SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Forum Buch NEUE BÜCHER VON RONALD DWORKIN, JÖRG BLECH, JOSEF ALDENHOFF, SVEN RAHNER, KLAUS ZEYRINGER, KERSTEN KNIPP, SHADIA HUSSEINI DE ARAÚJO, TOBIAS SCHMITT, LISA TSCHORN 08.06.2014 /// 17.05 Uhr Redaktion: Wolfram Wessels Ronald Dworkin: Religion ohne Gott. Übersetzung :Eva Engels. Suhrkamp 146 Seiten 19,95 Euro Rezension: Pascal Fischer Barbara Dobrick über Geschäfte mit Psychologie Jörg Blech: Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht S. Fischer Verlag; 288 Seiten; 19,99 Euro Josef Aldenhoff: Bin ich psycho …oder geht das von alleine weg? Erste Hilfe für die Seele C. Bertelsmann; 368 Seiten, 19,99 Euro Sven Rahner: Architekten der Arbeit. Positionen, Entwürfe, Kontroversen Edition Körber-Stiftung, 312 Seiten, 16,00 Euro Wolfram Wessels im Gespräch mit Sven Rahner Ulrich Teusch über neue Fußball-Bücher Klaus Zeyringer: Fußball. Eine Kulturgeschichte. S. Fischer, 448 Seiten, 22,99 Euro Susanne Catrein / Christof Hamann (Hrsg.): Was Fussball macht. Zur Kultur unseres Lieblingsspiels. Steidl, 295 Seiten, 18,00 Euro Peter B. Schumann: Alte und neue Blicke auf Brasilien Kersten Knipp: Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens Suhrkamp Taschenbuch, 380 Seiten, 11,99 Euro Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn (Hg.): Widerständigkeiten im 'Land der Zukunft' . Andere Blicke auf und aus Brasilien. Unrast Verlag, 336 Seiten, 18,00 Euro Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Ronald Dworkin: Religion ohne Gott. Von Pascal Fischer Unter manchen religiösen Menschen hält sich hartnäckig eine Mär: Die Mär, dass nichtreligiöse Menschen der Entzauberung der Welt quasi sadomasochistisch huldigten und die Welt extra stumpfsinnig und prosaisch wahrnähmen. Damit räumt Ronald Dworkin in seinem kleinen, äußerst dichten Buch gründlich auf. Nein, sagt er, es gebe „religiöse Atheisten“, die geradezu heilig vor der Erhabenheit des Grand Canyon erschauerten, die von eleganten kosmologischen Theorien ergriffen werden und die großen Kunstwerken huldigen. Der Religionsbegriff dürfe nicht beschränkt sein auf Gottesreligionen. Er beziehe sich allgemeiner auf bestimmte Haltungen zur Welt und zur Moral. „Religion ist etwas Tieferes als Gott – das ist das Thema dieses Buches. Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat. Der Glaube an einen Gott ist nur eine der möglichen Manifestationen oder Konsequenzen dieser tieferen Weltsicht.“ Damit holt Dworkin Atheisten oder auch Pantheisten in den Begriff Religion hinein. Den theoretischen Freifahrtsschein für seine Definition hat sich Dworkin freilich eigens ausgestellt: Religion sei ein „interpretativer Begriff“, man könne ihn nur benutzen, indem man gleichzeitig auslege, was er besage. Wobei sich Dworkin selbst ein wenig verheddert, wenn er das säkulare, dennoch numinose Erstaunen angesichts des Weltalls und der Evolution näher fassen möchte. Denn er kann nicht wirklich sagen, was genau das Universum da schön macht oder was eine physikalische Weltformel elegant wirken lässt: Ist es die Einfachheit? Eine komplexe Symmetrie? Dworkin legt aber plausibel dar, dass eine bestimmte Erklärung nicht befriedigen kann: Die durch Gott, der halt alles so geschaffen habe. „Das philosophische Rätsel ist damit noch nicht gelöst, denn was erklärt die Existenz einer solchen Intelligenz? Ist sie purer Zufall? Dann wäre die Existenz von allem nur ein lächerlicher Zufall. Oder gibt es im Gegenteil etwas, das die Existenz Gottes erklärt? Doch dann würde der unendliche Regress losgetreten. Die Wissenschaft der Gottesreligionen muss sich gegen solche Fragen abschirmen.