Psycho- und Neuromarkt Alles Neuro oder was? Psychopharmaka als Standardbehandlung bei psychischen Störungen? Quellen: Felix Hasler, Neuromythologie, transcript, Bielefeld 2012 Allen Frances (Psychiatrieprofessor und Leiter der DSM- IV-Revision), Normal, DuMont, Köln, 2013 Dr. Fox, 2014 1 Alles Neuro? Die Hirnforschung oder besser: Diejenigen, die über diese (wissenschafts-) journalistisch berichten, beanspruchen mittlerweile unhinterfragt die Deutungsmacht über die „Welterklärung“, mindestens über die „Menschenerklärung“: Wie wir aus der Hirnforschung wissen… ist mittlerweile der obligate Einführungssatz in Vorträgen von Dozenten aller möglichen Provenienz, in wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Artikeln bis hin zu Artikeln in „Frauenzeitschriften“. Dr. Fox, 2014 2 Alles Neuro? Es gibt eine mittlerweile unübersehbare Anzahl von wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Präfix „Neuro“ schmücken, den Neuro-X- Disziplinen, bis hin zu solch abenteuerlichen Etiketten wie Neuroökonomie, Neuroästhetik, Neurogermanistik, Neurotheologie …letztlich banalisiert so eine kuriose Nomenklatur die Neurologie und seriöse Hirnforschung. Die Hirnforschung ist zur Leitwissenschaft unserer Zeit geworden und hat die Geisteswissenschaften zu Randdisziplinen degradieren lassen. Während Neuro-X- Forschung hochsubventioniert wird, werden Forschungsgelder für geisteswissenschaftliche Arbeiten stark zusammengestrichen Dr. Fox, 2014 3 Alles Neuro ? Was wäre denn Neurologie anderes als die Wissenschaft von den Erkrankungen der zentralen und peripheren Nervensysteme? Mit zunehmend undeutlicheren Abgrenzungslinien zur Psychiatrie? Wieso eigentlich Neuro-Psychiatrie und NeuroPsychologie? Etwa weil das Organsystem des ZNS bei psychischen Phänomenen die körperlichen Trägerprozesse in Form von physiologischen Reaktionen abbildet? Hätte das bereits Erklärungswert für psychologische Phänomene? Dr. Fox, 2014 4 Alles Neuro ? Oder handelt es ich hier nicht vielmehr um einen fundamentalen Kategorienfehler in der Erklärung zwischenmenschlicher Phänomene? Um einen Machtanspruch, den sich die Pharmaindustrie zu Nutze macht, allzu oft zum Schaden sogenannter Patienten? Um eine Suggestion scheinbar objektiverer naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinne, beispielsweise mittels Neuro-Imaging durch bildgebende Verfahren wie fMRT etc., als es die „Geisteswissenschaften“ je erbringen könnten? Um eine Pseudovermessung des Menschen? Dr. Fox, 2014 5 Paradigmen-Regression War noch in den 70er Jahren- im Anschluss an die dunkle Epoche der chirurgischen Psychiatrie- die moderne Psychiatrie eine Sozialpsychiatrie (Klaus Dörner, 1974), so hat sie sich heute als eine klinische Subdisziplin der Neurowissenschaften zurückentwickelt, als biologische Psychiatrie. Trendig ist heute – neben der biologischen Neuropsychiatrie auch die molekulargenetisch ausgerichtete Psychiatrie mit ihren vollmundigen Heilsversprechungen und vernichtend dürftigen Wirksamkeitsnachweisen: Bis dato hat kein gentherapeutisches Verfahren eine klinische Relevanz nachgewiesen; ebenso wenig hat die biologistische Psychiatrie bis dato eine klinisch relevante Entdeckung geliefert, weder in der Diagnostik noch in der Therapie! Auch gibt es beispielsweise bis heute keine profunde Therapie gegen Demenz. Dr. Fox, 2014 6 Paradigmen-Regression Die radikal reduktionistische Annahme der Neuro-Psychiatrie lautet heute nun wieder wie anno dazumal: Alle Phänomene des Bewusstseins werden verursacht durch elektrische oder chemische neuronale Aktivitäten