Globalisierung und Klimawandel

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Züchtungskunde, 84, (1) S. 12–22, 2012, ISSN 0044-5401
© Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart
Globalisierung und Klimawandel – neue Herausforderungen für
die Nutztierhaltung und -wissenschaften
M. Schwerin1,2
Zusammenfassung
Um der globalen Herausforderung nach mehr Lebensmitteln tierischer Herkunft nachkommen zu können, müssen Forschungsanstrengungen unternommen werden, die Effizienz in allen Bereichen der Nahrungskette zu steigern. Durch innovative Ansätze zur
tierzüchterischen Leistungssteigerung und Verbesserung der Tiergesundheit, zur Bedarfsermittlung, exakten Bedarfsdeckung, Schaffung tiergerechter Haltungsbedingungen und
zur gezielten Senkung nutztierbezogener Emissionen sind wichtige Beiträge für eine ressourcen- und klimaschonende sowie tiergerechte Steigerung der Produktion von Lebensmitteln tierischer Herkunft zu erwarten.
Schlüsselwörter: Ernährungssicherung, Klimawandel, Globalisierung
Summary
Globalisation and climate change – new challenges for husbandry and farm
animal sciences
To meet global demand for more food of farm animal origin efforts in research are necessary to increase efficiency in all sectors along the food chain. Innovative approaches to
increase animal performances by breeding, to improve animal health, to optimize keeping
and feeding condition that meet animals demands and to reduce farm animal related
green gas emissions will significantly contribute to an resource saving, climate protecting
and animal-suitable raise of the production of food of farm animal origin.
Keywords: Food safety, climate change, globalisation
1 Einleitung
Die Ernährungssicherung ist eine der großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Nutztiere stellen dabei eine unverzichtbare Ressource für die langfristige bedarfsgerechte Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln dar (DGE, 2000). Die weltweit
wachsende Bevölkerung, der zunehmende Wohlstand in den Schwellenländern und die
Änderung der Verzehrsgewohnheiten werden die Nachfrage nach Lebensmittel tierischer
Herkunft bis zum Jahr 2050 verdoppeln (FAO, 2006a). Prognosen der ‚Food and Agricul-
1
Institut für Nutztierwissenschaften und Technologie, Agrar- und Umweltwissenschaftliche
Fakultät der Universität Rostock, Justus-von-Liebig-Weg 8, 18059 Rostock
2 Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), Wilhelm-Stahl-Allee 2, 18196 Dummerstorf, E-Mail:
[email protected]
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ture Organization of the United Nations‘ (FAO, 2009a) gehen dabei davon aus, dass weltweit die Zuwächse bei Geflügelfleisch mit 2,3% pro Jahr deutlich höher sein werden als
bei Schweine- und Schaffleisch (+ 1,8%) bzw. bei Rindfleisch (+ 1,3%). In der EU-27 wird
gar ein Rückgang der Rindfleischerzeugung erwartet. Lebensmittel mit nachgewiesenem
krankheitspräventiven Potenzial werden künftig eine wichtige Komponente der Gesundheitsfürsorge sein und damit gleichzeitig einen bedeutenden Wirtschafts- und Wachstumsfaktor darstellen.
Eine zukünftige die Nachfrage deckende Erzeugung von Lebensmitteln tierischer Herkunft muss vor dem Hintergrund sich ändernder Verbraucheransprüche (diversifizierende
Bevölkerungsentwicklung, Verbraucherakzeptanz), des Klimawandels, der zunehmenden
Globalisierung und einer Ressourcenverknappung erreicht werden. Die globale Herausforderung nach mehr und gleichzeitig qualitativ hochwertigen Lebensmitteln tierischer
Herkunft unter Berücksichtigung des Nachhaltigkeitsprinzips erfordert Forschungsansätze,
die eine Gesamtbetrachtung und Vernetzung aller Glieder und Akteure der Nahrungskette im internationalen Kontext sichert. Die zukünftige Sicherung einer weltweit bedarfsgerechten Erzeugung und Verteilung von Lebensmitteln erfordert zwingend innovative
transdisziplinäre Ansätze mit einer klaren Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und Nutzung
aller verfügbaren Möglichkeiten. Hierfür sind weder die noch immer weitgehend disziplinär orientierten Forschungs- und Unternehmenslandschaften in Deutschland, noch die
vorhandenen Instrumente zur rechtzeitigen Einbeziehung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen in den politischen Entscheidungsprozess ausreichend entwickelt.