“ Das Universum braucht keinen Gott als Erklärung, um als schön oder sogar naturwissenschaftlich logisch wahrgenommen zu werden. Die physikalischen Formeln sprechen für sich, beziehen sich gegenseitig aufeinander und bilden sozusagen ein Netz von Formeln und Befunden, die sich gegenseitig stützen. Und diese „starke Integrität“ ist der eigentliche Clou bei diesen Überlegungen: So nämlich funktioniert es auch im Bereich der Ethik, argumentiert Dworkin. Werte sind objektiv vorhanden, Werte wie die Menschenwürde und das Folterverbot stützen sich in einem komplexen Netz gegenseitig. Ethische Gewissheit erlangen wir nur durch unser Gefühl der Gewissheit, wenn wir uns befragen und uns bestimmte Grundsätze evident erscheinen. Mehr haben wir nicht. Wobei das strenggenommen viel ist, denn diese Erfahrung von moralischer Evidenz komme dem nahe, was Theologen die Erfahrung des Numinosen nennen. 2 „Und diese Festlegung steht auch Nichtgläubigen frei. Das bedeutet, dass die Theisten mit manchen Atheisten in etwas übereinstimmen, das grundlegender ist als alles, was sie trennt, und vielleicht den Ausgangspunkt für eine bessere Verständigung zwischen ihnen bilden könnte. […] Vielleicht werden die Angehörigen beider Lager – oder wenigstens viele von ihnen – irgendwann erkennen, dass es sich bei dem, was sie derzeit für eine unüberbrückbare Kluft halten, lediglich um eine esoterische wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit ohne moralische oder politische Bedeutung handelt. Ist das eine übertriebene Hoffnung? Vermutlich.“ Aber eine große: Mancherorts verabreden sich verschiedene Fundamentalismen zum gemeinsamen konservativen rollback der Gesellschaft – da tut so ein Buch gut, das zu einer rationalen Debatte über Werte und ihre Begründungen aufruft, anstatt einfach nur auf Traditionen zu pochen. Eigentlich, merkt Dworkin richtig an, sei es absurd, anzunehmen, Werte ließen sich nur durch Gott begründen. Man müsste wiederum darlegen, warum das nur durch Gott geschehen kann. Und Gott kann kaum wollen, dass wir etwas nur tun, weil es ihm mal so gefällt, und nicht, weil es objektiv richtig ist. Ansonsten wäre dieser Gott ein ziemlich hässliches, selbstsüchtiges, naives Menschlein. Oder verstehen wir seine geheimnisvolle Werteschöpfung nicht? Aber woher wüssten wir dann, was wir überhaupt einsehen können? Das Argument von der Rätselhaftigkeit göttlichen Wirkens erweist sich als bloße argumentative Rauchbombe. „Der Bereich der Werte hängt nicht von der Existenz oder der Wirkungsgeschichte irgendeines Gottes ab – und kann auch gar nicht davon abhängen.“ Was alle wie auch immer ethisch eingestellten Menschen verbindet, ist die Überzeugung, es gebe ein gutes Leben und man könne sich dazu entscheiden. Religionsfreiheit bedeutet dann eigentlich Weltanschauungsfreiheit, Recht auf ethische Selbstbestimmung - sofern das nicht in Rassismus, Sexismus und andere Hasshaltungen abgleitet. Zur Wehrdienstverweigerung muss sich keiner auf einen Gott berufen – es genügt eine pazifistische oder säkular humanistische Haltung. So arbeitet sich der letzte Teil des Buches mit den einschlägigen, typisch amerikanischen Problemen ab: Öffentliche Schulgebete, Homoehe, Abtreibung. Meist optiert Dworkin, schonmal anders als die US-Politik, für die liberalere Position. Aber bleibt sein religiöser Atheismus damit schlussendlich nicht prosaisch? Hier droht kein Gott wirkungsvoll mit dem Höllenfeuer, kein Paradies winkt, keine Unsterblichkeit? „Wir können dem Tod mit der Gewissheit entgegensehen, dass wir angesichts der größten Herausforderung, vor die sterbliche Wesen gestellt sind, etwas Gutes zustande gebracht haben. Vielleicht genügt Ihnen das nicht – und nimmt Ihnen rein gar nichts von Ihrer Furcht. Es ist aber die einzige Art von Unsterblichkeit, die wir uns ausmalen oder jedenfalls die einzige, die wir überhaupt anzustreben berechtigt sind. Wenn irgendeine Überzeugung religiös ist, dann diese. Sie steht Ihnen offen, gleichgültig, für welches der beiden Lager der Religion Sie sich entscheiden: das mit oder das ohne Gott.“ Das Leben als stimmiges Kunstwerk – ein Rückgriff auf Romantik und Postmoderne. Wahrlich – so fühlen sich säkulare Erhabenheitsschauer an. Es ist traurig, dass Ronald Dworkin diese Überlegungen nicht mehr ausführlicher ausarbeiten konnte. Trotzdem: Mit seinem Brevier für religiöse Atheisten hat er sich auf dem Weg in die Unsterblichkeit gemacht. 