und alle „Geistes-Störungen“ sind verursacht durch Störungen des Hirnstoffwechsel und somit sind alle diesbezügliche Störungen durch externe Eingriffe zu beheben, seien es Psychopharmaka, Elektrokrampftherapien oder gar hirnchirurgische Eingriffe. Fazit: psychische Störungen seien nicht mentale, sondern biologische Störungen Damit feiert die biologistische Neuropsychiatrie aktuell mal wieder längst überholte krude mechanistische Modelle vom Menschsein Beachte Es werden hier psychiatrische oder psychische Störungen diskutiert, nicht neurologische wie Epilepsie, Schlaganfallfolgen, Parkinson oder MS und auch nicht schwerste Grade psychischer Störungen, die sehr wohl medikamentös behandelt werden können. Dr. Fox, 2014 7 fMRT oder die neue Sachlichkeit? •Die einfärbbaren Abbildungen von Blutzufuhr und Sauerstoffverbrauch durch das fMRT suggerieren, als handele es sich hier um objektive Messungen von geistigen Zuständen und psychischen Befindlichkeiten aller Art. •Dabei gibt es bis heute kein systematisches und verabredetes mathematisches Prozedere zur Gewinnung dieser bunten Bilder. Es werden Mehrfachmessungen bei einer Person oder gleich bei mehreren Personen vorgenommen, die allzu oft nach willkürlichen und undurchsichtigen statistischen Verfahren so verarbeitet werden, dass es zu signifikanten Unterschieden der Mittelwerte kommt. Dr. Fox, 2014 8 fMRT oder die neue Sachlichkeit? •Es zeigen sich bei seriöser Bearbeitung der gewonnenen Daten durch notwendige Korrekturformeln oft keine Signifikanzen mehr •Die Reliabilität der fMRT-Messung bei gestellten simpelsten kognitiven Aufgaben liegt bei 0,22 (!); bei komplexeren menschlichen Erlebens- und Verhaltensweisen werden die Reliabilitäten noch niedriger •Fazit: Die behaupteten gefundenen Mittelwertsunterschiede sind oft nur statistische Artefakte und keineswegs immer Fakten, sondern oft nur Faktoide. Wird die fMRT Diagnostik zur neuen alten Phrenologie (Cyberphrenologie, wie es F.Hasler nennt)? Cave: diese Gefahr der Überinterpretation bedeutet nicht, dass Abbildungen aus der fMRT generell keine bedeutsamen Aussagen machen können! Dr. Fox, 2014 9 Naiver Radikal- Reduktionismus • Bei allen möglichen psychischen Befindlichkeiten und auch bei vielerlei psychischen Störungen sind die entsprechenden neuronalen Aktivitäten stets individueller Art und ergeben nicht allgemeine feste Muster, vor allem auch hinsichtlich der Ausschüttung von Hormon- und Neurotransmittersystemen. •Aussagen zu Unterschieden oder Ähnlichkeiten von Hirnstoffwechselvorgängen bei einer oder mehreren Personen sind lediglich statistische Artefakte und nicht unabhängig replizierbare Ergebnisse aus zuverlässig gewonnenen Datensätzen. •Es finden sich stets- bei welcher Untersuchung welcher psychischer Befindlichkeit oder Störung auch immer- statistische Auffälligkeiten der immer gleichen üblichen Verdächtigen: Dopamin, Serotonin oder Noradrenalin, womit die Unspezifität der Wirkungsweisen dieser berüchtigten Neurotransmitter offensichtlich wäre. Dr. Fox, 2014 10 Naiver Radikal- Reduktionismus •Unbestritten bilden die neurophysiologischen Vorgänge die körperlichen Trägerprozesse für die geistigen oder psychischen Vorgänge •Die neurophysiologischen Vorgänge zeigen, dass psychische Vorgänge ablaufen, aber nicht, welche und wie psychische Vorgänge generiert werden •Psychische Phänomene sind stets Emergenzphänome, also komplexe Konstrukte, die aus unteren weniger komplexen Systemen hervorgegangen sind; es ist die jeweilige Organisationsform der Elemente, die daraus Emergenzphänomene