Als wichtige Voraussetzung für die Ableitung strategischer Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für innovative Forschung und Ausbildung, technologische
Entwicklungen und die Einführung von neuen Produkten am Markt wurden u.a. durch
den Forschungs- und Technologierat Bioökonomie Empfehlungen für Wissenschaft und
Politik mit dem Ziel abgeleitet, die möglichen wissenschaftlichen und technologischen
Beiträge der deutschen Nutztierwissenschaften als integrierten Bestandteil einer notwendiger Weise weltweiten Initiative für die globale Ernährungssicherung zu identifizieren,
deren Realisierung zu fördern und internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wissenschaft und Wirtschaft unter den sich ändernden Anforderungen zu sichern (BioÖkonomieRat, 2010, 2011).
2 Künftige Anforderungen an die Nutztierhaltung unter besonderer Beachtung
von Globalisierung und Klimawandel
Grundsätzlich gilt es zu berücksichtigen, dass agrarkulturelle Systeme sehr komplexe
Systeme darstellen und die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien nur im engen Kontext mit den entsprechenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen erfolgen kann. So können z.B. soziale und ökonomische Faktoren
wie die Preise für In- und Outputs, der Zugang zu Krediten und Märkten, Transportkosten,
Investitionsmöglichkeiten, Handelskontrollen und -unsicherheiten oder verschiedene
Risiken über die Marktbedingungen (z.B. volatile Märkte) die Optionen sowohl für Landwirte, Händler aber auch für Verbraucher wesentlich einschränken.
In Hinsicht auf die Erzeugung von Lebensmitteln tierischer Herkunft ist davon auszugehen, dass die Anforderungen in Deutschland, Europa und der Welt zunehmend differenzierter werden. Zum einen ergeben sich die zukünftigen Herausforderungen dabei
aus dem global zunehmenden Bedarf an Lebensmitteln tierischer Herkunft (FAO, 2006a,
2009a) und der weltweit zunehmenden Diskrepanz zwischen Unter- und Über- bzw. Fehlernährung (FAO, 2006b, 2009b, WHO, 2006). So sind gegenwärtig weltweit eine Mrd.
Menschen unterernährt und gleichzeitig 1,4 Mrd. Menschen über- bzw. fehlernährt. Dabei
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befinden sich in den Ländern mit mehr als 20% der Bevölkerung mit Unterernährung ca.
70% der Welttierbestände, die aber nur etwa 25% des essbaren Proteins tierischer Herkunft erzeugen. Diese vergleichsweise geringe Effizienz von Nutztieren in Entwicklungsund Schwellenländern ist zu großen Teilen auf eine nicht den Bedarf deckende Versorgung der Tiere mit Futter und Wasser und auf unzureichende hygienische Bedingungen
zurückzuführen. Um hier Verbesserungen zu erreichen, sind standortangepasste Managementmaßnahmen zu entwickeln bzw. zu propagieren. Dabei sind die besonderen agrarstrukturellen Bedingungen, die in vielen Entwicklungsländern vorherrschen, zu berücksichtigen.
Die Tatsache, dass sich in den modernen Industrienationen über 60% aller Erkrankungen
sich auf dem Boden einer vitalstoffarmen, zu fetten und kalorienreichen Kost entwickeln,
macht den Bedarf an Nahrungsmitteln mit spezifischen ernährungsphysiologischen Eigenschaften deutlich.
Neben diesem neuen Bedarf werden die sich ändernden Rahmenbedingungen wie der
zunehmende globale Wettbewerb, die Verknappung natürlicher Ressourcen, die zunehmende Konkurrenz um Flächen, der prognostizierte Klimawandel oder die veränderte
gesellschaftliche Wahrnehmung der Agrarproduktion die Erzeugung von Lebensmitteln
tierischer Herkunft wesentlich beeinflussen (Schwerin et al., 2010). Bei begrenzt zur
Verfügung stehenden Ressourcen ist von besonderer Bedeutung, dass weltweit gesehen
der Flächenbedarf für die Erzeugung von Futter den für die Erzeugung von pflanzlichen
Lebensmitteln für den Menschen beträchtlich übersteigt. Hinzu kommt, dass die ca. 1,6 Mrd.
