Maß- und Integrationstheorie

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Maß- und Integrationstheorie
1
Messbare Mengen und Abbildungen
Definition 1.1. Es sei X eine Menge und A ⊂ P(X) mit folgenden Eigenschaften:
(S1) X ∈ A .
(S2) Ist A ∈ A , so ist X \ A ∈ A .
∞
S
(S3) Sind An ∈ A (n ∈ N), so ist
An ∈ A .
n=1
Dann heißt A eine σ-Algebra in X und das Paar (X, A ) ein messbarer Raum. Jede Menge
A ∈ A heißt eine messbare Menge. Ist X ein messbarer Raum, Y ein topologischer Raum
und f : X → Y eine Abbildung, so heißt f messbar, wenn für jede offene Menge V in Y
das Urbild U := f −1 (V ) messbar in X ist.
Bemerkung 1.2. Es sei (X, A ) ein messbarer Raum. Dann gelten folgende Aussagen:
(a) ∅ ∈ A .
(b) Sind A1 , . . . , An ∈ A , so ist A1 ∪ · · · ∪ An ∈ A .
(c) Sind An ∈ A (n ∈ N), so ist
∞
T
An ∈ A .
n=1
(d) Sind A, B ∈ A , so ist A \ B ∈ A .
Beispiel 1.3. (1) Es sei X eine Menge und A := P(X). Dann ist A eine σ-Algebra in
X.
(2) Es sei X eine Menge und
A := { A ⊂ X : A oder X \ A ist höchstens abzählbar } .
Dann ist A eine σ-Algebra in X.
(3) Es seien X eine Menge, A eine σ-Algebra in X, Y ⊂ X und
B := { A ∩ Y : A ∈ A } .
Dann ist B eine σ-Algebra in Y .
(4) Es seien X, Y Mengen, B eine σ-Algebra in Y , f : X → Y eine Abbildung und
A := { f −1 (B) ⊂ X : B ∈ B } .
1
Dann ist A eine σ-Algebra in X.
(5) Es seien X, Y Mengen, A eine σ-Algebra in X, f : X → Y eine Abbildung und
B := { B ⊂ Y : f −1 (B) ∈ A } .
Dann ist B eine σ-Algebra in Y .
(6) Es seien X eine Menge, Aα für α ∈ A (A eine Indexmenge) σ-Algebren in X und
\
A :=
Aα .
α∈A
Dann ist A eine σ-Algebra in X.
Definition 1.4. Es sei X eine Menge und E ⊂ P(X). Dann gibt es eine kleinste σAlgebra A = A (E ) in X mit E ⊂ A , nämlich
\
A := { B ⊂ P(X) : E ⊂ B und B ist σ-Algebra in X } .
A (E ) heißt die von E erzeugte σ-Algebra und E ein Erzeuger von A (E ).
Beispiel 1.5. (1) Es sei X eine Menge und E eine σ-Algebra in X. Dann ist A (E ) = E .
(2) Es sei X eine Menge, A ⊂ X mit ∅ 6= A 6= X und E := {A}. Dann ist A (E ) =
{∅, A, X \ A, X}.
(3) Es sei (X, T ) ein topologischer Raum und B := A (T ) die von T erzeugte σAlgebra. Jede Menge B ∈ B heißt eine Borel-Menge. Insbesondere ist also jede offene
und jede abgeschlossene Menge eine Borel-Menge. Weiterhin ist jede abzählbare Vereinigung abgeschlossener Mengen (Fσ -Menge) und jeder abzählbare Durchschnitt offener
Mengen (Gδ -Menge) eine Borel-Menge. Ist speziell X = Rn mit der üblichen Topologie, so wird die σ-Algebra der Borel-Mengen bereits von der Menge der beschränkten,
offenen (oder abgeschlossenen oder halboffenen) n-dimensionalen Intervalle (Quader) erzeugt. Ist Y ein weiterer topologischer Raum und f : X → Y eine messbare Abbildung
(bzgl. B), so heißt f eine Borel-Abbildung. Insbesondere ist jede stetige Abbildung eine
Borel-Abbildung.
Satz 1.6. Es sei X ein messbarer Raum. Dann gelten folgende Aussagen:
(a) Sind u, v : X → R messbar, so ist f := u + iv : X → C messbar.
(b) Ist f : X → C messbar, so sind Re f , Im f , |f | : X → R messbar.
(c) Sind f , g : X → C messbar, so sind f + g und f · g messbar.