schafft Dr. Fox, 2014 11 Naiver Radikal- Reduktionismus •emergente Phänomene des Gehirns basieren auf neuronalen informationsverarbeitenden Grundlagen und gehen aus diesen hervor (=Emergenz), indem sie aufgrund weiterverarbeitender höherer (kortikaler) Informationsverarbeitungsprozesse als mentale Metarepräsentanzen oder Konstrukte erscheinen, die komplexer sind als die zugrundeliegenden neuronalen Aktionspotenziale und nicht mehr erklärbar sind durch deren Gesetzmäßigkeiten • neuronale und mentale Vorgänge sind also nicht dasselbe, wenngleich voneinander abhängig •bei der unüberschaubaren Anzahl von Tausenden von Neurotransmittern, Hormonen und Regulationsgenen kann das höchstkomplexe menschliche Erleben und Verhalten ätiologisch nicht erklärt werden durch die Wirkungsweisen eines einzigen Neurotransmitters oder durch die Wirkungen von ein paar wenigen wie die stets zitierten Serotonin-, Dopamin- oder NoradrenalinSysteme. Dr. Fox, 2014 12 Naiver Radikal- Reduktionismus •Unberücksichtigt bleiben beim biologistischen Ansatz die essentiellen komplexen Interaktionen sozialer Erfahrungen. •Bei der gigantischen Komplexität des Gehirns sowie der Komplexität der jeweiligen Biografie die psychischen Befindlichkeiten mit einem oder ein paar wenigen „Endorphinen“ erklären zu wollen, entbehrt jeglicher wissenschaftlich fundierter Grundlage. •Unter biologischen und kulturellen Selektionsdruck entwickelte sich das Gehirn als ein von Erfahrungen abhängiges, plastisch formbares Steuerungssystem Die Natur des Menschen ist seine Kultur Dr. Fox, 2014 13 Naiver Radikal- Reduktionismus •Die Neurowissenschaften und Hirnforschung geben eine auf ihren Beobachtungsebenen gute Beschreibung -nicht Erklärung!- ab für psychische Prozesse, teilweise auch einen Erklärungsansatz, aber sicher nicht einen- wie auch von manchen Protagonisten behaupteten- vollständigen Erklärungsansatz (seriöse Hirnforscher wie Singer, Roth, Linke, Hüther würden so etwas auch nie behaupten!) •In ihrer biologistischen Ausprägung wiederholt die hegemonial ausgerichtete Hirnforschung nur einen überholten kruden Determinismus und feiert alte mechanistische Modelle vom Menschen. Merke Der Mensch ist mehr als sein Gehirn- er ist vor allem das, was er daraus macht… Dr. Fox, 2014 14 Behandlungen von psychischen Störungen •Aus einem biologistischen reduktionistischen Menschenbild würde sich dann auch folgerichtig eine Behandlung von psychischen Störungen mit Medikamenten ableiten- so werden heute massenhaft Psychopharmaka verordnet, deren Nutzen nicht belegbar sind. •80% der in den USA verordneten Psychopharmaka werden von dafür nicht ausgebildeten Hausärzten verschrieben •Mittlerweile erhalten 20% der US-Bevölkerung Psychopharmaka •Unter den US-Akademikern finden sich mehr User von Psychopharmaka als Raucher •Die NW der Psychopharmaka töten mehr Menschen als Kokain und Heroin zusammen Dr. Fox, 2014 15 Behandlungen von psychischen Störungen Psychische Störungen werden immer weniger mit Psychotherapie behandelt, sondern mit Medikamenten. Verhandelt werden dann nicht, wie in der PT üblich, aufwendige Veränderungsmöglichkeiten des Erlebens und Verhaltens, sondern behandelt werden dann beispielsweise Depressionen, Ängste, Zwänge oder ADHS in synaptischen Spalten, weil sie absurderweise auch dort vermutet werden. Dr. Fox, 2014 16 Psychopharmaka und psychische Störungen •Eingegangen wird ein hohes Medikationsrisiko und es werden Medikamentenabhängigkeiten geschaffen; bei Absetzung kommt es zu Entzugserscheinungen, die dann als Beleg für die weitere medikamentöse