Nutztiere mit 4,6 Mrd. t Trockenmasse eine etwa vierfach größere Nahrungsmenge verzehren als die ca. 6,5 Mrd. Menschen (ca. 1 Mrd. t). In Deutschland werden 63% der
16,9 Mio. ha landwirtschaftlich genutzter Fläche für den Futteranbau genutzt. Die im
Mittel je Einwohner erforderliche Fläche zur Erzeugung von Lebensmitteln tierischer
Herkunft hängt dabei von der Höhe der Pflanzenerträge und der Leistungshöhe der Tiere
ab und ist bei gleichen Erträgen umso höher, je mehr Protein tierischer Herkunft weltweit
verzehrt wird und je höher der Fleischanteil an dieser Proteinmenge ist. Neuere Hochrechnungen zeigen, dass bei gleichem Intensitätsniveau die erwartete Steigerung der
Lebensmittelproduktion aus globaler Sicht doppelt so viel Futtermenge wie gegenwärtig
erfordert (Flachowsky et al., 2008). Dies impliziert, dass bei zu erwartender Flächenkonkurrenz (nachwachsende Rohstoffe, Energiepflanzen, Bioreservate etc.) die zukünftige den Bedarf deckende Erzeugung von Lebensmitteln tierischer Herkunft nur dann
möglich ist, wenn es gelingt, einen höheren Flächenertrag bei der Futterproduktion, eine
Leistungssteigerung in der Tierproduktion und/oder eine alternative Proteinversorgung
bzw. Änderung der Verzehrsgewohnheiten des Menschen zu erreichen. Politische Rahmenbedingungen wie Eigentums- und Schutzrechtsgesetze, Forschungsförderung und -regulierung können sowohl unterstützend als auch hemmend wirken.
Mit der zunehmenden Globalisierung des Agrarmarktes steigt das Risiko, dass kleine
Änderungen der Produktion zu großen Preisschwankungen und dadurch zum politischen
Handeln nationaler Regierungen führen, mit dem Ziel, die eigenen Erzeuger zu schützen.
Der globale Wettbewerb wird dabei maßgeblich durch die Produktionskosten beeinflusst. Hohe tierische Leistungen sind unter allen Produktionsbedingungen wesentliche
Voraussetzung für eine rentable, ressourcen- und umweltschonende Tierproduktion.
Darüber hinaus wird durch die Globalisierung von Märkten die Wahrscheinlichkeit des
Eintrags auch bisher als ‚exotisch’ angesehener Erreger in die deutsche Nutztierpopulation, die auch den Handel mit Tieren und tierischen Produkten betrifft, deutlich erhöht
(Mettenleiter und Boehle, 2008). Damit können Infektionserreger aus entlegenen
Gegenden rasch in die Ballungszentren von Tier und Mensch gelangen. Verbesserte Verkehrswege, erhöhte Freizügigkeit und schnellerer Personen-, Tier- und Warenverkehr
fördern die schnelle Verbreitung von Erkrankungen, Seuchen und Infektionen – auch in
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der Inkubationszeit, in der noch keine Krankheitserscheinungen auftreten. Verstärkt
wird das erhöhte Verbreitungsrisiko von Krankheiten durch den erwarteten erhöhten TierMensch-Kontakt infolge Zunahme und Verstädterung der Bevölkerung mit Slumbildung
und Hinterhofhaltung von Nutztieren (Geflügel, Schweine, Fische) und der prognostizierten Zunahme der Anzahl infizierbarer Wirte (Nutztiere und Menschen) pro Flächeneinheit und damit der Infektionsmöglichkeiten.
Hier gilt es, vor Ort in den Ausbruchsgebieten Präventionsmaßnahmen zu etablieren,
die insbesondere durch eine Erhöhung der Biosicherheit in allen Produktionsmaßstäben
die Ein- und Verschleppung von Infektionserregern erschweren. Im Sinne des Konzepts
'One world – One health – One medicine' betrifft dies nicht nur Tierkrankheiten im engeren
Sinne, sondern auch solche Infektionen, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden
(Zoonosen). Dabei helfen auch die Verbesserungen in der Epidemiologie, Diagnostik und
Impfstoffentwicklung, die von Forschungsinstituten erarbeitet werden. Diese Forschungsarbeiten können auf Grund der damit zusammenhängenden Kosten nur von wirtschaftsstarken Ländern finanziert und häufig auch nur dort geleistet werden, d.h. ‚One World‘
– nicht nur im globalen Handel und Tourismus, sondern auch in der globalen Verantwortung (Schwerin et al., 2010).