(d) Es sei A ⊂ X messbar und χA : X → R definiert durch
(
1 für x ∈ A
χA (x) :=
0 für x ∈
/ A.
Dann ist χA messbar und heißt charakteristische Funktion oder Indikatorfunktion
von A.
(e) Ist f : X → C messbar, so gibt es eine messbare Funktion α : X → C mit |α(x)| = 1
und f (x) = α(x)|f (x)| für alle x ∈ X.
2
(f) Sind fn : X → [−∞, ∞] (n ∈ N) messbar, so sind g := sup fn und h := lim sup fn
n→∞
n∈N
messbar.
(g) Sind fn : X → C (n ∈ N) messbar und existiert f := lim fn , so ist f messbar.
n→∞
(h) Sind f , g : X → [−∞, ∞] messbar, so sind max {f, g} und min {f, g} messbar.
Insbesondere sind f + := max {f, 0} und f − := − min {f, 0} messbar.
(i) Ist f : X → [−∞, ∞] und f −1 ((α, ∞]) messbar für alle α ∈ R, so ist f messbar.
Definition 1.7. Es sei X ein messbarer Raum und s : X → [0, ∞). s heißt eine einfache
Funktion, wenn das Bild s(X) nur aus endlich vielen Punkten besteht.
Bemerkung 1.8. Ist s eine einfache Funktion und s(X) = {α1 , . . . , αn }, so setzen wir
Ak := s−1 (αk ) für k = 1, . . . , n. Dann gilt
s=
n
X
αk χAk ,
k=1
und s ist messbar genau dann, wenn A1 , . . . , An messbar sind.
Satz 1.9. Es sei X ein messbarer Raum und f : X → [0, ∞) messbar. Dann gibt es eine
Folge einfacher, messbarer Funktionen sn : X → [0, ∞) mit 0 ≤ s1 (x) ≤ s2 (x) ≤ · · · ≤
f (x) und lim sn (x) = f (x) für alle x ∈ X.
n→∞
2
Maße
Definition 2.1. Es sei (X, A ) ein messbarer Raum. Eine Funktion µ : A → [0, ∞] heißt
ein positives Maß, wenn gilt:
(a) Sind An ∈ A (n ∈ N) paarweise disjunkt, so ist
!
∞
∞
X
[
µ(An ) . (σ-Additivität)
µ
An =
n=1
n=1
(b) Es gibt ein A ∈ A mit µ(A) < ∞.
Das Tripel (X, A , µ) heißt dann ein Maßraum. Ein positives Maß heißt endlich, wenn
µ(X) < ∞. Ist speziell µ(X) = 1, so heißt µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß. µ heißt σ∞
S
endlich, wenn es eine Folge (An ) in A gibt mit A1 ⊂ A2 ⊂ A3 ⊂ · · · ,
An = X und
n=1
µ(An ) < ∞ für alle n ∈ N. Eine Funktion µ : A → R bzw. µ : A → C heißt ein reelles
(oder signiertes) bzw. komplexes Maß, wenn (a) gilt.
Satz 2.2. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum. Dann gelten folgende Aussagen:
(a) µ(∅) = 0.
(b) Sind A1 , . . . , An ∈ A paarweise disjunkt, so gilt
µ(A1 ∪ · · · ∪ An ) = µ(A1 ) + · · · + µ(An ) . (Endliche Additivität)
3
(c) Sind A, B ∈ A und A ⊂ B, so gilt
µ(A) ≤ µ(B) . (Monotonie)
(d) Sind An ∈ A (n ∈ N), A :=
∞
S
An und A1 ⊂ A2 ⊂ A3 ⊂ · · · , so gilt
n=1
lim µ(An ) = µ(A) . (Stetigkeit von unten)
n→∞
(e) Sind An ∈ A (n ∈ N), A :=
∞
T
An , A1 ⊃ A2 ⊃ A3 ⊃ · · · und µ(A1 ) < ∞, so gilt
n=1
lim µ(An ) = µ(A) . (Stetigkeit von oben)
n→∞
Beispiel 2.3. (1) Es sei X eine Menge, A := P(X) und µ : A → [0, ∞] definiert durch
(
∞,
falls A unendlich,
µ(A) :=
Anzahl der Elemente von A, falls A endlich.
Dann ist µ ein positives Maß und heißt das abzählende Maß oder Zählmaß auf X.
(2) Es sei X eine Menge, A := P(X), x0 ∈ X und µ : A → [0, ∞) definiert durch
(
1, falls x0 ∈ A,
µ(A) :=
0, falls x0 ∈
/ A.