Behandlung missgedeutet werden. Das ist ein sich selbst erhaltender Wirtschaftskreislauf, den man auch im Drogenhandel ausbeutet •Medikamentennebenwirkungen werden kurzerhand zu Symptomen der psychischen Grundstörung deklariert, die dann wieder mit den Medikamenten weiter behandelt werden soll, die diese Symptome auslösen… •Geriatrische Pat. werden oft ohne echte Indikation mit Psychopharmaka behandelt (ruhiggestellt) und erleiden auf Grund von NW wie Kochsalzverlust erhebliche Folgeschäden (kognitive Leistungsverluste, Verwirrtheiten, motorische (Gang)-Störungen, Stürze, Schwindelattacken, Kopfschmerzen, Übelkeit, Tremor, Schlafstörungen, etc.) Dr. Fox, 2014 17 Psychopharmaka und psychische Störungen •Mindestens 40% aller als „bipolar“ diagnostizierten USKinder sind iatrogen an bipolarer Depression erkrankt eben wegen der Medikation mit Psychopharmaka •Unbehandelte depressive Patienten werden um zirka 50% eher gesund als behandelte und haben um 40% verringerte AU-Zeiten; die übliche Empfehlung, möglichst frühzeitig zu behandeln, ist also für die Patienten schädlich! •Es ist also hilfreicher, eine leicht- oder mittelgradige Depression gar nicht erst zu diagnostizieren Fazit Der hippokratische Grundsatz, mit den Bandlungen zunächst niemandem schaden zu wollen, wird in der Psychiatrie sträflich missachtet! Auch beachte man die EU-Charta zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit! Dr. Fox, 2014 18 Psychopharmaka und psychische Störungen •Psychopharmaka behaupten nur eine Spezifität, wirken aber de facto unspezifisch und sind nur per Marketingtrick (verschiedene Namen und Indikationshinweise für gleiche Wirkstoffe!) pseudospezifiziert •Nachweisbare Effekte vom berühmten Vertreter Prozac/ Fluoxetin liegen ungefähr im Wirkungsbereich von Placebos. •Psychopharmaka sind psychoaktive Drogen und sollten als solche auch nur für dafür indizierte Fälle und auch nur bei gleichzeitiger Psychotherapie vorgehalten werden. Bei regelmäßiger Einnahme besteht die Gefahr, körpereigene Neurotransmittersysteme zu zerstören. Dr. Fox, 2014 19 Psychopharmaka und psychische Störungen Prozac-living? •Noch bis in die späten 70er war beispielsweise die Depression eine so seltene Erkrankung, dass selbst die Pharmaindustrie für die Erforschung der medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten keine Gelder verschwenden wollte. Vor zirka 50 Jahren gab es Prävalenzangaben von 1:10 000 und die Prognose, dass die meisten Depressionen Spontanremissionen unterliegen •Heute wird die Prävalenz der Depression mit 1:100 angegeben und dass jeder Vierte deutliche depressive Symptome zeige; aus einer ursprünglich seltenen episodischen Erkrankung ist eine chronische „Volkskrankheit“ geworden, die angeblich medikamentös gut behandelt werden könne Dr. Fox, 2014 20 Prozac-Living? •die Hälfte aller Psychodiagnosen in D sind laut einer Studie (Bertelsmann, März 2014) leichte, sogenannte unspezifische Befindlichkeitsstörungen (Restkategorie der nicht näher bezeichneten affektiven Störungen, ICD 10 F39) • außerdem zeigt sich eine rational nicht begründbare hohe Korrelation zwischen Häufigkeit der Depressions-Diagnosen (und Therapie) und der lokal abhängigen Dichte der Behandler: Je mehr Behandler desto mehr Depressionsdiagnosen! •zusätzlich zeigte sich, dass die Patienten mit schweren Depressionen unterbehandelt bleiben (jeder zweite erhält nur Psychopharmaka und keine PT, wobei nur die Kombination erfolgsversprechend ist) und die mit leichten Depressionen werden überbehandelt. Dr. Fox, 2014 21 Psychopharmaka