µ(A) + ν(A) und (cµ)(A) := cµ(A) (A ∈ A ). Die Menge aller komplexen Maße auf A wird damit zu einem komplexen Vektorraum. Setzen wir noch kµk := |µ|(X) , so erhalten wir sogar einen normierten Raum. Bemerkung 5.4. Es sei X eine Menge, A eine σ-Algebra in X und µ ein reelles Maß auf A . Wir definieren |µ| wie in Definition 5.1 und setzen µ+ := 21 (|µ| + µ) und µ− := 21 (|µ| − µ) . Nach Satz 5.2 sind µ+ , µ− positive endliche Maße, und es gilt µ = µ+ − µ− und |µ| = µ+ + µ− . Die Maße µ+ bzw. µ− heißen die positive bzw. negative Variation von µ, und die erste Gleichung heißt die Jordan-Zerlegung von µ. Definition 5.5. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und ν ein beliebiges Maß auf A . (a) ν heißt absolut stetig bezüglich µ, wenn gilt: Ist A ∈ A mit µ(A) = 0, so ist ν(A) = 0. Wir schreiben dann ν µ. (b) ν heißt konzentriert auf A ∈ A , wenn gilt: ν(B) = ν(A ∩ B) für alle B ∈ A . (Dies ist äquivalent zu: ν(B) = 0 für alle B ∈ A mit A ∩ B = ∅.) (c) Sind ν1 , ν2 beliebige Maße auf A , so heißen ν1 und ν2 zueinander singulär, wenn gilt: Es gibt Mengen A, B ∈ A mit A ∩ B = ∅, ν1 ist konzentriert auf A und ν2 ist konzentriert auf B. Wir schreiben dann ν1 ⊥ ν2 . Satz 5.6. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und ν, ν1 , ν2 beliebige Maße auf A . Dann gelten folgende Aussagen: (a) Ist ν konzentriert auf A ∈ A , so auch |ν|. 9 (b) Ist ν1 ⊥ ν2 , so ist |ν1 | ⊥ |ν2 |. (c) Sind ν1 ⊥ µ und ν2 ⊥ µ, so ist ν1 + ν2 ⊥ µ. (d) Sind ν1 µ und ν2 µ, so ist ν1 + ν2 µ. (e) Ist ν µ, so ist |ν| µ. (f) Ist ν1 µ und ν2 ⊥ µ, so ist ν1 ⊥ ν2 . (g) Ist ν µ und ν ⊥ µ, so ist ν = 0. Satz 5.7 (Zerlegungssatz von Lebesgue). Es sei (X, A , µ) ein Maßraum, µ sei σ-endlich und ν ein positives, endliches oder komplexes Maß auf A . Dann gibt es ein Paar von Maßen νa und νs auf A mit ν = νa + νs , νa µ und νs ⊥ µ. Das Paar (νa , νs ) heißt die Lebesgue-Zerlegung von ν bezüglich µ. Satz 5.8 (Satz von Radon-Nikodym). Es sei (X, A , µ) ein Maßraum, µ sei σ-endlich, ν ein positives, endliches oder komplexes Maß auf A und (νa , νs ) die Lebesgue-Zerlegung von ν bezüglich µ. Dann gibt es genau eine Funktion h ∈ L 1 (µ) mit Z νa (A) = h dµ ∀ A ∈ A . A Die Funktion h heißt die Radon-Nikodym-Ableitung von νa bezüglich µ. Man schreibt a dafür auch dνa = h dµ oder h = dν . dµ Satz 5.9. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und ν ein komplexes Maß auf A . Dann gilt: ν µ ⇐⇒ Zu jedem ε > 0 gibt es ein δ > 0 mit |ν(A)| < ε für alle A ∈ A mit µ(A) < δ. Satz 5.10. Es sei (X, A ) ein messbarer Raum und µ ein komplexes Maß auf A . Dann gibt es eine messbare Funktion h : X → C mit |h(x)| = 1 für alle x ∈ X und dµ = h d|µ| . Diese Gleichung heißt die Polardarstellung oder Polarzerlegung von µ. Bemerkung 5.11. Aufgrund dieses Satzes kann man das Integral einer messbaren Funktion f : X → C bezüglich eines komplexen Maßes µ durch Z Z f dµ := f h d|µ| X X definieren. Satz 5.12. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum, g ∈ L 1 (µ) und Z ν(A) := g dµ (A ∈ A ). A Dann gilt Z |ν|(A) = |g| dµ (A ∈ A ). A Satz 5.13 (Zerlegungssatz von Hahn). Es sei (X, A ) ein messbarer Raum und µ ein reelles Maß auf A . Dann gibt es Mengen A, B ∈ A mit A ∪ B = X, A ∩ B = ∅ und µ+ (E) = µ(A ∩ E), µ− (E) = −µ(B ∩ E) für alle E ∈ A . Das Paar (A, B) heißt dann die Hahn-Zerlegung von X bezüglich µ. 10