Dann ist µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß und heißt das an x0 konzentrierte Einheitsmaß
oder Dirac-Maß und wird mit δx0 bezeichnet.
(3) Es sei X = Rn und A die σ-Algebra der Borel-Mengen in Rn . Dann gibt es
genau ein positives Maß µ auf A mit µ(I) = vol (I) für alle Intervalle I ⊂ Rn und
µ(x + A) = µ(A) für alle x ∈ Rn und alle A ∈ A . µ heißt das Lebesgue-Borelsche
Maß auf Rn und wird oft mit λ oder λn bezeichnet. Wir wollen die Konstruktion dieses
Maßes im Folgenden näher beschreiben.
Definition 2.4. Für k = 1, . . . , n seien xj,k ∈ R (j = 1, . . . , mk + 1) gegeben mit
x1,k < x2,k < · · · < xmk +1,k .
Es sei Pj,k ⊂ Rn die Hyperebene mit der Gleichung xk = xj,k (dabei sei xk die k-te
Komponente von x ∈ Rn ). Es sei Π die Vereinigung dieser Hyperebenen. Dann heißt Π
ein Gitter in Rn . Ein Gitter Π unterteilt Rn in endlich viele n-dimensionale Intervalle,
die wir Intervalle von Π nennen, und in endlich viele unbeschränkte Mengen. Eine Menge
Y ⊂ Rn heißt Figur, wenn Y die Vereinigung von Intervallen I1 , . . . , Ip eines Gitters Π
ist. Weiter heißt
λ(Y ) := vol (I1 ) + · · · + vol (Ip )
das Maß von Y .
Bis hierher ist das Vorgehen genauso wie beim Jordan-Inhalt. Jetzt geht es anders
weiter.
4
Definition 2.5. (1) Es sei Ω ⊂ Rn offen. Dann heißt
λ(Ω) := sup { λ(Y ) : Y ⊂ Ω, Y ist Figur }
das Maß von Ω. Es gilt 0 < λ(Ω) ≤ +∞.
(2) Es sei K ⊂ Rn kompakt. Dann heißt
◦
λ(K) := inf { λ(Y ) : K ⊂ Y , Y ist Figur }
das Maß von K. Es gilt 0 ≤ λ(K) < +∞.
(3) Es sei nun A ⊂ Rn beliebig. Dann heißt
λ∗ (A) := inf { λ(Ω) : A ⊂ Ω, Ω ist offen }
das äußere Maß von A und
λ∗ (A) := sup { λ(K) : K ⊂ A, K ist kompakt }
das innere Maß von A. Es gilt
0 ≤ λ∗ (A) ≤ λ∗ (A) ≤ +∞ .
Die Menge A heißt messbar, wenn gilt
λ(A) := λ∗ (A) = λ∗ (A) ,
und λ(A) heißt das n-dimensionale Lebesgue-Maß von A. Es gilt 0 ≤ λ(A) ≤ +∞.
(4) Die Menge A ⊂ Rn heißt Nullmenge, wenn λ(A) = 0.
Dann kann man zeigen, dass λ tatsächlich ein Maß auf einer σ-Algebra, die die BorelMengen enthält, ist. Schränkt man λ auf die Borel-Mengen ein, so erhält man das oben
erwähnte Maß.
Bemerkung 2.6. (a) Jede Jordan-messbare Menge ist Lebesgue-messbar und die
Maße stimmen überein.
(b) Eine Menge A ⊂ Rn ist Lebesgue-messbar. ⇐⇒ Zu jedem ε > 0 gibt es eine
kompakte Menge K ⊂ Rn und eine offene Menge Ω ⊂ Rn mit K ⊂ A ⊂ Ω und
λ(Ω \ K) < ε.
(c) Jede abzählbare Menge in Rn ist eine Nullmenge, also z.B. Qn .
(d) Es gibt auch überabzählbare Nullmengen, z.B. die Cantor-Menge.
(e) Es gibt Mengen, die nicht Lebesgue-messbar sind. Solche Mengen heißen auch
Vitalische Mengen, da sie von Vitali erstmals entdeckt wurden. Zur Konstruktion
solcher Mengen benötigt man jedoch das Auswahlaxiom.
(f) Es gibt Lebesgue-messbare Mengen, die keine Borel-Mengen sind.
5
3
Lebesgue-Integral von positiven Funktionen
Im Folgenden sei (X, A , µ) immer ein Maßraum mit einem positiven Maß µ.