3 Jörg Blech: Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht Josef Aldenhoff: Bin ich psycho …oder geht das von alleine weg? Erste Hilfe für die Seele Von Barbara Dobrick Leide ich unter einer Verstimmung oder habe ich eine Depression? Ist meine Angst angemessen, oder bin ich an einer behandlungsbedürftigen Angststörung erkrankt? Solche Fragen stellen sich viele Menschen irgendwann einmal. Dann könnte der Ratgeber von Josef Aldenhoff nützlich sein. Erkrankungen, mit denen ein erfahrener Psychiater und Psychotherapeut wie er, regelmäßig konfrontiert wird, beschreibt er kurz und gut verständlich mit ihren Symptome und Behandlungsmöglichkeiten. Wer wissen möchte, wie man eine Depression erkennt oder eine bipolare Störung, was bei einer Angst- oder Suchterkrankung zu tun ist und wie Schlafstörungen einzuordnen sind, findet in Aldenhoffs Buch handfeste Hinweise dazu, wo und wie man sich behandeln lassen kann, wann Psychotherapie, wann Medikamente, wann beides helfen könnte.Dazu gehören auch genaue Informationen über Wirkungen und Nebenwirkungen gängiger Medikamente, die verschrieben werden, wenn die Seele tatsächlich krank ist. Das könnte eine Hilfe auch für jene Patienten sein, die bereits in Behandlung und skeptisch sind, ob das ihnen verordnete Medikament wirklich für sie passt. Aldenhoff macht einen einfühlsamen und sympathisch offenen Eindruck. Souverän benennt er auch manche Grenzen seiner Zunft. Zitator: In der Prognose sind wir Mediziner richtig schlecht. (…) Wir können nicht voraussagen, ob eine akute Psychose zu einer chronischen wird oder abheilt, ob Sie Ihre Angststörung überwinden (…). Am wenigsten Ahnung haben wir von allem, was noch im Bereich der Gesundheit oder in der Grauzone des Krankheitsbeginns liegt. Am Anfang schreibt Josef Aldenhoff ein bisschen sprunghaft, aber dann ist sein Buch ein gut zu lesender und informativer Rundum-Ratgeber, für Menschen, die sich fragen, wann eine psychiatrische Erkrankung vorliegt und was dagegen helfen könnte. Dieser generelle Ansatz ist gleichermaßen eine Stärke und eine Schwäche. Für Leute, die sich einen Überblick verschaffen möchten über seelische Erkrankungen und deren mögliche Behandlung, ist das Kompendium empfehlenswert, und auch für weitgehend unerfahrene oder unwissende Patienten kann es eine Hilfe sein, Symptome erst einmal in das weite Spektrum psychiatrischer Erkrankungen einordnen zu können. Für alle anderen jedoch dürfte eine speziellere Lektüre nützlicher sein, ein Buch, das sich ausschließlich und deshalb tiefer gehend mit der Störungsform beschäftigt, die im Vordergrund steht. Auch Ratschläge zu psychischen Problemen können allerdings widersprüchlich und deshalb verunsichernd ausfallen. Dazu ein Beispiel: Während Aldenhoff in seiner Medikamentenliste Memantin als wirkungsvoll bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz beschreibt, erfahren wir von dem SPIGEL-Journalisten Jörg Blech in seinem Buch „Die Psychofalle“, Medikamente gegen Demenz hätten einzig und allein positive Wirkung auf den Umsatz der Hersteller. Jörg Blech widmet sich in seinem neuen Buch vor allem der Pathologisierung bestimmter Lebensphasen und normaler Stimmungen und Verhaltensweisen und nimmt damit das Thema wieder auf, das er bereits vor zehn Jahren in seinem Buch „Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden“ behandelt hat. Dieses Mal konzentriert er sich auf psychische Probleme. Gesunde Menschen als krank zu erklären, führe nicht nur zu überflüssigen, sondern auch zu schädlichen Behandlungen, warnt Blech. Ob es um die Wechseljahre geht oder Stimmungsschwankungen vor der Regelblutung, um Probleme von Teenagern – erst gebe es Krankheitsbezeichnungen für ganz normale Befindlichkeiten und dann ein Medikament. Manchmal sei es auch umgekehrt. 