und psychische Störungen •Es gibt kaum unabhängige Forschung; auch in D ist die im Grundgesetz geforderte Unabhängigkeit von Forschung und Lehre schwer lädiert •Publikationsverzerrungen: Pharmaunternehmen geben ihre klinischen Studien selbstfinanziert in Auftrag; bei Kooperationsverträgen mit Dritten (Universitäten, Forschungsinstitute, etc.) verbleiben die Publikationsrechte beim Pharmaunternehmen, sodass missliebige Ergebnisse unter Verschluss bleiben können: 94% aller veröffentlichen Studien berichten positive Ergebnisse, aber über 90% aller Studien mit negativen Ergebnissen werden nie veröffentlicht •Bei schizophrenen Patienten waren 54% der Patienten nach 15Jahren Dauermedikation mit Neuroleptika ohne jegliche Symptomverbesserung, bei Patienten, die nie Medikamente einnahmen, war dies nur bei 28% (Langzeitstudie der University of Illinois College of Medicine in Chicago) Dr. Fox, 2014 22 DSM und Psychopharmaka •Mit jeder neuen Revision des DSM wird es immer leichter, eine Diagnose Depression zu stellen; bis in die 70er galten nur schwer Depressive als depressiv, mit jeder neuen Revision wurde auch in leichteren Fällen die Diagnose Depression gestellt und somit mehr „Kunden“ für die Psychopharmakaindustrie gewonnen •Mit jeder neuen Ausgabe des DSM gibt es eine Vielzahl neuer psychischer Erkrankungen: bis in die 90er gab es noch keine „soziale Phobie“ und keine „narzisstischen Störungen“ (mittlerweile in den USA weit verbreitete Diagnosen), dagegen galt aber in der 1.Version des DSM von 1952 die Homosexualität als Geisteskrankheit. auch das ADHS hat sich in den letzten zehn Jahren epidemisch ausgebreitet: In den letzten fünf Jahren steig in D die ADHSDiagnosestellung um 42%! Und folgerichtig stieg die Menge an verordnetem Ritalin von im Jahre 2002 17 Millionen Tagesdosen auf in 2011 56 Millionen! die durchschnittlichen Tagesdosen von Antidepressiva stieg in D im Zeitraum von 2000 bis 2011 um rund 300%! Dr. Fox, 2014 23 DSM und Psychopharmaka In der ab Mai 2013 gültigen neuen Revision DSM 5 gibt es ganz neue psychische „Erkrankungen“: „Verbitterungsstörungen“ und „Sexsucht“ werden wohl nicht abgenickt, dafür aber unbewältigte Trauer ab 2 Wochen (vorher ab 1Jahr) und die „Hoarding Disorder“ (Vermüllung der Wohnung durch ausgeprägte Sammelleidenschaften): das bedeutet, dass außergewöhnliche Verhaltensweisen psychiatrisiert werden! vor allem bei Kindern und Jugendlichen, wo man eigentlich besonders vorsichtig sein sollte, gibt’s neue „Entdeckungen“ wie unkontrolliertes Wutverhalten (Disruptive Mood Dysregulation Disorder), plötzliche Fressattacken (Binge Eating); bei älteren Menschen mutieren „Schusseligkeiten“ zu „leichten kognitiven Störungen“ Dr. Fox, 2014 24 DSM und Psychopharmaka •Zunächst hypothetische psychische Störung werden durch ihre Erwähnung im DSM in den Rang einer Erkrankung erhoben; diese Entscheidungen erfolgen in geheim gehaltenen, also nicht öffentlich kontrollierten Zirkeln von Psychiatern und Psychologen, die oft auch an der Erwähnung einer von ihnen vorgeschlagenen psychischen Störung im DSM wegen eines damit einhergehenden Karriereschubs interessiert sind •Zirka 70% der aktuellen DSM-Autoren arbeiten auf Honorarbasis als Berater pharmazeutischer Firmen! Dr. Fox, 2014 25 DSM und Psychopharmaka •Insgesamt stieg die Anzahl der psychischen Störungen, die im DSM aufgelistet wurden, von der ersten Version bis zur heute aktuellen vierten Version um 180%; in der EU behauptete man in 2005, dass 27% der Einwohner psychisch gestört seien, in 2010 bereits 38%; dabei gibt es bis dato