In Hinsicht auf den prognostizierten Klimawandel ist die Nutztierhaltung zugleich
„Mitverursacherin“ als auch „Betroffene“. Die direkten Emissionen der drei zentralen
Treibhausgase (THG) CO2, N2O und CH4 (sowie indirekt NH3) aus der Landwirtschaft
beliefen sich im Jahr 2009 auf 134,6 Mio. t CO2-Äquivalente und damit auf 13,9% der
gesamten THG-Emissionen in Deutschland (Döhler et al., 2010). Der Nutztierhaltung
sind etwa ein Drittel der durch die Landwirtschaft verursachten THG-Emissionen zuzurechnen, womit sie ein wenn auch begrenztes Potenzial besitzt, einen Beitrag zur Minderung der Treibhausgasemission zu leisten. Die Höhe der landwirtschaftlichen THG-Emissionen hängt dabei entscheidend vom Produktionssystem und -niveau sowie der Produktivität ab. So z.B. zeigte eine vergleichende Studie (FAO, 2010) im Milchviehbereich, dass
bezogen auf die erzeugte Proteinmenge Graslandsysteme im Vergleich zu gemischten
Systemen erhöhte Treibhausgasemissionen aufweisen (2,72 vs. 1,78 kg CO2-Äquivalente/kg
fett- und protein-korrigierte Milch). Im Vergleich zu den Industrieregionen in Europa und
Nordamerika wiesen Regionen im Nahen Osten, in Südasien, Nordafrika und dem Subsaharagebiet etwa die 3 bis 5-fache Menge einer auf die erzeugte Proteinmenge bezogenen
Treibhausgasemission auf.
Darüber hinaus wird der Klimawandel direkte Auswirkungen auf die Nutztierhaltung
haben. Nach Maßgabe des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung ist in Deutschland
bis 2055 im Jahresmittel mit einer regional und jahreszeitlich differenzierten Erwärmung von 1,7 bis 2,4 K sowie mit einer zunehmenden Ungleichverteilung des Niederschlags zu rechnen (Werner und Gerstengarbe, 2007, s.a. Abb. 1 und 2).
Darüber hinaus deutet sich an, dass sich der Trend zu mehr Extremwetterereignissen
wie Hitzewellen und Starkregen (bei abnehmenden Dauer- bzw. Landregen) weiter fortsetzt. Diese Projektion der Klimaentwicklung wird sich unmittelbar und mittelbar auf die
deutsche Nutztierhaltung auswirken. So ist mit Leistungsminderungen der Nutztiere infolge
von Hitzestress (Srikandakumar und Johnson, 2004) und vermehrten Gesundheitsproblemen (Sevi et al., 2001) zu rechnen. Hitze und/oder hohe Luftfeuchtigkeit werden
darüber hinaus bei Zunahme von Sommer- und Hitzetagen die Herz- und Kreislaufbelastung und die Anfälligkeit für Atemwegserkrankungen sowie andere infektiöse Faktorenerkrankungen wie Rotlauf erhöhen. Durch die im Zusammenhang mit der Erwärmung
verbesserten Lebensbedingungen für mesophile Infektionserreger, die sich außerhalb
von Tieren vermehren können (z.B. Salmonellen, Staphylokokken, E. coli), wird der Keimdruck zunehmen. So ist zu erwarten, dass sowohl das Vorkommen als auch die Saisonalität
und Intensität vieler Vektoren und Krankheitserreger stark beeinflusst wird. Erreger von
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Abb. 1. Temperaturänderung in Deutschland für die vier Jahreszeiten als Differenz im Jahrzehnt
2046–2055 gegenüber dem Zeitraum 1951–2003 (aus Stock, 2008).
Temperature changes in Germany for the four seasons given as difference between the decade
2046–2055 and the period 1951–2003 (from Stock, 2008).
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Abb. 2. Niederschlagsänderung in Deutschland für die vier Jahreszeiten als Differenz im Jahrzehnt
2046–2055 gegenüber dem Zeitraum 1951–2003 (aus Stock, 2008).