Definition 3.1. Es sei s : X → [0, ∞) eine einfache, messbare Funktion der Form
s=
n
X
αk χ A k ,
k=1
und A ∈ A . Dann setzen wir
n
X
Z
s dµ :=
A
αk µ(Ak ∩ A)
k=1
mit der Konvention 0 · ∞ = 0. Es sei nun f : X → [0, ∞] messbar und A ∈ A . Dann
setzen wir
Z
Z
f dµ := sup s dµ ,
A
A
wobei das Supremum über alle einfachen, messbaren
Funktionen s mit 0 ≤ s(x) ≤ f (x)
R
für alle x ∈ X genommen wird. Dann heißt A f dµ das Lebesgue-Integral von f über
A.
Der Hauptunterschied zwischen dem Lebesgue-Integral und dem Riemann-Integral
besteht darin, dass beim R-Integral Treppenfunktionen zur Definition benutzt werden,
beim L-Integral hingegen verallgemeinerte Treppenfunktionen (nämlich die einfachen,
messbaren Funktionen).
Satz 3.2. Alle im Folgenden auftretenden Mengen und Funktionen seien messbar. Dann
gelten folgende Aussagen:
Z
Z
(a) Ist 0 ≤ f ≤ g, so ist
f dµ ≤
g dµ.
A
A
Z
Z
(b) Ist A ⊂ B und f ≥ 0, so ist
f dµ ≤
A
f dµ.
B
Z
(c) Ist f ≥ 0 und c ∈ [0, ∞) so ist
Z
cf dµ = c
f dµ.
A
A
Z
(d) Ist f (x) = 0 für alle x ∈ A, so ist
f dµ = 0.
A
Z
(e) Ist µ(A) = 0, so ist
f dµ = 0.
A
Z
(f) Ist f ≥ 0, so ist
Z
f dµ =
A
χA f dµ.
X
Satz 3.3 (Satz von der monotonen Konvergenz). Es sei (fn ) eine Folge messbarer Funktionen auf X mit 0 ≤ f1 (x) ≤ f2 (x) ≤ · · · ≤ ∞ und lim fn (x) = f (x) für alle x ∈ X.
n→∞
Dann ist f messbar, und es gilt
Z
Z
lim
fn dµ =
f dµ .
n→∞
X
X
6
Satz 3.4 (Lemma von Fatou). Es sei (fn ) eine Folge messbarer Funktionen auf X mit
fn (x) ≥ 0 für alle x ∈ X. Dann gilt
Z
Z
lim inf fn dµ ≤ lim inf
fn dµ .
X
n→∞
n→∞
X
Satz 3.5. Es sei f : X → [0, ∞] messbar und ν : A → [0, ∞] definiert durch
Z
ν(A ) :=
f dµ (A ∈ A ).
A
Dann ist ν ein positives Maß auf A , und es gilt
Z
Z
g dν =
gf dµ
X
X
für alle messbaren Funktionen g : X → [0, ∞]. Hierfür schreibt man auch kurz
dν = f dµ .
4
Lebesgue-Integral von komplexen Funktionen
Definition 4.1. Es sei L 1 (µ) die Menge aller messbaren Funktionen f : X → C mit
Z
kf k1 :=
|f | dµ < ∞ .
X
Jedes f ∈ L 1 (µ) heißt eine Lebesgue-integrierbare Funktion (bzgl. µ). Ist f ∈ L 1 (µ)
und f = u + iv, so setzen wir für A ∈ A
Z
Z
Z
Z
Z
+
−
+
u dµ + i v dµ − i v − dµ .
u dµ −
f dµ :=
A
A
A
A
A
Satz 4.2. Es seien f , g ∈ L 1 (µ) und α, β ∈ C. Dann ist αf + βg ∈ L 1 (µ), und es gilt
Z
Z
Z
(αf + βg) dµ = α
f dµ + β
g dµ .
X
X
X
Satz 4.3. Es sei f ∈ L 1 (µ). Dann gilt
Z
Z
f dµ ≤
|f | dµ .
X
X
Satz 4.4 (Satz von der dominierenden Konvergenz). Es seien fn : X → C messbar (n ∈
N), es existiere f (x) := lim fn (x), und es gebe ein g ∈ L 1 (µ) mit |fn (x)| ≤ g(x) für alle
n→∞
x ∈ X und alle n ∈ N. Dann ist f ∈ L 1 (µ), und es gilt
Z
lim
|fn − f | dµ = 0
n→∞
und
X
Z
lim
n→∞
Z
fn dµ =
X
f dµ .