4 Ein Beispiel unter vielen ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, die inzwischen bei 12 Prozent der neun- bis zwölfjährigen Jungen diagnostiziert und medikamentös behandelt wird. So wie andere Besorgte konstatiert auch Jörg Blech, dass das vor allem überforderte Eltern und Lehrer entlaste, Kinder aber stigmatisiere und durch Medikamente in ihrer Entwicklung beeinträchtigen und schädigen könne. Er plädiert dafür, nach den Ursachen in Familienbeziehungen, in Schulen und am Arbeitsplatz zu suchen, wenn Kinder zappelig und unkonzentriert oder Erwachsene überlastet und erschöpft sind. Es gelte die Lebensbedingungen zu verbessern, anstatt Psychopharmaka zu verschreiben – für Kinder und Erwachsene. Zitator: Die Epidemie der psychischen Störungen ist ein Mythos. (…) Die Ausweitung der Diagnosen weist auf einen immer stärker werdenden Trend in der Gesellschaft hin. Soziale Probleme werden als psychische Störungen aufgefasst. Dabei gehe es uns keineswegs schlechter als früher, so Blech. Es nehmen sich weit weniger Menschen das Leben als vor 30 Jahren und die Lebenszufriedenheit sei keineswegs gesunken. Das könnte natürlich daran liegen, dass mehr Menschen behandelt werden. Aber Jörg Blech sieht die gestiegene Zahl einschlägiger Diagnosen überaus kritisch. Krankheiten werden regelrecht fabriziert, schreibt der Medizinjournalist. Für Pharmaindustrie, Ärzte und Therapeuten sei eine vermeintliche Erkrankung wie ADHS oder Burnout nämlich Gold wert. Blech beschreibt die enge ökonomische Verzahnung zwischen Medikamentenherstellern und vielen Ordinarien an Universitätskliniken. Und auch Eitelkeit spiele eine Rolle: Manche Forscher sähen ihr Lebenswerk gekrönt, wenn sie eine Symptomatik als erste beschreiben und als Krankheit benennen. Als anerkannt gilt sie, wenn sie in den Katalog für psychische Störungen, das "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders", kurz DSM, aufgenommen wird. Ob es die „generalisierte Heiterkeitsstörung“ oder die „posttraumatische Verbitterungsstörung“ oder das „Dorian-Gray-Syndrom“, das für Personen in Frage kommt, die übermäßig auf ihr Äußeres achten, ins DSM schafft, hing bei dessen letzter Überarbeitung von 160 Experten ab, die per Mehrheistvoten entschieden. Zitator: Mehr als die Hälfte dieser DSM-Autoren mussten einräumen, dass sie finanziell mit der Industrie verbunden sind: Rund 70 Prozent von ihnen arbeiteten als Berater oder Redner für pharmazeutische Firmen und nahmen von diesen dafür Honorare an. Die Krankheitserfinder schaden allen Patienten, warnt Blech. Die einen werden als krank bezeichnet, ohne es zu sein, und die anderen müssen unzumutbar lange auf Therapieplätze warten, weil die von Leuten besetzt werden, die sie gar nicht unbedingt brauchen. Jörg Blech hat über etliche Aspekte seines Buches bereits als Spiegel-Autor geschrieben. Und andere Autoren, wie beispielsweise die Psychiater Manfred Lütz und Allen Frances haben sich in ihren Büchern „Irre! Wir behandeln die Falschen“ und „Normal“ ebenfalls mit der Pathologisierung Gesunder befasst. Über ADHS gibt es inzwischen eine ganze Menge kritische Literatur. Es kommt einem also vieles bereits bekannt vor. In zwei wichtigen Punkten stimmen Josef Aldenhoff und Jörg Blech überein: Es gibt psychiatrische Erkrankungen, die unbedingt und möglichst rasch behandelt werden müssen. Dazu gehören vor allem Depressionen, Angsterkrankungen und Psychosen. In normalen Lebenskonflikten, bei Verstimmungen und vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen würde es aber vor allem helfen, unsere Fähigkeiten zur Selbstreflexion und zur Konfliktbewältigung zu stärken. 