Precipitation changes in Germany for the four seasons given as difference between the decade
2046–2055 and the period 1951–2003 (from Stock, 2008).
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Seuchen (z.B. Blauzungenkrankheit, Afrikanische Schweinepest), Vektoren (z.B. Fliegen,
Gnitzen), Ektoparasiten (Räudemilben) finden verbesserte Lebensbedingungen, neue Wirte
und Lebensräume (Mettenleiter und Boehle, 2008). Eine Übersicht über die erwarteten Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit wird in Abbildung 3 gegeben.
Neben den unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels ist zu erwarten, dass dieser
infolge von Veränderungen bei Ressourcen, Zulieferung oder Nachfrage nach Nahrungsmitteln oder Bioenergie die Nutztierhaltung auch mittelbar nachhaltig beeinflussen wird.
So z.B. werden geringere Erträge im Futterbau, ein verminderter Futterwert der Pflanzen
und eine diskontinuierliche Futterbereitstellung zu steigenden Futterpreisen und damit
erhöhten Produktionskosten führen. Erhöhte Temperaturen, Dürreperioden und Unwetter
werden die Futterverderbnis beschleunigen, Futterschäden und Futterschädlinge begünstigen, durch Abbau des Energiegehaltes das Futter entwerten und die Futterstruktur verändern. Mangel- und Fehlernährung sowie Energieunterversorgung können die Vitalität
und das Leistungsvermögen von Tierbeständen beeinträchtigen.
Die langfristigen Ertragsaussichten werden darüber hinaus Bodenpreise und Pachten
beeinflussen und über den Weltmarkt ist Deutschland auch von sich im Klimawandel verändernden Faktoren wie Energiepreise, Ernteerträge und Nahrungsbedarf in anderen
Erdteilen betroffen (SCAR, 2008).
Abb. 3. Erwartete Auswirkungen des Klimawandel auf die Gesundheit (nach http://www.who.int/
.../climate/en/ccfig.gif).
Presumed climate change related health effects (modified based on http://www.who.int/.../
climate/en/ccfig.gif).
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3 Zukünftige Herausforderungen für die Nutztierwissenschaften als
integrierter Bestandteil der ‚wissensbasierten Bioökonomie‘ – der
Forschungsbedarf
Der BioÖkonomieRat hat in seinem Gutachten „Innovation Bioökonomie“ (BioÖkonomieRat, 2010) Empfehlungen zur Förderung der nachfolgend aufgeführten drei fachlich
übergreifenden Themenbereiche bzw. eines umfassenden strukturellen Themenbereiches
benannt:
– Empfehlung 1: Effiziente Wertschöpfungsketten, Verfahren und Produkte entwickeln
– Empfehlung 2: Welternährung sichern, Gesundheit fördern und globale Verantwortung übernehmen
– Empfehlung 3: Natürliche Ressourcen nachhaltig nutzen
– Empfehlung 4: Bioökonomie im System richtig aufstellen
Von den insgesamt 35 diesen vier Themenbereichen zugeordneten Themen identifizierte der
Rat 14 Themen von besonderer Dringlichkeit, die unmittelbar angegangen werden sollten
(BioÖkonomieRat, 2011). Darunter auch die folgenden, zu vier Komplexen zusammengefassten 7 den Nutztierwissenschaften direkt zuzuordnen Themen:
1) Züchtung von Nutztieren auf hohe Leistung und spezifische Eigenschaften sowie
Anpassung der Produktionssysteme zur Realisierung des genetischen Leistungspotenzials
Eine effiziente Milchproduktion wird bei auch zukünftig zu erwartenden hohen Milchproduktionskosten und zunehmend volatilen Milchpreisen nur durch eine Steigerung
der Leistung je Lebenstag bei gleichzeitig hoher Gesundheit der Tiere möglich. So muss
z.B. aus ökonomischer Sicht gegenwärtig die Leistung einer Kuh mindestens 15 kg Milch
je Lebenstag betragen, um ihre Kosten zu amortisieren und Gewinn zu erwirtschaften.
Das entspricht z.B. einer Lebensleistung von ≥ 30.000 kg Milch bei einer Nutzungsdauer
von 3,5 Laktationen (Wangler und Harms, 2009).