keine gesicherten Belege für eine Zunahme psychischer Störungen •Dadurch steigt das Risiko einer gewaltigen Überdiagnostik und Übermedikation zum Schaden des angeblichen Patienten und zum Nutzen der Pharmaindustrie Dr. Fox, 2014 26 DSM und Psychopharmaka •Allen Frances befürchtet durch die aktuelle Revision des DSM 5 und der dadurch bedingten erniedrigten Schwelle für psychiatrische Diagnosen eine Rate von falsch positiven Psychodiagnosen in Höhe von 70 bis 75% •In den USA wurden in den 70er Jahren bei psychiatrischen Konsultationen in zirka 35% der Fälle Psychopharmaka verschrieben, im Jahre 2002 waren es bereits über 90% •Gemäß WHO ist die Depression bereits seit 2012 die zweithäufigste aller Erkrankungen •Nach Frances haben heute 83% der Kinder in den USA eine oder mehrere psychiatrische Diagnosen Dr. Fox, 2014 27 DSM und Pharmaindustrie •1985 erzielten die Pharmaunternehmen in den USA durch den Verkauf von Antidepressiva und Antipsychotika Umsätze von 503 Millionen Dollar; in 2011 waren es bereits 24 Milliarden, also 50mal mehr. •In D stieg im Zeitraum von 2000 bis 2011 die Verschreibung von Antidepressiva um zirka 300% •Das Skandalon ist nicht der exorbitante Umsatz der Psychopharmaka, sondern dass diese Umsatzhöhe nicht annähernd legitimiert wird durch empirisch nachweisbaren Nutzen •Empirische Nachweise der „Wirksamkeit“ von Psychopharmaka gibt es ja zahlreiche, aber die sind nicht gleichbedeutend mit Nachweisen der „Nützlichkeit“ für den Patienten, also zur Senkung gewisser Gesundheitsrisiken oder Verlängerung der Lebenserwartung. Cave Wirksamkeit ist nicht gleich Nützlichkeit! Dr. Fox, 2014 28 Diagnostik psychischer Störungen Psychische Störungen zu diagnostizieren, bedarf einer entsprechenden Ausbildung in Psychopathologie und viel Erfahrung. Hausärzte sind in der Regel keine Spezialisten für die Erstellung von Psychodiagnosen, stellen aber die größte Gruppe der Behandler dar, die Psychopharmaka verschreiben (zu zirka 80%). Psychodiagnosen sollten selbst von Fachleuten nur gestellt werden, wenn man sich der Diagnose sicher ist. Im Zweifelsfall ist es für den Patienten oft besser, keine Diagnose zu stellen. Dann wäre es hilfreicher, die Konfliktsituation des Patienten zu beschreiben als eine Pseudodiagnose abzugeben. Dr. Fox, 2014 29 Diagnostik psychischer Störungen Die Diagnose psychischer Störungen ist oft lediglich ein willkürliches Konstrukt und nicht die Identifizierung einer vermeintlich objektiven Wirklichkeit. Psychische Störungen sind ja nicht so fassbar wie etwa ein Tumor oder eine Infektion, sondern lediglich Deutungen. Man sollte seine Position haben hinsichtlich der eigenen Bereitschaft , Fehler zu machen: Fehler erster Art wäre die falsch negative Diagnose mit entsprechendem Risikopotential für den Patienten. Fehler zweiter Art wäre die falsch positive Diagnose mit nicht minder hohem Risikopotential (Stigmatisierungen) für den Patienten. Je nachdem, um welches Thema es sich bei dieser Fehlerabwägung handelt, variiert die Risikohöhe. Dr. Fox, 2014 30 Diagnostik psychischer Störungen Regeln zur Erstellung einer Psychodiagnostik •Erstens sollte die Diagnose sorgfältig erstellt werden und man sollte sich einigermaßen sicher dabei sein- im Zweifelsfall besser keine Diagnose abgeben •Zweitens sollte man bei einer erstellten Diagnose auch eine effektive entsprechende Therapie empfehlen können, sonst richtet die Psychodiagnose mehr Schaden an, als dass sie Nutzen hätte •Drittens sollten die Nebenwirkungen bekannt sein und diese dürfen nicht gravierender sein als der vermeintliche