5 Klaus Zeyringer: Fußball. Eine Kulturgeschichte. Susanne Catrein / Christof Hamann (Hrsg.): Was Fussball macht. Zur Kultur unseres Lieblingsspiels. Von Ulrich Teusch Autor: Schon einmal wurde eine Fußball-WM in Brasilien ausgetragen, 1950. Die Gastgeber gingen als haushohe Favoriten ins Turnier. Da es damals noch kein klassisches Finale gab, sondern man in Gruppen spielte, hätte Brasilien am Ende ein Unentschieden gegen Uruguay zum Titelgewinn genügt. Niemand zweifelte am Erfolg, doch dann setzte es vor 200 000 Zuschauern eine sensationelle 1:2-Niederlage. Zitator: „Stunden nach Ende des Matches weinten noch Fans im [Stadion] Maracana. Einige Menschen im Land nahmen sich das Leben. Auf den Straßen der Städte herrschte Unruhe. Man machte die Regierung mitverantwortlich für die Niederlage […].“ Autor: Das Spiel gegen Uruguay, so Klaus Zeyringer in seiner großen Kulturgeschichte des Fußballs, sei für die Brasilianer zu einer nationalen Tragödie, zum „mythischen Inbegriff aller heimischen Niederlagen“ geworden. Kaum verwunderlich, dass vor der jetzt anstehenden WM einige Medien die ängstliche Frage aufwarfen, ob dem Land ein zweites „1950“ zustoßen könnte. Dass der Fußball im 20. Jahrhundert nicht nur in Brasilien, sondern rund um den Globus die Massen wie keine andere Sportart bewegen würde, war Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht absehbar. Denn die Anfänge dieser Sportart waren äußerst bescheiden und – vor allem – elitär. Fußball spielte man zunächst in den englischen Colleges. 1863 gründeten in London Vertreter von elf Schulen und Clubs dann einen ersten Dachverband, die Football Association. Ein gutes Jahrzehnt später kamen die meisten Kicker schon nicht mehr aus der Aristokratie und dem betuchten Bürgertum, sondern aus der Mittel- und der Arbeiterklasse. Anfang der 1920er Jahre hatte sich der Fußball weit über England hinaus ausgebreitet und war zum Massenspektakel geworden. Dieser rasante Aufstieg ist Zeyringer zufolge mit der allgemeinen Beschleunigung gesellschaftlicher Entwicklungen einhergegangen, mit der Industrialisierung und der Herausbildung einer Massengesellschaft. Der Fußball, so der Autor, sei ein Ausdruck der Moderne. Das ist sicher richtig, doch gilt in ähnlicher Weise auch für andere Mannschaftssportarten. Warum aber hält sich deren Faszination, global gesehen, in Grenzen? Warum regiert fast überall König Fußball – warum nicht Handball, warum nicht Basketball, warum nicht Rugby oder Baseball? Trotz immer neuer, vielversprechender Anläufe, wirklich lüften kann auch Zeyringer dieses eigentümliche Geheimnis nicht. Weit erfolgreicher ist er dort, wo er nicht über das Faszinosum Fußball spekuliert, sondern faktengesättigte, anschauliche, spannende Geschichtsschreibung bietet. So macht er zum Beispiel klar, wie sehr der Aufstieg des Fußballs mit der technischen, insbesondere der medialen Entwicklung zu tun hatte. Und wie sehr er von adäquaten Infrastrukturen abhing, an erster Stelle dem Bau großer Fußballstadien. Früh schon machte sich die Politik dafür stark – und wusste die Arenen für eigene Zwecke zu nutzen. Zwischen den Weltkriegen setzte eine „Theatralisierung“ der Politik ein, und Mussolini war nicht von ungefähr der erste in Europa, der die Stadien propagandistisch nutzte. Einen ganz anderen Gebrauch machten südamerikanische Diktatoren in den 1970er Jahren von den Arenen: Sie internierten dort ihre politischen Gegner. Das Verhältnis zwischen Fußball und Politik ist einer der roten Fäden in Zeyringers Untersuchung. Früher oder später haben alle, ob Diktatoren oder Demokraten, ob Linke oder 6 Rechte, versucht, sich den Fußball zunutze zu machen. Und wenn das unberechenbare Spiel oder dessen Akteure nicht so wollten wie die Herrschenden, hat man zuweilen nachgeholfen. Zitator: „Mussolini korrumpierte WM-Schiedsrichter; Franco ordnete den Sieg von Real gegen Barcelona an; der Staatssicherheitsdienst ließ im Stalinismus ein Match wiederholen, weil das Ergebnis nicht genehm war; die Nazis sollen 1938 das Remis im ‚Anschlussspiel‘ [gegen Österreich] befohlen und 1942 siegreiche Ukrainer umgebracht haben […].