X
7
Definition 4.5. Eine Menge A ∈ A heißt Nullmenge, wenn µ(A) = 0 ist. Ist A ∈ A und
E eine Eigenschaft über die Elemente von A, so sagt man: E gilt fast überall (f.ü) auf A
(oder E gilt für fast alle x ∈ A), wenn { x ∈ A : E gilt für x nicht } eine Nullmenge ist.
Bemerkung 4.6. Sind f , g ∈ L 1 (µ) und f = g f.ü. auf X, so ist
Z
Z
f dµ =
g dµ .
X
X
Grob gesagt: Nullmengen spielen bei der Integration keine Rolle.
Satz 4.7. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und A ∗ das System aller Mengen M ⊂ X mit
der Eigenschaft: Es gibt Mengen A, B ∈ A mit A ⊂ M ⊂ B und µ(B \ A) = 0. Für jedes
M ∈ A ∗ setzen wir µ∗ (M ) := µ(A). Dann ist A ∗ eine σ-Algebra in X und µ∗ ein positives
Maß auf A ∗ . Das Maß µ∗ heißt vollständig und A ∗ die µ-Vervollständigung von A . Es
ist also jede Teilmenge einer µ-Nullmenge A ∗ -messbar mit Maß 0. Das Lebesgue-Maß
auf Rn ist gerade die Vervollständigung des Lebesgue-Borelschen Maßes.
Satz 4.8. Es seien fn : X → C messbar (n ∈ N) und
∞ Z
X
n=1
|fn | dµ < ∞ .
X
Dann konvergiert die Reihe
f (x) :=
∞
X
fn (x)
n=1
für fast alle x ∈ X, es ist f ∈ L (µ), und es gilt
1
Z
f dµ =
X
Satz 4.9.
∞ Z
X
n=1
fn dµ .
X
(a) Ist f : X → [0, ∞] messbar, A ∈ A und
Z
f dµ = 0, so ist f = 0 f.ü.
A
auf A.
(b) Ist f ∈ L (µ) und
1
Z
f dµ = 0 für alle A ∈ A , so ist f = 0 f.ü. auf X.
A
(c) Ist f ∈ L 1 (µ) und
Z
Z
f dµ =
|f | dµ ,
X
X
so gibt es ein α ∈ C mit |α| = 1 und αf = |f | f.ü. auf X.
5
Komplexe Maße
Definition 5.1. Es sei X eine Menge und A eine σ-Algebra in X. Ist A ∈ A und
Z = { An ∈ A : n ∈ N } ein abzählbares System paarweise disjunkter Mengen mit
8
A=
∞
S
An , so heißt Z eine Zerlegung von A. Nun sei µ ein komplexes Maß auf A . Für
n=1
A ∈ A definieren wir
|µ|(A) := sup
∞
X
|µ(An )| ,
n=1
wobei das Supremum über alle Zerlegungen Z von A genommen wird. Diese Funktion
|µ| : A → [0, ∞] heißt die totale Variation von µ.
Satz 5.2. Es sei X eine Menge, A eine σ-Algebra in X und µ ein komplexes Maß auf A .
Dann ist die totale Variation |µ| von µ ein positives endliches Maß auf A . Insbesondere
gilt |µ(A)| ≤ |µ|(A) ≤ |µ|(X) < ∞ für alle A ∈ A . Man sagt auch: µ ist von beschränkter
Variation.
Bemerkung 5.3. Es sei X eine Menge und A eine σ-Algebra in X. Sind µ, ν komplexe
Maße auf A und c ∈ C, so definieren wir komplexe Maße µ + ν und cµ durch
(µ + ν)(A) := µ(A) + ν(A) und (cµ)(A) := cµ(A) (A ∈ A ).
Die Menge aller komplexen Maße auf A wird damit zu einem komplexen Vektorraum.
Setzen wir noch
kµk := |µ|(X) ,
so erhalten wir sogar einen normierten Raum.
Bemerkung 5.4. Es sei X eine Menge, A eine σ-Algebra in X und µ ein reelles Maß
auf A . Wir definieren |µ| wie in Definition 5.1 und setzen
µ+ := 21 (|µ| + µ) und µ− := 21 (|µ| − µ) .
Nach Satz 5.2 sind µ+ , µ− positive endliche Maße, und es gilt
µ = µ+ − µ−
und |µ| = µ+ + µ− .