Nutzen; man sollte also vornehmlich niemandem schaden mit Diagnose und Therapie, sonst wäre es besser, nichts zu tun; die Nebenwirkungen von Psychopharmaka werden in der Regel massiv unterschätzt; bei leichten Störungen wird das Medikationsrisiko regelhaft unterschätzt. Dr. Fox, 2014 31 Diagnostik psychischer Störungen •auch werden die NW von Psychotherapie nicht nur unterschätzt, sondern nicht mal als existent wahrgenommen nach dem Motto: „Ein Gespräch kann ja nicht schaden“. Dagegen schätzen Forschungsarbeiten die unerwünschten NW von PT auf mindestens 15% •jede Psychodiagnostik bewirkt ein Labelling-Effekt oder gar eine Stigmatisierung; daher sind Nutzen und auch diese Risiken auf der symbolisch-interaktionistischen Ebene gegeneinander abzuwägen •nicht wenige Probleme haben Menschen deswegen, weil diese angeblichen Probleme eine theoretische, eine so bewertete Problematik für die Mitmenschen darstellen; daraus entstehen Ausgrenzungen, die dann als wirkliches Problem für den Betroffenen zurückwirken •auch besteht die Gefahr, dass Probleme, die strukturell verursacht wären, der Verursachung durch das Individuum selber zugeschrieben werden Dr. Fox, 2014 32 Psychische Störungen und Psychotherapie Psychische Störungen entstehen in der Regel durch beeinträchtigende Erfahrungen während des Sozialen Lernens, also in beeinträchtigenden Beziehungen, meist schon in frühester Kindheit. Was dadurch schon plausibel ist, weil die Eltern die ersten Menschen sind, mit denen man Erfahrungen macht hinsichtlich Ur-Vertrauen, Kooperation, Sicherheit, etc.: Wer seinen Eltern nicht trauen kann, wem dann? Die Behandlung von psychischen Störungen sollte dann auch vornehmlich mit psychologischen Mitteln erfolgen, also mit Psychotherapie, die korrigierende Beziehungserfahrungen und dadurch dann auch korrigierende Selbsterfahrungen ermöglicht . Dr. Fox, 2014 33 Psychische Störungen und Psychotherapie In schwersten Fällen ist manchmal eine zusätzliche Behandlung mit Psychopharmaka notwendig, um eine Psychotherapie überhaupt zu ermöglichen. Aber jedem, dem Psychopharmaka verordnet werden, sollte obligatorisch auch eine Psychotherapie verschrieben werden. Eine alleinige medikamentöse Behandlung psychischer Störungen wäre m. E. ein Kunstfehler, der letztlich zur Drogenabhängigkeit führt und zur Zerstörung endogener Selbstberuhigungs- und Belohnungssysteme, welche dann eine lebenslange Medikamenteneinnahme nötig machen würde. Der Zusammenhang zwischen körperlichen, physiologischen, biologischen Vorgängen und psychischen Vorgängen ist ja stets ein wechselseitiger. So wie biologische Vorgänge die psychischen beeinflussen, beeinflussen die psychischen auf ihre Weise auch die biologischen. Dr. Fox, 2014 34 Psychische Störungen und Psychotherapie Die psychologische Psychotherapie arbeitet mit psychologischen, also nichtmedizinischen Mitteln und sorgt mit ihren kognitiven Klärungsstrategien dann auch für nachweisbare Veränderungen der Struktur und Funktionsweise neuronaler Netzwerke und neurophysiologischer Vorgänge wie die Ausschüttung bestimmter Neurotransmittersysteme (beispielsweise werden die serotonergen und dopaminergen Systeme durch emotionale Erfahrungen angeregt oder gehemmt). Dr. Fox, 2014 35 Psychische Störungen und Psychotherapie Die neurophysiologischen Systeme der Stressverarbeitung, Schmerzverarbeitung und Selbstberuhigung arbeiten wie kommunizierende Röhren in wechselseitiger Abhängigkeit der gemachten Lern-Erfahrungen. Jede psychologische Veränderung, also Veränderungen im Erleben und Verhalten, zeigen