“ Autor: Vermutlich hat auch die argentinische Junta bei der WM 1978 zum Vorteil des eigenen Teams eingegriffen. Um ins Endspiel zu gelangen, musste Gastgeber Argentinien das Team von Peru mit mindestens vier Toren Unterschied schlagen: Zitator: „Auch in Peru herrschten Militärs; eine Absprache zwischen den beiden Diktaturen soll mit 35 000 Tonnen Getreide sowie einem Kredit von 50 Millionen Dollar besiegelt worden sein. […] Einer aus dem Team erzählt von einem ungewöhnlichen Besuch in der peruanischen Kabine. General Videla und Henry Kissinger hätten sie mit Nachdruck auf die ‚lateinamerikanische Einheit und Brüderlichkeit‘ hingewiesen.“ Autor: Angesichts solcher Interventionen erscheinen die Kabinenbesuche Angela Merkels bei der deutschen Nationalelf geradezu verzeihlich. Jedenfalls verfehlte der „Appell“ von Kissinger und Videla seine Wirkung nicht: Argentinien siegte mit 6:0. Während es hier noch um die Einflussnahme des politischen auf den sportlichen Bereich ging, sind im Italien Silvio Berlusconis Fußball und Politik zeitweise eine regelrechte Symbiose eingegangen. Zitator: „[…] Berlusconi hatte 1986 mit Hilfe des korrupten Sozialdemokraten Bettino Craxi den AC Milan erworben, um später für seinen Einstieg in die Politik die Popularität des Vereins zu nützen – den Namen seiner Partei übernahm er von den Anfeuerungsrufen für das Nationalteam ‚Forza Italia‘.“ Autor: Klaus Zeyringer hat eine Kulturgeschichte des Fußballs vorgelegt, die kaum Wünsche offenlässt. Dem Autor gelingt eine schwierige Gratwanderung. Einerseits zeigt er sich als großer Fußballfreund und -experte, der die unvergesslichen Matches, die legendären Einzelspieler und Mannschaften in lebhafte Erinnerung bringt, der sich im Vereinsfußball ebenso gut auskennt wie auf der Ebene der Nationalmannschaften, der die Entwicklung des Fußballs nicht nur in Europa oder Südamerika, sondern tatsächlich im globalen Maßstab kenntnisreich und souverän darzustellen weiß – all dies über den langen Zeitraum von mehr als 100 Jahren. Andererseits bleibt Zeyringer ungeachtet aller Freude am Fußball stets der distanzierte, reflektierende, kritische Intellektuelle. Einem naiven Fußball-Enthusiasmus redet er nie das Wort. In den ideologiekritischen 70er Jahren galt bei vielen Intellektuellen das Diktum Die Tore auf dem Spielfeld sind die Eigentore der Beherrschten. Selbst Zeyringer würde diesem pointierten Satz wohl kaum noch vorbehaltlos zustimmen. Bei vielen anderen Zeitgenossen haben sich die Vorzeichen aber inzwischen geradezu umgekehrt. Dank eines „erweiterten Kulturbegriffs“ ist der Fußball auch unter Intellektuellen längst salonfähig geworden, und was sie zum Thema zu sagen haben, ist um einiges sanfter und unverbindlicher als ehedem. Symptomatisch dafür ist der 7 bei Steidl erschienene Sammelband „Was Fußball Macht“. Die „kulturwissenschaftliche“ Perspektive, der sich die Autoren verpflichtet fühlen, dient dabei eher als Deckmantel für die Beliebigkeit der Themenstellungen und ihrer Bearbeitung. Da finden sich Impressionen über die Rolle des Fußballs in Prosa und Lyrik, unverbindlich-feuilletonistische Betrachtungen über Fußball und Medien, hier und da auch ein Fußballgedicht oder eine einschlägige Fotostrecke, schließlich ein intellektualistisch-überhöhter Beitrag von Mitherausgeberin Susanne Catrein über den Fußball als „Kunst“ beziehungsweise „Kunstwerk“. Der hier und da unterhaltsame, insgesamt aber substanzlose Band kann es mit Klaus Zeyringers Werk nicht ansatzweise aufnehmen, schon gar nicht mit dessen letztem Kapitel, in dem der Autor in einer Art Schlussoffensive die hemmungs- und grenzenlose Kommerzialisierung des Fußballs anprangert und insbesondere die Machenschaften des internationalen Fußballverbands FIFA seziert. Sein Fazit: Zitator: „In derartigen Sportverbänden bestimmen ehrenamtliche Funktionäre, die sich durch ihr Ehrenamt zu mehrfachen Millionären machten. In einem regelmäßigen Zyklus veräußern die Herren der FIFA Medienrechte in Milliardenhöhe. Sie vergeben Spektakel, die eine Parallelwelt vorspielen; sie haben die Hand auf Marketing- und Securityfirmen. Nicht wenige von ihnen greifen zu Mitteln, die im landläufigen Sinn als mafiös einzustufen wären. Ja mehr noch: Sie haben ein System geschaffen, in dem sie nicht belangt werden können. Sie sind eine ehrenwerte Gesellschaft.