Die Maße µ+ bzw. µ− heißen die positive bzw. negative Variation von µ, und die erste
Gleichung heißt die Jordan-Zerlegung von µ.
Definition 5.5. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und ν ein beliebiges Maß auf A .
(a) ν heißt absolut stetig bezüglich µ, wenn gilt: Ist A ∈ A mit µ(A) = 0, so ist
ν(A) = 0. Wir schreiben dann ν µ.
(b) ν heißt konzentriert auf A ∈ A , wenn gilt: ν(B) = ν(A ∩ B) für alle B ∈ A . (Dies
ist äquivalent zu: ν(B) = 0 für alle B ∈ A mit A ∩ B = ∅.)
(c) Sind ν1 , ν2 beliebige Maße auf A , so heißen ν1 und ν2 zueinander singulär, wenn
gilt: Es gibt Mengen A, B ∈ A mit A ∩ B = ∅, ν1 ist konzentriert auf A und ν2 ist
konzentriert auf B. Wir schreiben dann ν1 ⊥ ν2 .
Satz 5.6. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und ν, ν1 , ν2 beliebige Maße auf A . Dann gelten
folgende Aussagen:
(a) Ist ν konzentriert auf A ∈ A , so auch |ν|.
9
(b) Ist ν1 ⊥ ν2 , so ist |ν1 | ⊥ |ν2 |.
(c) Sind ν1 ⊥ µ und ν2 ⊥ µ, so ist ν1 + ν2 ⊥ µ.
(d) Sind ν1 µ und ν2 µ, so ist ν1 + ν2 µ.
(e) Ist ν µ, so ist |ν| µ.
(f) Ist ν1 µ und ν2 ⊥ µ, so ist ν1 ⊥ ν2 .
(g) Ist ν µ und ν ⊥ µ, so ist ν = 0.
Satz 5.7 (Zerlegungssatz von Lebesgue). Es sei (X, A , µ) ein Maßraum, µ sei σ-endlich
und ν ein positives, endliches oder komplexes Maß auf A . Dann gibt es ein Paar von
Maßen νa und νs auf A mit ν = νa + νs , νa µ und νs ⊥ µ. Das Paar (νa , νs ) heißt die
Lebesgue-Zerlegung von ν bezüglich µ.
Satz 5.8 (Satz von Radon-Nikodym). Es sei (X, A , µ) ein Maßraum, µ sei σ-endlich, ν
ein positives, endliches oder komplexes Maß auf A und (νa , νs ) die Lebesgue-Zerlegung
von ν bezüglich µ. Dann gibt es genau eine Funktion h ∈ L 1 (µ) mit
Z
νa (A) =
h dµ ∀ A ∈ A .
A
Die Funktion h heißt die Radon-Nikodym-Ableitung von νa bezüglich µ. Man schreibt
a
dafür auch dνa = h dµ oder h = dν
.
dµ
Satz 5.9. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum und ν ein komplexes Maß auf A . Dann gilt:
ν µ ⇐⇒ Zu jedem ε > 0 gibt es ein δ > 0 mit |ν(A)| < ε für alle A ∈ A mit
µ(A) < δ.
Satz 5.10. Es sei (X, A ) ein messbarer Raum und µ ein komplexes Maß auf A . Dann
gibt es eine messbare Funktion h : X → C mit |h(x)| = 1 für alle x ∈ X und
dµ = h d|µ| .
Diese Gleichung heißt die Polardarstellung oder Polarzerlegung von µ.
Bemerkung 5.11. Aufgrund dieses Satzes kann man das Integral einer messbaren Funktion f : X → C bezüglich eines komplexen Maßes µ durch
Z
Z
f dµ :=
f h d|µ|
X
X
definieren.
Satz 5.12. Es sei (X, A , µ) ein Maßraum, g ∈ L 1 (µ) und
Z
ν(A) :=
g dµ (A ∈ A ).
A
Dann gilt
Z
|ν|(A) =
|g| dµ
(A ∈ A ).
A
Satz 5.13 (Zerlegungssatz von Hahn). Es sei (X, A ) ein messbarer Raum und µ ein
reelles Maß auf A . Dann gibt es Mengen A, B ∈ A mit A ∪ B = X, A ∩ B = ∅ und
µ+ (E) = µ(A ∩ E), µ− (E) = −µ(B ∩ E) für alle E ∈ A . Das Paar (A, B) heißt dann
die Hahn-Zerlegung von X bezüglich µ.
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