Bei den landwirtschaftlichen Nutztieren vollzieht sich z.Z. der Schritt in die genomische
Ära, so wie er bereits im Humanbereich und bei den Labortieren gegangen wurde. Die
Kenntnisse der molekularen Netzwerke auf den verschiedenen Ebenen der Merkmalsausprägung werden zu einem deutlich verbesserten Verständnis von Abläufen im Tier unter
bestimmten Haltungs- und Fütterungsbedingungen führen. Die Verfügbarkeit geeigneter
molekularer Marker der Merkmalsausprägung kann dazu beitragen, das Leistungspotenzial unserer landwirtschaftlichen Nutztiere im Kontext von Tiergesundheit und Wohlbefinden genauer zu charakterisieren bzw. auszuschöpfen und damit einen Beitrag zur
Optimierung der Fütterungs- und Haltungsverfahren zu leisten.
Neben der weiteren züchterischen Verbesserung der quantitativen und qualitativen Eigenschaften, der verbesserten Ausschöpfung der Leistungsveranlagung und der Zucht von
Tieren mit optimaler Eignung für bestimmte Produktionssysteme kommt der Optimierung und Diversifizierung wettbewerbsfähiger standort- und bedarfsspezialisierter Produktionsverfahren Bedeutung zu. Am Beispiel der Milchleistung wird deutlich, dass weltweit sehr unterschiedliche Optima verfolgt werden. Mittel- bis langfristig ist damit zu
rechnen, dass Kraftfutter bzw. Grundfutter vom Ackerland im Vergleich zu Futter vom
Grünland relativ teurer wird. Eine Ursache dafür ist die steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln, aber auch nach Energie aus Biomasse, die in erster Linie auf dem Ackerland erzeugt werden. In Bezug auf die Flächenkonkurrenz bedeutet dies in Europa, dass
den so genannten „absoluten Grünlandstandorten“, also solchen Standorten, die aus öko-
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logischen und ökonomischen Gründen zur Ackernutzung nicht oder kaum geeignet sind,
eine zentrale Funktion in der Wiederkäuerernährung zukommt, weil dort diese Konkurrenzsituation nicht besteht.
2) Verbesserung der Tiergesundheit durch Selektion und Vermehrung leistungsfähiger,
robuster und krankheitsresistenter Nutztiere und Entwicklung effizienter Strategien
der Tierseuchenbekämpfung; tiergerechte Haltungs- und Fütterungsverfahren
Im Zusammenhang von Leistung, Tiergesundheit und Wohlbefinden steht die Nutztierhaltung vor einem Paradigmenwechsel: Die zukünftige Erzeugung von Lebensmitteln
tierischen Ursprungs wird zwingend die Tiergesundheit als maßgebliches Leitbild der Tierhaltung erfordern, wobei Tiergesundheit und Wohlbefinden das Bindeglied der notwendigen Verknüpfung von Tierschutz und gesundheitlichem Verbraucherschutz darstellen.
Die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten nimmt als Vitalitätsmerkmal eine zentrale Stellung bei der Erzeugung tierischer Produkte ein, da sie ein wichtiger Fitnessparameter der Nutztiere darstellt und zugleich eine wesentliche Voraussetzung für sichere
Nahrungsmittel ist. Dabei spielen Determinierungsprozesse der immunologischen Regulation sowie die Ausbildung natürlicher Infektionsbarrieren in Hinsicht auf ihre ontogenetische Entwicklung, ihre Modulation durch exogene und endogene Einflüsse und insbesondere ihre tierzüchterische Verbesserung eine besondere Rolle. Darüber hinaus gilt es,
durch eine Erhöhung der Biosicherheit in allen Produktionsmaßstäben die Ein- und Verschleppung von Infektionserregern zu erschweren, effiziente Strategien der Tierseuchenbekämpfung durch Verbesserungen in der Epidemiologie und Diagnostik zu entwickeln
sowie die Pathogenese von zoonotischen Infektionen und der Empfindlichkeit von Nutztieren gegenüber diesen aufzuklären.
Gleichzeitig sind Haltungsverfahren neu und weiter zu entwickeln, die den Ansprüchen
der Nutztiere besser als bisher Rechnung tragen und ihnen auch im Hinblick auf erwarteten Änderungen der Haltungsbedingungen physiologische sowie Verhaltensanpassungen ermöglichen. Im gleichen Zuge sind auch bestehende Management- und Zuchtkonzepte zu überprüfen und weiter zu entwickeln. So könnte z.B. die Zucht auf Sozialverhalten
zur Vermeidung von Aggressionen und Rangkämpfen bei Schwein und Geflügel zur nachhaltigen Verbesserung des Wohlbefindens der Tiere und zur Verminderung von Tierverlusten beitragen.