gleichzeitig entsprechende Veränderungen in den neurophysiologischen Systemen. Die Selbstberuhigungen, beispielsweise über Klärung des psychodynamischen Hintergrunds der psychischen Störung sowie Erarbeitung von angemessenen Lösungsstrategien, beruhigen auch die stressverarbeitenden neurophysiologischen Systeme; das bewirken auch Verhaltenstechniken wie Entspannungstraining, Meditation, Qigong, Yoga, Sport, etc. oder: Lebensfreude, Lebenszufriedenheit Also wäre die wichtigste psychotherapeutische Frage Was brauchst du wirklich, um deine Lebenszufriedenheit zu stärken Dr. Fox, 2014 36 Über- Diagnostik psychischer Störungen als „Medizinisierung und Merkantilisierung sozialer Probleme“ Durch eine Überdiagnostizierung psychischer Probleme besteht nach Wolfgang Schneider (Rostock, Lübeck; Referat am 4.12.2013 in Lübeck sowie persönliche Mitteilung) die Gefahr einer „Medikalisierung sozialer Probleme“, also soziale und arbeitsplatzbedingte Probleme zu psychopathologisieren und also sozialpolitische Probleme zu individuell verursachten zu machen. Die zirka Vervierfachung der Möglichkeiten einer Diagnoseerstellung seit DSM I (106 F-Diagnosen) bis zum aktuellen DSM 5 (über 400 F-Diagnosen) oder die zirka Vertausendfachung der Erstellung der Depressionsdiagnose im Zeitraum vor Einführung der Antidepressiva bis heute sind klare Indizien für eine Überdiagnostik und Überpathologisierung von Befindlichkeitsstörungen. Dr. Fox, 2014 37 Über- Diagnostik psychischer Störungen als „Medizinisierung und Merkantilisierung sozialer Probleme“ Normale Befindlichkeitsstörungen sind noch keine psychischen Störungen! Jeder Mensch hat Konflikte und Probleme, eine psychisch Störung liegt erst dann vor, wenn die Probleme, deren Dynamik und Hintergrund einem nicht bewusst sind, die eigentlich mögliche Lebensgestaltung blockieren. Schwierigkeiten, die manche Menschen an ihrem Arbeitsplatz haben, sind eher von sozialpolitischer als sozialmedizinischer Ätiologie und müssten daher eher sozialpolitisch angegangen werden als über psychotherapeutischer, psychiatrische oder medikamentöse Interventionen. Dr. Fox, 2014 38 Vorteile des DSM 5 •Dass nun auch leichtere psychische Störungen diagnostiziert werden können, birgt einerseits die Gefahr der Epidemisierung psychischer Krankheiten, andererseits birgt sie auch die Chance der Früherkennung. •Die Einordnung des Ausprägungsgrades einer psychischen Beeinträchtigung, dieser sogenannte dimensionale Ansatz des DSM 5, entspricht eher der klinischen Realität; die meisten in der Klinik vorkommenden Störungen sind nicht massiver Art, sondern zeigen sich (anfänglich) eher moderat, so dass eine Früherkennung hier zu einer Prävention führen könnte. CAVE Früherkennung ist aber nicht schon automatisch gleich Vorsorge oder Prävention (weit verbreiteter Etikettenschwindel) Dr. Fox, 2014 39 Vorteile des DSM 5 •fließende Übergänge zwischen Konstrukten von Gesundheit und solchen von Krankheit entsprechen eher einem erfahrbaren Wirklichkeitsmodell als Dichotomien. •psychische Erkrankungen entstehen regelhaft ja auch nicht ad hoc, sondern entwickeln sich langfristig. •Die Abwägung zwischen iatrogener Stigmatisierung, also dem Labelling-Effekt, und Früherkennungschancen ist nicht leicht zu treffen. Ein Ausweg bietet die bereits vorliegende Z-Kodierung im ICD-10, worunter psychische Beeinträchtigungen diagnostiziert werden können, die noch keinen Krankheitswert implizieren. Merke Die Kunst bei der Psychodiagnostik bleibt, die Balance zu finden zwischen Dramatisieren und Bagatellisieren Dr. Fox, 2014 40