“ Autor: Was Zeyringer über diese Machenschaften berichtet, weckt Sympathie für die Anti-WM-Proteste in Brasilien und einen ihrer Protagonisten, den einstigen Fußballstar Romário. Zitator: „Romário […] sitzt nun als Abgeordneter im Parlament und tritt vehement gegen die FußballLobby auf. ‚Die FIFA kommt in unser Land und errichtet einen Staat im Staate‘, sagt er. ‚Sie kommen her, bauen den Zirkus auf, haben selbst keine Ausgaben und nehmen alles mit‘[…].“ Autor: Das seien „Spiele ohne Brot“, klagt Romário. Können die Proteste daran etwas ändern? Werden sie unsere Haltung zur WM 2014 beeinflussen? Wohl kaum. Eher steht zu befürchten, dass sich am Ende die zynische Feststellung von FIFA-Chef Joseph Blatter bewahrheiten wird: Zitator: „Der Fußball ist stärker als die Unzufriedenheit. Wenn der Ball einmal rollt, werden die Menschen das verstehen, und das wird aufhören.“ 8 Kersten Knipp: Das ewige Versprechen. Eine Kulturgeschichte Brasiliens Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn (Hg.): Widerständigkeiten im 'Land der Zukunft' . Andere Blicke auf und aus Brasilien. Von Peter B. Schumann Autor: Der kölner Journalist Kersten Knipp spart nicht mit großen Worten in seiner Kulturgeschichte Brasiliens. Das dürfte damit zusammenhängen, dass er sich als „ungehemmter Liebhaber“ des Landes versteht. Man muss schon eine große Zuneigung empfinden, um sich der Fron zu unterziehen, rund 500 Jahre der kulturellen Entwicklung auf 380 Seiten zu resümieren und sie mit den politischen und gesellschaftlichen Prozessen zu verbinden. Darin liegt die Stärke dieses Buches, das der Autor zur Hälfte den ersten vier Jahrhunderten widmet. Das ist völlig angemessen, denn erst im 19. Jahrhundert begannen sich die Brasilianer vom portugiesischen Einfluss zu lösen und nach einer eigenen Identität zu suchen. Sprecher: Neben der Natur stießen sie auf ein anderes nach allgemeiner Übereinkunft typisch brasilianisches Phänomen: den Indianer… Die Nachkommen der Portugiesen wollten keine Portugiesen mehr sein, sondern Indianer - zumindest behaupteten sie dies und pflegten ein entsprechendes Image. Autor: Deshalb stürzten sich die Schriftsteller geradezu auf die Figur des Eingeborenen - Sprecher: - der mit der historischen Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hatte. Das war der Preis, den die Indianer zahlen mussten, um zu unsterblichen literarischen Helden zu werden. Autor: In seinen mit Anekdoten gewürzten geschichtlichen Rückblicken folgt man dem Autor gern. Je weiter er sich jedoch ins 20. Jahrhundert vorarbeitet, desto fragwürdiger werden seine Einsichten und die Auswahl der Schwerpunkte. Der „ungehemmte Liebhaber“ pflegt nämlich bestimmte Vorlieben wie z.B. die Populärmusik. Samba und Bossa Novo sind zweifellos zentrale kulturelle Ausdrucksformen und haben wesentlich zur ‚brasilidade‘, zum besonderen Charakter Brasiliens beigetragen. Deshalb müssen sie aber nicht gleich ein Zehntel des Bandes füllen. Das Cinema Novo der 1960er Jahre hingegen, das Neue Kino Brasiliens, die wichtigste filmische Erneuerungsbewegung des Kontinents, speist der Autor mit ein paar dürren Zeilen ab. Die Kulturgeschichte Brasiliens von Kersten Knipp ist oft sehr geschwätzig: er umrundet seine Vorlieben ausführlich, anstatt zielgerichtet auf sie zuzugehen und dann Platz zu haben, um beispielsweise die feministische Perspektive im Werk von Clarice Lispector darzustellen oder Ignacio de Loyola Brandãos Band Null zu beschreiben, einen der wichtigsten brasilianischen Großstadtromane und eines der besten Beispiele des literarischen Widerstands gegen die Diktatur. Auch neigt er dazu, absurde Meinungen anderer zu zitieren wie diese über „das eigentlich Neue an dem Film Tropa de