3) Optimierung von tierischen Produkten für die Gesundheit
Die wachsende globale Konkurrenz treibt die Entwicklung von effizienten, überregionalen
Produktionsstrategien an. Gleichzeitig wird dies im Zusammenhang mit einem zu erwartenden Abbau politischer Schutz- und Fördermaßnahmen, wie z.B. der Schutzzölle und
Subventionen, und wirksam werdender Standortvorteile (z.B. natürliche Ressourcen, wie
ganzjähriges Weideland, oder soziale Bedingungen, wie niedrige Lohnniveaus und Tierschutzstandards), essenziell zur Entwicklung zum einen von Regionalstrategien und zum
anderen von Produkten im Premium- bzw. ‚health care’-Bereich mit speziellen Haltungsverfahren, Zucht- und Vermarktungsprogrammen in der Tierproduktion sowie veränderten Anbauverfahren in der Pflanzenproduktion führen. Die Erzeugung von Lebensmitteln tierischer Herkunft mit gesundheitsförderndem Zusatznutzen (z.B. höherer
Gehalt an n-3 ungesättigten Fettsäuren) oder verbesserten sensorischen Eigenschaften
(z.B. Zucht zur Vermeidung des Geschlechtsgeruches im Fleisch männlicher Schweine,
Eier ohne Geruchsabweichung) wird künftig eine wichtige Komponente der Gesundheitsvorsorge bzw. der Produktqualität sein und damit gleichzeitig einen bedeutenden
Wirtschafts- und Wachstumsfaktor darstellen.
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4) Anpassung an den Klimawandel (Tierzüchtung, klimaschonende Tierhaltung)
Es ergibt sich aus den biologischen Grundlagen des Stoffwechsels der Tiere, dass höhere
Leistungen bis zu einer optimalen Intensität zu einem geringeren CO2Äquivalent-Footprint je kg Produkt und höherer Ressourceneffizienz führen, da sich z.B. die auf den
unproduktiven Erhaltungsbedarf entfallenden Ausscheidungen auf eine größere Produktmenge verteilen (Flachowsky et al., 2011). Allerdings ist eine einseitige Selektion auf
hohe Einzeltierleistung auf Grund der bei hochleistenden Tieren beobachteten vermehrten
Gesundheitsprobleme und erhöhten Abgangsraten weder im Interesse einer nachhaltigen
Reduzierung der THG-Emissionen, der Sicherung einer hohen Tiergesundheit noch einer
rentablen Produktion. Einzeltierleistungen sind im Sinne einer systemischen Bewertung
der THG-Reduzierungspotenziale immer im Kontext der verschiedenen Produktionsrichtungen (Milch, Fleisch) und unter Beachtung des Anspruchs an hoch verdauliche Futtermittel und damit der Landnutzungsänderungen zu betrachten.
Darüber hinaus wird der Klimawandel direkte Auswirkungen auf die Nutztierhaltung
haben. In allen Bereichen der Nutztierhaltung vom Futterbau über Tierzucht, Fütterung
und Haltungstechnik bis zum Gesundheitsmanagement sind Potenziale zu erschließen,
um rechtzeitig nachhaltige Klimaanpassungsstrategien zu entwickeln.
4 Schlussfolgerungen
Die globale Herausforderung nach mehr und gleichzeitig qualitativ hochwertigen Lebensmitteln tierischer Herkunft unter Berücksichtigung des Nachhaltigkeitsprinzips erfordert
Forschungsansätze, die eine Gesamtbetrachtung und Vernetzung aller Glieder und Akteure
der Nahrungskette im internationalen Kontext sichert. Eine bedarfsgerechte und nachhaltige Erzeugung von Lebensmitteln erfordert zwingend, die möglichen wissenschaftlichen und technologischen Beiträge der deutschen Agrarwissenschaften als integrierten
Bestandteil einer notwendiger Weise weltweiten Initiative für die globale Ernährungssicherung zu identifizieren, deren Realisierung zu fördern und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wissenschaft und Wirtschaft zu sichern.
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