Elite“ von José Padilha. Sprecher: Zum ersten Mal solidarisiert sich ein brasilianischer Film nicht mehr automatisch mit den Gangstern und verzichtet darauf, sie auf allzu romantische Weise als verkappte Helden zu porträtieren. Autor: Das hat es in dem einen oder anderen brasilianischen Western, den Canga-ceiroFilmen, gegeben, aber in keinem ernsthaften Kinostück und schon gar nicht in Bezug auf Gewalttaten staatlicher Organe oder der Mafia, von denen dieses Werk handelt. Tropa de Elite ist wegen seiner exzessiven Gewaltdarstellungen sehr umstritten, wird jedoch von Knipp 9 seitenlang als zentrale Quelle der Erkenntnis zitiert, und sein Regisseur so zum wichtigsten brasilianischen Filmemacher der Gegenwart stilisiert. Angesichts zahlreicher Fehlurteile und Leerstellen sollte auch der Rückblick auf frühere Jahrhunderte dieser Kulturgeschichte Brasiliens kritisch gelesen werden. Dem Leser ausdrücklich empfohlen seien dagegen die „andere Blicke“, die Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt und Lisa Tschorn in dem von ihnen herausgegebenen Band Widerständigkeiten im ‚Land der Zukunft‘ werfen. Sprecher: Das Buch hinterfragt das Bild von Brasilien als „Land der Zukunft“. Es lenkt den Blick dorthin, wo zwischen Wachstumszahlen und Außenhandelsbeziehungen Menschen leben und kämpfen, nach Rio de Janeiro, nach São Paulo, in städtische und ländliche Räume, auf kleine Details und aufs große Ganze. Historische Analysen kontrastieren aktuelle Bestandsaufnahmen und Ausblicke in die Zukunft. Autor: Ein Beispiel: die Kapitel über den Widerstand gegen das 20-jährige Militärregime. Während Kersten Knipp sich bevorzugt der Verfolgung der Musiker annimmt, gibt Marcos Napolitano einen breiten Überblick über die einzelnen Phasen sowie über die Pluralität und Besonderheiten der kulturellen und politischen Gegnerschaft, aber auch über die Rolle der Universitäten und der katholischen Kirche. Virgínia de Almeida Bessa verweist anschließend auf den Widerstandscharakter der Avantgarde-Musik, die Knipp völlig ignoriert. Nun will dieser Sammelband auch keine Kulturgeschichte, sondern ein Gegenbild zur offiziellen Mythenbildung liefern, welcher der kölner Autor so oft verfällt. In den fünf Teilen des Buches wird beispielsweise nachgewiesen Sprecher: - dass die Massenproteste [des vergangenen Jahres] nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Sie konnten auf weniger laute, weniger öffentlich sichtbare, dafür kontinuierliche und langfristige Widerstandsbewegungen sowie auf widerständige Alltagspraxen aufbauen. Autor: Widerstände finden die Autoren bereits in der Sklaverei sowie gegen sklavenähnliche Produktionsweisen von heute. Sie weisen nach, dass es mit der viel gerühmten ‚offenen Gesellschaft‘ Brasiliens nicht weit her ist, weil deren Nachfahren noch lange nicht gleiche Aufstiegschancen besitzen, und dass das Elend der Benachteiligten nur durch milde Gaben der Regierung abgefedert wird. Doch die Gegnerschaft wächst, in der Stadt wie auf dem Land. Die Autoren suchen nach Resistenzen nicht nur in Literatur und Musik, sondern auch im Fußball und im Kampftanz Capoeira. Sie finden sie aber nicht in den großen Geschichten der Verweigerung, sondern in den gesellschaftlichen Randbezirken: in der marginalen Literatur, in Rock und Rap, in Graffiti und Wandmalerei. Sprecher: Obwohl sie in den seltensten Fällen explizit sozialkritische Botschaften transportieren, mischen sie sich ungefragt in das Stadtbild ein, zeigen alternative Kommunikationskanäle auf und erlangen so eine implizite politische Bedeutung. Autor: Dieser andere Blick auf das Brasilien von heute ist eine hervorragende Einführungslektüre für die kommenden Megaereignisse: die Fußball-Welt-meisterschaft in diesem Jahr und die Olympischen Sommerspiele in 2016. Er bricht mit der eurozentrischen Sicht vom ‚Land der Zukunft‘ und öffnet die Augen für die alternativen Potentiale, die in diesem großen Land der Gegenwart stecken. 10